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Erich Mühsam führte zwischen 1910 und 1924 Tagebuch. Er war Lyriker und Anarchist, Satiriker und Revolutionär und einer der führenden Köpfe der Münchener Räterepublik. In seinen Tagebüchern hat er sein Leben festgehalten - ausführlich, stilistisch pointiert, schonungslos auch sich selbst gegenüber - und niemals langweilig. Sie sind ein einmaliges zeitgeschichtliches Dokument. Die historisch-kritische Ausgabe der "Tagebücher" wird seit 2011 von Chris Hirte und Conrad Piens herausgegeben. Sie erscheint in 15 Bänden als Leseausgabe im Verbrecher Verlag und zugleich als Online-Edition unter muehsam-tagebuch.de. Begleitend werden nun die "Tagebücher" in Einzelheften" als E-Books veröffentlicht. Jedes Einzelheft dieser mitreißenden Tagebücher ist mit einem Register versehen und verschlagwortet. Die hier vorliegende Ausgabe ist das Heft 6.
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Seitenzahl: 216
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Herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Piens
Erich Mühsam (1878–1934) hat 15 Jahre lang, von 1910 bis 1924, sein Leben und seine Zeit im Tagebuch festgehalten, ausführlich, stilistisch pointiert, schonungslos auch sich selbst gegenüber – und niemals langweilig. Mühsam macht die Nachwelt zum Zeugen eines einzigartigen Experiments: Er will Anarchie nicht nur predigen, sondern im Alltag leben. Er läßt seiner Spontaneität, seiner Sinnlichkeit, seinen Überzeugungen freien Lauf und beweist sich und seiner Mitwelt, daß ein richtiges Leben im falschen durchaus möglich ist – man muß es nur anpacken. Auch das Schreiben ist Aktion, in allen Sätzen schwingt die Erwartung des Umbruchs mit, den er tatsächlich mit herbeiführt: Die Münchner Räterevolution ist auch die seine, und die Rache der bayerischen Justiz trifft ihn hart. Doch sein Sendungsbewußtsein verleiht ihm eine Kraft, die ihn auch über die schlimmen Jahre der bayerischen Festungshaft rettet.
Mühsams Tagebücher sind ein Jahrhundertwerk, das es noch zu entdecken gilt. Sie erscheinen gedruckt in 15 Bänden, als eBooks in 35 Einzelheften und zugleich im Internet auf www.muehsam-tagebuch.de, wo neben dem durchsuchbaren Volltext auch ein kommentiertes Register und der Vergleich mit dem handschriftlichen Original geboten wird.
München, Sonnabend, d. 29. Juli 1911.
Strich reist Montag, spätestens Dienstag ab, und am nächsten, spätestens übernächsten Tage werde ich glücklich sein und Lotte, ein paar Tage lang, unbestritten mein Weib nennen. Es ist ergreifend, wie herzlich und schön auch sie mir fühlbar macht, daß zwischen uns beiden ein tieferes Einverständnis ist, als die sonstige Kameradschaft, als dies sonstige in spitzbübischen Eroticis neckende Komplot. Manchmal ist sie gegen mich gereizt, wird sie dann grob, dann sehe ich nachher doch in ihren Augen das gute Wort, die liebende Gebärde. Ach, ich liebe Lotte so fest und rein, wie ich nicht mehr glaubte, daß ich noch einmal werde lieben können. – Gestern abend waren wir – Lotte, Strich und ich – in der Ausstellung draußen. Es wollte Gewitter werden, nach der schwelenden Hitze, bei der dumpfen Schwüle die tiefste Sehnsucht eines jeden Menschen. Ein scharfer Wind kam auf, Gewölk zog sich zusammen, der Himmel blitzte an allen Enden. Das dauerte etwa eine Stunde lang. Endlich folgten einige schwache Donnerschläge, und nach langer Zeit ein wenig Regen. Heut ist’s wieder heiß, trocken und wolkenlos ringsum. Es scheint, die unerträgliche Glut wird nie aufhören. Schon melden die Blätter aus manchen Städten Wassersnot, hier und anderwärts häufen sich die Hitzschläge und Sonnenstiche. Immerhin: ein wenig kühlte sich die Luft von dem Gewitteranfall ab, und wir fuhren dann in die Torggelstube, wo an einem Tisch Wedekind mit Frau in kleiner Gesellschaft, am Haupttisch Rößler im Kreise der Pokerasten und die Vallière mit Anhang saßen. Der Bruder Strich kam, und der greuliche Sörgel, und ich ging bald, da ich noch zu arbeiten hatte. Bis nach 4 Uhr schrieb ich dann, splitternackt an meinem Schreibtisch, einen Theaterartikel für Nr. 