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Die beliebten Thevs & Schimmelreiter Krimis von Sophie Oliver im Bundle Ein verschollen geglaubtes Meisterwerk eines bayerischen Malerfürsten soll ausgerechnet auf Sylt enthüllt werden. Seine Besitzerin, Henriette Schimmelreiter, ist vor Ort. Dann gibt es einen Mord, einen Diebstahl und einen Skandal und Henriette findet sich an der Seite des nordisch-spröden Detektivs Tehvs Behrens wieder, um hinter das Geheimnis der »Sünde« zu gelangen. Dabei muss sie sich über die feine Sylter Gesellschaft sehr wundern. Karrierefrauen sind Vorbilder. Außer wenn sie es sich privat und beruflich mit allen verscherzen und zum Drachen mutieren. Als die erfolgreiche Kosmetikunternehmerin Jette Thienemeyer-Kahlmann bei einem traditionellen Sylter Ringreitturnier ermordet wird, ist Schluss mit Henriette Schimmelreiters friedlichem Sommerurlaub. Zusammen mit Detektiv Thevs Behrens stürzt sie sich in einen neuen Fall und ermittelt zwischen Pferden und Liftingcremes.
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Seitenzahl: 465
Kurzbeschreibung:
Zwei Romane in einem Band
Sylter Sündenfall
Ein verschollen geglaubtes Meisterwerk eines bayerischen Malerfürsten soll ausgerechnet auf Sylt enthüllt werden. Seine Besitzerin, Henriette Schimmelreiter, ist vor Ort. Dann gibt es einen Mord, einen Diebstahl und einen Skandal und Henriette findet sich an der Seite des nordisch-spröden Detektivs Tehvs Behrens wieder, um hinter das Geheimnis der »Sünde« zu gelangen. Dabei muss sie sich über die feine Sylter Gesellschaft sehr wundern.
Sophie Oliver
Sylter Sündenfall / Sylter Drachenstich
Zwei Romane in einem Band
Edel Elements
Edel Elements
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2021 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
Copyright © 2021 by Sophie Oliver
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Ashera.
Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-407-3
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Sylter Sündenfall – Thevs und Schimmelreiter ermitteln
Forellenweiher
Wind und Welle
Dissonanz
Frühlingsreigen
Narcissus
Die Sünde
Huldigung an die Malerei
Spazierritt
Herkules und die Hydra
Kämpfende Faune
Der Kampf um die Frau
Das Diner
Tilla Durieux als Circe
Der Wächter des Paradieses
Der Kuss der Sphinx
Sisyphus
Abziehendes Gewitter
Luzifer
Speerschleudernde Amazone
Helena
Salome
Wilde Jagd
Verwundete Amazone
Sylter Drachenstich – Thevs und Schimmelreiter ermitteln
1. Inken
2. Jette
3. Hettie
4. Achim
5. Thevs
6. Hettie
7. Elke
8. Schmitz
9. Hettie
10. Thevs
11. Hettie
12. Hettie
13. Inken
14. Bruns
15. Renato
16. Hettie
17. Thevs
18. Hettie
19. Hettie
20. Hettie
21. Hettie
22. Thevs
23. Hettie
Kurzbeschreibung:
Ein verschollen geglaubtes Meisterwerk eines bayerischen Malerfürsten soll ausge-rechnet auf Sylt enthüllt werden. Seine Besitzerin, Henriette Schimmelreiter, ist vor Ort. Dann gibt es einen Mord, einen Diebstahl und einen Skandal und Henriette findet sich an der Seite des nordisch-spröden Detektivs Tehvs Behrens wieder, um hinter das Geheimnis der »Sünde« zu gelangen. Dabei muss sie sich über die feine Sylter Gesellschaft sehr wundern.
Sophie Oliver
Sylter Sündenfall
Thevs und Schimmelreiter ermitteln
Edel Elements
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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Ashera Agentur
Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München
Lektorat: Christin Ullmann
Korrektorat: Tatjana Weichel
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-250-5
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Geboren im niederbayerischen Tettenweis am 23. Februar 1863, kokettierte der Künstler Franz von Stuck gern mit dem – wahrscheinlich selbst geschaffenen – Mythos, ein derartig glutäugiger, dunkelhaariger, von den Musen geküsster Mann wie er müsse aus der Liaison einer bajuwarischen Frau mit einem römischen Legionär hervorgegangen sein. Also aus der Ahnenreihe einer solchen, womöglich nicht freiwillig eingegangenen Verbindung …
Hochtalentiert und fasziniert vom Leben im München der Jahrhundertwende erfand er sich als wortkargen Künstlerfürst und schuf teilweise skandalöse Bilder voller dunkler Erotik, mystischer Symbolik und einer Schönheit, die keinen Betrachter kaltließ.
Er galt als egozentrisch und ließ sich bereitwillig feiern. Stuck malte nicht nur, er experimentierte mit Fotografie und fertigte Illustrationen und Statuen, vornehmlich aus Bronze. Zusammen mit Frau und Tochter residierte er in der Villa Stuck auf der Münchner Prinzregentenstraße, einem Prachtbau, der nach seinen eigenen Entwürfen entstand und heute sein Museum beherbergt.
Zusammen mit Wilhelm Trübner gründete er 1892 die Münchner Sezession. Als Professor für Kunst an der Akademie in München unterrichtete er ab 1895 – unter anderem Paul Klee und Wassily Kandinsky. 1906 wurde er in den persönlichen Adelsstand erhoben.
Die Leute huldigten ihm freimütig – zu seinem fünfzigsten Geburtstag gab es einen bombastischen Fackelzug zu seiner Residenz. Der Meister erhielt den Mythos um seine Person, den er selbst geschaffen hatte, bis zum Schluss aufrecht.
Franz von Stuck starb am 30. August 1928 in München.
Seine Werke hängen in Museen auf der ganzen Welt.
(Franz von Stuck, 1890, Radierung, 30x25cm, Metropolitan Museum of Modern Art, New York)
Präzise in dem Moment, als das Wasser in ihre Gummistiefel schwappte, erhellte ein Blitz den grauen Nachmittagshimmel, unmittelbar gefolgt von krachendem Donner. Das Gewitter stand direkt über Hettie. Es dauerte ein wenig, bis sich ihre Gänsehaut wieder legte. Sie hasste kalte Füße, nasse kalte Füße noch mehr, und es war sicherlich kein Intelligenzbeweis, dass sie sich während eines Unwetters in einem Bach aufhielt. Aber was getan werden musste, duldete keinerlei Aufschub.
Mit einem gemurmelten »Ist eh schon wurscht« ging sie in die Knie. Dabei schwappte das Wasser über ihre Oberschenkel, doch was machte das noch für einen Unterschied? Nasser als nass war schließlich nicht möglich. Es goss wie aus Kübeln. Mit beiden Händen griff sie beherzt in das Absperrgitter des Bachlaufs. Büschelweise rupfte sie Schlingpflanzen, Laub und Schilf heraus und warf sie ans Ufer, wieder und wieder. So lange, bis das Gitter frei war und das Wasser wieder ungehindert hindurchfließen konnte. In letzter Minute hatte Hettie den Bach vor dem Überlaufen bewahrt. Die Fische würden ihr diesen furchtlosen Einsatz hoffentlich danken. Ein erneuter Blitz rief sie zur Vernunft. Mit schmatzendem Schuhwerk rannte sie über die Wiese, den Hügel hinauf und zur Hintertür des herrschaftlichen Anwesens, welches ihn krönte. Bevor sie hineinging, schlüpfte sie aus ihren Gummistiefeln und kippte das darin befindliche Wasser in einen Geranientopf, der neben dem altmodischen Klingelzug stand. Vor dem Garderobenspiegel packte sie ein kurzer Moment des Grausens. Erst gestern war Hettie beim Friseur gewesen, hatte für Ansatzfarbe, Schneiden und Glattföhnen der Locken einen obszön hohen Geldbetrag bezahlt. Und jetzt sah ihr rotblondes Haar wie ein nasser Topfreiniger aus. Um genau zu sein, fühlte es sich auch so an. Die saftigen Geräusche, die ihre Socken auf dem Fliesenboden machten, ermahnten sie, sich zuerst um größere Probleme wie die völlig durchnässte Kleidung zu kümmern, und erst danach um die Frisur. Beinahe schaffte sie es ins obere Stockwerk, doch ein Knarzen der alten Holzstufen alarmierte Hetties Mutter.
»Henriette!«
Wie kann eine Frau Mitte siebzig während eines Gewitters ein derartig leises Geräusch durch mehrere Wände und Türen hindurch hören?, fragte sie sich entnervt. Einen Moment lang befürchtete Hettie, ihre Mutter würde in Ohnmacht fallen.
