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Erich Mühsam führte zwischen 1910 und 1924 Tagebuch. Er war Lyriker und Anarchist, Satiriker und Revolutionär und einer der führenden Köpfe der Münchener Räterepublik. In seinen Tagebüchern hat er sein Leben festgehalten - ausführlich, stilistisch pointiert, schonungslos auch sich selbst gegenüber - und niemals langweilig. Sie sind ein einmaliges zeitgeschichtliches Dokument. Die historisch-kritische Ausgabe der "Tagebücher" wird seit 2011 von Chris Hirte und Conrad Piens herausgegeben. Sie erscheint in 15 Bänden als Leseausgabe im Verbrecher Verlag und zugleich als Online-Edition unter muehsam-tagebuch.de. Begleitend werden nun die "Tagebücher" in Einzelheften" als E-Books veröffentlicht. Jedes Einzelheft dieser mitreißenden Tagebücher ist mit einem Register versehen und verschlagwortet. Die hier vorliegende Ausgabe ist das Heft 12.
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Seitenzahl: 250
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Herausgegeben von Chris Hirte
Erich Mühsam (1878–1934) hat 15 Jahre lang, von 1910 bis 1924, sein Leben und seine Zeit im Tagebuch festgehalten, ausführlich, stilistisch pointiert, schonungslos auch sich selbst gegenüber – und niemals langweilig. Mühsam macht die Nachwelt zum Zeugen eines einzigartigen Experiments: Er will Anarchie nicht nur predigen, sondern im Alltag leben. Er läßt seiner Spontaneität, seiner Sinnlichkeit, seinen Überzeugungen freien Lauf und beweist sich und seiner Mitwelt, daß ein richtiges Leben im falschen durchaus möglich ist – man muß es nur anpacken. Auch das Schreiben ist Aktion, in allen Sätzen schwingt die Erwartung des Umbruchs mit, den er tatsächlich mit herbeiführt: Die Münchner Räterevolution ist auch die seine, und die Rache der bayerischen Justiz trifft ihn hart. Doch sein Sendungsbewußtsein verleiht ihm eine Kraft, die ihn auch über die schlimmen Jahre der bayerischen Festungshaft rettet.
Mühsams Tagebücher sind ein Jahrhundertwerk, das es noch zu entdecken gilt. Sie erscheinen gedruckt in 15 Bänden, als eBooks in 35 Einzelheften und zugleich im Internet auf www.muehsam-tagebuch.de, wo neben dem durchsuchbaren Volltext auch ein kommentiertes Register und der Vergleich mit dem handschriftlichen Original geboten wird.
München, Donnerstag, d. 1. Oktober 1914.
Der Levetzowsche Brief beschäftigt mich nachhaltig. Die Annahme, daß er ungelesen von der Überwachungsstelle an mich weitergeleitet sei, ist nicht zu halten. Der Überwachungsoffizier hat – zum ersten Mal – auf den Verschlußzettel seinen vollen Namen gesetzt, und zwar ist es der Chef selbst, derselbe Oberstleutnant Sixt, mit dem ich vor einigen Wochen Jennys wegen korrespondierte. Offenbar haben also untergeordnete Stellen zweifelnd beim Chef angefragt, und der hat die Beförderung verfügt. Das ist ein Maß von Toleranz bei der Militärbehörde, das mich in Erstaunen setzt. Entweder hält man nur Mitteilungen strategischer Natur zurück oder man wollte im besonderen Falle zeigen, daß man derlei Ergüsse nicht wichtig nimmt. Vielleicht soll es eine Versuchung sein, da mein Antwortbrief an Levetzow ja auch über die Überwachungsstelle zur Weiterbeförderung geht, sodaß die, die seine Meinung erfahren haben, auch meine kennen lernen. Auf diesem Umweg kann aber ich vielleicht Menschen, die auf ganz fremdem Boden stehn etwas von meiner Gesinnung mitteilen, die ihnen sonst ewig eine verbrecherische Verrücktheit schiene.
Die Operationen im Felde sollen wie immer alle günstig stehn. Bemerkenswert ist vor allen Dingen die Gärung in Persien gegen Rußland, die schon zu Gewalt geführt haben soll. Auch die Türkei und Aegypten scheinen kurz vor dem Eingreifen zu stehn.
Hedwig Putz versetzte mich gestern, was mir angenehm war. Zenzl war heut früh bei mir, durch Periode verhindert. Sonntag will sie wiederkommen. Inzwischen kann ich bis Samstag (Asta) eine kleine Kräftigungspause eintreten lassen und mich dem Anblick der in die Akademie eingezogenen »Leiber«-Kompagnie hingeben, die ich eben (etwa 200 Mann stark) vor meinem Fenster antreten und abmarschieren sah. Das Zimmermädel Balbina, eine etwas spinnerte Virgo, ist ganz außer sich vor Glück über das Soldaten-Vis à vis, das mich einigermaßen anwidert. Lauter Arbeiter als Exerzierpuppen.
Ich will den nach langer naßkalter Ungemütlichkeit ersten herrlich schönen sonnig-kühlen Herbsttag benutzen, um endlich wieder mal den Hofgarten zu besuchen.
München, Sonnabend, d. 3. Oktober 1914.
