Szenen aus dem Herzen - Beata Ernman - E-Book

Szenen aus dem Herzen E-Book

Beata Ernman

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Beschreibung

Greta Thunberg, die junge Klimaaktivistin, die die Mächtigen das Fürchten lehrt – dies ist ihre ganz persönliche Geschichte. Aber es ist vor allem eine Geschichte über die Krise, die uns alle betrifft. »Szenen aus dem Herzen« erzählt aus dem Inneren von Gretas Familie: Wie die Eltern Malena und Svante mit Gretas Asperger-Syndrom umgehen. Wie Greta erstmals vom Klimawandel hört und seitdem nicht mehr aufhören kann, darüber nachzudenken. Wie sie ihre kleine Schwester Beata und ihre Eltern davon überzeugt, für das Klima zu kämpfen. Wie die Eltern beschließen, nicht mehr zu fliegen und überhaupt ihre Lebensgewohnheiten grundlegend zu ändern – für das Klima und für die Zukunft. In der neuen erweiterten Ausgabe erzählt die Familie zum ersten Mal von der Reise ab Gretas erstem Schulstreik bis zu Fridays for Future. Davon, wie Greta die wurde, die wir heute kennen – Vorbild, Inspiration und Ikone des Klimaschutzes. Aber auch von den Schwierigkeiten, gegen die sie sich durchsetzen musste, und der unerschütterlichen Hoffnung, die sie immer weitermachen lässt.

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Seitenzahl: 299

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Greta & Svante Thunberg Beata & Malena Ernman

Szenen aus dem Herzen

Unser Leben für das Klima

FISCHER E-Books

Inhalt

1 Hinter dem Vorhang[Motto-Gedicht]VorwortSzene 1 Mein letzter Abend in der OperSzene 2 HeimatSzene 3 KulturarbeitSzene 4 Einzigartige MöglichkeitenSzene 5 Xerxes – mein letzter Abend in der OperSzene 6 GnocchiSzene 7 Die Kunst, Zimtschnecken zu backenSzene 8 Im KinderkrankenhausSzene 9 HungerSzene 10 TeufelskreisSzene 11 »Kinder sind gemein«Szene 12 Die Revanche der unsichtbaren MädchenSzene 13 »Ihr seid die, die anders sind, ich bin normal.«Szene 14 Irgendetwas passt nicht ganz zusammenSzene 15 Philanthropie-JunkiesSzene 16 Zoobesuch in AntwerpenSzene 17 KernschmelzeSzene 18 AlltagSzene 19 Als der Krieg bei uns einzogSzene 20 Die schlechteste Mutter der WeltSzene 21 Svante löst alle Probleme und fährt mit Beata nach ItalienSzene 22 Die Ballade vom Sommer 2016Szene 23 Zwischen den ZeilenSzene 24 StreetdanceSzene 25 Der Low-Arousal-AnsatzSzene 26 Higher Ground2 Ausgebrannte Menschen auf einem ausgebrannten PlanetenSzene 27 LeugnungSzene 28 VöllereiSzene 29 SymbioseSzene 30 AstrophysikSzene 31 Think BIG and Kick Ass in Business and LifeSzene 32 Stresserkrankungen und KrankenstandSzene 33 In Rock und BoxhandschuhenSzene 34 Ein historischer ÜbergangSzene 35 Ein Brief an all jene, die die Chance haben, gehört zu werdenSzene 36 Die LuxusfalleSzene 37 Biofallobst und AtommüllSzene 38 Das KleingedruckteSzene 39 Ein TraumspielSzene 40 Die Kunst zu lügenSzene 41 Grünes WachstumSzene 42 Der verdammt traurige TeilSzene 43 Business as usualSzene 44 LiebedienereiSzene 45 Die OptimistenSzene 46 Anno Domini 2017Szene 47 Nein, bitte keine Texte über das Klima mehrSzene 48 Unwissenschaftliche ForschungSzene 49 Das Prinzip der NäheSzene 50 Der Wert des MenschenSzene 51 Gleiche Krankheit, verschiedene SymptomeSzene 52 SpielverderberSzene 53 »Wie ein bewusster Meteorit«Szene 54 #ichbleibaufdembodenSzene 55 Beim PsychologenSzene 56 Im Club der toten DichterSzene 57 WaffeltagSzene 58 MitautismusSzene 59 Tick TackSzene 60 »Ladies all across the world, Listen up, we’re looking for recruits, If you’re with me, let me see your hands, Stand up and salute.«Szene 61 Moscow PrideSzene 62 Digitaler ErfolgSzene 63 HybrisSzene 64 WiederholungSzene 65 GreenwashingSzene 66 Skiausflug in Erwartung von Zeitmaschine und TeleporterSzene 67 Gretas MonologSzene 68 Früher war nichts besserSzene 69 Goethes FaustSzene 70 Hand auflegenSzene 71 LondonSzene 72 Der lange Weg nach Hause3 Das antike DramaSzene 73 ChaosSzene 74 Die neue WährungSzene 75 RudeltiereSzene 76 StudienberatungSzene 77 Svenny KoppSzene 78 Volksheimkind de LuxeSzene 79 Seinfeld zum NachbarSzene 80 SuperkräfteSzene 81 Leere WorteSzene 82 AndersseinSzene 83 Hinter den KulissenSzene 84 Solange das Mikro aus istSzene 85 »Es ist nie zu spät, so viel zu tun wie möglich«Szene 86 Testament eines historischen Überflusses4 Stell dir vor, das Leben ist echt, und alles, was wir tun, bedeutet etwasSzene 87 Weiter nordwärts, Juli 2018Szene 88 Eine ZeitmaschineSzene 89 Tropische NächteSzene 90 Etwas sehr Großes und Unerwartetes muss passierenSzene 91 Alle Dinosaurier hatten ADHSSzene 92 Unbegrenzter Zuwachs auf einem begrenzten PlanetenSzene 93 Die große BühneSzene 94 Eine BewegungSzene 95 Der dritte TagSzene 96 Stärker und stärkerSzene 97 Im ScheinwerferlichtSzene 98 Jay ZSzene 99 Verbrechen gegen die MenschlichkeitSzene 100 Gehört zu werden kostet HassSzene 101 Der erste AuftrittSzene 102 Schritt zurückSzene 103 GeneralprobeSzene 104 Fridays for FutureSzene 105 HoffnungSzene 106 Alles auf AnfangSzene 107 SicherheitsventileSzene 108 Zeit für den AuftrittDanke für Hilfe und Inspiration

1Hinter dem Vorhang

Der Tag geht zur Neige.

