Syltgold - Sibylle Narberhaus - E-Book

Syltgold E-Book

Sibylle Narberhaus

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Beschreibung

Auf Sylt werden die letzten Vorbereitungen für das legendäre Motorradtreffen, die Harley-Days, getroffen, als Anna Zeugin eines tödlichen Verkehrsunfalls wird. Im Gegensatz zu ihr geht die Polizei von einem tragischen Unglück aus. Erst als ein weiterer Todesfall zu beklagen ist, nehmen die Beamten die Ermittlungen auf. Besteht zwischen den Todesfällen ein Zusammenhang? Was führt Frank Gustafsons alten Studienkollegen Jörg Neritz wirklich nach Sylt? Anna macht derweil eine brisante Entdeckung, und ein furchtbarer Verdacht kommt auf.

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Sibylle Narberhaus

Syltgold

Kriminalroman

Zum Buch

Tödliche Absichten Während sich die Insel Sylt auf die jährlichen Harley-Days mit Hunderten Motorradbegeisterten und Schaulustigen vorbereitet, wird Anna Zeugin eines Verkehrsunfalls, bei dem eine Frau mit ihrem Wagen von der Straße abkommt und stirbt. Was war die Unfallursache? Während die Polizei von einem tragischen Unglück ausgeht, wittert Anna ein Verbrechen. Erst als ein weiterer Todesfall zu beklagen ist, nehmen die Beamten die Ermittlungen auf. Besteht zwischen den mysteriösen Todesfällen ein Zusammenhang? Was führt Doktor Frank Gustafsons alten Studienkollegen Jörg Neritz nach Sylt? Ist er tatsächlich nur für das Motorradtreffen angereist oder steckt mehr dahinter? Anna macht zufällig eine brisante Entdeckung, und ein furchtbarer Verdacht kommt in ihr auf. Als sie kurze Zeit später ihre Nachbarin Ava Carstensen aufsucht, gerät sie selbst in höchste Gefahr.

Sibylle Narberhaus wurde in Frankfurt am Main geboren. Nach einigen Jahren in Frankfurt und Stuttgart zog sie schließlich in die Nähe von Hannover. Dort lebt sie seitdem mit ihrem Mann und ihrem Hund. Hauptberuflich arbeitet sie bei einem internationalen Versicherungskonzern und widmet sich in ihrer Freizeit dem Schreiben. Schon in ihrer frühen Jugend entwickelte sich ihre Liebe zum Meer und insbesondere zu der Insel Sylt. So oft es die Zeit zulässt, stattet sie diesem Fleckchen Erde einen Besuch ab. Dabei entstehen immer wieder neue Ideen für Geschichten rund um die Insel.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Alexandra Scotcher / istockphoto.com und Pkazmierczak / stock.adobe.com

ISBN 978-3-7349-3108-6

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

»Hast du das gehört? Ich glaube, da schleicht jemand ums Haus.« Sie hatte sich kerzengerade aufgerichtet und horchte angestrengt. Draußen war es stockdunkel. Eine dichte Wolkendecke verhinderte, dass Mondlicht die Umgebung erhellen konnte.

»Du hörst Gespenster. Ich habe jedenfalls nichts Verdächtiges hören können. Da streift höchstens eine Katze oder ein Marder durch den Garten auf der Suche nach Fressbarem«, beruhigte er sie. »Du solltest so spät am Abend keinen Thriller mehr lesen, wenn dich das so aufregt. Kein Wunder, dass du dann Geräusche hörst, wo keine sind.« Er lachte kurz auf, richtete seine Brille und widmete sich wieder seinem Zeitungsartikel.

»Und wenn er zurückkommt?«, sagte sie nach einer Weile.

Er hob den Kopf und sah sie über den Rand der Brille an. »Nenn mir einen plausiblen Grund, warum er das tun sollte.«

»Um sich an mir zu rächen? Schließlich habe ich ihn bei der Polizei angezeigt.« Ihre Stimme klang dünn und brüchig. Die schlanken Finger umklammerten das Buch, in dem sie kurz zuvor gelesen hatte.

»Ach was, so dumm wird er nicht sein und hier auftauchen. Beruhig dich! Deine Fantasie spielt dir einen Streich. Das war alles ein bisschen viel in der letzten Zeit.« Er warf ihr einen verständnisvollen Blick zu. »Wenn du magst, mache ich dir schnell einen Tee, das beruhigt die Nerven.« Er faltete die Zeitung zusammen, stand auf und ging in die Küche.

»Danke«, seufzte sie und ließ sich zurück in ihren Sessel fallen. »Was würde ich bloß ohne dich machen?«

Während ein Schatten unerkannt vor dem Fenster entlanghuschte, wähnte sich das Paar in Sicherheit. Die Musik wurde stetig bedrohlicher, sodass dem Zuschauer das herannahende Unheil nicht verborgen blieb.

Gebannt starrte Femke auf den Fernsehbildschirm und hatte sogar ihre Handarbeit darüber vergessen. Das Strickzeug ruhte auf ihrem Schoß. Gleich würde der Eindringling sein grausames Werk vollenden, überlegte sie, da ertönte ein lauter Knall. Erschrocken zuckte sie zusammen. Das Geräusch kam nicht aus dem Fernseher, sondern aus ihrer Küche. Ausgerechnet jetzt, wo der Film seinen Höhepunkt erreichte. Um unter keinen Umständen etwas zu verpassen, beschloss Femke, sich später darum zu kümmern, und konzentrierte sich wieder auf die Geschehnisse auf der Mattscheibe. Irgendwann wurde ihr das Geklapper jedoch zu viel. Mit Mühe und einem Fluch auf den Lippen schälte sie sich aus dem bequemen Sessel und schlurfte in ihren Hausschuhen den Flur entlang. Die ersten Schritte nach dem Aufstehen fielen ihr jedes Mal besonders schwer. Mit ihren 87 Jahren war sie eben kein junger Hüpfer mehr. Anscheinend hatte sich einer der Fensterläden losgerissen und wurde von dem Wind gegen die Hauswand und den Fensterrahmen geschlagen, kam ihr der Gedanke auf dem Weg in die Küche. Sie hätte schwören können, dass sie ihn am Nachmittag festgezurrt hatte. Vielleicht streunte auch die Nachbarkatze, die ihr seit geraumer Zeit regelmäßig einen Besuch abstattete, im Garten herum und hatte einen der Blumentöpfe heruntergeworfen. Beim Betreten der Küche erkannte Femke, dass das Geräusch tatsächlich von einem der Fensterflügel herrührte, der in diesem Moment ein weiteres Mal kräftig gegen das Mauerwerk schlug.