Meine Antwort an Levetzow ist gestern abgegangen, sehr ausführlich und bestimmt. Da ich einen Zeugen für den Brief und vor allem einen Ratgeber dafür haben wollte, ob ich ihn ohne an Levetzow ein Unrecht zu begehn, da die Zensur ihn doch liest, abschicken könne, bat ich telefonisch Jacobi um ein Rendezvous und verabredete es um 6 Uhr im Café Orlando di Lasso. Dort traf ich Wedekind, natürlich mit Friedenthal. Gespräche über den Krieg. Wir kamen auf den Unterschied der Lebenseinschätzung zwischen Deutschen und Engländern, wozu die Zerstörung der drei englischen Panzerkreuzer durch das eine deutsche Unterseeboot U9 Anlaß gab. Wedekind fand die Todbereitschaft der Deutschen wertvoller als die von den Engländern beobachtete Sparsamkeit mit Menschenleben. Dabei sagte er folgendes, was ich hier festhalten will, weil es für seine Ausdrucksweise besonders charakteristisch ist: »Gott ist stärker als das Einmaleins, – solange er nicht damit in Widerspruch gerät.« – Nachdem die beiden gegangen waren, kamen Bernhardt und Lucie v. Jacobi. Sie fanden meinen Brief gut und rieten dazu, ihn den Sixt weiterbefördern zu lassen, um mir Nackenschläge zu ersparen. Zuhause fand ich dann aber einen neuen Levetzowschen Brief, enthaltend die Erklärung an den Präsidenten der Republik Frankreich, er – jadis poète allemand – wolle nun als Protest contre les mensonges impériaux et les crimes de lèse civilisation de Louvain, Senlis et Reims, diese Sprache verläugnen; forme voeux, daß la France civilisatrice bald die einzig würdige Revanche nehmen werde, en apportant les bienfaits de la République à un peuple d’esclaves irresponsables plié sous la joug de tyrans barbares et sanguinaires.« Ferner ein mit Schreibmaschine vervielfältigter Brief, in der[dem] er die Absicht kundgibt, den Herren Gerhart Hauptmann und Wilh. Ostwald auf ihre Kundgebungen zu antworten. Wie er das tun will, erhellt dann aus dem Weiteren, das ebenso inhaltlos phrasenhaft und antideutsch-chauvinistisch gehalten ist wie der Brief an Poincaré. Er will also alle »qui, sous le régime actuel n’ont pas encore perdu toute dignité, auffordern, sich loszumachen, de gré ou de force, von ihren Unterdrückern und in die Zahl der zivilisierten Nationen einzutreten, indem sie die Republik oder die Republiken in Deutschland aufrichten u. s. w.« Von mir will er wissen, wo er den erwähnten offenen Brief in deutscher Sprache veröffentlichen kann. Ich werde ihm in aller Deutlichkeit antworten und keinen Zweifel darüber lassen, daß ich seine Auslassungen in keiner Weise ernst nehmen kann. Seine Ansicht, es sei »höchste Zeit« zur Bildung der »Föderation der Deutschen Republiken« ist saudumm und ganz unglaublich, wie kritiklos er die Verhetzungen der Boulevardpresse wegen Löwen und Reims in eigne Regie übernimmt. Fred scheint in seiner Beurteilung Levetzows recht zu haben, als er mir neulich sagte, das sei ein Homosexualer von dem bei den Hirschfeldleuten offiziell abgestrittenen Typus, der der Beeinflussung durch minderwertige Geister willig zugänglich ist.* Auch Jacobi, den ich heute im Stefanie sprach, war ganz ratlos über Levetzows Verblendung. – Übrigens ist Jacobi dekoriert worden: er hat das Bayerische silberne Militärverdienstkreuz mit Krone und Schwertern II. Kl. bekommen, das er heute schon vor den Waffenrock gesteckt hatte. Seine Wunde verheilt gut. Er lernt jetzt reiten, geht in diesen Tagen hier zu militärischen Übungen mit, um sich wieder zu trainieren und hofft, Ende nächster Woche wieder hinauszudürfen. Seine Frau hofft das Gegenteil. Ich eigentlich auch. Ich habe den Menschen sehr gern. Aber sein Ordensglück verblüfft und enttäuscht mich.
Die Nachrichten vom Kriegsschauplatz sind spärlich. Überall werden deutsche Teilerfolge gemeldet, und nirgends weiß man, ob und was für Teilerfolge die andern hatten. Von der nun 3 Wochen tobenden Schlacht an der Aisne ist immer noch kein Ende abzusehn. Aber Blut fließt dort – Blut – –
Gestern: Asta.
* Das trifft freilich auf die Patrioten aller Gattungen zu.
München, Sonntag, d. 4. Oktober 1914.
Ich habe einen Brummschädel und der Magen rumort: Kurzum einen schweren Kater. Erst nach 5 Uhr kam ich heim, nachdem ich erst bei Michel, nachher in den Katakomben der Torggelstube allzu reichlich Wein in mich gegossen hatte.