Die Sonne wird um sieben sterben.

Sag, Experte der Dunkelheit,

wer leuchtet uns jetzt?

Wer zündet ein abendländisches Gegenlicht an,

wer träumt einen morgenländischen Traum?

Wer auch immer – komm mit einem Licht!

Am liebsten du.

 

Elegie, Werner Aspenström,

schwedischer Lyriker und Essayist

Vorwort

Dies könnte meine Geschichte sein. Fast eine Autobiographie, hätte es eine werden sollen. Doch Autobiographien interessieren mich nicht besonders. In meinen Augen gibt es Dinge, die wichtiger sind.

Dieses Buch haben mein Mann Svante und ich gemeinsam mit unseren Töchtern geschrieben. Es handelt von der Krise, die unsere Familie getroffen hat. Es handelt von Greta und Beata.

Aber vor allem ist es die Geschichte einer Krise, die jeden von uns betrifft. Einer Krise, die wir Menschen durch unseren Lebensstil herbeigeführt haben: fernab von Nachhaltigkeit, losgelöst von der Natur, von der wir ein Teil sind. Manche bezeichnen dieses Phänomen als Nachhaltigkeits- andere als Klimakrise.

Die meisten scheinen zu glauben, dass sich diese Krise an einem weitentfernten Ort abspielt und wir noch lange von ihr verschont bleiben.

Aber das stimmt nicht.

Denn die Krise ist längst da und äußert sich permanent, auf vielfältige Weise. Am Frühstückstisch, in Schulfluren, auf den Straßen. Im Garten vor eurem Fenster, im Wind, der euer Haar zerzaust.

Mit manchen Dingen, die wir hier in Absprache mit Greta und Beata nach langem Überlegen erzählen, hätten wir gerne noch etwas gewartet. Nicht unseretwegen, sondern euretwegen.

Das wäre sicher netter gewesen. Ein bisschen schonender.

Aber die Zeit haben wir nicht. Wenn wir eine Chance haben wollen, müssen wir die Krise jetzt sichtbar machen.

 

Einige Tage bevor die schwedische Ausgabe dieses Buchs im August 2018 erschien, hatte sich unsere Tochter Greta Thunberg vor den Schwedischen Reichstag gesetzt und ihren Schulstreik für das Klima begonnen – ein Streik, der bis heute andauert, auf dem Mynttorget in der Stockholmer Altstadt und an vielen anderen Orten weltweit.

Seitdem haben sich viele Dinge geändert. Sowohl für Greta als auch für uns als Familie.

An manchen Tagen erscheint es fast wie im Traum. Diese neue Ausgabe ist eine erweiterte Ausgabe mit neuen Szenen, die vom Sommer 2018 berichten, als Greta mit ihrem Schulstreik begann.

 

Malena Ernman, Mai 2019

PS: Vor der Veröffentlichung dieses Buchs haben wir festgelegt, dass das Geld, das wir damit eventuell verdienen, an Greenpeace, WWF, die Institution für tiergestützte Pädagogik und Therapie Lära med djur, den Schwedischen Naturschutzverein und dessen Jugendumweltorganisation Fältbiologerna, den Verein für Menschen mit Beeinträchtigungen Kung över Livet, Kinder in Not und die Tierschutzorganisation Djurens Rätt geht – alles über eine Stiftung, die wir gegründet haben.

Und so ist es.

PPS: Das haben Greta und Beata entschieden.

Szene 1Mein letzter Abend in der Oper

Es ist Zeit für den Auftritt.

Das Orchester stimmt ein letztes Mal die Instrumente, im Saal gehen die Lichter aus. Ich stehe neben dem Dirigenten Jean-Christophe Spinosi, wir müssen gleich auf die Bühne und unsere Positionen einnehmen.

Alle sind bestens gelaunt. Es ist die letzte Aufführung, morgen fahren wir nach Hause zu unseren Lieben. Weiter zum nächsten Engagement. Nach Hause nach Frankreich, Italien und Spanien. Nach Hause nach Oslo und Kopenhagen. Weiter nach Berlin, London und New York.

Die vorherigen Vorstellungen sind wie in Trance verlaufen.

Jeder, der schon einmal berufsbedingt auf der Bühne gestanden hat, weiß, was ich meine. Manchmal stellt sich eine Art Fluss ein; eine Energie, die zwischen Publikum und mir entsteht und mich weiterträgt, Vorstellung für Vorstellung, Abend für Abend. Es ist wie Magie. Theater- und Opernmagie.

Heute findet die letzte Aufführung von Händels Xerxes in der Kunsthalle Artipelag im Stockholmer Schärengarten statt. Es ist der 2. November 2014, und ich gebe heute meine letzte Opernvorstellung in Schweden. Doch das weiß niemand.

Heute Abend gebe ich meine letzte Opernvorstellung überhaupt.

Die Atmosphäre ist elektrisiert, und hinter der Bühne schweben alle einige Zentimeter über dem fast unbenutzten Zementboden des Artipelag.

Die Vorstellung wird aufgezeichnet. Mit acht Kameras und einem kompletten Produktionsteam.

Vor der Bühne warten neunhundert mucksmäuschenstille Zuschauer. Der König und die Königin sind da. Alle sind da.

