Tage einer Taugenixe - Brigitta Goertz - E-Book

Tage einer Taugenixe E-Book

Brigitta Goertz

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Beschreibung

Brigitta Goertz gibt uns in ihren Memoiren "Tage einer Taugenixe" posthum einen tiefen Einblick in ihre ganz persönliche, unverstellte Lebensbilanz! Sie nimmt uns mit auf einige Reisen, Spanien, Argentinien, Kanada, sinniert über bekannte Persönlichkeiten wie Alexander Solschenizyn, Marcel Reich-Ranicki oder reflektiert in großer Vielfalt zahlreiche Ereignisse auf den verschiedenen Stationen ihres Lebens. Dafür findet sie einen ihr ganz eigenen Ausdruck in zahllosen Metaphern, liebevollen Euphemismen und eigenwilligen Wortschöpfungen. Sei es mit wenigen, schonungslosen Worten ihre labile Gesundheit zu beschreiben: "ächzet das Dach, zittert das Zelt, sind Schindeln locker, Planen nicht dicht". Mit "das Sehen des Wassers von Innen" erweckt sie die unglaubliche Schönheit ihrer kindlichen Leidenschaft für das Tauchen im Fluß zu Füßen des Schlosses zum Leben. Sie findet auch Worte für den Terror des NS-Regimes, unter dem sie und ihre ältere Schwester in den späten Kriegsjahren im Internat litten: "Imma, weiß geworden wie der Stamm einer Birke...". Und, schlussendlich, das Innehalten in ihren letzten Lebensjahren: "...ich bin 83!"

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In meinen fieberähnlichen Zuständen jetzt durchschweife ich schwerelos die Grotten der Zeit, suche Höhlungen auf, still ruhende Gänge, von Spinnweben und Fledermäusen verhängt und belagert. Und bin erstaunt und erfreut, wie darinnen, darunter sich das Geschehen ohne jeden Verlust an Frische erhält. Mit Farben und Lauten, Gefühlen und Gerüchen dauert, als sei alles eben gewesen.

Brigitta Goertz

8.10.1987 aus dem Kapitel „Das Sehen des Wassers von Innen“

INHALT

Weiß-Blaue Rauten

Räume, Kammern und Säle - welch ein Reichtum

Kleine, wohlduftende Sprengbomben

Das

Sehen

des Wassers von Innen - Was aber wurde die Aufgabe

Vollendete Schönheit - Slodeyskaja, unsere, meine russische Stute

...

und diese Stadt hieß nun Mainz

Die Last meiner rätselbeladenen Wohnstatt

Ein Fischtälchen war es

Semana Santa

Vancouver B.C., Kanada

Salta in Salta in Salta - Argentinien (1979, 1983, 1986 und 1992)

Ein winziger Teil

Solche und Solche - bayrische Kindheit, westfälische Verwandtschaft

Die Buchmesse. Die Bücher.

Der Mann aus der Kälte - Alexander Solschenizyn

Der Club.

Mamama, Papapa - meine drei Großmütter

Ein einziges Mahnmal - Marcel Reich-Ranicki

Imma - geliebte Schwester

Ich

bin

83

Drei graue Eminenzen

De Zuuuch

Sohneswort - „wenn es nur da ist“

Nachwort von Maria Kuntz

Von Brigitta Goertz bisher erschienen

Kleiner Lebenslauf von B.G.