»Wie siehst du aus! Vollkommen verdreckt! Nass! Und deine Frisur! Du hattest doch ordentlich geföhnte Haare.«
»Ich musste den Bachlauf frei machen.«
»Das ist Gregors Aufgabe!«
»Der Gärtner hat geregelte Arbeitszeiten, Mutter. Es ist nicht mehr so wie früher, wo man rund um die Uhr Zugriff auf das Dienstpersonal hatte, weißt du? Heute ist Sonntag, da arbeitet der Gregor nicht.«
»Deswegen musst du noch lange nicht …«
»Muss ich wohl. Gregor hätte die Absperrung schon letzte Woche reinigen sollen. Hat er aber nicht gemacht. Und jetzt wäre der Bach beinahe übergelaufen bei dem starken Regen. Dann hätten wir die Forellen von der Wiese aufklauben können. Wäre dir das lieber gewesen?«
»Gute Güte, nein. Selbstverständlich nicht.« Nachdenklich spielte ihre Mutter mit der Perlenkette um ihren Hals. Enerviert wedelte sie mit der Hand. »Gerade wo sich deine Tante für übermorgen angesagt hat. Natürlich mit ihren Enkelkindern, allen fünf! Die werden genug Dreck machen, da brauchen wir nicht auch noch ein Fischsterben. Jetzt bring dich erst einmal in einen ansehnlicheren Zustand, der Tee wird sonst kalt.«
Fünfzehn Minuten und eine heiße Dusche später betrat Hettie in einem knielangen Strickkleid den traditionell möblierten Salon und stellte erfreut fest, dass im Kamin Feuer brannte.
»Besser.« Unter dem kritischen Blick ihrer allzeit eleganten Mutter kam sich Hettie wie eine Achtjährige vor, obwohl sie bereits fünfundvierzig war. Das würde sich nie ändern. Fröstelnd hielt sie ihre Hände über die Flammen.
»Die Eisheiligen bringen immer kaltes Wetter. Besonders schlimm, dieses Jahr.«
»Die sind erst in zwei Wochen, Mama. Es ist einfach nur ein mieser, verregneter April.«
»Na, dann wirst du ja froh sein, wenn du Bayern den Rücken kehren und mich hier allein lassen kannst.«
Amüsiert goss sich Hettie eine Tasse Tee ein. »Du tust so, als würde ich in die Karibik auswandern. Ich fahre nach Sylt, wo es sicher alles andere als tropisch werden wird. Und ich bleibe nur ein paar Tage. Außerdem kommt sowieso Tante Mausi.«
»Gerade da bräuchte ich deine Unterstützung. Die Mausi hat die ganze Rasselbande im Schlepptau, die werden hier alles auf den Kopf stellen!«
»Papa ist auch noch da.«
»Der wohnt aber mittlerweile quasi auf dem Golfplatz.«
»Dann geh halt mit Golf spielen, Mama, meine Güte! Du weißt doch, dass ich das Bild zur Ausstellung bringen muss. Das gebe ich nicht aus der Hand.«
»Ich verstehe nicht, weshalb du so ein Gewese um das Ding machst.«
»Ist dir schon mal aufgefallen, dass ich seit zwei Jahren allein für die Ausbildung meiner Kinder aufkomme? Ich weiß, du sprichst nicht gerne über den schnöden Mammon, aber so eine Uni in England ist nicht gerade billig. Und überhaupt fliegt mir das Geld nicht zum Dach rein. Wenn ich das Bild auf der Ausstellung präsentiere, gibt es sicher den ein oder anderen Interessenten und falls nicht – der Vorsitzende der Kunstfreunde Sylt möchte es sicher haben. Der macht ein Kaufangebot nach dem nächsten, obwohl er es noch nicht mal gesehen hat.«
»Du willst es verkaufen?« Nun wirkte ihre Mutter allen Ernstes frappiert.
»Lieber dieses Gemälde als eines aus dem Familienbesitz. Ich nehme an, du hast nichts dagegen, wenn ich es für einen guten Preis abstoße?«
»Natürlich nicht. Es hat keinerlei emotionalen Wert für uns, zumal es doch der Schimmelreiter erstanden hat.« Damit bezog sie sich auf Hetties Mann, Friedrich Schimmelreiter.
»Lass bitte den Fritz aus dem Spiel.«
»Immer noch auf seiner Seite, was? Na, die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Finde dich besser endlich damit ab, Henriette. Der kommt nicht wieder. Wobei sein Verschwinden das einzig Anständige ist, was dieser Betrüger jemals für uns getan hat.«
»Mutter!«
»Du musstest ihn ja unbedingt haben, damals. Weil er so ein wilder Kerl war. Ein irrsinniger Aufschneider, mehr steckte nicht dahinter. Wenigstens hat er dir zwei Söhne beschert, besser als nichts …«
Hettie schaltete auf geistigen Durchzug. Wie das täglich grüßende Murmeltier leierte ihre Mutter immer wieder dieselben Tiraden herunter, sobald die Rede auf Friedrich Schimmelreiter kam. Um sich nicht aufzuregen, dachte Hettie lieber an die Insel. Sie würde der Ausstellungseröffnung der Stiftung Kunstfreunde Sylt beiwohnen, viel Fisch essen, die Seeluft genießen und es sich richtig gut gehen lassen. Und wenn sie nach ein paar Tagen wieder heimkäme, wären Tante Mausi und ihre schreckliche Brut längst abgereist.
Am späten Nachmittag verzog sich das Gewitter, der Himmel klarte auf. Hettie schlang sich einen Wollponcho um die Schultern und ging hinaus. Sie atmete tief durch, um die herrliche Luft bis in die hintersten Winkel ihres Körpers dringen zu lassen. Ihr Haar war erwartungsgemäß zu wilden Wellen getrocknet, dahin war die liebe Mühe der Friseurin.
Seit dem Verschwinden ihres Mannes lebte Hettie wieder auf Schloss Rieding, dem Landsitz ihrer Eltern. Weil ihre beiden Söhne im Ausland studierten und sie nicht allein in Frankfurt bleiben wollte, war sie in die bayerische Heimat zurückgekehrt. Schon als Kind hatte sie die Höhenzüge der Alpen geliebt, die sich beim Blick in die Ferne vor ihr erhoben. Die scheinbar unveränderlichen Berge gaben ihr das Gefühl von Stabilität. Egal, wo sie im Leben stand, ob es ihr gut ging oder schlecht, ob als kleines Mädchen oder erwachsene Frau – die Berge waren immer da, immer gleich, immer konstant. Für Hettie verkörperten sie Heimat – mehr noch als Schloss Rieding. Ihr Vater hatte vergeblich versucht, ihr die Namen der einzelnen Silhouetten beizubringen. Dabei kam es ihr darauf nicht an. Sie wollte nichts auswendig lernen, sondern ihre Gedanken auf die Reise schicken. So wie jetzt, als das sanfte Licht des Nachmittags die regennassen grünen Wiesen zum Glitzern brachte. Die Wälder, die nach und nach verschwanden, je höher die Hänge anstiegen. Und schließlich die verschneiten Gipfel, auf denen sich ihre Augen ausruhen konnten, bis sich Hettie besser fühlte. Das funktionierte immer.
Als sie zu frösteln begann, ging sie wieder hinein, direkt und ohne Umwege in ihre Räumlichkeiten, dieses Mal unbemerkt von ihrer Mutter. Wahrscheinlich hatte die sich den Tee ordentlich mit Hochprozentigem aufgepeppt und schlummerte nun in ihrem Ohrensessel. Gut so.
Natürlich hätte sie das Ölgemälde für die Ausstellung auch versenden können. Aber das kam nicht infrage. Laut einer Expertise, die Friedrich vor dem Kauf eingeholt hatte, lag der Wert des Kunstwerks so hoch, dass Hettie es in jedem Fall persönlich begleiten würde. Vor allem, da sie beabsichtigte, es zu verkaufen – Versicherung hin oder her. Überhaupt machte ihr die Reise nichts aus, im Gegenteil, sie freute sich auf Sylt. Für die Dauer ihres Aufenthalts würde Hettie im Ferienhaus einer Freundin wohnen, die es nur im Sommer ein paar Wochen nutzte und Ende April keinen Fuß auf die Insel setzte. Als sie das Bild in die Hand nahm, um es zu verpacken, genoss sie einen letzten Blick darauf.
Die Sünde, ein typisches Motiv für Franz von Stuck, welches er viele Male verewigt hatte. Es sah dem berühmtesten, aus dem Jahre 1893 stammenden Werk des bayerischen Künstlerfürsten ähnlich, verfügte aber nicht über dessen bombastischen Goldrahmen und das Modell war ein anderes gewesen. Hübscher, wie Hettie fand. Eine nackte Frau mit schwarzem Haar, milchweißer Haut, die von innen zu leuchten schien, Lippen wie Rosenknospen, dazu ein lasziver Blick. Um ihre Schultern lag die obligatorische Schlange, bedrohlich und unproportional mächtig. Ihr fleischiger Körper wand sich fordernd um die Taille der jungen Frau, als ob sie sie jeden Moment erdrücken wolle. Während die Augen des Modells versonnen in die Ferne gerichtet waren, blickte das Tier direkt aus dem Bild heraus. Sein Kopf schob sich über die Schulter, bis an den Busen der Schönen, wo er verharrte und den Betrachter aus provokanten grünen Reptilaugen musterte. Sollte die Schlange züngeln, würde sie an der Brustwarze lecken, war ein Gedanke, der sich unweigerlich aufdrängte. Der Inbegriff der Sünde, ein prächtiges Gemälde. Friedrich war völlig aus dem Häuschen gewesen, als er es erstanden hatte. Von wem und für wie viel hatte Hettie ihn nie gefragt. So war es immer am besten gewesen, wenn es um die Geschäfte ihres Mannes ging.