»So, nun ist aber Schluss mit dem Lärm«, murmelte die alte Dame, während sie auf das Fenster zuging.

Als sie gerade ihre Hand nach dem Fenstergriff ausstreckte, tauchte hinter der Scheibe plötzlich eine grauenhafte Fratze auf. Zu Tode erschrocken, fasste sie sich ans Herz und taumelte rückwärts. Dann stürzte sie zu Boden. Alles um sie herum wurde schwarz.

Kapitel 2

Auf dem Nachhauseweg erkannte Uwe im Rückspiegel einen Streifenwagen, der mit Blaulicht rasch näher kam. Er drosselte die Geschwindigkeit und hielt am rechten Straßenrand an, um ihn vorbeizulassen. Dann fuhr er weiter. Als er in seine Straße einbog, sah er den Einsatzwagen dort stehen.

»Moin, Ansgar! Wollt ihr etwa zu mir?«, fragte er, nachdem er die Seitenscheibe heruntergelassen hatte.

»Moin, Uwe. Nee, ich würde niemals wagen, deinen Feierabend zu stören.« Der Polizist griente verschmitzt.

»Das wüsste ich. Aber im Ernst: Was ist los?«

»Eine Frau wurde tot in ihrem Haus aufgefunden.«

»In unserer Straße? Wer?«

»Femke Breker. Deine Frau hat sie gefunden und uns sofort verständigt«, fügte der Kollege hinzu.

»Ach was. Liegen Anzeichen für Fremdverschulden vor?«, wollte Uwe wissen und wunderte sich insgeheim, warum Tina ihn nicht angerufen hatte.

»Nee, sonst hätten wir euch selbstverständlich informiert. Keine Anzeichen von Gewalt, keine Einbruchsspuren, nichts dergleichen. Die Ärztin geht von Herzversagen als Todesursache aus. Frag am besten die Damen aus der Nachbarschaft, sie können dir sicher alles haarklein erzählen und noch ein bisschen mehr.« Ansgar zwinkerte Uwe zu, als ein neuer Funkspruch hereinkam. »Klingt nach Arbeit. Genieß deinen Feierabend, Uwe!«

»Passt auf euch auf«, gab Uwe zurück und lenkte den Wagen die letzten Meter bis in die Einfahrt seines Hauses.

Er hatte kaum den Motor abgestellt, als ihm seine Tina in Begleitung einer weiteren Frau, die Uwe gänzlich unbekannt war, aufgeregt entgegeneilte. Die Fremde hatte einen Hund dabei.

»Uwe, es ist etwas Schreckliches passiert! Stell dir vor, Femke ist tot!«, berichtete seine Frau sichtlich betroffen.

»Schon von gehört«, brummte Uwe und hievte sich schwerfällig aus dem Wagen. Sein Rücken machte ihm heute besonders heftig zu schaffen. Daran änderten auch die zwei Kilo Körpergewicht, die er in den letzten vier Wochen verloren hatte, nichts. Die ganze Quälerei mit Sport und gesunder Ernährung für die Katz, kam es ihm in den Sinn.

»Woher weißt du davon?« Tina sah ihn abwartend an.

»Ich habe eben Ansgar getroffen, er hat es mir erzählt«, erklärte Uwe und wäre am liebsten sofort ins Haus gegangen. Sein Tag war anstrengend gewesen, obendrein hatte er einen Bärenhunger und wollte einfach nur in Ruhe sein Feierabendbierchen genießen. Doch die beiden Frauen redeten ununterbrochen abwechselnd auf ihn ein.

»Ich habe mehrfach versucht, Femke anzurufen, aber sie ist nie ans Telefon gegangen. Eigentlich waren wir für heute Nachmittag verabredet, aber ich musste mit Rollo zum Tierarzt.« Sie deutete auf den Mops zu ihren Füßen, der Uwe aus seinen Glubschaugen ausdruckslos ansah. »Daher wollte ich unseren Termin absagen. Als ich sie nicht erreichen konnte, kam mir das irgendwann komisch vor.« Uwe hörte der Hundebesitzerin wortlos zu und nickte hin und wieder. »Dann habe ich Tina angerufen und sie gebeten, bei Femke vorbeizuschauen. Sie wohnt ja quasi um die Ecke.« Sie lächelte verlegen. »Ich hatte wirklich Angst, ihr könnte etwas zugestoßen sein. So war es ja am Ende leider auch«, fügte sie betreten hinzu. »Vielleicht hätte ich direkt zu ihr fahren sollen? Dann hätte ich ihr womöglich noch helfen können.«

»Mach dir bitte keine Vorwürfe, Marga. Dich trifft keine Schuld«, entgegnete Tina entschieden. »Selbst wenn du zu ihr gefahren wärst, hättest du nichts mehr für sie tun können. Die Ärztin hat gesagt, dass Femke bereits gestern Abend an den Folgen eines Herzschlages gestorben ist.«

»Die arme Femke! Ich verstehe das nicht, sie war doch bis auf ihr Rheuma noch so rüstig und sprühte förmlich vor Energie.« Marga schüttelte fassungslos den Kopf.

»Tja, die einzige Garantie im Leben ist der Tod.« Uwe verzog den Mund. Dann schob er sich an den beiden Frauen vorbei ins Haus.

»Also, Uwe! Ich darf doch sehr bitten!« Tina setzte in Anbetracht der Äußerung ihres Mannes eine empörte Miene auf.

»So ist es nun mal. Besser so ein Abgang, als jahrelang in irgendeinem Heim vor sich hin zu vegetieren und auf das unvermeidliche Ende zu warten. Wenn ich es mir aussuchen dürfte, würde ich auch am liebsten zu Hause einfach tot umfallen, wenn die Zeit dafür gekommen ist.« Mit diesen abschließenden Worten verschwand er im Haus.

»Er meint das nicht so«, entschuldigte sich Tina bei der gleichzeitig irritiert wie fassungslos dreinblickenden Marga.

»Das ist wahrscheinlich berufsbedingt.«

»Ganz bestimmt. Kann ich irgendetwas für dich tun, Marga? Möchtest du mit uns zu Abend essen?«, lenkte Tina schnell vom Thema ab.

»Danke, Tina, das ist sehr freundlich von dir, aber ich fahre besser nach Hause. Rollo braucht außerdem pünktlich sein Futter. Das Leben muss weitergehen, auch wenn es nicht immer leicht ist.« Sie seufzte theatralisch und kramte in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel.

Tina sah ihr nach, wie sie in ihren Wagen stieg und um die nächste Ecke bog. Dann folgte sie Uwe ins Haus.