WEISS-BLAUE RAUTEN

7.4.1986 Auf der Zugspitze: Die Dohlen - klein und zierlich, wahrhaft entzückend, wendig, leicht und mit dem Winde spielend. Sie überlassen sich ihm, hingegeben, entspannt. Zu ihrem leuchtend schwarzen Gefieder tragen sie einen starkgelben Schnabel von ausgeprägt schnittiger Form, rote oder schwarze Füße, aufmerksam ruhige und reizende Augen. Ihre Unterseiten wirken grau, doch ist es schwer auszumachen, ob sie das tatsächlich sind, oder der Widerschein des Schnees ihnen jene erhellt. In den starken Wind-, fast Sturmböen von Luv wirkt ihr Balg struppig, in der Ruhe der Leeseiten glatt, äußerst fein, jede der gespreizten Schwungfedern bis in ihre zarteste Spitze von Ordnung erfüllt. Auf diesem phantastisch exponierten Gipfel in fast 3000 Metern Höhe und so nahe den Vögeln bleibt es nicht aus, daß sich auch jeder sonst wie ein Luftgefährt, ein Windgeistchen fühlt, doch weniger gelassen, dafür beklommen, erschüttert, beeindruckt, ja, voller Angst. Die Zugspitze ermöglicht vollkommenen Rundblick, ein auf dem drehenden Absatz zu betrachtendes Panorama von kaum faßbarer Weite und Schönheit, mit dem befriedigenden Gefühl, fürs erste und nächste der Höchste zu sein. Allerdings auch dem Tiefsten empfindlich nahe, es ist zu beobachten, daß jeder der Menschen (wenige sind es nicht) auf der schmalen Plattform zwischen Abgrund und -gründen sich auf seltsam vorsichtige Weise bewegt, so, als beinhalte der Schritt an die Brüstung bereits den ständig gefürchteten möglichen Absturz.

Für uns findet sich hier alles zusammen: Das absolut Ungewohnte der Höhe, die Klarheit des Wetters mit Sonne, Himmelsblau und zum Greifen genäherten einzelnen Wolken, die unfaßliche Fülle sichstaffelnder Berge, Bergketten, von Gebirgszügen, Massiven, von Wänden, Spitzen, Reitern und Reutern, von Palli, Monti, Mont Blanc. Die ganze Landkarte zugleich ein Anblick zu Stein erstarrter Jahrtausende, Jahrmillionen, ertappt und staunend erkannt: Waagrecht begonnener Meeresgrund, die Ablagerungen landgroßer Platten schließlich in die Lotrechte gestemmt gleich dem Heck gigantischer Wracks...

Der Föhn kneift mir ans Herz, knottert am Kreislauf, die Böen sind von einer Härte, daß es Scheiben von Eis durch die Luft jagt, zerkrachte Panzerungen all dieser Bauten und Buden, die wie Schwalbennester am Fels hängen: Hütte und Hotel, Sonnenterrassen und Wintergarten, Café und Restaurant, Wetterstation, Max-Plank-Institut und die Masten und Gehäuse von Kabinen- und Zahnradbahn. Über allem ein bergfestes Kreuz, goldfarben, Strahlen. Es hängt über dem ganzen Massiv eine Süße, ihr, Dohlen, seid sie gewöhnt, ich nicht - jeder Faden Gefühls ist genötigt, nach oben zu ziehen, was immer sich bisher zur Breite gestaut, wird eines anderen belehrt, also krempel dich um, Tourist, auch fehlt zu jener einfach der Platz.

Berauscht sehen wir hinab auf das Gewimmel des Skibetriebs im Kessel, verfolgen das Würmlein der Bahn, wie es hineinkriecht in den Berg, der Fels sich ihm auftut, vor einer Stunde saßen wir selber darin, fassungslos staunend, daß es wahrhaftig zweitausend Meter senkrechten Stein von innen angeht. Garmisch natürlich gekannt, Partenkirchen, Ettal, die Seen, das ganze zärtliche Alpenvorland (lang dort gelebt), doch nicht dieses Kuriosum vollendeter Technik. Der Ingenieur neben mir schmunzelt, doch scheints, voller Stolz. Im Restaurant essen wir die sicher höchste und teuerste Torte unseres Lebens, betrachten nachher das Völkchen der Sportler, wartend auf die hinabführende Bahn, die Skier im Arm. Ringsum wattierte Kombinationen von bunter, gefälliger Schönheit, kistengleich diese Stiefel! Kichernd registrieren wir das Geräusch, mit dem sie bewegt werden, die müden Helden schwerfällig, Mondmenschen gleich, darin kaum zu gehen vermögen. Als rolle man Fässer mit Bier, es klackt und rompelt freundlich dahin, braucht Weile zu Fußen - Der schönste Moment, wenn man da wieder raus kommt! sagt einer. Ich erinnere mich an meine Jugend: Lederne Stiefelchen (zwangsweise leider in Braun), Schuhwerk, das heute keiner zum geringsten Spaziergang mehr trüge, Schnürsenkel! Skier aus Lindenholz, vom Dorfschreiner über Dampf zu Kufen gebogen, Kerzenwachs auf der Lauffläche, das Bügeleisen darüber; die Bindung aus lockeren Klammern, aus Schnallen und Riemchen, gelegentlich Draht - basta, das hatte zu halten! Wie der Bergfex fuhren wir, allerdings im Bayrischen Wald, Steilhänge hinab, kreuzten im dichten Bestand, sprangen die winzige Schanze. Keiner lag je im Gips, scheute den Schnee und das Eis, scheute den Biß in das saubere Weiß.