5 des »Kain«. Heut früh telefonierte mich Albert R. an. Ich möchte ihn mittags im Matthäser suchen. Ich fuhr also erst zur Druckerei, dann dorthin. Er war mit seiner Frau und einem Kameraden da, der in Zürich einen sehr guten Eindruck auf mich gemacht hatte. R. erzählte mir Trauriges von Otto Gross, der dadurch, daß Frieda Mallaschitz ihm über Frick geschimpft hat – er habe das Verhältnis mit Frieda nur aus Geldinteressen – in einen Zustand völligen Wahnsinns verfallen sei. Er halluziniere wieder sehr viel, zertrümmere im Halbschlaf Spiegel, Lampen und sonstige Dinge, wische die kranke Nase an allen erreichbaren Geräten, wie Milchtöpfen etc. ab und sei ganz irr und krank. Seit 8 Tagen aber ist er verschwunden. Inzwischen sei Johannes einmal von Bern nach Zürich gefahren, und vielleicht habe der ihn mitgenommen. Vielleicht sei er auch in Ascona. Mich beunruhigen diese Berichte sehr, und jedenfalls soll ich sofort, wenn R. in Zürich ist, Bescheid haben. Es ist mir sehr leid um Otto, er ist trotz allem einer der feinsten und großartigsten Menschen, die ich kenne. Als ich ihn jetzt in Zürich sprach, machte er einmal eine Bemerkung, die ihn mir ungeheuer lieb machte. Wir hatten sehr viel über Frick gesprochen und waren zu einer entschiedenen Ablehnung seiner Menschlichkeit gekommen. Ich meinte, es sei ja alles recht, wenn Frieda nur nicht, wie mir sicher ahnt, an seiner Seite sich unglücklich fühlte. Da sagte Gross: »Möchtest du etwa, daß sie mit diesem Mann glücklich wäre?« – Mein Wunsch für Otto Gross ist, er soll sterben, ehe es Nacht wird.
München, Sonntag, d. 30. Juli 1911.
Immer noch, immer wieder die unnatürlichste Hitze. Man wagt sich kaum mehr auf die Straße, aber im Zimmer ist’s auch kaum besser. Daß nur bis zur Dresdner Reise eine Abkühlung einträte! Es wäre ja scheußlich, wenn wir die ganze Reise unter Stöhnen machen und gegenseitig Krankenwärter spielen müßten. – Gestern sah ich mein Puma weniger als in den letzten Tagen. Wir waren im Hofgarten beisammen, ich begleitete sie in die Türkenstrasse und fuhr dann zum Ungererbad. Nachher traf ich sie noch einmal auf der Straße und erläuterte ihr ihren Weg, indem ich sie in ein Auto setzte. Abends hatte sie mit den Strich-Brüdern etwas ausgemacht, und Strich telefonierte mich erst spät in der Torggelstube an, ich möchte in die Odeon-Bar kommen. Ich war aber in einer Gesellschaft, die mich schlecht abkommen ließ, und blieb deshalb, so sehr ich mich auch nach Lotte sehnte. Julius Muhr aus Wien war nämlich da, und hatte extra für mich Mumm anbringen lassen. Ich poussierte dabei heftig mit der kleinen Tänzerin, die ich neulich schon geküßt hatte. Sie war grade unwohl, sonst hätte ich das gute Puma wahrscheinlich heute nacht betrogen. Als die andern gegangen waren, ging ich noch zum andern Tisch hinüber, wo Wedekind mit dem eben von der Reise zurückgekehrten Steinrück, Arthur Fleischer und noch 2 Mitglieder des Hoftheaters saßen. Ich sprach mit Wedekind über Hardekopf, der mir jetzt ernstlich verfeindet zu sein scheint, da ich Emmys katholische Hysterien nicht feierlich genug nehmen konnte. Wedekind verglich ihn mit Recht mit seinem Bruder Donald Wedekind, der auch bei guten Anlagen niemals zur eigentlichen Produktivität kommen konnte. – Nachher war ich noch mit einem Teil der Gesellschaft, zu denen noch Geyer, Molnár, Polgar und Egon Friedell kamen – mit dem ich mich, wie einst in Wien, immer noch sehr amüsant herumfrozzele, im Café Orlando di Lasso. – Jetzt sitze ich (12 Uhr mittags) vor dem Tagebuch und warte, ob das Puma nicht vielleicht kommt. Es wäre schmerzlich, wenn ich bis nachmittags warten müßte, wo ich sie ja jedenfalls im Hofgarten sehn werde. – Aber Dresden! Da werde ich nicht zu warten brauchen: kommt sie – kommt sie nicht? Da wird sie gleich morgens an meiner Seite erwachen, da werden wir tagaus tagein beisammen sein – und da werden wir gemeinsam das Szenarium für die Detektiv-Operette entwerfen. Denn das Puma will mir helfen und hat schon jetzt recht hübsche Einfälle dazu geäußert. Das wird eine fröhliche Arbeit werden! Puma, geliebtes, süßes, himmlisches Puma!