Ich laufe nervös hin und her und versuche, ruhig zu atmen, aber es geht nicht. Mein Körper neigt sich die ganze Zeit nach links, und ich schwitze. Meine Hände werden taub. Die vergangenen sieben Wochen waren ein einziger langer Albtraum, und nirgendwo kann ich mich erholen. Nirgendwo gibt es ein kleines bisschen Ruhe und Frieden. Mir ist übel, und gleichzeitig bin ich über den Punkt der Übelkeit hinaus. Wie bei einer ausgedehnten Panikattacke.

Als wäre ich geradewegs in eine Glaswand gesprungen und in der Fallbewegung zum Boden erstarrt. Ich warte auf den Aufprall. Warte auf den Schmerz.

Doch nichts geschieht. Das Einzige, was ich sehe, bin ich selbst: in der Luft hängend, vor der Glaswand, die einfach nur dasteht, ohne den kleinsten Riss.

»Ich fühle mich nicht wohl«, sage ich.

»Setzen Sie sich hin. Möchten Sie ein Glas Wasser?« Der Dirigent und ich sprechen Französisch miteinander.

Plötzlich geben meine Beine unter mir nach. Ich falle. Jean-Christophe fängt mich auf.

»Keine Sorge«, sagt er. »Die Vorstellung findet statt. Das Publikum muss warten. Wir geben mir die Schuld. Ich bin Franzose, wir Franzosen kommen immer zu spät.«

Jemand lacht.

Nach der Aufführung muss ich schnell nach Hause. Meine jüngste Tochter Beata wird morgen neun, und ich muss noch tausend Dinge vorbereiten. Aber jetzt liege ich da. Ohnmächtig in den Armen des Dirigenten.

Typisch.

Jemand streicht mir behutsam über die Stirn.

Alles wird schwarz.

Szene 2Heimat

Ich bin in einem Reihenhaus in Sandviken aufgewachsen. Meine Mutter war Diakonin, mein Vater arbeitete als Wirtschafts- und Steuerberater bei Sandvik. Ich habe eine drei Jahre jüngere Schwester, die Vendela heißt, und einen elf Jahre jüngeren Bruder, den meine Mutter nach dem schwedischen Opernsänger Carl Johan »Loa« Falkman Karl-Johan benannt hat, weil sie Loa so attraktiv fand.

Das ist die einzige Verbindung zur Oper und zu klassischer Musik, die meine Eltern mir mit auf den Weg gegeben haben.

Aber wir sangen viel. Volkslieder, Abba, John Denver. Im Großen und Ganzen waren wir eine ganz normale schwedische Kleinstadtfamilie. Das Einzige, was uns möglicherweise von anderen Familien unterschied, war das große Engagement meiner Eltern für Menschen in Not.

Zu Hause in Vallhov war Humanismus oberstes Gebot, und Menschen zu helfen, die Hilfe benötigten, war für uns ganz selbstverständlich; eine Familientradition, die meine Mutter von ihrem Vater Ebbe Arvidsson übernommen hat, einem ranghohen Vertreter der Schwedischen Kirche und einem Vorreiter in Sachen Ökumene und moderner Entwicklungszusammenarbeit. In meiner Kindheit und Jugend haben wir immer wieder Flüchtlinge und Menschen ohne Papiere bei uns aufgenommen.

Manchmal war es ein bisschen anstrengend.

Aber es ging.

In den Ferien besuchten wir die beste Freundin meiner Mutter, eine Nonne. Wir haben viele Sommer in ihrem Kloster in Nordengland verbracht. Ich glaube, deshalb fluche ich auf der Bühne so oft. Ein Akt chronischer Teenagerrebellion, die sich nicht ganz legen will.

Doch bis auf die Tatsache, dass wir in den Sommerferien in den Schlafsälen englischer Klosterschulen schliefen und in unserer Garage Flüchtlinge wohnten, waren wir genau wie alle anderen.

 

Wie ich bereits sagte, wir sangen, und ich sang für mein Leben gern, ich sang ununterbrochen.

Ich habe alles gesungen – und je schwieriger die Stücke waren, desto mehr Spaß machte es mir. Und der Grund, weshalb ich viele Jahre später Opernsängerin wurde, war vermutlich einfach, weil ich Herausforderungen liebe. Und Oper erwies sich am Ende als das schwierigste Genre, das man singen kann – und als das, was mir am meisten Spaß machte.

Szene 3Kulturarbeit

Seit meinem sechsten Lebensjahr stehe ich auf der Bühne und singe vor Publikum. In Kirchenchören, Vokalensembles, Jazzbands, Musicals, Opern. Meine Liebe zur Musik ist grenzenlos – ich möchte am liebsten keinem bestimmten Genre angehören oder in eine Schublade gesteckt werden. Mein Repertoire geht über Genregrenzen hinaus. Ich singe alles, es muss nur gute Musik sein.

In der Unterhaltungsbranche sagt man, je deutlicher man sich als Künstler positioniert, desto mehr Kochbücher darf man schreiben – und meine Kochbücher glänzen wahrscheinlich stärker durch ihre Abwesenheit.

Aber in den letzten fünfzehn Jahren habe ich – zumindest für meine Begriffe – einen ziemlich deutlichen roten Faden verfolgt und versucht, künstlerischen Anspruch mit einer breiten Publikumswirkung zu verbinden. Ich wollte das Schwere etwas leichter, die Hochkultur etwas weniger hoch und das Schmale etwas breiter machen. Und umgekehrt.

Ich bin meinen eigenen Weg gegangen. Immer gegen den Strom und fast immer allein. Außer wenn Svante an meiner Seite war, natürlich.

Das, was ich anfangs eher intuitiv machte, entwickelte sich im Lauf der Jahre zu einer Haltung. Zu der Überzeugung, dass derjenige, der die Möglichkeit hat, das, was er tut, weiterzuentwickeln, auch die Verpflichtung besitzt, es zu versuchen.