Diese Reise sah uns zwei Wochen im Städtchen Bad Tölz - von der Isar entzweit, von der Brücke vereinigt -, in einem Hotel auf halber Höhe, die Wirtin im Dirndl. Und weil einer von uns zu schnarchen versteht, daß antikes und neueres Mobiliar zu tanzen begann, in getrennt liegenden Zimmern. Wir schliefen bis Neun, trödelten bis Zehn, das Frühstücksbuffet blieb uns bis zwölf Uhr erhalten. Jeden Tag ein anderes Ziel, der Ort fand uns auf seinem bunthäusernen Markt, die Jachenau war eine Aufwartung wert, Kochel- und Walchensee gutes Erinnern. Wir saßen auf einem Felsen über dem Wasser, als uns ein Wildentenerpel eräugte, heraufflog, watschelnd und würdig herankam, in fremder Sprache allerhand wußte und wieder entwich. In Hinterriß war die Loipe noch flott, doch dazwischen, auf dem morastigen Grün ein Graben schon offen und mit Schmelzwasser gefüllt, was wir fanden an diesem göttlichen Tag im Kreis schneeweißer Berge und funkelnder Luft: Frösche! Zwischen Klumpen von Laich eine stattliche Anzahl goldgeränderter Augen im stillstehenden Naß.

Da wir nach einer größeren Krankheit Erholung suchten, auch, zu dünn geworden P. (Peter), Bayerisch-Bekömmliches, sahen uns sämtliche Gasthäuser im Umkreis in ihren gemütlichen Mauern. Entdeckten wir erfreut und erstaunt - schon lange nicht mehr für länger im Lande gewesen -, daß eine Kochkunst (wieder-)erstanden war, die ich nur von besten heimatlichen Köchinnen, inklusive meiner eigenen wunderbaren Mutter, von ganz früher her so in Erinnerung habe. Man hatte sich also besonnen, in all diesen Jahren überlegt und probiert, geköchelt, geschmeckt und - gewonnen. Jetzt lassen sie wieder dem Braten die Kruste, der Weißwurst die Milde, dem Knödel die Sanftmut, den Schwammerln die Nadel der Tannen im Rahm. Sie ersparen der Sauce das Mehl, der Suppe den Pfeffer, den schaumigen Nockerln das überwürfige Salz. Der Tafelspitz bekommt seine benötigte Kochzeit, der Obatzte reichlich hauchdünn geraspelte Zwiebeln, dazu eine knusprige Bretzel, sonst nichts - oh! Zu allem hat jede Gaststube ihre krachgute Wärme, Wände und Decken und Bänke aus Holz. Der Nestflüchtling erkennt voll Entzücken diese gewissen Kellnerinnengesichter, die nur hier zu entstehen vermögen - so denkt er -, diese besorgten, ernsten, verstehenden Mienen, schon jungen und jüngsten Weiberlein eigen, Frauen, denen der Gast noch ein hungriger Bruder, welcher umgehend zu sättigen ist.

Was der Schreiber nicht mag sind, trotz des Komforts für das Auto, diese Straßen, diesen überall hinführenden, glatten, jetzt zudem gesalzenen Asphalt. Dieses zerschneidende, fehlfarbene Band, das die herrliche Landschaft zu knallbuntem Postkartenkitsch phantasielos zusammenzwickt. Und daß man mit eifrigem Anmalen, mit Sträußen, Buketten, mit künstlichen Bäumerln in künstlichen Kübeln, mit Loden und ledernen Trachten, Geschnadert-, Gehüpfelt-, Getüpfeltem gar so geschäftig hantiert. Mit den weiß-blauen Rauten ein Unwesen treibt, daß sich dem bayrischen Fremdling der Kragen umdreht.