München, Montag, d. 31. Juli 1911.
Wenn der Tag so weiter geht, wie er bis jetzt – es ist ¾8 Uhr abends – verlaufen ist, dann werde ich ihn als einen der guten Tage meines Lebens buchen können. Morgens holte mich Rößler zum Baden ab. Vorher gingen wir noch ins Café Stefanie. Vor der Tür begegneten wir Emmy. Wir grüßten beide, und Emmy dankte still, sodaß ich mich freute, daß sie kein Krampftheater aufführte. Als ich zwei Schritte gegangen war, fühlte ich mich plötzlich von hinten umgefaßt. Emmys Kopf lag an meiner Schulter, und auf der Straße gaben wir uns den Versöhnungskuß. Im Café erzählte sie mir dann, ihr habe geträumt, ich sei gestorben, und als ich dann in meinem grauen Anzug so vor ihr lag, sei es ihr schrecklich gewesen, daß sie sich nicht mit mir ausgesöhnt habe. Übrigens seltsam: Ich habe in der letzten Zeit – wohl, weil ich an das Glück mit dem Puma nicht glauben kann – so oft Todesgedanken gehabt, daß ich gestern für alle Fälle mein Testament gemacht habe. So habe ich doch die Sicherheit, daß mein literarischer Nachlaß nicht einmal in die Fänge meiner Mischboche fällt. – Nach dem Baden Mittagessen in der Torggelstube. Die Vallière war reizend, ich durfte graziös mit ihr zoten. Nachher saßen wir miteinander auf dem Sofa in der Nische des Cafés Orlando und spielten mit einem entzückenden weißen Zwergboxl. Ob Zufall, ob Absicht – ich weiß es nicht, bin aber eitel genug, eher an Absicht zu glauben: ihre Hand fuhr mir dabei in einer Weise zwischen die Schenkel, und blieb solange dort, daß ich meinte, mir müßten alle Hosenknöpfe abspringen. Als ich dann – wie unwillkürlich – mit meiner Hand in die Gegend ihrer engeren Weiblichkeit kam, fühlte ich deutlich die korrespondierende Bewegung ihres Unterleibs. – Trotzdem: daß aus uns zweien einmal – wenn auch nur ein einziges Mal – ein Paar würde, glaube ich nicht. Um die Frau zu kriegen, muß man Gelegenheiten schaffen, die sehr viel Geld kosten. – Im Hofgarten wartete ich vergeblich aufs Puma und ging dann zur Druckerei, wo ich Korrekturen und Revisionen der Nr. 5 las. Steinebach übergab mir einen Brief des Verlags Eckert, der bereit ist, mein »Glaube, Liebe, Hoffnung« zu verlegen und als Subskriptionswerk herauszubringen. Ich soll ihm meine Bedingungen mitteilen. Ich werde, denke ich, ein für alle Mal 500 Mk fordern. Ferner teilt mir der Verlag mit, daß er geneigt sei, den Rest des »Kraters« vom Morgen-Verlag zu übernehmen. Den hat leider schon Leon Hirsch über meinen Kopf weg erworben. Ich will das Eckert mitteilen und ihm die Neuherausgabe einer ausgewählten Sammlung meiner Gedichte vorschlagen. So käme ich vielleicht zu einem recht guten Lyrikband.