Bei Michel war Wahl (den ich, wie mir eine neue Durchsicht der Tagebücher zeigt, hier jahrelang als Vahlen bezeichnet hatte). Er kam vom östlichen Kriegsschauplatz zurück, wohin ihn die Frankfurter Zeitung entsandt hatte. In der Gesellschaft waren noch Geheeb und Frau, Peter Scher, Karl Arnold, Wahls hübsche Hedi, Paul Kampffmeyer und mein alter Feind Adolf Müller, der Chefredakteur der Münchner Post, dessen Bekanntschaft ich bis gestern stets vermieden hatte. Ein gescheiter Kerl, Ironiker, mir aber – wohl wegen der persönlichen ekligen Erfahrungen – nicht angenehm. Wahl, der in Breslau gesessen hatte und bis Krakau auf seinen Spritztouren kam, berichtete wenig Tröstliches vom österreichischen Feldzug. Deutschland hat dort schon mit Gewehren aushelfen müssen, bei aller Tüchtigkeit der Soldaten sei nichts recht in Ordnung, Verwirrung, schlechte Vorbereitung, hilflose Leitung. Die Lemberger Schlacht – das bestätigte auch Wahl – sei durch wüste Verrätereien der Ruthenen etc. verloren worden. Der Major wollte neulich wissen, daß der Bruder des Obersten Redl, dessen verwegene Spionage im vorigen Jahr so hell in die korrupten Verhältnisse Österreichs hineinleuchtete, tolle Verrätereien begangen habe. Das Geschäft scheint also erblich zu sein. Der russische Krieg wird von allen sehr pessimistisch beurteilt, obwohl Hindenburg jetzt in Krakau ist, nachdem er kürzlich mit Auffenberg und Dankl in Breslau konferiert hatte. Dabei mußte anstelle des verratenen früheren ein ganz neuer Kriegsplan ausgearbeitet werden.
In der Torggelstube wurde der Beginn von Max Halbes 49tem Geburtstag gefeiert. Wedekind, Maaßen, Schmitz, Hegeler, Friedenthal, Ziersch. Es wurde sehr reichlich miserabler deutscher Sekt getrunken, den zumeist Halbe spendete. Ich freute mich aber, zwei Flaschen von mir aus kredenzen zu dürfen, da zwei Wetten, deren Gewinner ich war, und durch die mir Maaßen und Ziersch je eine Flasche Sekt schuldeten, ausgetragen wurden. Ich konnte also auf fremde Kosten nobel sein und kam schwer bezecht heim.
Zuhause fand ich einen Brief von Jenny, zu dessen Genuß ich erst heute kam. Wunderschön ernst und reif ist das Mädchen geworden. Ihre Briefe bewegen mich ganz tief, obwohl sie absolut unzärtlich und ganz theoretisch-abstrakten Inhalts sind. Aber zwischendurch plötzlich eine unendlich liebe Kindlichkeit, so der Wunsch, bald mal mit mir nach Wien reisen zu können. Sie muß mich schon noch lieb haben. Könnte ich ihr zeigen, wie süß sie mir ist!
München, Montag, d. 5. Oktober 1914.
Der deutsche amtliche Bericht über die Aisne- und Argonnenschlacht behauptet, der Kampf gehe »erfolgreich vorwärts«, der französische konstatiert, daß der Eindruck »im allgemeinen günstig« ist. Man hat also die Auswahl, ob man Optimist oder Pessimist sein möchte. – In Antwerpen scheint allerdings die Übergabe unmittelbar bevorzustehn, da täglich der Fall weiterer Forts bekanntgegeben wird. Die Dreiverbandmächte sollen an die Türkei ein Ultimatum wegen der Sperrung der Dardanellen gerichtet haben. Damit wäre dann wohl das Eingreifen dieses armen Landes sicher geworden, das 1911 gegen Italien kämpfen mußte (unmittelbar nach der Revolution), 1912 vom Balkanbund geschlagen wurde und 1913 auch in den zweiten Balkankrieg einbezogen wurde. – Zugleich gärt es in Palaestina, Aegypten, Persien, Afghanistan, Indien – und es ist garnicht abzusehn, welchen Umfang dieser fürchterliche Krieg noch annehmen wird. Ich fürchte aber eins für den Fall, daß es wirklich zum »Heiligen Krieg« des gesamten Islams kommen sollte: daß sich der nämlich gegen das gesamte Christentum wenden wird; – aber dann fällt für Deutschland jeder Anlaß fort, den Engländern die Bundesgenossenschaft mit Japan vorzuwerfen.
In Rußland (Augustów) war eine neue siegreiche Schlacht. Aber der russische Winterfeldzug wird entsetzlich werden! – In dieser Woche rücken wieder eine Unmenge Soldaten ins Feld. Ich mußte heute schon Tröster spielen, da das arme Stubenmädel ihren Schatz dabei hat und nun den ganzen Tag heulend herumläuft.
Gustl Waldau hat das Eiserne Kreuz bekommen, ebenso, wie mir gestern einer seiner Studenten, der ebenfalls hinausgeht, erzählte, Kutscher. Der junge Graf Keyserling, der obwohl Balte, sich freiwillig hier gestellt hat und morgen hinausmuß, nahm gestern von mir Abschied. Ebenso Götz, der zum Landsturm gehört. Sie sind alle ahnungslos naiv.
München, Dienstag, d. 6. Oktober 1914.