RÄUME, KAMMERN UND SÄLE - welch ein Reichtum -

2.10.1987 Die spanische Sprache beschäftigt mich auch zur Zeit. Eine unglückliche Liebe ist das, eine Backfischschwärmerei wird es wohl bleiben, mein erschöpftes, armes und altes (57) Gehirn ist kaum mehr fähig, Vokabeln und Wendungen, Zeiten und Beugungen zu behalten. Ich habe das hilfreich grundierende Latein nur in Ansätzen gelernt, das Wenige vergessen, keine Zeit, keine Kraft. Es gelingt mir jetzt immerhin ‒ nach acht Jahren der Begegnungen mit dieser schönen und reizvollen, dramatischen, klaren und stolzen Sprache -, ein paar Sätze zu erkennen, Einzelnes lesend zu enträtseln. Acht Jahre! Doch vermag ich selbst Einfachstes nicht zu sprechen. Es blockiert mein Gedächtnis, mein Unvermögen starrt verzweifelt der kleinsten Forderung dumm ins Gesicht. Was für eine Schwäche!

Folgender Gedankengang heute: Mir erscheint in dieser Sprache die Art der männlichen und weiblichen Formen als ideal ‒ Señor, Señora; chico, chica. Also das a oder o am Ende entscheidet leicht und mühelos, bildet ein schönes, sehr neues Wort. Wir haben in unserer eigenen, der deutschen Sprache, die ich immer mehr schreibend zu erforschen, zu lieben beginne, (deren Geheimnisse mir wie ein Haus, ein Schloß erscheinen, dessen Räume, Kammern und Säle, seine Flure, Treppenhäuser und Wendelstiegen, seine Gewölbe, Salons, Zimmer und Kabinette, die Balustraden und Türme, Einfahrten, Bogentore und Portale ich erstaunt und bewundernd, amüsiert und entzückt durchstreife), glaube ich, nur das -in. Maler, Malerin; Herr, Herrin; Schreiber, Schreiberin; Poet, Poetin. Somit bei der Veränderung eines feststehenden Wortes, eines Begriffs ins Weibliche die wenig ansprechende Form des Anhängens von zwei wenig ansprechenden Buchstaben an ein bisher schönes, starkes und männliches Wort. Unangenehm dieser Vorgang, nicht überzeugend und nicht meine Befriedigung weckend. Wie erfreulich dagegen ein Wort, das von Anfang an steht, geboren ist und erschaffen: Frau, Weib, Magd; Rose; Mädchen (daß dies sächlich, ist eigentlich ein Skandal) (man interpretiere diese Überlegungen nicht als die einer Feministin, es interessiert hier allein die Sprache); Nixe. Stute. Heilige (interessant hier die Reihenfolge: Heilige zuerst, dann Heiliger). Was ist, umgekehrt, die männliche Form von Nixe? Ein Nix? Es gibt ihn nicht, das ist alles. (Ich liege, stehe ab und zu, quäle mich durch, bekämpfe, erleide, bestehe, ärgere mich über, biete an, habe hoffentlich bald hinter mir einen recht schweren und hartnäckigen Virusinfekt, eine Infektion - Grippe, die -) (was soll das, zu müde, um es zu durchdenken).

Es betrübt mich, die Schätze des spanischen 'Hauses', der andalusischen 'Burg' nicht mehr sehen, erforschen, finden zu können. Ich bestaune den Palast, seine eindrucksvolle Fassade, wandere ein wenig in seinen Lustgärten herum, gerate höchstens in das Vestibül, starre neidvoll hinauf zu Galerien und Deckengewölben von barocker und hermetischer Pracht.