Kapitel 3

»Ich bin wieder da!«, rief ich und schloss die Haustür hinter mir. Aus der Küche drangen vertraute Stimmen zu mir. Ein herzliches Kinderlachen zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. Eskortiert von unseren beiden Hunden Chili und Pepper, die mich schwanzwedelnd begrüßt hatten, begab ich mich in die Küche.

»Na, ihr zwei habt ja Spaß«, sagte ich und legte die Brötchentüte auf den Tisch. »Was war denn so lustig?«

»Nichts!«, erwiderten Nick und Christopher prompt und wie aus einem Mund.

»Das glaube ich euch nicht. So scheinheilig, wie ihr guckt, habt ihr bestimmt etwas angestellt?«

»Daddy hat die Butterdose runtergeworfen«, ließ Christopher mich daraufhin wissen.

»Danke, Kumpel!« Nick piekste seinen Sohn mit dem Finger leicht in die Seite, der darauf albern zu lachen begann.

»Etwa die, die ich von meiner Mutter letztes Jahr zu Weihnachten bekommen habe?« An Nicks Gesicht konnte ich ablesen, dass ich mit meiner Vermutung einen Volltreffer gelandet hatte.

»Sorry, Sweety! Es tut mir leid. Ich werde versuchen, sie noch mal zu bekommen.«

»Das ist nicht nötig. Ehrlich gesagt, fand ich sie nie besonders schön. Vielleicht bemerkt Mama gar nicht, dass sie weg ist.«

»Da kennst du deine Mutter aber schlecht«, warf Nick ein.

»Ich fürchte, du hast recht. Sie wird nicht begeistert sein. Als mein Vater vor Jahren versehentlich ihren Lieblingsbecher runtergeschmissen hat, hat sie zwei Tage nicht mit ihm gesprochen.«

»Armer Opa!«

»Du sagst es, da hatte der Opa nichts zu lachen«, stimmte ich Christopher mit einem Grinsen zu.

»Sie reagiert oft äußerst empfindlich.« Nick zuckte die Schultern. »Jetzt lasst uns endlich frühstücken, ich muss in einer Dreiviertelstunde im Büro sein.«

»Habt ihr einen neuen Fall?«, wollte ich wissen.

»Nein, aber Reimers will irgendwas verkünden«, erklärte Nick und schüttete die Brötchen aus der Tüte in den Brotkorb. Eines kullerte daneben und rollte auf die Tischkante zu. Im letzten Augenblick bekam ich es zu fassen, bevor es in den gierigen Mäulern unserer Hunde verschwinden konnte.

»Weißt du, worum es genau geht?«, hakte ich neugierig nach und zerteilte mein Brötchen in zwei Hälften. Eine davon reichte ich unserem Sohn. »Hier, bitte!«

»Keine Ahnung, aber ich nehme an, er wird den neuen Kollegen vorstellen, der ab heute bei uns anfängt.«

»Der Nachfolger für Christof?«

»Davon gehe ich aus. Ich wüsste nicht, was er sonst mitzuteilen hätte.« Nick biss von dem Brötchen ab.

»Es fällt mir nach wie vor schwer zu begreifen, dass Christof nicht mehr lebt. Ansgar, Oliver und er waren das Trio schlechthin.« Betroffen schaute ich auf meinen Teller, während Bilder vor meinem inneren Auge auftauchten, die ich nicht so schnell vergessen würde. Bei dem Gedanken, dass Nick dem Kollegen sein Leben verdankte, überkam mich zudem eine Gänsehaut. Wenn Christof nicht gewesen wäre, würden wir jetzt nicht gemeinsam am Frühstückstisch sitzen. Schnell versuchte ich, die düstere Vorstellung zu verdrängen, indem ich mich Christopher zuwandte.

»Trink deinen Kakao, bevor er kalt wird.«

Nachdem ich Christopher in den Kindergarten gebracht hatte, fuhr ich in die Firma. Als ich auf den Parkplatz bog, kam mir gerade der Wagen meines Geschäftspartners Piet Sanders entgegen. Er stoppte neben mir und ließ die Seitenscheibe herunter.

»Moin, Anna! Alles gut bei dir?«, fragte er ausgesprochen gut gelaunt. Sein sonnengebräunter Arm mit den golden glänzenden Härchen ruhte auf dem Fensterrahmen, im Haar reflektierte eine verspiegelte Sonnenbrille das sanfte Morgenlicht.

»Ich kann nicht klagen. Wohin geht’s?«

»Ich bin auf dem Weg nach List zu unserem lukrativen Auftrag, den du neulich an Land gezogen hast.« Er zwinkerte mir zu.

Meine Antwort wurde von dem ohrenbetäubenden Lärm eines vorbeifahrenden Motorrades verschluckt.

»Ah, sind die ersten Knatterbüchsen schon da? Ganz schön früh. Geht der Zirkus nicht erst in zwei Wochen los?« Piet sah der Maschine mit skeptischer Miene hinterher.

»Einige reisen immer früher an. Ich dachte, du magst Motorräder? Hast du nicht selbst eines?«

»Ja, prinzipiell habe ich nichts dagegen. Ich halte es bloß für äußerst fragwürdig, ob es wirklich notwendig ist, dass über unsere ohnehin verkehrsgeplagte Insel zusätzlich bis zu 700 von diesen Höllenmaschinen rauf und runter donnern müssen.«

»Das jährliche Harley-Treffen ist längst zum Kult geworden«, erwiderte ich.

»Ich kann diesem Hype nichts abgewinnen. Von den Umweltaspekten einmal ganz zu schweigen.«

»Ach, Piet. Eben hatte ich mich noch über deine gute Laune gefreut.«

»Die habe ich auch immer noch.«

»Ich bin auch kein großer Fan davon, aber wo willst du einen Cut machen? Anderen Leuten ist der Surfcup ein Dorn im Auge. Man kann es eben nicht allen recht machen oder generell alles verbieten«, gab ich zu bedenken.

»Mich nervt das trotzdem. Aber was soll’s, uns fragt sowieso niemand. So, ich muss los, sonst sterben die Pflanzen ab.« Er lachte und deutete mit dem Daumen nach hinten auf die Ladefläche. »Wenn du Glück hast, erwischst du in der Küche noch ein frisches Croissant. Annika hat welche mitgebracht.«

»Gibt es einen besonderen Grund?« In Gedanken ging ich die Geburtstagsliste unserer Mitarbeiter durch.

»Glaube nicht. Ich habe aber auch nicht nachgefragt.« Das war typisch Mann, dachte ich und sagte nur: »Ich werde sie fragen.«

»Die neue Bestellliste habe ich dir auf den Schreibtisch gelegt. Schau bitte noch mal drüber, ob sie vollständig ist. Dann kann sie heute noch raus. Also, ich bin dann mal weg. Bis später!« Er setzte die Sonnenbrille auf und fuhr los.