Manchmal wunderte sie sich, ob ihre Mutter am Ende doch recht hatte. War ihre Ehe reiner Trotz gewesen, um den Eltern eins auszuwischen? Wäre sie nicht sofort schwanger geworden, zuerst mit dem einen Sohn und kurz nach dessen Geburt mit dem zweiten, wäre sie vielleicht viel früher zur Vernunft gekommen. So jedoch hatte Hettie die letzten beiden Jahrzehnte an der Seite eines Mannes verbracht, der sich selbst als Entrepreneur bezeichnete, dabei nichts auf die Reihe brachte und irgendwann verschwand wie ein Kaninchen im Hut eines Zauberers. Abrakadabra, puff und weg. Einfach so. Hinter den Trick war sie freilich noch nicht gekommen, aber es musste ein brillanter sein.
(Franz von Stuck, 1928, unvollendet, Öl auf Leinwand, 100x68cm, Privatbesitz)
»Gnädige Frau, Sie sehen hinreißend aus! Wie eine moderne Tilla Durieux.« Das nordische Näseln von Roger Theissen klang zwar sonor, aber irgendwie erinnerte Hettie der Vorsitzende der Stiftung Kunstfreunde Sylt an Theo Lingen, den Schauspieler. Vielleicht weil er auch ähnlich runde, leicht hervorstehende Augen hatte? Oder nach hinten gegeltes Haar?
»Wie bitte?«
»Tilla Durieux, eine österreichische Schauspielerin. Sie stand Franz von Stuck Modell für die Circe, eines seiner berühmtesten Werke.«
»Ach so. Und Sie finden, ich sehe so aus?« Verwirrt bedankte sie sich für das Kompliment – vermutlich war es eines – und ließ sich an seinem Arm durch den Ausstellungsraum führen. Noch war der Kunstfrühling Sylt nicht eröffnet, lediglich Stiftungsmitglieder durften vorab schon einmal die Preziosen bewundern. Unangefochtener Stargast war natürlich Die Sünde, auf die alle gespannt warteten. Theissen enttäuschte die Anwesenden mit der Ankündigung, er werde das Werk bis zur offiziellen Eröffnungsfeier unter Verschluss halten. Er selbst hatte sich begeistert davon gezeigt, es ausgiebig studiert und dann im Tresor des Stiftungsgebäudes verstaut.
»Wie er mit Licht und Schatten gespielt hat, beeindruckend, finden Sie nicht?«
»Wie bitte?« Hettie hatte kurz nicht aufgepasst und keine Ahnung, was Theissen meinte.
»Von Stuck. Das Gemälde.«
»Ach so, ja«, sagte sie brav, »stimmt.«
»Ich verehre Franz von Stuck über die Maßen. Wussten Sie, dass er für sein Werk Dissonanz selbst Modell stand?«
Soweit Hettie sich erinnerte, zeigte dieses Bild zwei Faune: einen kleinen Jungen, der anscheinend wenig harmonisch auf einer Panflöte blies, und einen Erwachsenen, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Ohren zuhielt. Er wird sich wohl kaum als Kind verewigt haben, dachte sie, und sagte laut: »Ach wirklich? Sah er sich denn als Faun?«
»Der Meister konnte sein, was er wollte.« Theissens Antwort erinnerte Hettie an einen Teenager, der von seinem Idol schwärmt. »Er fertigte verschiedene Studien für das Gemälde an, Fotografien von sich in Pose, nackt auf einem Stuhl sitzend.«
»Hielt er sich dabei auch die Ohren zu?«
»Aber ja, meine Liebe, ganz richtig!« Begeistert referierte Roger Theissen weiter und Hettie fragte sich, mit welcher ihrer Äußerungen sie ihn wohl dazu ermutigt hatte. Höflichkeit war nicht immer von Vorteil, entschied sie. Dennoch nippte sie geduldig an ihrem Proseccoglas und lächelte freundlich all den fremden Gesichtern zu, die ihr vorgestellt wurden. Gerade stand ein unrasierter Herr vor ihr, mit ausgreifender Stirnglatze, schulterlangem Grauhaar und einem Paisleyschal um den Hals – sicher ein Künstler, dachte sie –, der ihr die Hand schüttelte.
»Schimmelreiter?«, wiederholte er nachdenklich ihren Namen. Heute hatte noch niemand den unvermeidlichen Witz über Theodor Storms Novelle gemacht, deswegen rüstete sich Hettie für eine Entgegnung. Doch der alte Kalauer blieb aus. Stattdessen machte sich so etwas wie Resignation auf dem Gesicht des Mannes breit.
»Das ist Professor Kollenbosch«, half Theissen. »Er hält den Lehrstuhl für Malerei an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und verbringt seine vorlesungsfreie Zeit hier auf der Insel.«
»Schimmelreiter«, wiederholte Kollenbosch noch einmal, was Roger Theissen offensichtlich auf die Nerven ging, denn er zischte den Professor regelrecht an: »Ja, Henriette Schimmelreiter. Aus Bayern. Ihr gehört Die Sünde. Das wissen Sie doch!«
Nach einigen Floskeln bemühten Smalltalks rückte sich Kollenbosch seine kreisrunde, mit einem übertrieben dicken braunen Rahmen ausgestattete Brille auf der Nase zurecht und verabschiedete sich. Er schien ein wenig tüdelig zu sein. Theissen zog Hettie weiter zu einem wohlbeleibten und über und über mit Schmuck behängten Paar, das er als Ehepaar Harmsen vorstellte. Jens und Georg Harmsen.
Insgeheim befand Hettie, dass die Mitglieder der Kunststiftung ein interessanter Mix waren. Im direkten Vergleich war die oberbayerische Kunstszene geradezu spießig. Wer hätte gedacht, dass die Nordlichter so progressiv waren?
Jens und Georg entpuppten sich als äußerst amüsante Gesprächspartner, bei denen Hettie gern stehen blieb. Sehr zum Verdruss von Roger Theissen, der wohl allen Ernstes vorgehabt hatte, sie jedem einzelnen Anwesenden vorzustellen – was sie hiermit verweigerte. Schließlich gab er es auf und setzte seine Begrüßungsrunde allein fort.
Nach einer weiteren halben Stunde blickte Hettie verstohlen zuerst auf ihre Uhr, dann ans andere Ende des Raums, wo sich Theissen gerade aufhielt.
»Falls Sie sich absetzen wollen, zeige ich Ihnen den Hinterausgang«, flüsterte Georg Harmsen verschwörerisch. Er war mindestens fünfzehn Jahre jünger als sein Ehemann und sah beinah aus wie einer dieser Puttenengel, mit Pausbacken und einem fröhlichen Gesicht.
Ertappt spürte Hettie, wie sie rot wurde. »Ich dachte nicht, dass der Sektempfang so lange dauert. Ehrlich gesagt, habe ich noch nicht einmal meine Sachen ausgepackt, weil Herr Theissen schon auf mich gewartet hat.«
»Roger kennt keine Gnade, wenn es um seinen Lieblingskünstler geht. Dabei gibt es außer Bildern und Skulpturen auch ein richtiges Leben, das scheint er gerne zu vergessen. Er ist besessen von der Kunst und besonders von Franz von Stuck.«
»Bei dem Drachen, den er zu Hause hat, sei ihm das verziehen.« Jens Harmsen kicherte boshaft, wobei sein Doppelkinn lustig mitwippte, und ignorierte den strafenden Blick seines Mannes.
»Kommen Sie.« Die zwei hakten Hettie unter und zogen sie in einen Nebenraum, der auf den Flur hinausführte. »Er sieht gerade nicht rüber, das ist Ihre Chance.«
Dankbar ging Hettie mit den beiden. Nach der Anreise und dem anstrengenden Empfang stieg ihr der Prosecco schnell zu Kopf. Gegessen hatte sie auch noch nichts. Sie würde sich auf dem Weg zum Ferienhaus irgendwo ein vorgezogenes Abendessen zum Mitnehmen besorgen und dann gemütlich die Füße hochlegen. Der Strandspaziergang würde warten müssen, draußen war es windig und regnerisch und sie fühlte sich erschlagen. Immerhin musste sie für die offizielle Ausstellungseröffnung am nächsten Tag wieder fit sein. Nur leider kam es gar nicht erst dazu.
(Franz von Stuck, 1910, Öl auf Holz, 70x76cm, Museum Villa Stuck, München)
Polizeichef Nanne Bruns fühlte sich wie von einer Dampfwalze überrollt. Sämtliche Herausforderungen, die er beruflich zu meistern hatte, waren nichts gegen die lähmende Schlaflosigkeit, die mit der Geburt seines Sohnes zu Hause eingezogen war. Er hatte ihm doch eben erst das Fläschchen gegeben, wieso lärmte er schon wieder? Unwirsch stieß er seine Frau neben sich im Bett an.
»Du bist dran«, murmelte er im Halbschlaf.