Ach ja, in der Torggelstube hatte ich den Direktor v. Rehlen von der Wiener Residenzbühne getroffen, der von den »Freivermählten« gehört hat und mir Vorwürfe machte, daß ich ihm das Stück nicht eingereicht habe. Gewiß ein Unikum: ein Theaterdirektor, der den unaufgeführten Autor um ein Stück mahnt, statt sich einzukapseln, wenn es ihm gebracht wird. Ich habe das Stück gleich von Strauß geholt, zu dem ich sowieso mußte. Denn Rudolf Grossmann schrieb mir, daß ein österreichischer Genosse hier verhaftet sei, um den ich mich kümmern möchte. Dann brachte ich Rehlen das Stück ins Hotel. Er will es in der denkbar kürzesten Zeit lesen. Also vielleicht wird es noch in diesem Jahr mit meiner alten Berliner Freundin Käte Richter in der Hauptrolle der Alma aufgeführt. – Strauß regte mich außerdem noch an, einen größeren Wucherpump auf dem Wege der Lebensversicherung zu machen. Ich werde es wohl tun – da es 10–12000 Mk werden können. Also Glück über Glück! Aussicht über Aussicht! – und als ich nach Haus fuhr, vermißte ich nur noch eins: das Puma. Aber in der Elektrischen traf ich Strich, der mir erzählte, sie sitze im Stefanie. Dort telefonierte ich sie gleich an, erfuhr aber zu meinem Schmerz, daß sie nicht mehr dort sei. Fünf Minuten später kam sie, um ein paar Sachen zu holen, die sie bei mir eingestellt hatte. Ich trug sie ihr nach Hause, und bei ihr küßte sie mich herzlich und fest auf den Mund. Das war die Krönung des Tages – wie wird er ausgehen?
München, Mittwoch, d. 2. August 1911.
Ich fühle mich wie ein Bräutigam am Tage vor der Hochzeit. Ich lebe in ständiger Erwartung eines unerhörten Glücks. Das Puma tut dabei alles, diese Stimmung in mir zu erhalten und zu erhöhen. Als sie heut früh – ich war noch nicht aufgestanden – kam, um mich zu wecken, setzte sie sich auf mein Bett, küßte mich und schmiegte sich an mich wie ein kleines verliebtes Mädelchen, während sie doch sonst nie – selbst in den zärtlichsten Stunden kaum – ihre frivole Ironie verliert. – Strich ist heute früh – endlich! – abgereist. Nun ist die Gegenwart mein. Morgen geht die Reise los, – zunächst nach Nürnberg, dann wahrscheinlich nach Dresden, und schließlich wohl auch noch nach Berlin. Ich habe dem Puma noch allerlei schöne Sachen – fast eine ganze Aussteuer – geschenkt: das bischen Berner Geld giebt doch kolossal viel aus –, und nun bin ich in einem Taumel von Verliebtheit und närrischer Vorfreude. Die Brieftasche ist mit 400 Mk gefüllt, alle Vorbereitungen sind fertig, was sollte diesmal wohl feindliches sich ereignen können? – Zu allem Überfluß gewann ich gestern abend noch über 60 Mk beim Pokern, sodaß die Auslagen, die ich gestern auf der Dult für allerlei Schmuck hatte, reichlichst gedeckt sind. – Merkwürdig ist, wie mir stets, wenn es mir erotisch gut geht, das Glück auch bei andern Frauen winkt. Vorgestern lernte ich in der Torggelstube die allerliebste Maria Marlow vom Wiener Bürgertheater kennen. Ich freundete mich gleich mit ihr an, und wir vertrugen uns unter anzüglichen Witzen ausgezeichnet. Die Vallière küßte mich gestern abend auf den Mund. Lina Woiwode ist wieder da, und war nett zu mir. Käte Richter von der Wiener Residenzbühne, mein alter Berliner Schwarm, tauchte gestern auf. Sie ist das Verhältnis des Herrn v. Rehlen, der mein Stück leider abgelehnt hat. Er könne es zur Zeit nicht brauchen, vielleicht später, denn er finde es gut. Ich saß – das Puma, das sich gestern noch Strich widmen mußte, war nicht gekommen – zwischen Käte und der Vallière, meine Hände spannten sich jede über einen Frauenschenkel. Nachher wurde gepokert. Frau v. Hagen erschien mit Waldau. Ich saß neben Mimi Marlow, was mir wohltat, sodaß ich überlegt und sicher spielte. – Der Ton in der Torggelstube ist neuerdings ganz toll. Julius Muhr bemerkte neulich ganz zutreffend: »In diesem Lokal muß man, um sich beliebt zu machen, am Eingang gleich dreimal: Ficken! rufen.