Kapitel 4

»Moin, Nick! Du bist spät dran heute Morgen. Verschlafen?« Uwe beobachtete den Kollegen, wobei sich durch das Dickicht seines Vollbartes ein Grinsen schummelte.

»Dafür, dass wir nicht verschlafen, sorgen schon Christopher und die Hunde. Heute war ungewöhnlich viel Verkehr rund um Westerland. Außerdem musste ich ewig am Bahnübergang in Keitum warten. Da kam eins zum anderen. Gibt es denn etwas Dringendes?«

»Nö, bislang jedenfalls nicht. Willst du heute im Stehen arbeiten?«, wunderte sich Uwe, da Nick keine Anstalten machte, an seinem Schreibtisch Platz zu nehmen.

»Müssen wir nicht gleich los?« Uwe verstand nicht. »Na, der Termin bei Reimers in …«, er sah auf seine Armbanduhr, »… exakt drei Minuten.«

»Oh, das hätte ich glatt vergessen. Na, dann wollen wir mal hören, was unser hoch geschätzter Dienststellenleiter Wichtiges mitzuteilen hat.« Die Ironie in Uwes Worten war unüberhörbar.

Auf dem Flur schloss sich ihnen der Kollege Ansgar Kreutzer an. Je näher sie dem Besprechungsraum kamen, desto stärker schwoll der Geräuschpegel an. Als sie den Besprechungsraum betraten, schlug ihnen eine Welle abgestandener Luft entgegen.

»Alter Schwede! Hier erstickt man ja«, maulte Ansgar und bahnte sich den Weg zum Fenster, um es im nächsten Augenblick weit zu öffnen. Sogleich wurde der Raum von frischer Luft geflutet.

Wenig später betrat Peter Reimers, der Dienststellenleiter, forschen Schrittes den Raum.

»Kann mal jemand das Fenster schließen?«, fragte er noch vor einer allgemeinen Begrüßung. Widerwillig schlurfte Ansgar zum Fenster und schloss es. »Danke. Guten Morgen zusammen! Ich möchte Ihnen einen kurzen Überblick geben, was in den nächsten Tagen ansteht«, begann er, worauf das allgemeine Gemurmel langsam verebbte. »Wie Sie alle wissen, stehen in gut zwei Wochen die Harley-Days an. Einige von Ihnen waren in die Vorbereitungen eingebunden. Nach jetzigem Stand rechnen wir in diesem Jahr mit ungefähr 1000 Teilnehmern und circa 700 Motorrädern. Was das für uns als Polizei bedeutet, muss ich Ihnen nicht explizit erklären, schließlich findet dieses Treffen nicht zum ersten Mal auf der Insel statt. Unser Hauptaugenmerk liegt auf dem Korso am kommenden Samstag. Die Abfahrt von der Westerländer Promenade ist zwischen circa 12 und 12.30 Uhr geplant. Die Zu- und Abfahrtswege sind entsprechend gekennzeichnet. Ab 9 Uhr werden voraussichtlich die ersten Bikes auf der Promenade zur Parade aufgestellt. Wir erwarten eine große Anzahl von Besuchern, die die Maschinen live erleben wollen. Nachdem die Teilnehmer die Promenade verlassen haben, wird es einen zehnminütigen Stopp geben, bevor es dann in Richtung Norden weitergeht. Der nächste Halt ist am Lister Hafen gegen 13.30 Uhr geplant. Alles Weitere erfahren Sie von Ihren Einsatzleitern. Sie tragen die Verantwortung dafür, dass zu keiner Zeit ein Verkehrschaos entsteht. Zögern Sie nicht, auffällige Maschinen und deren Besitzer genauer unter die Lupe zu nehmen. Eskalationen jeglicher Art sind unbedingt zu vermeiden. Bestehen irgendwelche Fragen Ihrerseits?« Er sah in die Runde. Leises Murmeln kam auf, doch niemand meldete sich zu Wort. »Scheinbar nicht. Dann komme ich zum nächsten Punkt auf meiner Agenda. Nach dem bedauerlichen Ableben des Kollegen Christof Paulsen möchte ich Ihnen zwei neue Kollegen vorstellen, die mit sofortiger Wirkung unsere blaue Familie unterstützen werden.«

Aus Reimers Schatten traten eine Frau sowie ein Mann in Uniform und nickten zaghaft in die Runde.

»Frau Hubsy Westermann und Herr Maurizio Ferrara werden das Team von Frau Böel unterstützen.« Reimers Handy klingelte. »Sie entschuldigen mich.« Daraufhin verließ er die Versammlung, die sich nach und nach auflöste.

»Scheint ja ungemein wichtig zu sein«, bemerkte Uwe und ließ Nick den Vortritt beim Hinausgehen.

»Sieht ganz danach aus.«

Auf dem Weg zurück in ihr Büro trafen sie Klara Böel.

»Moin, Klara!«, begrüßte Uwe die Kollegin. »Glückwunsch, du hast zwei neue Youngsters in deinem Team, wie wir gerade erfahren haben.«

»Moin, ihr beiden. Offen gesagt, hätte ich mir lieber jemanden mit mehr Berufserfahrung gewünscht.« Sie sprach betont leise.

»Oft sind die Jungen motivierter als die Alten.«

»Damit hast du auch wieder recht, Nick. Es wird sich zeigen, was sie draufhaben. Habe ich bei dem Termin Wesentliches verpasst? Ich war bis eben in einer Besprechung und konnte nicht weg.«

»In erster Linie ging es um die bevorstehenden Harley-Days. Reimers möchte unbedingt Negativschlagzeilen für die Polizei vermeiden.«

»Will er das nicht immer? Er spricht seit Tagen von nichts anderem. Als wenn wir das zum ersten Mal machen würden. Ich freue mich jedenfalls schon sehr auf das Event.« Die Augen der Kollegin leuchteten begeistert.

»Du fährst eine Harley?« Uwe konnte sein Staunen nicht verbergen.

»Nein, ich nicht. Aber mein Bruder hat schon seit Jahren eine. Er kommt für ein paar Tage auf die Insel. Wir haben uns ewig nicht mehr gesehen. Leider konnte ich keinen Urlaub bekommen, daher werde ich nicht viel Zeit mit ihm verbringen können.« Sie zuckte die Achseln. »Jetzt muss ich weiter. Wenn das okay ist, würde ich gern in den nächsten Tagen mit den beiden Neuen bei euch vorbeikommen und sie euch persönlich vorstellen.«

»Klar, jederzeit«, gab Uwe zurück.