Svante und ich gehören zu den wenigen, die diese Möglichkeit bekamen.

Und wir versuchten es.

Wir sind Kulturarbeiter, ausgebildet an Opernakademien, Musik- und Theaterhochschulen, und haben ein halbes Berufsleben mit freiberuflichen Engagements und in Angestelltenverhältnissen hinter uns. Wir tun das, was alle Kulturarbeiter in erster Linie tun. Wir arbeiten und geben unser Bestes, um unsere Zukunft zu sichern und unser immerwährendes Ziel zu erreichen: ein neues, breites Publikum zu finden.

Svante und ich kommen aus völlig verschiedenen Richtungen, aber wir hatten immer dasselbe Ziel, von Anfang an.

Ungleich und doch gleich.

 

Als ich unser erstes Kind Greta erwartete, arbeitete Svante am Ostgöta-Theater, am Riks-Theater und am Orion-Theater. Gleichzeitig. Ich hatte mehrere bindende Engagements an diversen europäischen Opernhäusern. Tausend Kilometer voneinander entfernt diskutierten wir am Telefon, wie unser neuer Alltag funktionieren könnte.

»Du bist weltweit eine der Besten deines Fachs«, sagte Svante. »Das habe ich in mindestens zehn verschiedenen Zeitungen gelesen. Ich bin nur ein mittelmäßiger Theaterschauspieler. Und außerdem verdienst du viel besser wie ich.«

»Als ich.«

»Du verdienst viel besser als ich.«

Ich protestierte ein wenig halbherzig, aber die Entscheidung war gefallen, und nach seiner letzten Aufführung flog Svante zu mir nach Berlin.

 

Am nächsten Tag klingelte Svantes Handy. Er nahm das Gespräch an und telefonierte einige Minuten draußen auf dem Balkon, der zur Friedrichstraße hinausging. Es war Ende Mai und bereits drückend warm. Wir waren noch nicht einmal ein halbes Jahr zusammen.

»So verflucht typisch«, sagte er lachend, als er aufgelegt hatte.

»Wer war das?«

»Erik Haag und irgendein anderer Typ. Sie haben letzte Woche das Stück im Orion gesehen.«

Svante war mit Helena af Sandeberg in einem Stück von Irvine Welsh, dem Autor von Trainspotting, aufgetreten, in dem alle Drogen nahmen und Leichen in Frischhaltefolie wickelten.

»Fick mich!«, hatte Helena Svante seit der Premiere an mehreren Abenden der Woche entgegengeschrien.

Ich war furchtbar eifersüchtig.

»Die beiden konzipieren gerade ein Comedy-Programm für das schwedische Radio. Sie fanden mich lustig und haben gefragt, ob ich mitmachen möchte. Erst einmal zur Probe. Das war genau der Anruf, auf den man ewig wartet …«

»Und was hast du gesagt? So ein Angebot kannst du doch nicht ausschlagen?!«, rief ich und starrte ihn an.

»Ich habe gesagt, dass ich bei meiner schwangeren Freundin bin und sie im Ausland arbeitet.« Svante erwiderte meinen Blick.

»Du hast abgelehnt?«

»Ja, das ist die richtige Entscheidung. Wir ziehen das gemeinsam durch, sonst wird es nicht funktionieren.«

Und so ist es gekommen.

 

Ein paar Wochen später gingen wir auf die Premierenfeier von Don Giovanni in der Berliner Staatsoper, und Svante erklärte Maestro Barenboim und Cecilia Bartoli, dass er ab jetzt Hausfrau sei.

»So now I’m a housewife.«

So hielten wir es zwölf Jahre lang. Es war anstrengend, aber auch wahnsinnig schön. Wir blieben zwei Monate in einer Stadt und reisten dann zur nächsten weiter. Berlin, Paris, Wien, Amsterdam. Barcelona. Immer weiter.

Die Sommer verbrachten wir in Glyndebourne, Salzburg oder Aix-en-Provence. Wie man es eben macht, wenn man Opern und andere klassische Musik singt.

Ich probte zwanzig bis dreißig Stunden in der Woche, und die restliche Zeit über waren wir zusammen. Frei und ungebunden. Keine Verwandten außer Oma Mona, Svantes Mutter. Keine Freunde. Keine Abendeinladungen. Keine Feiern. Nur wir.

Drei Jahre nach Greta kam Beata zur Welt, und wir schafften uns einen Volvo V70 an, um genügend Platz für Puppenhäuser, Teddybären und Dreiräder zu haben. Dann machten wir weiter. Immer weiter. Es waren wunderbare Jahre. Im Winter saßen wir in hellen Altbauwohnungen auf dem Fußboden und spielten mit den Mädchen, im Frühling gingen wir in blühenden Parks gemeinsam spazieren.

Unser Alltag war unvergleichlich. Unser Alltag war einfach wunderbar.

Szene 4Einzigartige Möglichkeiten

»Die Teilnahme am schwedischen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest ist ein bisschen wie Kinderkriegen. Man kann es anderen erzählen, man kann es im Detail beschreiben. Aber nur die, die es selbst erlebt haben, wissen, wie es sich anfühlt.« Anders Hansson ist Musikproduzent, und wir werden in Kürze mit der Arbeit an meinem nächsten Album beginnen. Als er Svante und mir das Prinzip ESC lachend erklärt, schleppen wir unsere Taschen gerade über den Stortorget in Malmö, um den Zug nach Stockholm zu nehmen.

Es ist der Morgen nach meinem Schlagerdebüt, und auf der ersten Seite der Tageszeitung Aftonbladet prangt ein großes Foto von mir, Petra Mede und Sarah Finer. Die Bildzeile lautet: »Malmö Arena 21.23 Uhr.«

Ich bin im Schockzustand.