Es ist atemberaubend, sich vorzustellen, daß dieses Gebäu nur eines unter zahllos vielen ist, auf alle Erdteile, Länder und Provinzen gesetzt - zauberhaft ist das, welch ein Reichtum! Sie besuchen zu dürfen, erfassen, ergründen, erlernen. Ihre Ähnlichkeiten herausfinden und ihre Unterschiede. Sie bewohnen können, wieder verlassen, die Nachbarburg aufsuchen. Von dieser zur nächsten grüßen, vom Turm der einen zu den Söllern der anderen. Ihre drolligen Kutscherhäuschen, Tortürmchen, Wirtschaftsgebäude, die Leutewohnungen - nach höflichem Händeklatschen - betreten dürfen: Die Vielzahl der Dialekte. Doch gibt es auch wilde, abweisende Länder mit Erdhütten, Blockhäusern, hölzernen Forts, mit von Bogenschützen verteidigten Wehranlagen - ich kehre entmutigt, kleinlaut zurück in meine heimische, meine ureigenste Mutterburg. Auch in ihr gibt es Räume, die ich nie betreten werde, weil sie meine Räume nicht sind. Ich werde nur wenig aus ihren Zisternen zu schöpfen vermögen, auf ihren Türmen nur manchmal verweilen. Ihre (Fexier-) Spiegel- und Raritätenkabinette rufen mich nicht. Die großen Festsäle, die Erhabenheit ihrer leuchtenden Wandgemälde, der Reiz ihrer Stuckaturen erschrecken mein Herz, ihre Bibliotheken weiß ich kaum zu benutzen. Ich liebe die Spielzimmer der Kinder, und die kleine Rotunde, in der fahrendes Volk gelegentlich Gastspiele gibt, den Hofclown besuche ich täglich ... Ich fühle mich behaglich in den großzügigen Herrenzimmern, die Schlafräume der Damen und Gäste sind mir heilig. Es macht mir nichts aus, die langen Gänge zu fegen, dort Staub zu wischen. Die Küche ist mir vertraut, solide bestückte Vorratskammern, die Gärten sind mein Entzücken, in den Ställen der Pferde fühle ich mich wohl und geborgen. Ich kontrolliere im Turnus die Kammern des Personals, die scharfen Wachhunde nehme ich zu Spaziergängen aus dem Zwinger heraus. Eine Burgkapelle hat mein Palast, um Mitternacht knie ich dort ...

4.10.1987 Heute, Sonntag, zum erstenmal das Raritätenkabinett betreten - eine Sammlung erheiternder Abnormitäten. Entdeckte dort in einer Vitrine eine Art von Alraunenwurzel, ein knorriges Drillingsgewächs, drei Knollen fast gleich groß und zusammengewachsen, Gesichter darauf mit lustigen Augen. Doch ihre Zweiglein spalten sich auf in verschiedene End(ung)en. Auf einem ordentlichen Plakettchen und in sauberer Schrift war zu lesen: Haus, Maus, Laus. In Klammem dabei: Docet in pluralis. Letzteres, das ich in meiner arglosen Einfalt für die lateinisch-gelehrte Bezeichnung hielt, erhellte sich meinem Grübeln: Die Alraunengeschwister einer Vermehrung zu unterziehen, meine Freude zu haben und konsequent zu bleiben, das Sprachgefühl zu säubern (saubern), die Poesie zu entzäubern (-zaubern): Haus, Häuser; Mäuser; Läuser ...

Heute, Montag, die Kellerräume inspiziert, wo in sanft gerundeten Hügeln, im Stillen, Dunklen, sonderbar lebendig Modrigem die Kartoffeln für den Winter schon lagern. Stellte fest, daß leider sehr viele Mäuser über meine Füßer huschten. Zwei von unseren Ketzern, Verzeihung: Katzem, stimmt auch nicht, Katzen geholt, sie dort eingespart, -gespurt, -gesperrt ...