Kapitel 5

Zwei Wochen später

Am Horizont türmten sich riesige dunkle Wolkenberge auf. Aus der Ferne war Donnergrollen zu hören.

»Da war ein Blitz!«, rief Christopher und zeigte zum Himmel.

»Dann sollten wir uns beeilen, bevor das Gewitter kommt«, erklärte ich und hielt die Gießkanne unter den laufenden Wasserhahn.

»Aber ich hab keine Angst, Mama«, versicherte er, obwohl sein skeptischer Blick wiederholt zum Himmel wanderte.

»Das musst du auch nicht. So, das ist die letzte Kanne, dann können wir nach Hause fahren. Ich gieße noch schnell die beiden Kübel unter dem Glasdach dort. Rasensprengen können wir uns heute wohl schenken. Du kannst in der Zwischenzeit deine Sachen einsammeln und nach drinnen bringen, okay?«, bat ich Christopher, der bereitwillig und ohne Murren seinen Fußball schnappte und ihn ins Haus brachte.

Während der Abwesenheit meiner Eltern hatte ich angeboten, mich um ihr Haus und den Garten zu kümmern. Sie waren zur Goldenen Hochzeit ihrer Freunde nach Hannover gefahren und wollten bei dieser Gelegenheit weitere Freunde und alte Bekannte treffen. Ihre Rückkehr nach Sylt hatten sie erst in drei Wochen geplant. Für die Rückfahrt von Wenningstedt nach Morsum wählte ich den Weg über Braderup an der Wattseite der Insel entlang. Die Sonne war mittlerweile gänzlich hinter den dunklen Wolken verschwunden, die unaufhaltsam und bedrohlich näher kamen. Der Wind hatte zudem aufgefrischt, und Blitze zuckten am Horizont. Christopher klebte mit der Nase an der Autoscheibe und beobachtete das Naturschauspiel. Als wir Sankt Severin, die imposante Kirche von Keitum, erreichten, erkannte ich eine Gruppe Personen, die gerade die Straße zum gegenüberliegenden Parkplatz überqueren wollte. Da sich dicht hinter mir kein anderes Fahrzeug befand, drosselte ich das Tempo, um sie passieren zu lassen. Erste dicke Regentropfen klatschten auf die Frontscheibe. Inmitten der Gruppe erkannte ich Ava Carstensen, unsere Nachbarin und Freundin.

»Da ist Ava«, sagte ich zu Christopher, fuhr rechts ran und ließ die Seitenscheibe herunter. »Hallo, Ava! Sollen wir dich mitnehmen?«

Im ersten Moment sah sie sich suchend um, dann entdeckte sie mich. »Anna! Gerne.«

Sie war gerade eingestiegen, als ein krachender Donner mich zusammenzucken ließ. Dann öffnete der Himmel seine Schleusen, und der Regen prasselte derartig heftig auf die Autoscheibe, dass die Scheibenwischer Mühe hatten, der Wassermassen Herr zu werden.

»Ihr seid genau im richtigen Moment gekommen. Seht nur, wie das schüttet!« Ava hielt ihre Handtasche mit beiden Händen auf dem Schoß und schaute aus der Seitenscheibe.

»Ein regelrechter Weltuntergang!«, pflichtete ich ihr bei. »Das Gießen bei meinen Eltern hätten wir uns sparen können. Woher kommst du?«

»Heute war die Beisetzung einer Freundin von mir.«

»Oh, das tut mir leid.«

»Wir kannten uns seit unserer Schulzeit. Sie war zwar nicht mehr die Jüngste, aber alles andere als altersschwach. Ihr Tod kam für uns alle ziemlich überraschend.« Ava sah nachdenklich auf ihre Hände.

»Woran ist sie gestorben?«

»An einem Herzinfarkt. Da sie allein lebte, konnte ihr so schnell niemand helfen. Ich habe ihr immer gesagt, sie soll diesen Notknopf bei sich führen, aber in diesem Punkt war Femke stur wie ein Esel und unbelehrbar. Sie meinte, wenn die Zeit gekommen wäre zu gehen, dann sollte es so sein. Die Vorstellung, im Krankenhaus wochenlang an Schläuchen hängend zu liegen, war für sie unerträglich. Sie wollte immer zu Hause sterben.«

»Das kann ich ein bisschen verstehen, aber meine Oma hatte auch diesen Notruf. Anfangs hat sie sich vehement dagegen gesträubt, aber einmal hat er ihr tatsächlich geholfen. Sie war gestürzt und kam allein nicht hoch.«

»Mama! Ich hab Hunger. Kann ich ein Eis haben?«, erklang eine ungeduldige Kinderstimme vom Rücksitz.

»Nein, Christopher, du hattest heute schon ein Eis. Ich mache Fischstäbchen und Kartoffelbrei, wenn wir gleich zu Hause sind. Das magst du doch«, schlug ich mit Blick in den Rückspiegel vor.

»Aber ich will lieber ein Eis. Bitte!«

»Vielleicht morgen wieder. Du sollst nicht so viel Süßkram essen, sonst wird dir schlecht.«

Christopher verschränkte die Arme vor dem Körper und zog einen Schmollmund. Momentan konnte er sehr anstrengend sein, sobald er seinen Willen nicht bekam.

»Von zu viel Eis bekommt man Läuse in den Bauch«, bemerkte Ava und zwinkerte mir zu. Auf der Rückbank blieb es für den Rest der Fahrt still.

»Danke fürs Mitnehmen«, sagte Ava, als ich wenig später vor ihrem Haus in der Einfahrt hielt. Der Starkregen hatte aufgehört, und das Gewitter zog weiter in Richtung Festland.

»Das haben wir gerne gemacht. Bis bald und viele Grüße an Carsten!«, fügte ich hinzu. Christopher war derart tief in das Spiel mit seinem Spielzeugtraktor vertieft, dass er seiner Umwelt keinerlei Beachtung schenkte. Der Groll zum Thema Eis war vorläufig verflogen.

Ich hatte gerade auf die Straße zurückgesetzt und wollte weiterfahren, als Ava aus der Haustür kam und aufgeregt winkte.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Carsten ist gestürzt! Kannst du mir helfen?«

»Warte! Ich komme!« Ich stellte den Motor ab und sprang aus dem Auto. »Bleibst du kurz allein im Auto oder willst du mit?«, fragte ich, an Christopher gewandt, worauf er aufsah und den Kopf schüttelte.

Als ich das Wohnzimmer betrat, lag Carsten auf der Seite zwischen dem alten Eichenschrank und seinem Fernsehsessel. Ich kniete mich zu ihm und schob ihm behutsam ein Kissen unter den Kopf, während Ava das Telefon in der Hand hielt, um den Rettungswagen zu rufen.