Wenn man am schwedischen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest teilnimmt, soll man auch gewinnen. Und zwar auf eine ganz bestimmte Weise. Die Prognosen müssen einem den letzten Platz prophezeien. Man muss im Finale gegen alle namhaften Künstler antreten – und am Ende mit dem denkbar kleinsten Vorsprung gewinnen, am besten einzig und allein mit der Hilfe des Publikums. So wie ich. Schwieriger ist es nicht.

 

Danach musste ich mich nur noch an die Arbeit machen.

Die Voraussetzungen hätten nicht besser sein können.

Der Vorentscheid verschaffte uns eine einzigartige Möglichkeit – eine Möglichkeit, die sich vermutlich nie wieder bieten würde. Das Publikum war begeistert. Die Kulturministerin sprach von einem »Malena-Effekt«. Die Zeitung Expressen titelte: »Der Weg der Oper aus den Salons zu-rück zum Volk.« Und der Kulturchef der Zeitung Dagens Nyheter schrieb: »Es ist zu schön, um wahr zu sein, aber: Es ist wahr.«

Für einen kurzen Moment glaubte ich, dass es tatsächlich möglich war: Oper ließ sich für ein breites Publikum öffnen.

Doch schon im Herbst war alles wieder wie zuvor. Kein schwedisches Opernhaus meldete sich, um die Gunst der Stunde zu nutzen. Das Publikum war da, aber niemand schien es haben zu wollen.

Also nahmen wir danach alles selbst in die Hand: große Opernrollen im Ausland und Künstlerin in der Heimat, Konzerte, Tourneen und Vorstellungen in Eigenregie.

Immer auf der Jagd nach dem neuen, breiten Publikum.

 

Fünf Jahre später, an einem Abend zwei Wochen vor der letzten Xerxes-Aufführung, hocken Svante und ich zu Hause in Stockholm im Badezimmer auf dem Fußboden. Es ist spät, die Kinder schlafen. Rings um uns bricht alles zusammen.

Greta ist gerade in die fünfte Klasse gekommen, und es geht ihr nicht gut. Sie weint, wenn sie abends im Bett liegt. Sie weint auf dem Weg zur Schule. Sie weint im Unterricht und in den Pausen, und ihre Lehrer rufen fast täglich an. Svante muss sie nach Hause holen. Nach Hause zu Moses, unserem Golden Retriever, denn nur Moses hilft.

Greta sitzt stundenlang neben ihm und streichelt ihm über das Fell. Wir versuchen alles, was in unserer Macht steht, doch ohne Erfolg. Unsere Tochter verschwindet in eine Art Dunkelheit und hört quasi auf zu funktionieren. Sie hört auf, Klavier zu spielen. Sie hört auf zu lachen. Sie hört auf zu reden.

Und.

Sie hört auf zu essen.

 

Wir sitzen auf den kalten Fliesen und wissen genau, was wir tun werden. Wir werden alles tun. Wir werden alles ändern. Wir werden Greta zurückholen, was auch immer es kostet.

Doch das ist nicht genug. Wir müssen etwas tun, das aus mehr als nur aus Worten und Gefühlen besteht. Eine Zäsur vollziehen. Einen Bruch.

»Was denkst du?«, fragt Svante. »Willst du weitermachen?«

»Nein.«

»Okay, ich finde, wir lassen das Ganze ab jetzt auf sich beruhen«, fährt er fort. »Man kann die Oper nicht für das breite Publikum öffnen, wenn die Opernhäuser es nicht wollen. Und es spielt auch keine Rolle, ob jemand dieses neue Publikum findet, wenn kein Schwein es haben will. Wenn es nicht einmal reicht, zwanzigtausend Menschen dazu zu bewegen, in eine Kunsthalle mitten in der Pampa auf der Insel Värmdö zu kommen, drei Kilometer von der nächsten Bushaltestelle entfernt, ohne Hilfe von Sponsoren und ohne eine einzige Öre Fördermittel, wird nichts reichen.«

Svantes Temperament ist nicht immer von Vorteil, aber gegen sein Resümee habe ich in diesem Moment nicht viel einzuwenden.

»Wir haben die Sache so weit getragen, wie wir konnten«, erwidere ich. »Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass ich es überstehe, wenn wir weitermachen.«

»Dann blasen wir alles ab, jeden Vertrag«, fährt Svante fort. »Madrid, Zürich, Wien, Brüssel. Alles. Irgendein Vorwand wird uns schon einfallen. Und dann machen wir stattdessen etwas anderes. Konzerte, Musicals, Theater, Fernsehen. Sing Arien, mach Musik, aber keine weiteren Opernauftritte.«

»Ich gebe in zwei Wochen meine letzte Vorstellung. Danach ist Schluss, für immer.«

Ich habe meine Entscheidung getroffen.

»Sollen wir etwas sagen? Das ist dumm, oder?«

»Ja«, erwidere ich. »Das ist dumm.«

Also sagen wir nichts.

Szene 5Xerxes – mein letzter Abend in der Oper

Hinterher erfuhr ich, dass ich fast zehn Minuten lang ohnmächtig gewesen war. Dem Publikum teilte man mit, der Vorstellungsbeginn verzögere sich um ein paar Minuten.

Hinter dem Vorhang wurde groß diskutiert, wie mit der Situation umgegangen werden sollte, doch mich ging das alles nichts an, denn ich wusste genau, was ich tun würde.

Es war Zeit, ein für alle Mal einen Schlussstrich zu ziehen.

Ich trank einen Schluck Wasser und nickte dem Dirigenten zu.

»Können Sie aufstehen?«

»Nein.« Ich stand auf.

»Können Sie gehen?«

»Nein.« Ich ging auf die Bühnentür zu. Reihum wurden besorgte Blicke gewechselt.

»Können Sie singen?«

»Nein«, antwortete ich, nickte dem Theatermeister zu und trat auf die Bühne.