« Ein sehr niedlicher Beleg dafür ergab sich beim Pokern. Es wurden arge Schweinereien geredet, über die sich die Frauen sehr amüsierten. Ich bekam schlechte Karten. Jemand fragte: »Mühsam, was ist?« – Ich antworte: »Scheiße.« – Mi v. Hagen meinte: »Na, nun fängt sogar Mühsam schon an, solche Worte zu sagen.« – Der Nachbar fragte: »Was haben Sie denn?« – und die Frau Baronin antwortete: »Auch Scheiße.« – – Heut mittag aß ich mit dem Puma in der Torggelstube – auch gestern schon, wo wir mit Rößler, Eder und Elisabeth Steckelberg beisammen saßen –. Heut waren wir allein, da die Vallière anscheinend auf Lotte eifersüchtig ist und ich ihren Kreis nicht stören mochte. Dann gingen wir ins Orlando. Melanie Spielmann kam, erzählte mir von Frau Kornfeld, die sich in Berlin über mein Nichtschreiben gräme und sehr verliebt in mich sei. Ich schrieb ihr eine Ansichtskarte und stellte ihr in Berlin meinen Besuch in Aussicht. Die Spielmann war unglaublich geil auf mich und zeigte das so deutlich, daß das Puma sich kaputlachen wollte, und mich nachher beschwor, ich solle das arme Luder mit mir nehmen und vögeln. Sie werde sich so darüber freuen, daß sie schon heute nacht bei mir schlafen würde. Ich war aber zu verliebt ins Puma, als daß ich mich zu einem Piacere mit dem häßlichen Balg hätte entschließen können. Jetzt ist das Puma bei sich zuhause und packt. Abends holt sie mich ab. Und morgen, – ach, morgen!
München, Donnerstag, d. 3. August 1911.
Also heute soll die Reise losgehen – ob nachmittags oder abends steht noch nicht fest. Darüber entscheidet das Puma. – Gestern war ich sehr viel mit ihr beisammen. Abends waren wir im Cabaret Benz. Mein alter Cabaret-College von München und Wien, Karl Mersch[?] leitete die Conferenze und sang mit seiner mächtigen Baßstimme einiges. Ein paar schlechte Diseusen traten auf, eine ganz nette Ungarin sang Parodien. Mehrere Tanzstücke wurden aufgeführt, darunter sind zwei sehr schöne graziöse Engländerinnen zu erwähnen. Endlich produzierte sich ein Russe, namens Andréjé als telepathisches Medium. Die Leistungen selbst – nach dem Willen des andern handeln – waren gewiß ganz interessant, der Kerl hielt dabei aber so prätentiöse und dumme Reden, daß mir ganz schlecht wurde. Nachher fuhren wir in die Torggelstube, wo an einem Tisch die üblichen Pokerasten – mit Mimi Marlow – wirkten, am Haupttisch die Vallière mit Mann, Egon Friedell, Feuchtwanger und Weigert saßen. Friedell verliebte sich, als die Vallière gegangen war, prompt in Lotte, die schon etwas beschwipst war, und fingerte ihr mit seinen Fettpfoten fortwährend im Gesicht herum. Das Puma interessierte sich indessen mehr um den sehr pedantischen Feuchtwanger. Mir war nicht sonderlich wohl bei dem allen. Nachher waren wir alle noch im Orlando di Lasso, und dort wurde mir leider mein schöner Panamahut verwechselt – ich vermute von Friedell. Ich habe dafür einen schäbigen alten, dreckigen und fettigen Hut bekommen und bin sehr ärgerlich, da ich nun die ganze Reise in verminderter Eleganz machen muß. – Heut habe ich noch allerlei zu tun. Briefe, Zeitschriften zu erledigen (Nr 5 ist heraus und wird morgen plakatiert und vertrieben). – Und nun soll dies Tagebuch auch eine kleine Weile Ruhe haben. Ich will es nicht auf die Reise mitnehmen, damit es nicht etwa aus Versehen dem Puma in die Hände fällt. Auch hoffe ich, daß mir das Zusammensein mit Lotte nicht allzuviel Zeit zum Einschreiben lassen wird. Adjö, München!
München, Sonntag, d. 13. August 1911.
Zurück. – Und soll nun erzählen, was ich erlebte in 1½ Wochen, die zu den schönsten meines Lebens zählen? Nein! Alles beste soll bei mir bleiben, immer nur in der Verschwiegenheit meines Gedenkens, und nur Tatsachen – Gott, wie nichtig sind Tatsachen! –, nur Tatsachen will ich hier buchen.