»Nein«, kam die ebenso schlaftrunkene Antwort. »Das ist dein Diensthandy, nicht dein Sohn. Aber wenn du nicht sofort drangehst, wird er aufwachen …«
Bloß das nicht. Bruns sprang so schnell auf, dass ihm schwindlig wurde, griff nach dem Telefon und stürmte damit aus dem Schlafzimmer. Nur nicht das Baby aufwecken, das wäre der Supergau.
»Wir haben einen Einbruch-Diebstahl, Chef«, schnarrte die Stimme seines Assistenten Schmitz aus dem Hörer. Er klang nicht müde, sondern aufgeräumt wie immer.
»Wissen Sie, wie spät es ist?«, zischte Bruns.
»Halb fünf. So was passiert meistens nachts. Statistisch gesehen …«
»Mich interessiert um diese Uhrzeit keine Statistik, Schmitz. Warum wickeln Sie den Vorgang nicht ab?«
»Weil man ausdrücklich nach Ihnen verlangt hat. Ist etwas heikel, die Sache.«
Langsam kam Bruns zu sich. Müde war er immer noch und gleichzeitig genervt. »Wer hat nach mir verlangt? Drücken Sie sich bitte ein wenig genauer aus.« Durch die Schlafzimmertür hörte er, dass das Baby anfing zu weinen. Na toll.
»Hatte ich das nicht gesagt? Roger Theissen, der Vorsitzende der Stiftung Kunstfreunde Sylt. Hohes Tier. Heute Nacht wurde aus dem Stiftungshaus ein wertvolles Gemälde geklaut, und er tickt gerade völlig aus. Irgendeine vornehme Dame aus Bayern ist auch hier, der gehört das Bild. Und weil die Alarmanlage losgegangen ist, drückt sich die gesamte Nachbarschaft ebenfalls hier rum. Besser, Sie kommen gleich, Chef.«
Mit schicksalsergebenem Gesichtsausdruck und dem schreienden Baby auf dem Arm marschierte seine Frau an ihm vorbei in die Küche, um ein Fläschchen zuzubereiten. Das erleichterte Bruns die Entscheidung. Laut sagte er in den Hörer: »Wenn es unbedingt sein muss, Schmitz, dann mache ich mich sofort auf den Weg.«
Die Villa der Stiftung, ein großes, reetgedecktes Haus, lag in Kampen, ein wenig abseits des Zentrums. Im Garten standen zahlreiche Skulpturen, die in der Dunkelheit nur dadurch von den Schaulustigen zu unterscheiden waren, dass sie sich nicht vom Fleck rührten, als Polizeihauptmeister Schmitz alle des Grundstücks verwies, die hier nichts zu suchen hatten. Selbstverständlich erst, nachdem sämtliche Personalien aufgenommen waren. Bruns holte sich kurz die wichtigsten Informationen und trat dann auf Roger Theissen zu. Der hatte sich offenbar in Eile angekleidet, denn der Kragen seiner Wachsjacke war nach innen umgestülpt und die Cordhose hing ohne Gürtel tief auf der Hüfte. Auch die Frisur wirkte derangiert. Gerade strich er sich unwirsch eine Haarsträhne hinters Ohr, die ihm aber sofort wieder nach vorn rutschte. Bruns konnte sich Theissens Wutausbruch bildlich vorstellen, das knallrote Gesicht des älteren Herren fiel sogar unter der spärlichen Straßenbeleuchtung vor dem Grundstück auf. Hoffentlich war es nur Ärger und keine Herzproblematik, denn einen medizinischen Notfall brauchte Bruns in dem ganzen Chaos nicht auch noch.
»Kriminalkommissar Nanne Bruns«, stellte er sich vor. »Ich bin der Chef der Kriminalpolizei auf Sylt und kann Ihnen versichern, dass wir alles tun werden, um Ihr gestohlenes Gemälde schnellstmöglich wiederzufinden.«
Während Theissen Luft holte, um etwas zu sagen, schritt eine große Frau von der Seite ein. »Mein Gemälde. Es gehört mir, nicht ihm.«
»Und Sie sind?«
»Henriette Schimmelreiter.«
Ein amüsiertes Zucken spielte für einen Moment um Bruns‘ Mundwinkel. An und für sich wäre es unsichtbar gewesen, hätte der Kommissar nicht ein außerordentlich ernstes Gesicht, welches durch jedwede Gefühlsregung schlagartig verändert aussah. Daher konnte er sicher sein, dass sie das verdrückte Grinsen bemerkt hatte. Peinlich. »Sie stammen aber nicht von hier?«
»Nein. Ich bin extra mit meinem Stuck aus Bayern angereist, um ihn auf Herrn Theissens ausdrücklichen Wunsch hin bei seiner Ausstellung zu präsentieren.«
»Was ist ein Stuck?«
Nun ergriff Theissen das Wort. »Franz von Stuck. 1863 bis 1928, der Maler des geraubten Werks! Mann, Mann, Mann …«
Während sie ins Haus gingen, raunte Bruns Schmitz zu: »Muss man den kennen?«
Hinter ihnen protestierte Theissen lautstark, weil er draußen vor dem Gartenzaun bleiben musste. Schmitz wiederum zückte sein Smartphone und tippte mit beiden Daumen, dann las er ab: »Franz von Stuck war ein berühmter bayerischer Maler, der die sogenannte Münchner Sezession mitbegründete. Kann ich ja später mal weitergoogeln, was das sein soll. Jedenfalls malte dieser Stuck gerne öfter das Gleiche, zum Beispiel Faune, Zentauren und vor allem nackte Frauen. Berühmt wurde er durch seine Interpretation von Eva mit der Schlange. Das Ganze nannte er jedes Mal Die Sünde. Selbes Thema, mehrere Varianten.« Er steckte das Handy wieder weg. »Eine neu aufgetauchte ebensolche gehört Frau Schimmelreiter, sollte morgen bei der Ausstellung vorgestellt werden, wurde heute Nacht gestohlen und ist nach Aussagen der Besitzerin fast eine halbe Million Euro wert. Wobei ich diese Summe infrage stellen würde, scheint mir doch ordentlich hoch angesetzt zu sein. Kann ich aber auch googeln.«
Mittlerweile hatten die zwei Beamten das Büro des Stiftungshauses im ersten Stock erreicht. Herr Theissen regte sich draußen immer noch auf. Und Frau Schimmelreiter bestand darauf, in ihr Ferienhaus zurückgebracht zu werden, teilte ihnen einer der Kollegen mit. Bruns war das recht. Er würde die beiden in Ruhe befragen, nachdem er sich einen Überblick verschafft hatte. Theissens autoritäre Art flößte ihm keine Angst ein. Seit seinem Amtsantritt auf Sylt vor einem Jahr war dem gebürtigen Hamburger aufgefallen, dass es hier anscheinend überproportional viele Einwohner gab, die sich wahnsinnig wichtig nahmen und gern anderen respektlos über den Mund fuhren, wenn sie ihr Gegenüber für sozial nicht gleichwertig hielten. Selten spiegelte sich Bruns‘ Abneigung gegen derartige Zeitgenossen in seinem gleichmütigen Gesichtsausdruck wider, aber bei Theissen konnte er sich nur schwer beherrschen. Es war Antipathie auf den ersten Blick. Unprofessionell, schon klar. Weil Bruns ein Profi war, würde er seine persönlichen Präferenzen daher hintenanstellen und Roger Theissen genauso behandeln wie jeden anderen auch.
»Statistisch gesehen ist das Hauptmotiv für Kunstraub Bereicherung«, unterbrach Schmitz die Gedanken des Kommissars, »und wird meist von Profis als Auftragsarbeit durchgeführt. Allerdings ist der Aspekt des Versicherungsbetrugs nicht zu vernachlässigen«, fügte er hinzu, als könnte er einen Einwand vorausahnen.
Bruns würde sowohl Theissen als auch diese Frau Schimmelreiter erst einmal als Verdächtige behandeln. Wieso musste die Dame mit einem sündhaft teuren Gemälde eines bayerischen Malers, den hier im Norden sicher kein Mensch kannte, durch die gesamte Republik reisen? Das machte irgendwie einen dubiosen Eindruck.
»Der Tresor wurde nicht aufgebrochen«, sagte Schmitz gerade.
Bruns betrachtete das mannshohe, in die Wand eingemauerte Ungetüm. Auf mehreren Etagen lagen zusammengerollte Leinwände, Schatullen und antik aussehende Bücher. Das unterste Fach war so hoch, dass man auch kleinere Keilrahmen darin abstellen konnte. Es sah aus, als wäre außer Der Sünde nichts gestohlen worden. Schmitz bestätigte dies.
Nachdem er alles genau in Augenschein genommen hatte, trat Bruns wieder nach draußen. Die Sonne ging gerade auf und ein frischer Wind hätte die letzten Anzeichen von Müdigkeit aus seinem Gesicht vertreiben können, wenn nicht sein Schlafkonto aufgrund des Babys ohnehin hoffnungslos im Minus gewesen wäre. So freute sich Bruns zwar über die angenehme Seeluft, sah aber übernächtigt und deutlich älter aus als seine sechsunddreißig Jahre.