 

Diejenigen, die die Aufführung erlebt hatten, sagten, dass der Schlussapplaus unvergleichlich gewesen sei. Die Zuschauer hätten sich von ihren Plätzen erhoben und emphatisch gejubelt.

Hinter der Bühne bewegten sich alle in einer Art Glücksrausch. Wie in einem Film. Der König und die Königin applaudierten euphorisch, und alle lachten beim Reden.

Wie in Zeitlupe.

Pernilla half mir, mein Kostüm auszuziehen und meine Perücke abzusetzen.

»Sag bitte Svante nicht, was passiert ist. Er macht sich nur unnötig Sorgen.«

Pernilla nickte schweigend.

Aus dem Foyer drangen Stimmen zu uns in die Garderobe – schwedische, französische, deutsche, spanische.

Sie klangen so glücklich. Und als man mich zum Taxi trug, sah ich, wie sie ihre Champagnergläser hoben und einander zuprosteten. Dreimal hoch und hipp, hipp, hurra.

Ich legte mich auf den Rücksitz und weinte den ganzen Weg bis in die Stadt.

Nicht, weil ich traurig war. Nicht, weil ich erleichtert war. Nicht, weil die Dinge so waren, wie sie waren.

Ich weinte, weil ich mich an keine Sekunde der Aufführung erinnerte.

Als wäre ich nie da gewesen.

Szene 6Gnocchi

Frühstück: 1/3 Banane. Zeit: 53 Minuten.

 

An der Wand hängt ein weißer DIN-A3-Bogen, auf dem wir notieren, was Greta isst und wie viel Zeit sie dafür benötigt. Es ist nicht viel. Und es geht nicht schnell. Aber in der Notaufnahme des Stockholmer Zentrums für Essstörungen sagte man uns, dass diese Methode auf lange Sicht häufig Erfolg brächte. Man schreibt jede einzelne Mahlzeit auf und erstellt eine Liste der Lebensmittel, die man essen kann, die man vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt essen kann und die man essen können möchte.

Die Liste ist kurz: Reis, Avocado, Gnocchi.

 

Es ist Dienstag, der 8. November, und wir befinden uns irgendwo zwischen Kungsholms Strand und dem Abgrund. In fünf Minuten fängt die Schule an. Aber Greta geht heute nicht zur Schule. Sie wird diese Woche überhaupt nicht zur Schule gehen.

Gestern bekamen Svante und ich wieder eine E-Mail von der Schulleitung, die ihre »Besorgnis« über Gretas mangelnde Anwesenheit bekundete, obwohl Ärzte und Psychologen der Schule wiederholt ihre Situation schilderten.

Erneut erkläre ich die Lage, in der wir uns befinden, und erhalte als Antwort eine E-Mail, in der die Schule ihrer Hoffnung Ausdruck verleiht, Greta werde am Montag wie üblich zum Unterricht kommen, damit wir dieses Problem lösen können.

Aber Greta wird am Montag nicht zum Unterricht kommen. Greta hat vor zwei Monaten aufgehört zu essen, und wenn keine dramatische Veränderung eintritt, wird sie nächste Woche ins Sachsska Kinderkrankenhaus eingewiesen.

Das Mittagessen nehmen wir auf dem Sofa vor dem Fernseher ein und schauen dabei Once upon a time – Es war einmal auf DVD. Die Serie hat mehrere Staffeln, und jede Staffel umfasst ungefähr ein halbes geologisches Zeitalter. Das passt uns gut. Wir benötigen Dekaden an Zeit, um unsere Mahlzeiten zu bewältigen.

Svante kocht Gnocchi, kleine Kartoffelklößchen, die wie Rugbybälle geformt und groß wie Bonbons sind. Es ist unheimlich wichtig, dass die Gnocchi die richtige Konsistenz haben, sonst kann Greta sie nicht essen.

Wir legen sie abgezählt auf den Teller. Die Anzahl ist ein Drahtseilakt; nehmen wir zu viele, isst unsere Tochter nichts, nehmen wir zu wenige, isst sie nicht genug. Natürlich ist alles, was Greta isst, nicht genug, aber jeder kleinste Bissen hilft, und nichts darf verschwendet werden.

Greta sortiert die Gnocchi. Sie dreht sie hin und her. Sie drückt auf ihnen herum. Und dann fängt sie wieder von vorne an. Nach zwanzig Minuten beginnt sie zu essen. Sie lutscht und kaut winzig kleine Bissen. Es geht langsam. Eine Folge ist zu Ende. Neununddreißig Minuten. Wir beginnen mit der nächsten und notieren verschiedene Zwischenzeiten. Die Anzahl Bissen pro Folge. Aber wir sagen nichts.

»Ich bin satt«, verkündet Greta plötzlich. »Ich kann nicht mehr.«

Svante und ich sehen uns nicht an. Wir dürfen uns unsere Verzweiflung nicht anmerken lassen. Wir haben begriffen, dass nur das funktioniert. Wir haben andere Taktiken probiert. Alle nur denkbaren Methoden.

Wir haben es mit Strenge versucht. Wir haben geschrien, gelacht, gedroht, gefleht, gebettelt, geweint und uns alle möglichen Bestechungen ausgedacht, die unsere Phantasie ersinnen konnte. Aber dieser Weg scheint am besten zu funktionieren.

 

Svante geht zu dem DIN-A3-Bogen an der Wand und notiert: Mittagessen: 5 Gnocchi. Zeit: 2 Stunden und 10 Minuten.

Szene 7Die Kunst, Zimtschnecken zu backen

Es ist das dritte Wochenende im September 2014, heute Nachmittag muss ich ins Artipelag. Aber jetzt wollen wir backen.

Zimtschnecken, alle zusammen, die ganze Familie. Und wir haben uns fest vorgenommen, dass es klappt. Es muss klappen.