»Was ist passiert? Kannst du dich bewegen? Tut es irgendwo weh?«, wollte ich wissen und musterte ihn von oben bis unten.

»Ich bin vom Hocker gefallen«, presste Carsten mühsam hervor und kniff bei dem Versuch, sich zu bewegen, schmerzlich die Augen zusammen.

»Der Notarzt ist unterwegs«, sagte Ava und beugte sich ebenfalls über ihren Mann. »Ach, Carsten, da bin ich für zwei Stunden aus dem Haus, und du machst solche Sachen.« Sie streichelte ihm liebevoll über die Wange.

»Ich bin gleich wieder da«, erklärte ich und stand auf. »Ich möchte Christopher nicht länger allein im Auto lassen, obwohl ich nicht glaube, dass er Blödsinn anstellt.«

»Das kann ich gut verstehen.« Ava nickte verständnisvoll.

Christopher und ich standen in der Einfahrt der Carstensens und sahen dem Rettungswagen nach, der mit Carsten in die Nordseeklinik fuhr. Ava durfte ausnahmsweise ihren Mann in dem Fahrzeug begleiten. Später wollte sie mit einem Taxi zurück nach Morsum fahren.

»Wo fahren die hin?«, fragte Christopher und schob seine kleine Hand in meine. Ich drückte sie fest.

»Sie bringen Carsten ins Krankenhaus. Dort werden die Ärzte alles tun, damit er ganz schnell wieder gesund wird«, erwiderte ich und versuchte, Zuversicht auszustrahlen.

»Kann ich ihn da besuchen?«

»Klar kannst du ihn besuchen. Darüber würde er sich bestimmt freuen.«

Kapitel 6

Frank studierte das Etikett einer Weinflasche, als er hinter sich seinen Namen hörte.

»Hey! Frank? Bist du das?«

Er sah auf und stand einem Mann gegenüber, den er mindestens um einen Kopf überragte.

»Du bist es tatsächlich! Frank Gustafson. Ich werd verrückt!«

»Tut mir leid, aber ich weiß gerade nicht …« Frank beäugte den Mann in der Lederjacke, der ihm gerade gleichermaßen freundschaftlich wie kräftig auf die Schulter geschlagen hatte.

»Sag bloß, du erinnerst dich nicht mehr an mich. Heidelberg, Medizinstudium? Na, klingelt da was bei dir?« Er grinste breit.

»Jörg? Jörg Neritz?«

»Live und in Farbe! Mensch, Alter! Wie lange ist das her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben. Wie geht’s dir? Blendend siehst du aus. Immer noch schlank und rank wie eh und je.« Er stemmte die Hände in die Hüften und nickte seinem ehemaligen Studienfreund anerkennend zu.

»Du hast dich auch kaum verändert«, erwiderte Frank und klemmte sich eine zweite Weinflasche unter den Arm.

»Alter Schmeichler! Ist der gut?« Jörg Neritz deutete auf die Weinflasche in Franks Hand.

»Ein roter Cuvee aus Chile. Mir schmeckt er jedenfalls.«

»Dann sollte ich wohl besser gleich eine ganze Kiste davon nehmen. Du hattest früher schon ein Händchen für gute Weine.«

»Machst du Urlaub auf der Insel?«

»So ähnlich.« Als ihn Franks fragender Blick traf, fügte er erklärend hinzu: »Ich bin anlässlich der Harley-Days gekommen. Bei der Gelegenheit will ich mich gleich ein bisschen umsehen.«

»Umsehen wonach?« Frank zog irritiert die Augenbrauen zusammen.

»Weißt du was? Heute Abend lassen wir es richtig krachen. Ich lade dich ein, und du erzählst mir, wie es dir in den letzten Jahren ergangen ist. So ein Wiedersehen muss gebührend gefeiert werden.« Jörg schlug seinem ehemaligen Kommilitonen ein weiteres Mal kameradschaftlich auf die Schulter, sodass diesem um ein Haar eine der Weinflaschen aus der Hand geglitten wäre.

»Danke für die Einladung, aber daraus wird leider nichts.«

»Ah, ein Date, verstehe.« Er schenkte Frank einen verschwörerischen Blick. »Was ist mit morgen? Wie lange bleibst du auf Sylt? Sag jetzt bitte nicht, dass du morgen bereits abreist.«

»Nein, ich lebe hier.«

»Du machst Witze, oder?« In Jörgs Miene spiegelte sich für einen kurzen Moment Überraschung wider. Dann fand er zu seiner gewohnten Art zurück. »Sieh an, der Frankieboy lebt auf der beliebtesten Ferieninsel Deutschlands! Respekt! Fett geerbt oder eine gute Partie gemacht? Nimm es mir nicht übel, aber dass ausgerechnet du eines Tages zum braven Ehemann mutierst, ist wahrlich schwer vorstellbar.« Er lachte lauter als nötig. Eine Kundin drehte sich um und warf ihnen einen pikierten Blick zu.

»Weder noch. Ich arbeite seit ein paar Jahren in der Nordseeklinik in Westerland«, stellte Frank klar. Gleichzeitig ärgerte er sich, binnen kürzester Zeit derartig viel von sich preisgegeben zu haben.

»Ach, dann hast du gar keine eigene Praxis? Ich hätte wetten können, du verdienst dich eines Tages als Schönheitschirurg dumm und dämlich. An der entsprechenden Klientel dürfte es gerade hier wohl kaum mangeln.« Er deutete zu einer Kundin, die sich daraufhin mit empörtem Gesichtsausdruck wegdrehte.

»Wie man sich täuschen kann.« Frank stieß lautstark die Luft aus und sagte dann: »Jetzt muss ich aber los! Nett, dich getroffen zu haben, Jörg. Genieße die Zeit auf Sylt.«

»Moment! So einfach kommst du mir nicht davon.« Sein Gegenüber zog eine Visitenkarte aus dem Portemonnaie und streckte sie Frank entgegen. »Hier ist meine Karte. Ruf mich an! Auf ein Bierchen der alten Zeiten wegen wirst du ja wohl Zeit finden. Schließlich hast du als angestellter Arzt geregelte Arbeitszeiten, wenn ich mich nicht täusche. Wir sehen uns!« Mit diesen Worten verließ er den Laden – ohne eine Kiste Wein.

Kapitel 7

»Frau Doktor ist noch nicht da, Frau Lornsen. Sie kommt dienstags immer erst um 9 Uhr«, erklärte die Sprechstundenhilfe mit einem Bedauern in der Stimme.