Weil seine Frau es nicht erfahren würde, schnorrte er von einem Kollegen eine Zigarette und inhalierte den Rauch tief. Dabei glitt sein Blick zu einer der im Garten stehenden Skulpturen. Zwei nackte Männer, die im Stil der griechischen Antike miteinander rangen. Ihre Schenkel waren muskelbepackt, ebenso die Arme, die Gesichter in Anstrengung verzerrt. Bruns wunderte sich, warum der Künstler den beiden Marmorgiganten nur winzige Penisse zugedacht hatte, verfolgte den Gedanken jedoch nicht weiter, denn schon war Schmitz wieder an seiner Seite.
»Hatten Sie nicht aufgehört?«, fragte er und zeigte mit dem Finger auf die Zigarette.
»Doch. Das ist eine Ausnahme.«
»Ist klar. Die Spurensicherung braucht noch eine Weile. Wir werden die Ergebnisse erst in einigen Stunden bekommen. Vorher macht es auch keinen Sinn, eventuelle Verdächtige zu befragen. Sie wissen schon, Theissen, Schimmelreiter und die Stiftungs-Typen. Wir könnten nach Hause fahren. Immerhin wäre theoretisch noch nicht Dienstbeginn.«
Bruns musste nicht lange überlegen. »Fahren Sie heim, Schmitz, wir sehen uns später auf der Wache.«
Er selbst begab sich auf direktem Weg in sein Büro. Dort war es ruhig. Kein Baby schrie. Nur für einen kurzen Moment würde er die Augen schließen. Bruns löste die Rückenfeststellung seines Schreibtischstuhls und lehnte sich entspannt zurück. Innerhalb von dreißig Sekunden war er eingeschlafen.
(Franz von Stuck, 1909, Öl und Tempera/Holz, 115x110cm, Hessisches Landesmuseum, Darmstadt)
Hettie trank das pechschwarze Gebräu, das Polizeihauptmeister Schmitz ihr als Kaffee angeboten hatte, in kleinstmöglichen Schlucken und bemühte sich, ein Schaudern zu unterdrücken. Freundlich lächelte sie ihm zu, unfähig, etwas zu sagen, weil die Brühe schockierend bitter schmeckte.
Schmitz musste südländische Vorfahren haben, mit seinem mediterranen Teint, dem dunklen Haar und den schokobraunen Augen. Der junge Beamte sah sensationell gut aus, schien sich dessen aber nicht bewusst zu sein. Ein seltener Umstand, wie Hettie fand, überschätzten doch Männer für gewöhnlich ihre Attraktivität. Der Polizeihauptmeister tippte nun konzentriert etwas in seinen Computer, ohne auf die flirtbereiten Blicke der Sekretärin am Schreibtisch gegenüber zu reagieren. Nicht einmal, als eine andere Kollegin hereinkam, um sich sinnloserweise hier herumzudrücken, sah er auf, und so entging ihm, wie sie ihn beide anschmachteten.
Hettie wartete auf Kommissar Bruns. Das machte ihr nichts aus, denn es war äußerst kurzweilig auf der Polizeidienststelle. Schließlich verließen die zwei Sekretärinnen mit hängenden Mundwinkeln den Raum.
»Schmeckt Ihnen der Kaffee?«, fragte Schmitz, als sie allein waren.
»Hm, ja, danke.«
»Ich kann den nicht trinken. Wissen Sie, ich mag keinen Filterkaffee. Meine Mutter kommt aus Sizilien und bei uns daheim gibt es immer richtig guten Espresso. Wenn man damit aufgewachsen ist, schnürt einem das Zeug hier die Kehle zu.«
Das erklärte einiges. Hettie konnte ihm nur auf ganzer Linie zustimmen.
»Über siebzig Prozent der Deutschen besitzen noch eine Filterkaffeemaschine«, informierte er sie. »Ist das nicht erschreckend?«
In diesem Moment kam Bruns herein und bat Hettie und Schmitz, mit in den Verhörraum des Kommissariats zu kommen. Erstaunt zog sie die Augenbrauen hoch. War das nicht etwas übertrieben? Ihre Aussage hätte sie genauso gut im Büro machen können, aber wenigstens bot sich so eine Gelegenheit, die volle Kaffeetasse dezent zurückzulassen.
»Fürs Protokoll: Ihr Name ist Henriette Schimmelreiter und Sie sind die Besitzerin des gestohlenen Gemäldes?«
»Das stimmt. Haben Sie schon eine Spur? Zum Beispiel mal bei Herrn Theissen nachgehakt?«
»Können wir uns darauf einigen, dass ich die Fragen stelle?«, meinte Bruns irritiert, stutzte dann aber. »Wieso?«
»Nach meiner Ankunft auf Sylt habe ich Die Sünde Herrn Theissen übergeben und dabei hat er mir die wunderschöne Villa der Kunstfreunde gezeigt. Ich habe auch den Tresor im Büro gesehen.«
»Ja, und?«
»Das Bild hat die Maße 106 auf 96 Zentimeter, inklusive Rahmen.«
Schwer zu sagen, was in Bruns‘ Kopf vorging, zu unbewegt war sein Gesicht. Er sah nicht hässlich aus, auch nicht besonders schön, sondern verkörperte genau das, was Hettie als durchschnittlich bezeichnen würde.
»Dann hätte es unmöglich in den Tresor gepasst«, warf Schmitz hilfsbereit ein.
»Danke, das ist mir ebenfalls klar«, zischte Bruns. »Vielleicht hat Theissen es vom Rahmen genommen, um es hineinzulegen.«
Hettie schüttelte den Kopf. »Niemals. Die Leinwand ist auf der Rückseite stabil mit dem Holz verbunden.«
»Warum stand dann der Tresor offen?«
»Das sollten Sie Herrn Theissen fragen. Jedenfalls war ich von Anfang an skeptisch, als er meinte, er würde Die Sünde im Büro einschließen und alles wäre mit einer Alarmanlage prima abgesichert. Die ging wohl auch los – nur, bis Sie und Ihre Leute eintrafen, war das Bild längst weg. Es dürfte Sie interessieren, dass Herr Theissen mir mehrere Kaufangebote für das Gemälde unterbreitet hat. Wir waren allerdings weit von einer Einigung entfernt.«
»Dann wollten Sie es verkaufen?«
»Ja, falls der Preis stimmt. Tat er aber nicht. Und nun ist es verschwunden. Wie praktisch. Natürlich hat die Stiftung Kunstfreunde Sylt eine Versicherung darauf abgeschlossen. Noch praktischer.«
Bruns kratzte sich hinter seinem rechten Ohr. Vermutlich juckte es ihn nicht wirklich, sondern es war nur so eine Art Verlegenheitshandlung. Hettie beobachtete dies nämlich bereits zum dritten Mal, seitdem er das Verhör begonnen hatte. Die tiefliegenden Augen und der kleine Mund ließen sein Gesicht verkniffen wirken, besonders wenn er so wie in diesem Moment, die Lippen aufeinanderpresste. Er machte einen erschöpften Eindruck. Das waren ja tolle Voraussetzungen für das Wiederfinden ihres Gemäldes. Ein frustrierter, überarbeiteter Beamter, der so tat, als wäre er völlig genervt davon, ermitteln zu müssen.
»Dann sind Sie der Meinung, Herr Theissen hat Ihr Bild geklaut, weil Sie es ihm nicht zum Schnäppchenpreis überlassen wollten?«
»Es liegt mir fern, Verdächtigungen anzustellen.«
»Schon klar. Was ist das gute Stück denn wert?«
»Ich habe die Expertise eines Kunstgutachters, der den Wert auf 450.000 Euro beziffert.«
Anerkennend pfiff Bruns durch die Zähne. »Und was hat Theissen dafür geboten?«
»280.000.«
»Zu dem Preis hätte ich auch nicht verkauft«, wandte Schmitz ein. Bruns drehte sich auf seinem Stuhl zur Seite, warf ihm einen seiner ausdruckslosen Blicke zu und setzte sich dann wieder gerade hin. Er blätterte in den Unterlagen.
»Danke, Frau Schimmelreiter. Wir haben ja Ihre Adresse hier auf der Insel. Ich darf Sie bitten, noch nicht abzureisen.«
»Natürlich bleibe ich, was denken Sie denn? Ich will schließlich mein Eigentum zurückhaben.«
»Sie können dann gehen.«
»Herr Kommissar, ich mische mich ungern ein, aber haben Sie schon mal daran gedacht, dass in diesem Fall äußerste Eile geboten ist? Sobald Die Sünde von der Insel weggeschafft wurde, wird es schwierig werden, sie noch zu finden.«
»Das ist mir durchaus klar.« Mit einem Mal war es nicht schwer, im Gesicht des Kommissars zu lesen. Gereizt zog er die Augenbrauen zusammen und minimierte seine Lippengröße von zusammengepresst auf strichdünn.
Ach, schau, dachte Hettie, ganz gefühllos ist er also nicht.