Mir geht es gesundheitlich nicht sonderlich gut. Eine schwere körperliche Erschlaffung macht sich bemerkbar, die mich morgens nicht aus dem Bett kommen läßt und, was viel verdächtiger ist, mich abends längst vor der Zeit, in der ich in normalen Zeiten Schlafbedürfnis fühle, müde werden läßt. Gestern fühlte ich, obwohl ich erst um ½ 12 Uhr aufgestanden war, schon vor 11 Uhr abends den völligen Zusammenbruch, den ich nur mit großem Energieaufwand bezwang. Ob das mit dem Herzen zu tun hat oder mit den Nerven, weiß ich nicht recht. Ich hoffe, daß es nichts andres bedeutet als die Reaktion des Körpers auf die Überanstrengung der Nerven durch die Kriegsaufregung. Sehr bitter empfinde ich aber das mir bisher ganz unbekannte unsichere Gefühl, als ob meine sexuelle Potenz versagen müßte. Seit Freitag hatte ich keine Gelegenheit mehr, sie zu erproben, da Zenzl leider wieder an ihren unaufhörlichen Blutungen leidet und Asta heute früh grade wieder kam, als Zenzl bei mir vorm Bett saß. Jetzt soll Frieda Wigand kommen. Ich habe sie bestellt, um evtl. mit ihr zu Wahl zu gehn, wo sie leihweise eine Klampfe kriegen soll. Und grade bei ihr möchte ich mich nicht gern schon wieder blamieren müssen. Zu allem übrigen fühle ich Zahnbeschwerden. Ich werde heute oder morgen zu dem Elsässer Zahnarzt Beiger gehn, einem Freund Schickeles. Mein ehemaliger Zahnarzt Andreas hat sich leider erschossen – einen bessern findst du nicht –, und der Linder, bei dem ich inzwischen war, wird wohl im Kriege sein.
Die Telegramme besagen nichts Neues. Der Ausgang der Aisne-Schlacht ist unprophezeibar.
München, Mittwoch, d. 7. Oktober 1914.
Friedl Wigand unterbrach gestern die Eintragung. Was ich über die Kriegslage bemerken wollte, stimmt auch heute. Die xmal wiederhol[t]en Versuche der Franzosen, den rechten deutschen Flügel zu umfassen, scheinen doch nicht so erfolglos zu sein, wie unsre Presse glauben machen möchte. Jedenfalls haben sie, wie der heutige offizielle Bericht sagt, zu einer Verlängerung der Schlachtlinie nach Norden geführt, was doch wohl einer Zurückdrängung der Deutschen gleichkommen dürfte. Antwerpen hält sich noch. Von Verdun, Toul etc. hört man schon geraume Zeit nichts mehr. Dagegen scheint die Lage in Galizien sich zu bessern, seit die deutschen und österreichischen Truppen sich dort zusammengefunden haben. Amüsant ist der Vergleich zwischen den beiden offiziellen Mitteilungen über einen siegreichen Kampf dort: Der österreichische Bericht spricht pathetisch davon, daß die Verbündeten »Schulter an Schulter« die Russen geworfen hätten, der deutsche meldet nur die Beteiligung der Deutschen. Ob sich da Eifersüchteleien vorbereiten? – In Tsingtau wurde ein Angriff der verbündeten Engländer und Japaner zurückgeschlagen, die 2500 Mann verloren haben sollen. Zu halten ist Kiautschau gegen die kolossale Übermacht auf die Dauer ja doch nicht, zumal die Festung ja bald genug die Munition verschossen haben muß. Ich finde es gradezu sträflich, daß man sie trotzdem verteidigt und die Menschen hinopfert blos um der heroischen Geste willen. Äußern darf man diese Ansicht freilich fast nirgends.
Persönliche Kleinigkeiten: Friedl kam, ich telefonierte Wahl an und machte mit ihm aus, daß ich heute mit dem Mädel hinkommen soll, um die Gitarre zu holen. Jetzt erwarte ich sie, und nachher wollen wir wieder her und nachholen, was ich neulich nicht leisten konnte. Gestern blieb es bei kleinkalibrigen Zärtlichkeiten. – Wir gingen miteinander zur Stadt, und ich zu Beiger, bei dem ich Bing vorfand. Eine Plombe mußte ersetzt werden, und der Zahnarzt lud uns dann zum Kaffee bei sich ein. Inzwischen kam Frau Hedi Wahl und Frl. Brandenburg aus Barmen, eine Schwester von Hans Brandenburg und Lannatsch Schickele, die allem Anschein nach das Verhältnis Beigers ist. Bing schüttete mir sein französisches, Beiger sein elsässisches Herz aus, und beide waren froh, einmal munter von der Leber herunter reden zu dürfen. – Nachher wie täglich Stefanie-Schachtisch. Abends Torggelstube: Erst Rößler und Bachmann (Strobinski), nachher Steinrück, Feuchtwanger und Frau, Friedenthal, Maaßen, Schmitz. Gespräche endlich einmal mehr literarischen als politischen Charakters. Maaßen lehnte Strindberg für sich ab mit der einfachen Begründung, was er von ihm kenne, lasse ihn kalt und errege ihm nicht den Wunsch, sich intensiver mit ihm zu beschäftigen. »Ich lasse mir meine Wege nicht von der Tagesmode vorschreiben, sondern kümmere mich um das, was ich in den Anlagen antreffe, wo ich spazieren gehe.« Das ist ganz echt Maaßen, und deshalb gefällt er mir so gut, auch wo ich, wie hier und in den Kriegsdingen entgegengesetzter Ansicht bin. Aber Friedenthal (dessen Minderwertigkeit sich neben allem andern auch daraus schon ergibt, daß er en-setzlich, En-fernung sagt) ereiferte sich sehr, und ich amüsierte mich köstlich, wie der unbeeinflußbare, in riesigem Wissen geschulte ein wenig literarphilologische und einseitige Geist Maaßens vom Konjunkturgeist des Berliner Tageblatts widerlegt werden sollte. Steinrück brachte mich im Auto bis zum Siegestor.