Solange wir die Zimtschnecken wie immer und in aller Ruhe backen, wird Greta sie auch wie immer essen können, und dann ist alles wieder in bester Ordnung. Es wird ein Kinderspiel sein. Für uns gibt es nichts Schöneres, als Zimtschnecken zu backen.

Also backen wir und tanzen dabei durch die Küche, um das fröhlichste Backfest in der Geschichte der Menschheit auf die Beine zu stellen.

Aber als die Zimtschnecken fertig sind, findet das Fest ein jähes Ende. Greta nimmt eine Zimtschnecke und riecht daran. Sie hält sie in der Hand und versucht, den Mund zu öffnen, aber es geht nicht. Wir sehen, dass es nicht gehen wird.

»Iss, bitte«, sagen Svante und ich im Chor.

Zuerst gelassen.

Dann mit etwas mehr Nachdruck.

Dann mit der ganzen Frustration und Machtlosigkeit, die wir in uns tragen.

Und schließlich schreien wir unsere Angst und Verzweiflung heraus:

»Iss endlich!!!!! Du musst essen, verstehst du?! Du musst essen, sonst stirbst du!!«

In dem Moment bekommt Greta ihre erste Angstattacke. Sie gibt einen Laut von sich, den wir noch nie von ihr gehört haben, niemals. Sie stößt einen abgrundtiefen Schrei aus, der über vierzig Minuten anhält. Wir haben sie nicht mehr schreien hören, seit sie ein Baby war.

Anschließend halte ich sie in den Armen, Moses hat sich neben uns zusammengerollt, seine feuchte Hundenase dicht an Gretas Kopf.

Die Zimtschnecken liegen auf dem Küchenfußboden.

Nach einer Stunde hat Greta sich beruhigt, und wir sagen, dass wir keine Zimtschnecken mehr essen und sie keine Angst haben muss.

»Alles kommt wieder in Ordnung, alles wird wieder gut.«

Dann muss ich ins Theater. Eine Matinee. Die Familie begleitet mich ins Artipelag, und im Auto fragt Greta:

»Werde ich wieder gesund?«

»Natürlich wirst du wieder gesund«, antworte ich.

»Wann werde ich wieder gesund?«

»Ich weiß es nicht. Bald.«

Wir halten vor dem imposanten Gebäude.

Ich gehe hinter die Bühne und singe mich ein.

Szene 8Im Kinderkrankenhaus

Ganz gleich, wie schlecht es mir ging, auf der Bühne habe ich mich immer wohl gefühlt. Die Bühne war mein sicherer Hafen. Aber jetzt habe ich eine Grenze überschritten, und jede Xerxes-Vorstellung ist eine einzige komplette Finsternis. Ich möchte nicht dort stehen. Ich möchte nicht dort sein. Ich möchte mit meinen Kindern zu Hause sein. Ich möchte überall sein, nur nicht in dem gottverfluchten Artipelag.

Und vor allem möchte ich Gretas Frage beantworten können: »Wann werde ich wieder gesund?«

Aber ich habe keine Antwort. Niemand hat eine Antwort. Zuerst müssen wir herausfinden, um welche Krankheit es sich handelt.

 

Alles beginnt im ambulanten Gesundheitszentrum ungefähr einen Monat nach dem Schulbeginn im Herbst 2014. Vor einigen Wochen war uns aufgefallen, dass irgendetwas nicht stimmt, und ein paar Tage nach Gretas Untersuchung erhalten wir einen Anruf von einer jungen Ärztin.

Die Testergebnisse sähen nicht gut aus, sagt sie und empfiehlt uns, ins Astrid-Lindgren-Kinderkrankenhaus zu fahren und weitere, gründlichere Tests vornehmen zu lassen.

»Müssen wir einen Termin vereinbaren?«, fragt Svante.

»Nein«, erwidert die Ärztin. »Sie sollten jetzt sofort hinfahren.«

Fünfzehn Minuten später haben wir Greta aus der Schule geholt und sind auf dem Weg in die Notaufnahme. Dort werden weitere Tests gemacht, danach müssen wir warten.

Also warten wir, während Druck und Sorge immer größer werden. Wir rufen Svantes Mutter Mona an, damit sie Beata von der Schule abholt.

Ein paar Stunden später erscheint eine neue Ärztin. Einige Werte deuten darauf hin, dass etwas nicht stimmt, aber sie können nicht herausfinden, was, sagt sie. Svante sackt auf dem Fußboden zusammen, und über mehrere Stunden hinweg befinden wir uns im freien Fall.

Die Pforten der Hölle öffnen sich einen Spaltbreit, und wir laufen im Behandlungszimmer auf und ab, wie so viele vor und so viele nach uns.

Wir haben ein fertig belegtes, in Klarsichtfolie eingewickeltes Baguette mit Curry-Remoulade gekauft, es liegt auf dem Hocker neben der Tür. Ich sitze auf dem Boden mit Greta auf dem Schoß und versuche, lustige Geschichten zu erzählen.

 

In den vergangenen Jahren haben wir oft an diese Stunden zurückgedacht. Allerdings nie im Detail. Svante erinnert sich daran, wie seine Beine auf dem Flur nachgegeben haben, und ich erinnere mich an die endlos schwere Dunkelheit, die uns und all die anderen Familien, die wie wir in den Sprechzimmern saßen, umgab. Aber ich erinnere mich nur an die wenigen Momente, an die ich mich erinnern will. Für den Rest fehlt mir die Kraft.

Hin und wieder, nur eine Zehntelsekunde lang, an der Erinnerung zu rühren reicht häufig schon aus, um alles im Leben in die richtige Perspektive zu rücken.

 

Eine weitere Ärztin betritt den Raum. Sie schiebt das in Klarsichtfolie eingewickelte Baguette zur Seite und setzt sich auf den Hocker, geht mit uns die Testergebnisse durch und beruhigt uns. Sie hätten die Werte überprüft, und alles sähe gut aus. Nichts deute darauf hin, dass etwas nicht stimme. Wir dürfen aufatmen, den Göttern danken und nach Hause fahren.