Vom Polizeirevier in Westerland fuhr sie zu ihrem Ferienhaus nach Keitum und war froh über ihren Mietwagen, denn auf dem Weg dorthin pfiff eine steife Brise über die flache Landschaft und es tröpfelte. Am Straßenrand standen Büsche und verkümmert aussehende Bäume, die sich alle in dieselbe Richtung bogen und so schief gewachsen waren, dass sie sich nicht mal mehr aufrichteten, wenn der Wind nachließ. Kurz dachte Hettie an die saftigen Weiden zu Hause im Voralpenland. Hier auf Sylt blühten jetzt erst die Narzissen als einziger Farbklecks in einer ansonsten kargen Umgebung.
Um den Bittergeschmack des knusprigen Polizeikaffees endgültig zu vertreiben, bediente sich Hettie zunächst am Teevorrat ihrer Freundin Karoline, die erfreulicherweise nicht nur eine Auswahl an Heißgetränken, sondern auch ein gut gefülltes Weinregal zur Verfügung stellte. Davon würde sie sich abends ein schönes Fläschchen genehmigen, nahm sie sich vor.
Nach einer Tasse heißen Friesentees schlüpfte sie in eine Steppjacke, legte sich ihren wärmsten Schal um und machte einen Spaziergang. Insgesamt drei Mal war Hettie bisher auf Sylt gewesen: einmal vor vielen Jahren mit Fritz und den Kindern, dann mit ihrem Mann allein, als die Söhne schon im Internat waren, und schließlich hatte sie sich, nachdem Fritz verschwunden war, bei Karoline in ebendiesem Haus ausgeheult. Hettie würde sich keinesfalls als Syltkennerin bezeichnen und noch weniger als Inselfan. Falls dem so wäre, hätte ich zu dieser Jahreszeit wärmere Klamotten mitgebracht, dachte sie, während sie durch das malerische Kapitänsdorf schritt und die reetgedeckten Friesenhäuser bewunderte. Sie bog in einen Weg, der zum Meer hinunterführte. Es war Ebbe und sie wanderte eine Weile am Watt entlang. Die Luft schmeckte herrlich.
Was sollte sie die ganze Zeit über hier anfangen? Nur darauf warten, dass Kommissar Bruns vielleicht ihren Stuck fand? Oder auch nicht? Es lag nicht in Hetties Natur, herumzusitzen und Däumchen zu drehen. Daher fasste sie einen Entschluss.
Wenige Stunden später saß sie in einer Wohnung in einem Hochhaus in Westerland, genauer gesagt in einem kleinen Raum, der als Büro eingerichtet war, ihr gegenüber Matthias Behrens, seines Zeichens Privatdetektiv.
»Woher, sagten Sie noch mal, haben Sie meine Nummer?«
»Von Karoline Meister, sie hat Sie mir empfohlen.«
Warum explizit, das fragte sich Hettie allerdings mittlerweile. Herr Behrens wirkte weder besonders interessiert an einem Auftrag, noch besonders engagiert. Im Gegenteil. Er machte einen eher misstrauischen Eindruck, als wäre Hettie nicht seine potentielle Auftraggeberin, sondern eine Verdächtige.
»Na, dann schießen Sie mal los.«
In kurzen Worten schilderte sie ihm, was vorgefallen war. Er machte sich keine Notizen, schien aber wenigstens aufmerksam zuzuhören.
»Und jetzt wollen Sie, dass ich diesem Theissen auf den Zahn fühle und das Bild finde, bevor es die Insel verlässt und für immer verschwindet.«
»Korrekt. Ich denke, dass wir die Sache schneller regeln können als die Beamten.«
»Wir?«
»Na ja, Sie werden sicher noch mehr Informationen von mir benötigen und so.«
Er seufzte. »Frau Schimmelreiter, nur damit das von vornherein klar ist: Wenn ich Ihren Auftrag übernehmen soll, müssen Sie verstehen, dass ich allein arbeite.«
Sie nickte. Herr Behrens stand auf und streckte ihr die Hand hin. Hettie war groß, aber Matthias Behrens überragte sie deutlich. Wollte man ein Werbeplakat mit der Aufschrift „typisch nordisch“ entwerfen, wäre er das perfekte Model, fand Hettie. Schlank, schmales Gesicht, glatte hellblonde Haare mit ebensolchen Augenbrauen, dazu blaue Augen und ein breiter Mund. Im landläufigen Sinn attraktiv war er nicht, aber er hatte was. Sie schätzte ihn auf Anfang vierzig, mit reichlich Lebenserfahrung, wie die Narben oben links auf der Stirn und am Kinn verrieten. Karoline hatte gemeint, er wäre der beste Detektiv auf Sylt, zudem der einzige, der nicht für eine Kette oder ein Franchise-Unternehmen arbeitete, sondern allein. Trotzdem hatte Hettie erst alle anderen gegoogelt, bevor sie sich an ihn gewendet hatte. Wahrscheinlich wohnte er in dieser Wohnung, in der sich sein Büro befand. Und wahrscheinlich war er genauso spröde und wortkarg wie der Kommissar. Aber sie brauchte Hilfe und das rasch, wenn sie den Stuck wiederhaben wollte.
»Noch eine Frage«, wandte Behrens sich noch einmal an Hettie, als sie bereits an der Tür standen. »Warum der ganze Aufwand? Das Ding ist doch bestimmt versichert. Weshalb warten Sie nicht einfach darauf, dass Bruns seine Suchaktion für offiziell gescheitert erklärt und lassen sich dann die Summe auszahlen?«
Hettie seufzte. Besser war es, gleich mit offenen Karten zu spielen. Schon allein, um überzogenen Honorarforderungen vorzubeugen. »Weil ich Versicherungen grundsätzlich misstraue. Bis die den Schaden ausgleichen, bin ich alt und grau, falls sie überhaupt was zahlen. Ich will den Stuck verkaufen, und zwar zügig. Sollten Sie ihn finden, ist ein Bonus für Sie drin.«
Von Westerland aus fuhr Hettie nach Kampen, zu ihrem nächsten Treffen. Auf dem Weg dorthin hielt sie rasch in einem Supermarkt, wie es ihn wohl nur auf Sylt gab, mitsamt Gourmet-Fischtheke, Sushi-Stand, Bio-Bäckerei, erlesener Weinauswahl, an Lebensmitteln alles, was das Herz begehrte, und dazu superbreite Gänge, in denen nicht wie sonst üblich knapp zwei, sondern locker drei Einkaufswagen nebeneinander Platz hatten. Ein glückliches Seufzen entschlüpfte Hettie, während sie einfach nur dastand und sich in diesem Paradies umblickte. Sie schwor sich, nur noch hier einzukaufen, solange sie auf der Insel war. Fürs Erste genügte ihr nun aber eine Tageszeitung. Ein sehr unvorteilhaftes Bild von Kommissar Bruns prangte darauf, zusammen mit Roger Theissen, der mit seinem falsch umgestülpten Kragen derangiert aussah. Der Kunstraub war das Titelthema.
An den Rosinenbrötchen konnte Hettie dann doch nicht vorbeigehen und kaufte zwei, die sie gleich im Auto verspeiste.
(Franz von Stuck, ca. 1926, Öl auf Leinwand, 64x60cm, Privatbesitz)
»Henriette!«, rief der gepflegte Herr und sprang von seinem Platz im Café Kupferkanne auf, um sie mit Küsschen auf beide Wangen sowie anschließendem Handkuss zu begrüßen. »Du siehst toll aus. Das Landleben auf Rieding scheint dir zu bekommen.«
»Danke, Dezi, das ist irrsinnig lieb von dir. Ja, meine Eltern und ich haben uns gut arrangiert, seitdem ich wieder nach Hause gezogen bin. Der alte Kasten ist groß genug, um sich nicht dauernd gegenseitig auf die Füße zu treten, und wenn die Buben Semesterferien haben, kommen sie immer gerne heim. Aber wie lang ist es her, wann haben wir uns zuletzt gesehen?«
Dezi hieß eigentlich Carl Decimus von Klockheim und war nicht nur Hetties Cousin dritten Grades über eine gemeinsame Urgroßmutter, sondern seines Zeichens auch Staatsanwalt in Hamburg.
»Das muss wohl bei der Hochzeit von Anselm und Sabrina gewesen sein, vor gut einem Jahr.«
»Stimmt.« Er wartete, bis Hettie sich gesetzt hatte, nahm dann ebenfalls wieder Platz und winkte der Bedienung. »Soviel ich gehört habe, hängt der Haussegen bei Cousin Anselm allerdings schon schief. Überrascht mich nicht, wenn ich ehrlich sein darf, die zwei passen überhaupt nicht zueinander. Was magst du trinken?«
Hettie bestellte ein Kännchen Assam-Tee und sah sich in dem individuell und sehr künstlerisch eingerichteten Café um. Sie liebte die Kupferkanne. Bisher war sie bei all ihren Aufenthalten auf Sylt so oft wie möglich hierhergekommen. Bei schönem Wetter war der Garten mit Ausblick geradezu paradiesisch. Aber am besten gefiel es Hettie, wenn der Regen gegen die Scheiben prasselte und sie, so wie jetzt, drinnen in einer der gemütlichen Ecken und Nischen sitzen konnte.