Mein Gedichtbuch hat eine Kritik gekriegt, seit Ausbruch des Krieges die erste, im ganzen die dritte. Zuerst schrieb Erich Baron in der sozialdemokratischen Brandenburger Zeitung darüber, dann brachte die Königsberger Hartungsche Zeitung ein paar Zeilen, und jetzt also der Berner Bund, in dem ein Herr Walter Reitz das Buch ablehnt. Wem diese Gedichte gefallen, der »muß wohl, wie der Dichter, innerlich völlig zerrissen sein, voller Hohn und Gift auf diese Welt und voller brutaler Lüsternheit.« Daß ich aber für Herrn Walter Reitz ein »keineswegs talentloser Dichter« bin, ist doch hübsch von ihm. Über eines habe ich mich in allen drei Besprechungen geärgert: daß noch keiner meiner Kritiker den sozialen Gehalt des Buches herausgemerkt hat. – Was wird überhaupt aus dem Werk werden? Ich möchte weinen, wenn ichs bedenke!
Die Mädchen kosten mich viel von meinem wenigen Geld. 150 Mk kriege ich monatlich nur, 30 gab mir Fred und das B. T. läßt sich bis jetzt trotz meiner Bitte, den Frank-Artikel beschleunigt zu bezahlen, nichts merken. Da ich der Wirtin 100 Mk von der Rechnung schuldig bleibe, habe ich immerhin noch einige dreißig, und ich lebe kolossal sparsam. Aber Zenzl bekam 1,50 Mk, Käte Stefanie 1 Mk, Ruth 2 Mk, Asta 1 Mk – und so geht’s unausgesetzt weiter, in zwei Tagen über 5 Mark!
Jetzt erwarte ich Friedl W. – die sich schon verspätet. Will sie mich mit meiner »brutalen Lüsternheit« versetzen? – In diesen Tagen gehn ungeheure Truppenschübe ab. Das Mädel Balbina, mit dem ich übrigens keinerlei Beziehungen hatte, ist vor Gram über den Ausmarsch ihres Liebsten hier nächtlicherweise durchgebrannt. Mir sagte sie, sie wolle ins Kloster gehn. Keyserling, Stahl-Nachbaur und Florette sind dabei mit hinausgezogen.
Eben telefonierte mich Friedl an. Es hat heute nacht bei ihr gebrannt, nun ist sie in großer Aufregung, erwartet den Installateur und kann nicht kommen. Ich gehe jetzt – ebenfalls nach telefonischer Verständigung – allein zu Wahls und das Piacere ist auf morgen verlegt. Ich freue mich drauf, aber hoffentlich versagt mein Apparat nicht wieder.
München, Donnerstag, d. 8. Oktober 1914.
Heut vor einem Jahr lernte ich Zenzl kennen. Zwar hatte sie mich schon im Winter 1912 einmal angesprochen – bei der Versammlung, die ich aus Anlaß des Falles Villany in der Schwabinger Brauerei abhielt. Sie hatte damals ein Anliegen: ich solle doch auch den Fall Semerau erwähnen. Seitdem grüßte ich sie, und als ich sie eines Abends in der Torggelstube mit einem älteren Herren an einem gegenüberliegenden Tisch sitzen saß, sie entzückend fand und merkte, daß sie auf mein Poussieren aus der Ferne freundlichst reagierte, beschloß ich, sie bei irgend passender Gelegenheit anzusprechen. Diese Gelegenheit ergab sich eben am 8. Oktober 1913. Ich kam am Café Glasl (früher Bauer) vorbei und sah sie durchs Fenster innen allein sitzen. Mit kurzem Entschluß trat ich ein, setzte mich zu ihr und meinte nach wenigen Minuten, es sei doch ebenso gescheit, wir tränken den Kaffee bei mir zuhause. Sie ließ sich garnicht lange bitten, und kaum saß sie hier oben im Zimmer, da küßte ich sie auch schon und half ihr beim Ausziehn. – Das ist denn nun also das dauerhafteste feste Gschpusi, das ich je gehabt habe. Heut früh war sie bei mir, leider mußten wir uns mit vielen sehr glühenden Küssen genug sein lassen, da die verfluchte Frauenkrankheit wieder mal bei ihr akut ist. Auch Asta ist zur Zeit gebrauchsunfähig und Frieda Wigand ging eben fort, ohne meine Hoffnung befriedigt zu haben. Sie hat sich bei der kleinen Brandkatastrophe in ihrer Wohnung (Versagen des elektr. Lichts durch Kurzschluß) die Hand verletzt und war nun mit ihrem Töchterchen bei mir auf dem Wege zum Arzt. – Ich konnte ihr außer den Küssen, derentwegen sie wohl kam, auch die ersehnte Klampfe geben, die ich gestern von Wahls geholt hatte. – Dort war es sehr nett. Herr und Frau Ernst waren außer mir dort und ich karessierte nach Noten mit der wirklich ungewöhnlich anmutigen Frau Ernst, der ich sogar Stirn und Augen küssen durfte. Abends führte ich dann auch aus Dankbarkeit ihren Gatten auf der Halbeschen Kegelbahn ein, wo nachträglich Halbes Geburtstag bei von ihm gespendeten Freibier gefeiert wurde, und ich kam mit 3½ Maß von dem guten Getränk im Leibe um 3 Uhr heim.