An diesem Abend auf der Bühne zu stehen war kein besonders angenehmes Erlebnis. Aber verglichen mit den Familien aus dem Krankenhaus, die nicht nach Hause fahren durften, sondern weiter in den Sprechzimmern vor den Pforten zur Hölle saßen, war das ein Luxusproblem.

Einige Tage später bekommen wir einen Anruf vom Astrid-Lindgren-Kinderkrankenhaus. Die Ärztin empfiehlt uns, uns an die Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik BUP zu wenden. Sie habe in den Proben nichts entdecken können, das sich nicht auf Gretas problematisches Essverhalten zurückführen lasse.

»Das ist bei Mädchen in der frühen Pubertät nicht ungewöhnlich«, sagt sie. »Die Ursachen sind häufig eher psychologischer als medizinischer Natur.«

Szene 9Hunger

Manchmal ist unser Körper klüger als wir. Manchmal benutzen wir unseren Körper, um etwas zu sagen, das wir auf andere Art nicht ausdrücken können. Und manchmal, wenn uns die Kraft oder die Worte fehlen zu beschreiben, wie wir uns fühlen, benutzen wir unseren Körper als Dolmetscher.

Nicht mehr zu essen kann ein Symptom für vieles sein.

Die Frage ist, für was.

Die Frage ist, weshalb.

Dass Greta es geschafft hätte, dieses Baguette im Astrid-Lindgren-Kinderkrankenhaus zu essen, ist natürlich völlig undenkbar, und die Erkenntnis, dass unsere Tochter sich die ganze Zeit so fühlt, wie wir uns in jenem Moment, ist eine Tatsache und trifft uns mitten ins Herz.

Svante und ich suchen weiter nach Antworten. Nachts durchforste ich das Internet und lese alles über Anorexie, Autismus und Essstörungen, was ich finden kann. Wir sind uns sicher, dass es keine Anorexie ist. Aber Anorexie ist eine heimtückische Krankheit, die alles tut, um nicht entdeckt zu werden, das hören wir immer wieder.

Also halten wir uns diese Möglichkeit offen.

 

Unser Leben ist Chaos, und jegliche Logik scheint unendlich weit entfernt. Ich lese Artikel über Hochsensibilität, Glutenallergie, Harnwegsinfekte, PANDAS und neuropsychiatrische Diagnosen.

Tagsüber telefoniere ich von morgens bis abends, außer wenn ich ins Artipelag fahre, um meine Vorstellung zu geben, während Svante versucht, Greta und Beata ein Gefühl von Normalität zu vermitteln.

Ich rufe in der BUP an, bei der ärztlichen Telefonberatung, bei Medizinern und Psychologen. Ich rufe jeden flüchtigen Bekannten an, der sich mit diesem Thema auch nur ansatzweise auskennen und mir einen Tipp geben könnte. Es ist eine unendliche Kette aus Telefonaten und »Ich kenne jemanden, der jemanden kennt, der jemanden kennt …«

Doch das Adrenalin hält mich aufrecht, und ich kann ewig weitermachen.

Obwohl ich kaum schlafe, den Appetit verloren habe und zu essen vergesse.

Meine Freundin Kerstin ist mit Lina, einer Psychiaterin, befreundet, und Lina und ich führen stundenlange Gespräche. Sie hört zu, sie gibt mir Ratschläge und verschafft uns einen Termin in der BUP-Zweigstelle auf Kungsholmen.

In Gretas Schule arbeitet eine Psychologin, die viel Erfahrung im Umgang mit Autismus besitzt. Sie telefoniert mit Svante und mir und meint, dass man natürlich gründliche Tests machen müsse, aber in ihren Augen – und ganz im Vertrauen – zeige Greta sehr deutliche Merkmale des Autismus-Spektrums.

»Asperger-Syndrom mit perfektionistischem Anspruch«, sagt sie.

Wir tun unser Bestes, um ihre Worte zu verdauen, und diese Möglichkeit klingt zweifelsohne sehr plausibel. Aber uns mit dem Gedanken anzufreunden, unsere Tochter könnte autistisch sein, fällt uns furchtbar schwer. Und unser gesamter Bekanntenkreis reagiert mit einem erstaunten »Was?!«, als wir ihnen von der Autismus-Theorie erzählen.

Kein einziges Autismus- oder Asperger-Klischeebild trifft auf Greta zu. Entweder ist die Schulpsychologin verrückt, oder wir sind auf eine gigantische Bildungslücke gestoßen.

Anschließend folgt eine lange Reihe von Beratungsgesprächen – in der BUP bis hin zum Stockholmer Zentrum für Essstörungen –, wo wir unsere Geschichte wiederholen und geeignete Maßnahmen diskutieren. Wir reden und reden, und Greta sitzt schweigend neben uns. Sie spricht nur noch mit mir, Svante und Beata. Svante und ich wechseln uns beim Reden ab.

Manchmal sind bis zu sechs Personen bei diesen Terminen anwesend, und obwohl uns jeder helfen will, kann uns niemand helfen.

Jedenfalls noch nicht.

Wir tappen im Dunkeln.

 

Nach zwei Monaten, ohne zu essen, hat Greta fast zehn Kilo abgenommen, und für jemanden, der von vornherein klein und zierlich war, ist das eine ganze Menge. Sie hat eine niedrige Körpertemperatur, und ihr Puls und Blutdruck zeigen deutliche Anzeichen von Hunger.

Sie ist zu schwach, um Treppen zu steigen, und in den Depressionstests, die man mit ihr macht, erreicht sie astronomische Punktzahlen. Wir erklären unserer Tochter, dass wir uns auf eine stationäre Behandlung im Krankenhaus einstellen müssen, und wir erklären ihr, wie man Nahrung, ohne zu essen, aufnehmen kann, durch Schläuche und Infusionen.

Szene 10Teufelskreis