»Das hatte ich vollkommen vergessen. Ich muss eigentlich nicht zwingend zu Frau Doktor, sondern brauche nur ein neues Rezept für meine Blutdrucktabletten«, argumentierte Marga Lornsen, in der Hoffnung, den Weg nicht umsonst gemacht zu haben.

»Ohne die Unterschrift meiner Chefin kann ich Ihnen leider kein Rezept ausstellen.«

»Hm. Das ist unglücklich, die Tabletten reichen nur bis heute. Ich dachte, ich hätte noch eine Packung, aber ich habe mich geirrt. Dann muss ich wohl oder übel morgen wiederkommen. Ab wann ist Frau Doktor morgen da?«

»Wissen Sie was? Sie wohnen doch in Archsum, richtig?«, fragte die junge Frau an der Anmeldung. Als die Patientin nickte, fuhr sie fort: »Da ich auch in Archsum wohne, kann Ihnen das Rezept nach Feierabend vorbeibringen. Damit können Sie morgen früh gleich direkt zur Apotheke gehen und müssen nicht erst in die Praxis kommen.«

»Ach, das wäre ausgesprochen reizend von Ihnen.« Marga Lornsen strahlte voller Erleichterung.

»Kein Ding«, wehrte die Arzthelferin verlegen ab. »Ich wäre kurz nach 18 Uhr bei Ihnen, okay?«

»Ja, ja. Um diese Zeit bin ich auf jeden Fall zu Hause. Da läuft immer meine Lieblingssendung im Fernsehen«, vertraute sie ihr an.

»Kann ich Ihnen sonst irgendetwas mitbringen?«, erkundigte sich die junge Frau.

»Nein, vielen Dank. Ich möchte Ihre Hilfsbereitschaft auf keinen Fall überstrapazieren. Ich bin ohnehin gerade auf dem Weg nach Tinnum zum Einkaufen. Bei Lidl ist heute Waschpulver im Angebot«, ließ Frau Lornsen ihre Gesprächspartnerin wissen.

»Danke für den Tipp. Waschmittel müsste ich in nächster Zeit auch dringend besorgen. Entschuldigen Sie bitte, ich glaube, da muss ich jetzt mal rangehen«, erwiderte sie und griff zum Telefonhörer, um dem anhaltenden Klingeln ein Ende zu bereiten.

Marga Lornsen verstaute ihre Einkäufe im Kofferraum und setzte sich anschließend hinters Steuer ihres alten Passat, mit dem ihr Mann bis zu seinem Tod vor fünf Jahren regelmäßig gefahren war. Marga hatte damals beschlossen, das Fahrzeug zu behalten. Einerseits aus praktischen, andererseits aus sentimentalen Gründen. Die Entscheidung hatte sie im Nachhinein nie bereut, denn der Wagen brachte sie seitdem zuverlässig an jedes Ziel. Sie drehte den Zündschlüssel im Schloss, doch der Motor gab keinen Mucks von sich. Seltsam, denn vorhin war er tadellos angesprungen. Sie versuchte es ein weiteres Mal. Doch aus einem ihr unerklärlichen Grund sprang der Wagen nicht an. War kein Benzin mehr im Tank? Nein, das war unmöglich, denn sie hatte erst vor zwei Tagen vollgetankt und war seitdem nur wenige Kilometer gefahren. Marga öffnete die Motorhaube, um der Ursache auf den Grund zu gehen. Auch an der Batterie konnte es ihres Erachtens nicht liegen. Womöglich hatte sich lediglich eine Steckverbindung gelöst. In der Vergangenheit hatte sie ihrem Mann häufig über die Schulter geschaut, wenn er an den unterschiedlichsten Fahrzeugmodellen herumgeschraubt hatte, und sich auf diese Weise ein beachtliches Repertoire an Fachwissen angeeignet. In diesem Fall kam sie jedoch nicht weiter. Ratlos stand sie vor der geöffneten Motorhaube und betrachtete das Innenleben ihres Oldtimers.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?« Hinter Marga stand ein Mann und sah sie aus freundlichen Augen an. In der rechten Hand hielt er einen schwarzen Rucksack.

»Er will einfach nicht anspringen. Ist eben nicht mehr der Jüngste.« Sie seufzte.

»Alte Autos lassen sich meistens besser reparieren als neue. Die haben nicht diese ganze moderne Elektronik, das macht die Fehlersuche leichter. Darf ich?«, fragte er und warf einen Blick in den Motorraum.

»Bitte! Mir scheint, Sie kennen sich aus mit Autos«, stellte Marga fest, während sie den jungen Mann beobachtete, wie er fachmännisch den Motorraum untersuchte.

»Ja, ein Hobby von mir.«

»Mein Mann hat damals auch jede freie Minute damit verbracht, an seinen Autos herumzubasteln. Diesen Passat hat er besonders geliebt.« Beinahe zärtlich strich sie bei der Erinnerung mit den Fingern über den Kotflügel.

»Das kann ich gut verstehen. Das sind noch echte, ehrliche Autos. Ah, hier liegt das Problem. Sehen Sie?« Er hielt ihr ein loses Kabelende vor die Nase.

»Hm, das habe ich glatt übersehen«, murmelte Marga vor sich hin, während sich der Mann hinter das Lenkrad setzte.

»Dann wollen wir mal.« Er drehte den Schlüssel im Zündschloss, und der alte Dieselmotor erwachte zu neuem Leben.

»Das ist wunderbar! Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr …«, zeigte sich Marga erleichtert, als das vertraute Motorengeräusch an ihr Ohr drang. »Was bin ich Ihnen schuldig?«

»Keine Ursache. Hauptsache, er läuft wieder.« Mit diesen Worten schulterte der hilfsbereite Mann seinen Rucksack und stieg in einen unweit geparkten dunkelblauen Kleinwagen.

Marga fuhr die Keitumer Landstraße in Richtung Archsum und summte fröhlich den Schlager mit, der aus dem Radio schmetterte. Plötzlich bemerkte sie aus dem Augenwinkel etwas neben sich auf dem Beifahrersitz. Sie drehte den Kopf zur Seite und stieß einen Schrei aus. Unmittelbar darauf drehte sich alles unter ohrenbetäubendem Lärm um sie herum. Dann wurde es vollkommen still.

Kapitel 8

Da Nick heute seinen freien Tag hatte und Christopher aus dem Kindergarten abholte, traf ich mich mit meiner Freundin Britta mittags in Westerland auf einen Kaffee. Seitdem sie sich ihren Traum vom eigenen Café verwirklicht hatte, bekam ich sie noch seltener zu Gesicht als früher. Vormittags unterstützte sie ihren Mann Jan in ihrem familiengeführten Hotel, und ab dem frühen Nachmittag widmete sie sich mit Leib und Seele ihrem neuen Café.