Die Schlacht in Frankreich geht ohne Entscheidung weiter. In Rußland sollen deutsche Siege erfochten sein. Doch berichten die Russen, wie ich in der Neuen Züricher Zeitung las, von einer völligen Niederlage der Deutschen bei Augustowo, wo die Deutschen behaupten, gesiegt zu haben. Niemand kennt sich aus ... Ferner geht es nach dem Schweizer Blatt den Österreichern auch im Kampf gegen die Serben sehr schlecht. Unsere werten Verbündeten seien schon völlig entmutigt. Ich vertrete jetzt zum allgemeinen Ärger meiner Bekannten die Ansicht, daß der ganze Krieg ausgehn werde wie das Horneberger Schießen. Deutschland wird Frankreich, Rußland Österreich besiegen – und das Ende vom Lied wird, da der Krieg gegen England garnicht zu Ende geführt werden wird, das sein, daß in einem faulen Frieden keiner auf seine Rechnung kommen wird. Halbe scheint übrigens ähnliches zu empfinden. Er sprach gestern die Meinung aus, daß dieser Krieg eine lange Periode von Kriegen eröffne. Das kann tröstlich werden. – Ferner wollte Halbe genaueres von einem neuen Geschütz wissen, das diese Woche »ausgegeben« werden soll: 62 cm Kaliber mit 40,8 Kilometer Tragweite. Die Kanone selbst soll 26 Meter lang sein, das Geschoß, das Panzerplatten von 1½ Metern durchschlage, soll 900 kg wiegen. Diese unglaublichen Maschinen sollen eigens für die Beschießung der englischen Küste von der französischen aus konstruiert sein. Obs wahr ist? – Armer Menschengeist, dessen höchste Anspannung solche Instrumente ersinnt! Aber die Halbes sind stolz drauf, und die Serie ausvon Kriegen, die sie prophezeien, steigert ihr Wertgefühl als Zeitgenossen solchen Geschehens
München, Freitag, d. 10. Oktober 1914.
Seit dem Falle von Maubeuge – das mag wohl 4 – 5 Wochen her sein, haben zum ersten Mal wieder die öffentlichen und privaten Gebäude die Fahnen herausgesteckt. Antwerpen ist nach nur 12tägigen Bemühungen von den Deutschen genommen worden. Eine der stärksten Festungen der Welt! Es ist fabelhaft, mit welcher Präzision die Riesenmaschinen die scheußliche Arbeit der Zerstörung verrichten. Die arme Stadt Antwerpen muß, da sie seit vorgestern beschossen wurde, furchtbar zugerichtet sein. Außerdem wird sie kolossal zu zahlen haben, zumal gestern auf Anordnung der Engländer im Antwerpener Hafen 32 deutsche Handelsschiffe in die Luft gesprengt worden sind: angeblich, weil die Holländer den Abtransport von Flüchtlingen nach England auf diesen Schiffen nicht erlauben wollten. Demnach wäre also die Schelde, die nördlich von Antwerpen durch holländisches Gebiet fließt, neutrales Gewässer, und dann verstehe ich nicht, wie heute die Blätter den eingenommenen Hafen als wertvollsten Flottenstützpunkt preisen können. Oder soll auch die holländische Neutralität von den Deutschen gebrochen werden?
Im Osten scheint es besser zu gehn, seit – nach den Berichten der N. Züricher Zeitung – das deutsche Generalkommando sehr gegen das Empfinden des alten Franz Josef den Oberbefehl auch über die österreichischen Truppen übernommen hat. Nach den heutigen Meldungen soll schon das Przemysl belagernde Heer der Russen zurückweichen. – Doch sind alle Meldungen aus Österreich mit äußerster Vorsicht aufzunehmen.
Von Bernhard v. Jacobi nahm ich vorgestern zum zweiten Male Abschied. Ihn hält’s nicht länger, und jetzt wird er wohl wieder unterwegs an die Front sein – und niemand weiß, ob der feine liebe Mensch wiederkommt. Von allen, die von meinen Bekannten im Kriege sind, hat mein Herz sich ihn für alle Sorge und für die beste Hoffnung auf gute Heimkehr, ausgesucht.
Gestern Gespräche mit Kurt Martens, der mich anregen wollte, den Kain wieder erscheinen zu lassen, um in verdeckt-ironischer Form die Lügereien und Beschönigungen auf deutscher Seite zu bekämpfen. Angesichts der Presse-Zensur ein völlig aussichtsloses Beginnen. – Morax, der mit Kunststücken vom Militär freigekommen ist, nachdem er schon wochenlang in Nürnberg gedrillt wurde, fand sich hier wieder ein. – Abends hatte der Schutzverband Sitzung: Neuwahlen, da Halbe, Brantl und Hirschfeld vom Vorstand zurückgetreten sind. Froachim Jiedenthal teilte vor der Versammlung privat mit, daß er, falls die Wahl zum Beisitzer auf ihn fallen sollte, bereit sei, anzunehmen. Diese Selbstkandidatur wurde dadurch belohnt, daß wir ihn zum Schriftführer wählten: so kann er wenigstens Protokolle fabrizieren für seine anschmeißerische Dicktuerei. Ich wurde – mit Dr. Benario und Reinhold Ortmann – in die Rechtsschutzkommission gewählt. Da werden vielleicht recht interessante Fälle zu verarbeiten sein.