»Ich bin natürlich sofort vom Festland rübergekommen, als ich von dem Diebstahl gehört habe, um zu sehen, ob ich dir irgendwie beistehen kann. Eine wirklich unangenehme Sache.« Er griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand, als sie sich gerade die Zuckerdose nehmen wollte, und drückte sie. Dabei fielen Hettie seine perfekt manikürten Fingernägel auf. Überhaupt war Carl Decimus ein extrem gepflegtes Exemplar der Gattung Mann. Ein zweifelsohne fähiger Friseur hatte sein braunes Haar ganz zart golden gesträhnt, sodass es beinahe natürlich wirkte. Der Teint war gebräunt, ein wenig zu sehr für diese Jahreszeit und Hetties Geschmack, und seit Neuestem trug er einen modischen, kurz getrimmten Bart – vor einem Jahr bei besagter Hochzeit war er noch glatt rasiert erschienen, erinnerte sich Hettie.
»Das ist nett, Dezi, und du könntest wirklich etwas für mich tun. Der Kommissar, der sich um die Aufklärung des Diebstahls kümmern soll, ein gewisser Herr Bruns, macht nicht gerade einen motivierten Eindruck.«
Eine von Carl Decimus‘ exakt gezupften Augenbrauen hob sich. »Kriminalkommissar Nanne Bruns? Der ist aber ein sehr fähiger Beamter. Ein richtiges Nordlicht noch dazu, also der kennt die Menschen hier. Ich habe läuten hören, er will aufs Festland versetzt werden, daher wird er sich wohl anstrengen, um Erfolge vorweisen zu können.«
»Hm, mag sein, dass er einfach nur eine lethargische Ausstrahlung hat. Jedenfalls wäre es toll, wenn man ihm begreiflich machen könnte, wie überaus wichtig ein schnelles Auffinden des Gemäldes ist.«
Er zwinkerte ihr zu. »Verstehe. Ich werde es ihm unmissverständlich verdeutlichen.«
Hettie trank ihren Tee aus und goss sich neuen nach. »Ach ja, und dann ist da noch etwas. Du weißt ja, vier Augen sehen mehr als zwei, daher habe ich einen Privatdetektiv beauftragt, der ebenfalls nach meiner Sünde sucht. Ich hoffe, die Polizei legt ihm keine Steine in den Weg.«
»Solange er den Beamten nicht auf die Füße tritt …«
»Angeblich ist er ein absoluter Profi. Wie gesagt, mir geht es einzig und allein darum, mein Eigentum zurückzuerhalten. Du kennst doch auch viele Leute hier auf der Insel, wo du so oft in deinem Ferienhaus bist. Was weißt du denn über einen gewissen Roger Theissen?«
Bevor er antwortete, bestellte sich Carl Decimus eine weitere Tasse Kaffee. Dann lehnte er sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Früher habe ich ein paarmal mit ihm Tennis gespielt. Seit er damit aufgehört hat, treffe ich ihn eher selten. Seine Frau Maike stammt aus einer Hamburger Industriellenfamilie und gibt bei den beiden den Ton an. Roger hat in der Firma ihres Vaters gearbeitet. Er tut zwar so, als wäre er unglaublich wichtig, besonders seit er der Vorsitzende der Kunstfreunde Sylt geworden ist, aber in Wirklichkeit hat er bei Maike nicht viel zu lachen.«
»Würdest du ihm zutrauen, dass er Die Sünde gestohlen hat?«
Carl Decimus lachte kurz auf. Dabei bewegte sich nur sein Mund, der Rest des Gesichts blieb unbewegt. Hettie drängte sich der Verdacht auf, er könnte bei seinem straffen Teint mit Botox nachgeholfen haben. Ihre Cousine Luise hatte früher bei Familientreffen immer behauptet, Carl Decimus wäre der mit Abstand hübscheste Junge unter all den zahlreichen Cousins. Er war in der Folge zu einem gut aussehenden Mann herangewachsen, der auf seine äußeren Attribute mächtig stolz war. Mit Mitte vierzig wurde er anscheinend unentspannt. Anders war sein übertriebener Erhaltungsaufwand nicht zu erklären. Hettie dachte schuldbewusst daran, dass sie ihren Haaransatz erneut nachfärben musste.
»Auf keinen Fall. Für so etwas fehlt Roger der Mut, er ist nicht der Typ, der klaut.«
»Er wollte das Bild unbedingt haben und hat mich schon mit Angeboten bombardiert, bevor er es überhaupt gesehen hatte. Allerdings waren seine Preisvorschläge lachhaft. Daher scheint es mir nicht so weit hergeholt, dass er es sich auf diese Weise beschafft hat.«
»Wenn Roger Die Sünde kaufen will, muss er sich dafür von Meike das Geld geben lassen. Und die wird ihm ihr Limit mitgeteilt haben. Trotzdem halte ich es für absolut ausgeschlossen, dass er das Gemälde gestohlen hat. Unter uns gesagt, Roger Theissen ist ein Weichei. Apropos, magst du was essen? Die machen hervorragende Omeletts hier. Ist es schon zu spät für ein zweites Frühstück?«
Nach dem Treffen zeigte sich draußen gerade die Sonne und Hettie spazierte durch den kleinen Ort. Sie mochte Kampen mit seinen blitzsauberen Straßen, den hübschen Reetdachhäusern und der berühmten Whiskymeile, besonders dann, wenn kaum etwas los war, wie heute. So konnte sie gemütlich an den Juwelierläden und Boutiquen vorbeischlendern und in Ruhe die Auslage in den Schaufenstern bewundern.
Überrascht stellte Hettie fest, dass es sogar hier, mitten in Kampen, an der Hauptstraße eine Detektei gab. Matthias Behrens fiel ihr ein und sie hoffte, dass er so gut war, wie Karoline behauptet hatte.
(Franz von Stuck, 1893, Öl auf Leinwand, Original mit Rahmen 125x95cm, Neue Pinakothek, München)
»Was ist denn nun schon wieder los?« Nanne Bruns wusste zwar, dass Schmitz nichts dafür konnte, der Mann machte schließlich nur seinen Job, aber nach einer weiteren babybedingt schlaflosen Nacht war er einfach grummelig. Wieso hatten kleine Jungs ständig Blähungen? Konnte sein Sohn nicht eine Ausnahme sein? Kirschkernkissen und Bäuchleinöl halfen null. Hatten sie am Ende ein Schreikind zu Hause? Für Bruns eine entsetzliche Vorstellung.
Der Vormittag war so weit ernüchternd ereignislos verlaufen. Die Häfen in List, Hörnum, Rantum und Munkmarsch wurden überwacht, ebenso wie Flughafen und Autozug, aber es hatte niemand versucht, sich mit einer nackten Frau in Öl von der Insel zu machen. Unangenehmes Highlight war das Telefonat mit Staatsanwalt von Klockheim gewesen, einem wichtigtuerischen Fatzke aus Hamburg, der meinte, sich aufplustern zu müssen.
Und nun stand plötzlich Schmitz vor Bruns. Die schokobraunen Augen weit aufgerissen, wedelte er mit einem Post-It in der Luft herum. »Leichenfund«, er sah auf den Zettel, »weiblich, jung, ermordet. Im Keller eines Szenelokals bei Rantum.«
Bruns seufzte. Welches konnte das nur sein? Warum musste sich Schmitz immer derartig politisch korrekt ausdrücken? Das Pemba kannte schließlich jeder, weshalb nannte er es nicht beim Namen? Bruns erhob sich und griff nach der Jacke. »Na, kommen Sie schon. Den Rest können Sie mir unterwegs erzählen.«
Der Parkplatz an den Rantumer Dünen war erwartungsgemäß voll. Bruns zeigte gern den Polizeiausweis vor, sodass die Absperrung aufgehoben wurde, er bis an den Strand vorfahren konnte und sich dem Lokal nicht wie jeder Tourist zu Fuß nähern musste. Hier war immer etwas los, egal ob gerade Essenszeit war oder nicht.
Die Kollegen hatten das Restaurant räumen lassen, daher zwängten sich sämtliche Gäste an die Tische im Außenbereich. Niemand schien sich daran zu stören, dass drinnen eine Polizeiermittlung im Gange war, und das durchwachsene Wetter spielte ebenfalls eine untergeordnete Rolle. Wenigstens gab es keine Gaffer oder Schaulustigen, was Bruns verblüffte, und die Stimmung war entspannt: Die Leute aßen, tranken und genossen den Blick auf die Dünen bis vor ans Meer. Und nebenan arbeitete die Polizei von Sylt. Lediglich die Kellner nervten Bruns, weil sie ständig mit vollbeladenen Tabletts rein- und rausliefen, doch erneut rief er sich zur Räson. Auch die machten nur ihren Job. Nach einem letzten Rundumblick betrat er die Holzhütte, die mittlerweile weit über die Grenzen der Insel hinaus bekannt war, und ließ sich in den darunterliegenden Weinkeller bringen. Frisch war es dort und absolut wundervoll – wenn man Wein mochte. Tausende und abertausende von Flaschen lagen in Regalen. Mittig im Gang waren hüfthoch Weinkisten gestapelt, darauf standen Kerzenleuchter. Der Boden bestand aus roten Ziegeln, die Decke war gewölbeartig abgemauert. Am liebsten hätte sich Bruns einen der Liegestühle von oben bringen lassen, sich in den Weinkeller gesetzt und bei einem guten Tropfen die Atmosphäre genossen. Stundenlang. Besser noch tagelang. Aber so lief es eben nicht.