»Ich weiß echt nicht, wie du alles unter einen Hut bekommst«, sagte ich und nippte an meinem Latte machiatto.

»Ich habe einfach keine Zeit, darüber nachzudenken.« Sie lachte herzlich. »Mir macht meine Arbeit viel Spaß, und die Zufriedenheit meiner Gäste ist meine Energiequelle. Da geht es mir wie dir.«

»Da hast du recht, das spornt mich ebenfalls an«, stimmte ich zu. »Trotz allem würde ich mir manchmal ein bisschen mehr Zeit wünschen, um die Insel genießen zu können und mit meiner Familie schöne Stunden zu verbringen. Aber das nennt man wohl ›Jammern auf hohem Niveau‹.«

»In den Wintermonaten wird es ein bisschen ruhiger.«

»Dafür kann das Wetter in dieser Zeit ziemlich ruppig werden«, hielt ich dagegen.

»That’s life! Man kann nicht alles haben.«

Im Anschluss an das Treffen fuhr ich auf direktem Weg nach Hause. Am geschlossenen Bahnübergang in Keitum musste ich warten. Vor mir stand eine Gruppe Motorradfahrer. Wie ich auf den ersten Blick erkennen konnte, handelte es sich um Harleys. Das blank geputzte Metall einiger Maschinen blitzte in der Sonne. Der geflochtene rote Zopf einer Bikerin fiel ihr über den Rücken. Ihre Lederjacke war mit diversen Aufnähern verziert. Nachdem der Zug vor uns vorbeigerauscht war, konnten wir unsere Fahrt fortsetzen. Ein kleines Stück hinter dem Bahnübergang bog die Gruppe Biker nach rechts in den Siidik ab. Vor mir fuhr ein alter Passat mit geringer Geschwindigkeit. Als ich überlegte, ihn zu überholen, beschleunigte er plötzlich. Ehe ich mich fragen konnte, weshalb er ausgerechnet vor der nächsten Rechtskurve die Geschwindigkeit erhöhte, sah ich, wie er zu schlingern begann und von der Straße abkam. Der Wagen überschlug sich mehrfach und blieb links auf einer Wiese liegen. Ich hielt sofort an, wählte den Notruf und rannte zu dem verunglückten Fahrzeug, das wie ein Käfer auf dem Rücken lag. Als ich mich bückte, um nach dem Fahrer zu sehen, erkannte ich eine Frau. Ihr Kopf lag seitlich gegen das Fenster gelehnt, die Augen waren geschlossen, das Gesicht blutverschmiert. Ich klopfte gegen die Scheibe. Sie schien bewusstlos zu sein, denn sie zeigte keinerlei Reaktion. Dann versuchte ich, die Tür zu öffnen. Vergeblich.

»Hallo! Brauchen Sie Hilfe?«, hörte ich hinter mir eine Stimme und drehte mich um. Eine blonde Frau war mir gefolgt. Völlig außer Atem vom Laufen fragte sie: »Was ist mit den Insassen? Wir müssen einen Rettungswagen und die Feuerwehr rufen.«

»Das habe ich schon gemacht. Außer der Fahrerin scheint niemand im Wagen zu sein. Sie ist bewusstlos …«

»Wir müssen sie schnell da rausholen, bevor der Wagen womöglich Feuer fängt«, unterbrach sie mich und kniete sich hin. »Helfen Sie mir mal!«

»Die Tür hat sich verkeilt, sie geht nicht auf. Die Frau liegt so ungünstig, dass ich mich nicht traue, die Scheibe einzuschlagen, ohne sie womöglich zu verletzen.«

»Dann versuchen wir es von der anderen Seite! Kommen Sie!« Sie rannte um das Auto herum. Ich folgte ihr. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass weitere Autos am Straßenrand angehalten hatten. Einige Insassen waren ausgestiegen und sahen zu uns herüber, ohne jedoch einzugreifen. Weder die Tür auf der Beifahrerseite noch die hinteren Türen ließen sich öffnen.

»Mist, das Knöpfchen ist unten«, stellte ich verzweifelt fest.

»Das gibt es auch nur noch bei so alten Autos wie dem hier. Wir müssen die Scheibe einschlagen, da hilft alles nichts!«

»Aber womit? Sehen Sie irgendwo einen Stein?«

»Nein, wir machen das anders.« Blitzschnell zog sie ihre Jacke aus und wickelte sich diese fest um ihren rechten Arm.

»Ah, ich weiß, was Sie vorhaben.«

»Gehen Sie bitte zur Seite!«

Sie machte einen Schritt rückwärts und holte aus, als ich im Wageninneren etwas über die Scheibe krabbeln sah.

»Uh, ich glaube, da war eine Spinne!«

»Das ist wohl gerade das geringste Problem«, erwiderte die Frau schroff.

Im selben Moment konnte man das Martinshorn eines Streifenwagens hören, der sich, dicht gefolgt von einem zweiten, dem Rettungswagen und der Feuerwehr, der Unfallstelle näherte.

»Alles okay mit dir, Anna?« Nicks Kollege Ansgar Kreutzer stand neben mir, nachdem die Polizei die Unfallstelle gesichert und die Feuerwehr die Frau aus dem Fahrzeug geborgen hatte.

»Geht schon«, erwiderte ich resigniert. »Wir hätten der Fahrerin gern geholfen.«

»Mach dir keine Vorwürfe. Ihr habt alles richtig gemacht. Der Arzt sagt, sie muss sofort tot gewesen sein. Sie war nicht angeschnallt. Kannst du etwas zu dem Unfallhergang sagen? Du warst direkt hinter ihr. Musste sie ausweichen?«

»Nein, da war nichts, wovor sie hätte ausweichen müssen, das hätte ich gesehen. Sie ist gemächlich vor mir hergefahren, fast schon zu langsam. Ich habe mich allerdings gewundert, dass sie direkt vor der Rechtskurve plötzlich stark beschleunigt hat. Gleich darauf geriet der Wagen heftig ins Schlingern, flog von der Straße und überschlug sich mehrfach auf der Wiese.«

»Hm, komisch«, überlegte Ansgar.

»Hat die andere Zeugin vielleicht etwas gesehen, was mir entgangen sein könnte?« Ich deutete zu der blonden Frau, mit der ich vergeblich versucht hatte, die Verunglückte aus ihrem Wagen zu bergen. Sie saß in der geöffneten Beifahrertür ihres Wohnmobils und sprach mit einer Polizistin.

»Nein, eine Kollegin nimmt momentan ihre Aussage auf.«

»Ansgar?« Eine junge Polizistin mit strohblondem Haar kam geradewegs auf Ansgar zu, ehe ich weitersprechen konnte.