KLEINE, WOHLDUFTENDE SPRENGBOMBEN

Bekam einen Fragebogen von der Autorengruppe MZ, der ich nicht Mitglied, nur 'Freund' bin, mit der Aufforderung, ihn auszufüllen für ein Verzeichnis aller rheinland-pfälzischen Schriftsteller. Fühle mich in die Enge gedrängt, in meiner (freiwilligen) Zurückgezogenheit aufgestöbert. Ich kann es natürlich auch lassen, dann aber bin ich weg vom Fenster und in alle Winde Verblasen, das will ich auch wieder nicht, der Gedichte wegen. Die anderen Opus(e) (?), Opi (?) - unveröffentlicht - sind das Problem. Sie ruhen in meinen Archiven wie kleine, wohlduftende Sprengbomben, wohlweislich sicher verplombt, außer Reichweite jeglicher Zündschnur. Und sollen so lange es geht mucksmäuserstill auch so bleiben. Habe ich Angst, mich selbst in Stücke gefetzt in die Luft zu jagen? Keineswegs, Leser, geliebter, wenn einer fliegt bist es Du, mein Zögern schützt allein Dein gefährdetes Haupt.

Wüßte ich einen Schreiber in meinem Umkreis, würde ich fliehen und rennen soweit mein Atem mich trüge! Raffen würd ich mein Notgepäck, satteln Rosse, ja Fahrräder, Motoren anwerfen, Tickets bestellen, über Grenzen forteilen, Meere durchpflügen, Lüfte. Fremde Kontinente, den Mond und die Sterne anflehen, mir Asyl zu gewähren. Staunen muß ich über den arglosen Stolz, die naive Bewunderung meiner Gefährten. Ja, nehm ich denn Sand, um ihn durch meine Finger rieseln zu lassen, wenn Menschen neben mir lachen? Knistert mir dürr raschelndes Laub unter den Händen, wenn Freunde hinter Hausmauern weinen? Soll ich Graskörbchen flechten, wenn Leben wie ein geplatzter Ballon in den Baumkronen hängt? Ihr Lieben, was denkt ihr? Eure Herzen und Seelen befinden sich in den Händen eines Mephisto, betet für mich und für eure entblößten, frierenden, splitternackt huschenden Seelen!

Blieben tausend veränderte Namen, Orte, Situationen, Figuren. Das überforderte selbst einen Hochleistungs-PC, ein verändertes Häkchen zöge zehn neue nach sich, jedes von ihnen weitere zwanzig und immer so fort ‒ man glaube mir das, es geht einfach nicht. Ich habe es hin und wieder versucht, doch das Ergebnis ist Seife, verkochtes Gemüs, sinn- und saftlose Wirrnis, verhedderte Fäden ohne Glanz, ohne Schuld. Welche Erkenntnis meinen Respekt für die Realität, die Wahrheit, das verfügte, verfugte Gefüge wahrlich ins Maßlose zu heben vermag. Das Pseudonym vielleicht? Die Tochter des Schreibers (der Schreiberin), bohrend sofort und mit Fleiß in diesen zart angedeuteten Nöten, er selbst, lachten sich eben halbtot im Versuch eines solchen: Raspelholz, Walburg; Annemie Süßwurz; Benedikta Sankt Maier; Viola Wasdenn, Mirabell v.d. Schreibe, Pascalis DieZwergin... Was glaubst du, den großen Zuck (Zuckmayer) hat man nach vierzig Jahren noch fast an den Galgen gebracht, er meines Wissens damals tatsächlich einen seiner Umgebung in den Sarg, nur weil man, dieser meinte, sich in dem und dem 'Helden' wiederzusehen.

Ich werde die Gedichte - zwei Bände, einer eben am Entstehen - selbstgestricktes Gelichter, angeben. Und die zwei Jugendbücher. Hinter letzteren liege ich geschützt wie ein Patient in den bergenden Mauern der Klinik: Uninteressant, niemand bekümmerts, Blumen erreichen ihn spärlich.

DAS SEHEN DES WASSERS VON INNEN

- Was aber wurde die Aufgabe -

8.10.1987 In meinen fieberähnlichen Zuständen jetzt durchschweife ich schwerelos die Grotten der Zeit, suche Höhlungen auf, still ruhende Gänge, von Spinnweben und Fledermäusen verhängt und belagert. Und bin erstaunt und erfreut, wie darinnen, darunter sich das Geschehen ohne jeden Verlust an Frische erhält. Mit Farben und Lauten, Gefühlen und Gerüchen dauert, als sei alles eben gewesen.