Nachher wollte ich mit Maaßen ins Torggelhaus gehn. Wir trafen unterwegs das Ehepaar Feuchtwanger, das uns in die Schoppenstube Eckel verschleppte. Dort hatte Maaßen, der etwas laut Norddeutschland gegen Süddeutschland ausspielte und Goethe sozusagen für Preußen in Anspruch nahm, ein Rencontre mit einem bayerischen Landsturm-Offizier, das aber friedlich ausging. Während wir auf dem Heimweg waren, wurden die Telegramme angeschlagen, die den Fall Antwerpens mitteilten. Maaßen machte in seiner patriotischen Freude etliche Damenbekanntschaften, und ich verlor ihn schließlich in der Ludwigstrasse, wo er wieder einem Mädel nachstieg, in dessen Leib sich sein preußischer Überschwang wohl später ergossen haben wird.
München, Sonntag, d. 11. Oktober 1914.
Der König von Rumänien ist gestern verstorben. Ob da niemand nachgeholfen hat? Der Mann war als Deutscher der Anker der rumänischen Neutralität und daher den Russen, die ja nie sentimental waren in der Auswahl ihrer Mittel, sehr im Wege. Andererseits galt der alte 75jährige Carol längst als krank, sodaß die Hypothese, er sei ermordet worden, immerhin nur schwach gestützt ist. – Die Antwerpener Besatzung, Engländer und Belgier, seien, hieß es gestern, abgeschnitten, viele Gefangene gemacht etc. Heute gibt das Hauptquartier einen Bericht aus, der anders lautet, nämlich dahin, daß sie nach Ostende durchbrechen wollen und nun deswegen eine Schlacht bei St. Nicolas im Gange sei. – Eine weitere, noch unbestätigte Meldung behauptet, die U.-St. hätten ihre ganze Stille Ozean-Flotte zu den Philippinen geschickt, offenbar um gegen das Vorgehn der Japaner in der Südsee zu demonstrieren. Ich bezweifle das Eingreifen der Vereinigten Staaten, wie ich überhaupt allmählich dazu neige, an eine weitere Ausdehnung des Kriegs nicht mehr recht zu glauben. Die Türkei wird möglicherweise von Deutschland selbst gebremst werden, damit Griechenland und Rumänien und womöglich Italien keinen Vorwand zum Anschluß an den Dreiverband findet und auch wohl aus allgemeiner Besorgnis vor dem heiligen Krieg des Islams gegen die gesamte Christenheit, unter dem die Deutschen nicht zuletzt zu leiden hätten. Portugal und die übrigen kriegslustigen Länder werden wohl durch die deutschen Erfolge ein wenig in ihrem Heldenmut gedämpft sein.
Sonst nichts Bedeutsames. Die Provinz Ostpreußen soll nach einer offiziellen Kundmachung sogut wie garnicht mehr gefährdet sein, und von der Aisne-Schlacht hat man seit 2 Tagen überhaupt nichts mehr vernommen. Wie weit die Eroberung Antwerpens beziehungsweise der gegenwärtige Kampf mit der Besatzung Einfluß auf den Ausgang des Kampfs haben werden, läßt sich noch nicht ermessen. In Russisch-Polen bereitet sich eine neue Riesenschlacht vor, die nun wohl unter deutschem Oberbefehl ausgefochten werden wird (vermutlich unter Hindenburg). Man redet von 4 Millionen Menschen, die dabei aufeinander losgelassen werden sollen. Die österreichisch-ungarischen Truppen sollen zwischen die deutschen eingereiht werden. Gestern, heißt es, seien 1 Million frischer deutscher Soldaten ins Feld gezogen. Kanonenfutter.
Zu meinem Privatleben. Der Dalles rückt wieder nahe. Ich habe gestern an den Simpl 2 Witze geschickt und den Verlag Hesse und Becker um das Honorar für einige Gedichte gebeten, die in einer von Zoozmann herauszugebenden Anthologie enthalten sein werden, und deren Korrekturen ich schon vor einem Monat bekam. Das Berliner Tageblatt läßt sich trotz meiner ausdrücklichen Bitte um beschleunigte Honorierung nichts merken. Ich möchte auch gern, daß der Beitrag wirklich erschiene, damit die Angstmeier in andern Redaktionen sähen, daß mein Name gedruckt werden kann, ohne daß deshalb Deutschland den Krieg zu verlieren brauchte.
Brantl schickt mir die Aktenstücke zur Einsicht, die meinen Prozeß gegen das Neue Wiener Journal betreffen. Die Geschichte zieht sich jetzt über ein Jahr hin. Ich hatte damals eine Woche lang dem Jenaer Parteitag beigewohnt und täglich an das Blatt einen Eilbrief mit Bericht geschickt. Am 6ten Tage telegrafierten die Herrschaften, daß ich ihren Auftrag mißverstanden hätte und verweigerten die Zahlung. Bis ich dann den Schutzverband dazu brachte, meine Sache zu führen, vergingen lange Wochen. Und jetzt steht die Sache im Stadium der Erörterungen und juristischen Spintisierereien darüber, ob der Prozeß überhaupt in München geführt werden kann. Dazu wird nun monatelang hin und her die Frage erörtert, ob die österreichische Zeitung, da sie in München Abonnenten hat, hier Vermögen hat, oder ob die hierher gelieferten Zeitungen inzwischen ins Eigentum der Post übergehn. Das ist für die Advokaten ein »interessanter Fall«, ich hingegen kann darüber auf mein sauer erarbeitetes Geld noch ein paar Monate länger warten – wenn ich’s nachher überhaupt kriege.