Ein wohlbeleibter Mann mit sympathischem Gesicht begrüßte ihn. Es war Hans Strecker, der Besitzer des Pemba, Bruns kannte ihn vage.
»Ich nehme an, Sie haben Ihren Gästen nicht erzählt, dass hier unten eine Tote liegt?«, mutmaßte der Kommissar.
»Nö, bringt doch nix. Die Bude ist rappelvoll, die Leute wollen eine gute Zeit haben und wenn ich ihnen sage, was hier los ist, wissen Sie ja, was dann passiert.«
»Panik, Schnüffler, Sensationslust.«
»Stimmt. Deshalb behaupten wir vor jedem, der fragt, dass wir ‘nen Wasserschaden haben. Und wenn sie morgen in der Presse lesen, dass es doch ‘ne Leiche war, ist der Rummel längst vorbei.«
Bruns grinste. Er mochte Strecker, hatte großen Respekt vor dem, was der Mann aus dem Nichts aufgebaut hatte. Zudem erleichterte es die Arbeit der Polizei, nicht von einer Horde Gaffer bedrängt zu werden.
»Na gut«, sagte er. »Wir sperren dann kurz vor der Kellertreppe ab, damit uns niemand durch den Tatort trampelt.«
Nachdem Hans Strecker wieder in die Küche gegangen war, rief Bruns Schmitz zu sich. »Was wissen wir?«
»Die Tote heißt Alina Roth, sie ist 23, Studentin und jobbte hier im Pemba.«
»Wer hat sie gefunden?«
»Carsten Meier. Er ist Sommelier hier im Lokal, also der Weinfachmann.«
»Ich weiß, was ein Sommelier ist«, schnappte Bruns.
»Tut mir leid, Chef. Jedenfalls wollte Meier irgendeinen edlen Tropfen von ganz hinten holen, dabei fand er sie. So wie es aussieht, wurde sie erwürgt, aber ich möchte Doktor Petersen nicht vorgreifen, das hat er nicht so gern.«
»Richtig«, tönte eine Bassstimme aus den Tiefen des Kellers. »Jedoch gehe ich mit Ihrer Diagnose konform, Polizeihauptmeister Schmitz.«
Schmitz wurde rot und führte Bruns in Richtung der Stimme, dorthin, wo die Leiche lag. Im hintersten Kellerraum, zwischen zwei Stapeln leerer Weinkisten, erblickte der Kommissar sitzend, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, den leblosen Körper einer hübschen jungen Frau. Schwarzes Haar, blasse Haut und volle Lippen ließen Bruns unwillkürlich an Schneewittchen denken. Nur konnte man Alina Roth nicht wieder aufwecken, zu eindeutig waren die dunkelblauen Würgemale an ihrem Hals. Irgendwie kam ihm das Mädchen bekannt vor.
Doktor Petersen war zur Seite getreten, um den Kommissar einen Blick auf die Tote werfen zu lassen. Mit seinen zwei Metern Größe musste er in den engen Gängen und Winkeln des Weinkellers höllisch aufpassen, um nichts umzuwerfen. Besonders nicht die Kiste 2004er Dom Ruinart Champagner, neben der er gerade stand, das würde teuer werden. Geduldig harrte der Pathologe aus, bis Bruns die Leiche wieder freigab und sich zusammen mit Schmitz in einen geräumigeren Bereich des Kellers zurückzog.
»Erstaunlich, dass nichts zu Bruch gegangen ist«, murmelte der Kommissar. »Ich könnte mir vorstellen, dass sie sich gewehrt hat, dabei schlägt man doch um sich. Und wieso hat niemand etwas davon bemerkt, dass hier unten ein Mord stattfand? Wurde sie vielleicht woanders getötet und nur hier abgeladen? Aber warum hat das dann keiner gesehen?«
Schmitz machte sich eifrig Notizen, während Bruns sprach. Das Gute an einem derart beflissenen Mitarbeiter war, dass er nie etwas vergaß, immer mitschrieb und jedem Hinweis nachging. Bruns konnte sich darauf verlassen. Schmitz‘ Akribie würde bei der Lösung des Falles sicher helfen. Zumal es der erste Mordfall war, den die beiden zusammen lösen mussten.
Der Fotograf brachte sich in Stellung und knipste alles ordentlich, bevor die Leiche abtransportiert werden konnte.
»Wann gibt es Ihren Bericht?«, fragte der Kommissar Doktor Petersen.
»Wenn ich mit der Obduktion durch bin«, lautete die lakonische Antwort.
»Wie lange ist sie tot?«
»Sag ich Ihnen, wenn ich mit der Obduktion durch bin.«
»Ach kommen Sie schon, Herr Kollege. Trauen Sie sich eine grobe Schätzung zu, ich werde Sie auch nicht darauf festnageln.«
»Zwölf bis fünfzehn Stunden.«
Bruns rechnete. »Das würde bedeuten, dass sie zwischen 22 Uhr und ein Uhr nachts ermordet wurde.«
»Herr Meier hat ausgesagt, Frau Roth hätte gestern bis etwa zehn Uhr gearbeitet.«
»Würde passen. Doktor Petersen, sorgen Sie bitte dafür, dass man die Tote durch den Hinterausgang hinausträgt, nicht an der Meute vorbei, das muss ja nicht sein.«
Der Pathologe winkte Bruns über die Schulter hinweg zu, ohne sich noch mal umzudrehen. Er hatte sich wieder über Alina Roth gebeugt.
Eine Tote unter den Dünen – Mord im Szenelokal, stand am nächsten Morgen groß auf der ersten Seite der Sylter Rundschau. Natürlich hatte irgendjemand die Presse mit Informationen gefüttert, wie immer. Zweifelsohne würden die Zeitungen vom Festland bald nachziehen.
Aber auch so hatte sich die Kunde von der schönen Leiche bereits verbreitet wie ein Lauffeuer. Henriette Schimmelreiter stand mit einer Ausgabe der Rundschau in der Hand vor Schmitz und verlangte, zum Kommissar vorgelassen zu werden, der beide durch die Glaswand seines Büros beobachtete. Er massierte sich die Schläfen, winkte Schmitz schließlich zu und erntete dafür einen dankbaren Blick. Bruns öffnete die Tür und bat den ungebetenen Gast herein.
»Frau Schimmelreiter«, begann er das Gespräch mit einem nur leidlich unterdrückten Seufzer. »Auch wenn Sie noch so eng mit Staatsanwalt von Klockheim sind – ich kann Ihnen zum momentanen Zeitpunkt nicht sagen, wo sich Ihr Ölgemälde befindet.«
»Deswegen bin ich nicht hier.«
»Ach nein?«
Sie hielt die Zeitung hoch. »Ich bin gekommen, um Sie darauf hinzuweisen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Diebstahl und dem Mord an dieser jungen Dame geben muss.«
»Und was bitte bringt Sie zu der Annahme?« Bruns blickte demonstrativ auf die Uhr an der Wand.
»Schauen Sie mal.«
Sie zog ein Blatt Papier aus ihrer Handtasche, faltete es auseinander und legte es auf seinen Schreibtisch, daneben die Zeitung mit dem Foto von Alina Roth. Darauf stand sie mit dem Rücken zum Meer am Strand und lächelte in die Kamera. Ihr Haar war vom Wind zerzaust und sie wirkte jung und unbeschwert.
»Da Die Sünde erstim Rahmen des Kulturfrühlings Sylt einer breiten Öffentlichkeit präsentiert werden sollte, habe ich vorab Bilder des Gemäldes unter Verschluss gehalten. Sie waren ja nicht begeistert davon, dass ich Ihnen nicht mal zeigen konnte, wie es aussieht. Das hier wurde von einem älteren Foto daheim abfotografiert und meine Mutter hat es per E-Mail geschickt. Ziemlich umständliches Procedere, glauben Sie mir, meine Mutter hat nicht mal ein Handy. Jedenfalls …« Sie brach ab und sah zwischen Bruns und den Fotos hin und her. »Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?«
Der Kommissar hätte ihr zunächst am liebsten gesagt, dass er Besseres zu tun hatte, als sich mit diesem dämlichen Ölschinken auseinanderzusetzen, und sie ebenso umständlich um den heißen Brei herumredete wie Schmitz. Doch sobald er einen Blick auf Foto und Zeitungsartikel geworfen hatte, stutzte er.
»Das ist dieselbe Frau«, rief er überrascht aus.
Henriette Schimmelreiter gestikulierte wild mit den Händen. »Nun ja, soooooo eindeutig kann man das natürlich nicht sagen, aber es besteht zumindest eine auffällige Ähnlichkeit zwischen den beiden Personen. Dieselbe Frau kann es logischerweise nicht sein, weil das Bild ja über hundert Jahre alt ist.«
Bruns kniff die Augen zusammen. »Außer, es wäre eine Fälschung.«
»Herr Kommissar! Ich muss doch sehr bitten. Da komme ich zu Ihnen, um zu helfen, und dann muss ich mir hier hanebüchene Theorien anhören.«