Dank meiner schwächlichen Konstitution, der seit damals (1947-51) gründlich Versehrten Gesundheit, habe ich nie mehr, was ich als Kind und Halbwüchsige liebte, in einem Fluß oder Freibad gebadet, geschwommen. (Doch, ich habe es versucht, in Abständen von vier, zweiundzwanzig und noch mal sechs und weiteren Jahren, es stellt sich mir deutlich und unangenehm ein, denn ich hatte mit wegsackendem Blutdruck wenig Freude daran.) (In einem Weiher im Taunus, im Wörthersee, im Mediterranus bei Sète, in Salta/Argentinien.) In diesen Tagen verwandelte sich mir eines Morgens der Zustand des Liegens in den des Schwimmens, es trug mich wie früher das Wasser. Das Wasser des Regens, der Regen bei R. (Regensburg), der Heimat. Das Wasser war weich, schwarz, sauber, nicht überall klar. Am Fuß unseres Schlosses der Fluß tief, doch freundlich und durch eine Sandbank um den Pfeiler der Brücke geteilt. Dort fühlten die Füße den Grund, indessen nur kurz, die Tiefe war vertraut, das liebenswürdige, herrliche Element ein stützender Freund. Der Geschmack der Weilchen, mit kindlichen Lippen immer aufs Neue liebkosend geprüft, zärtlich, befriedigend, gut. Fingerbreit über dem Spiegel, bekam auch die Nase ihr heiteres Fest. Auf dem geringen Weg über den Fluß - 60 oder 70 Meter vielleicht - war einer allein, und der Spiegel dunkel und glatt. Er teilte sich einmal auf süß schockierende Weise: Es begegnete mir, das winzige Gesicht mit den gelblichen Halbmonden gerade über der Glätte wie meines, ein Schlänglein, ein Ringelnatterkind, halbwüchsig wie ich und eifrig der anderen Seite verpflichtet. Schlangen sind mir von Anbeginn Anlaß zu wahrhaft panischem Schrecken, und - giftig oder nicht - allein durch die Art ihrer Bewegung, das nie erfaßbare, entsetzliche Gleiten in ständig sich verändernden Schlingen, Bögen und Kurven, das grauenerregende Sichringeln, Grund, den Verstand, die Gelassenheit vorübergehend total zu verlieren. Doch diesmal hielt mich die Flut. Wir kreuzten einander voller Respekt, verloren uns, jeder am Ziel, im Schilf des Erreichten aus dem Gesicht.

Das Wasser erfährt wirklich erst, wer die Tiefe nicht scheut: Man muß tauchen. Die Frau unseres Försters, dessen Diensthaus am Wasser wie das eines Fischers lag, erschreckte die arme Mama mit Berichten über die tauchende Tochter: Achtundzwanzig Mal hintereinander -I hab‘s zählt! - habe das Kind von einem nur handbreit über das Wasser ragenden Pfahl (ein Holzstumpf der alten hölzernen Brücke) ein Köpfel gemacht! Und aufgetaucht erst weit, weit flußabwärts, Angst konnt man kriegen immer aufs neu, es sei was passiert. Ach, Försterin, das ist nur eine Sache des Trainings und kräftiger Lungen! Natürlich brannten die Augen, wurden blutunterlaufen und rot. Doch diese heimliche gläserne Welt, die wonnige Wärme oder mit der Tiefe zunehmende Kühle auf jedem Zoll Haut! Das Sehen des Wassers von Innen, des eigenen weißen, unwirklichen Gebeins, der Grund, zu dem es hinabging, das Eingraben der Hände in den aufschwebenden Sand, der Anstieg zu Atem und Licht im Sprudel der Blasen mit jetzt notvoll luftleeren Lungen - meine tapfere Mutter maßregelte mich nicht.

Die Schlangen, die Schlange. Nicht, daß es sehr viele gab, doch begegneten sie einem zuzeiten. An den Teichen natürlich, wo sie zusammengerollt zum gleißenden Teller sich an den Ufern gern sonnten, aus diesem, aus sich heraus mit nicht begreifbarer Veränderung ihrer Haltung blitzschnell ins Wasser glitten, ja flossen, um dort als meisterhaft sichere Schwimmer in bewundernswert schöner Bewegung weiterzueilen. Ich traf sie auf den trockenen Bergkuppen der bewaldeten