Zum Kapitel: Friedensgreuel. Ludwig Thoma hat einen wütenden Artikel gegen Hodler losgelassen, der den törichten Aufruf gegen die deutschen Barbaren mitunterzeichnet hat. Selbstverständlich ist nun die Kunst Hodlers von jeher nichts wert gewesen. »Öd und herzlos« nennt Thoma die Kunst des Mannes, der zum ersten Mal Ekstasen in die Moderne getragen hat. Das herrliche Fresko in der Universität Jena, der Auszug der Studenten zum Freiheitskrieg 1813, also ausgerechnet ein patriotisches Motiv, wird speziell beschimpft. Halbe war gradezu entzückt von dem Artikel. Jodocus Schmitz mußte zwar als Maler zugeben, daß der Kunst Hodlers Unrecht geschehe, billigte aber durchaus die Tendenz des Thomaschen Artikels. Dem Kitsch werden alle Tore aufgerissen. Dabei muß man wissen, wie meistens Aufrufsunterzeichnungen zustande kommen. Thomas Mann, Wedekind etc. unterschreiben alles, was man ihnen vorlegt, wenn sie sonst respektable Namen drunter sehn, und ich habe im Kain schon einmal diverse Herren, darunter auch Ludwig Thoma grade deswegen angegriffen, weil sie ohne das nötige Maß von Verantwortlichkeit eine öffentliche Kundgebung unterzeichnet hatten. Es handelte sich damals um eine Aktion zugunsten Leonor Goldschmieds (Kain II, 2. S. 29f. »Der rührige Zensor«). – Ich bin überzeugt, daß die Herren Hodler, Dalcroze und viele genau so willenlos ihren Namen hergegeben haben, wie damals Thoma es tat, was er mir nachher persönlich bestätigte.
Emmy ist wieder von Berlin zurück. Ich traf sie im Stefanie. Sie bestellte mir Grüße von Hardy. Auch Lotte traf ich, und zwar im Theater.
In den Kammerspielen gab es nämlich 3 Einakter von Klabund (Alfred Henschke), der die aktuelle Stimmung lukrativ auszunutzen versucht. Unter dem Titel »Kleines Kaliber« faßt er die drei Stücke zusammen, deren erstes »Rußland marschiert«, ein dritter Aufguß von Gorkys Nachtasyl, ohne Handlung eine gewisse Stimmung festhält. Das zweite »Der feiste Kapaun« ist ein Schwank übelster Niveaulosigkeit, in dem er die Franzosen in einer höchst geringschätzigen und dabei humorlos albernen Weise lächerlich macht. Lauter abgebrauchte Possenklischees. Im dritten »Tom Atkins« verfährt er ähnlich mit den Engländern, wenn auch nicht ganz so schlimm. Der dünne Beifall zeigte, daß selbst dies großenteils aus Soldaten bestehende Publikum keinen Geschmack daran hat, die Kriegsgegner derartig besudelt zu sehn. Schade um den kleinen Klabund. Er ist der begabteste von den jungen Lyrikern, dabei, wie die meisten Schwindsüchtigen, von einer ungeheuren Produktivität. Sobald ich ihn treffe, werde ich ihn ernstlich zur Rede stellen und ihn dringend mahnen, sein schönes Talent nicht um eines Tageseffekts willen, der noch dazu wie sich gezeigt hat, ausbleiben kann, geistlos zu verschleudern. Er soll lieber die deutschen Hurraschreier vornehmen.
München, Dienstag, d. 13. Oktober 1914
Die Kriegslage ist in den letzten 2 Tagen unverändert geblieben. Der von Antwerpen entkommenen Garnison ist es anscheinend geglückt, sofern sie nicht nach Holland abgedrängt wurde (man redet da von 40.000 Mann) nach Ostende durchzukommen. Denn über den Verlauf des vorgestern offiziell mitgeteilten Kampfes mit dem – immer noch über 100.000 Mann starken – Heer, durch den es abgeschnitten werden sollte, ist nichts mehr bekannt geworden. – Ein russischer Panzerkreuzer ist von einem deutschen Torpedoboot in den Grund gebohrt worden und mit der ganzen Mannschaft untergegangen: 560 Mann – alle Welt ist beglückt.
Friedensgreuel: Quidde ist Gegenstand öffentlicher Beschimpfungen geworden, weil er sich in den Haag begeben hat und dort mit ähnlich Gesinnten des Auslands vom Frieden redet. Außerdem hat er gebeten, den deutschfreundlichen ehemaligen englischen Minister Haldane nicht allzu eifrig anzugreifen. Nun ist er ein taktloser Verräter. Denn wir wollen nichts von Frieden hören, und wir wollen uns unsres Hasses freuen und wünschen nicht in der Seligkeit unsrer patriotischen Besoffenheit ernüchtert zu werden. Der Rechtsanwalt Goldschmidt II, unser neuer Kassenwart beim Neuen Verein