Nach der letzten Eintragung erlebte ich noch aufgeregte Stunden in München. Lotte wollte um 3 Uhr bei mir sein. Schon vor zwei Uhr zitterte ich, sie könnte sich’s noch überlegt haben, und jede Minute erhitzte meine Angst. Sie kam gegen ½ 4 Uhr. Die Stunde vorher dauerte länger als die 10 Tage bis gestern – viel, viel länger. Abends fuhren wir – bis Nürnberg, wo wir im »Kaiserhof« ein Doppelzimmer nahmen. Kunstmaler Walter Mühsam und Frau aus Berlin! Ehe wir schlafen gingen, suchten wir noch Bummellokale auf – und fanden den »Wintergarten«, ein elegantes Tanz-Etablissement im Pariser Monsieur-Stil, wo sich außer einigen dürftigen Sängern und Chansonetten unterschiedliche Solotänzer und Tanzpaare produzierten. – Über die Nacht und die weiteren Nächte kein Wort. Das ist mein, und um das im Gedächtnis zu halten, dazu bedarf ich keiner Notizen. Am andern Tag Rundfahrt durch Nürnberg, mit Besichtigung der S. Sebaldus-Kirche, die ganz wie eine Jahrmarktsbude Eintrittsgeld erhebt. Am Eingang stehn Tische, an denen Ansichtskarten verkauft werden. Abends gingen wir ins Stadttheater, wo wir eine Operette »Die keusche Susanne« sahen. Kein Meisterwerk, aber lustige Stellen, die das Puma manchmal bis zum Weinen ins Lachen brachten. Ich staunte über den Prachtbau des Theaters. Danach wieder Wintergarten – und am andern vormittag Abreise nach Dresden. Im Coupé traf Lotte eine Freundin, die Lillith heißt und im Wolfskehl-Kreis verkehrt: sie sieht recht gut aus. In Bamberg verließen wir sie, da wir dort umsteigen mußten. Da beide Züge keine Speisewagen hatten, konnten wir bis abends gegen 6 Uhr nichts zu essen bekommen. Es war qualvoll. Endlich wurde bei Reichenbach ein Speisewagen angehängt, sodaß wir, als wir in Dresden ankamen, schon etwas im Leibe hatten. Wir bezogen das Hotel »New-York«, wo wir unter unsern richtigen Namen zwei Zimmer nebeneinander hatten. Am gleichen Abend noch gingen wir in die Hygiene-Ausstellung, wo ich von Lotte eine Silhouette schneiden ließ. Sie fiel reichlich schlecht aus. Als wir im Park spazieren gingen, rief uns ein junger Mensch, der mit zwei Damen ging nach: »Das ist ja die Lotte mit dem Erich Mühsam.« – Ich kannte ihn nicht. Wir waren froh, keine Bekannten zu sehn. Es gab dort die Ausstellung eines indischen Dorfs, das wir uns ansahen. Ein kleines zartes Inderweib erregte Lottes Bewunderung in solchem Maße, daß sie ihr eine ihrer kleinen Silberdosen und ein größeres Geldstück schenkte. Wie die rührende wundervoll schlanke und grazile Inderin das Geschenk nahm, das war so ergreifend, daß Lotte in Tränen ausbrach. Ich habe sie nie mehr geliebt als in diesem Moment. – Nachher fuhr uns eine Droschke zu einem Nachtkaffee. Dann begann die dritte Nacht. Am andern Tage waren wir auf der Vogelwiese, ein köstlicher Jahrmarkt, noch ganz im alten Stil. Karusselfahren, Rutschbahnen und ähnliches macht uns beiden keinen Spaß. Aber wir verwürfelten eine Menge Geld, trugen aber auch als Ertrag mehrere Paare Manschettenknöpfe, von denen ich eins trage, eine Brosche und sonst noch Kleinigkeiten heim. Dann sahen wir uns die Siamesischen Zwillinge an, und da uns von diesem widerwärtigen Phänomen wohl noch nicht übel genug war, gingen wir auch noch in eine anatomische Bude, wo Lotte sich über die lustigen Embryonen amüsierte, dagegen die Wachsnachbildungen kranker Gliedmaßen und Eingeweide sie ebenso wie mich in einer Weise anekelten, daß sich uns fast der Magen umgedreht hätte. Als wir uns erholt hatten und wieder frisch und fidel waren – trotz der hahnebüchenen Hitze, die uns den ganzen Weg begleitete, und die nun über einen Monat ununterbrochen anhält –, ließen wir uns von einem dort postierten Photographen typen. Es ist ein köstliches Bildchen geworden, ganz primitiv, mit einem Glasrahmen darum: »Erinnerung an die Dresdener Vogelwiese«. Wir sehn aus wie ein richtiggehendes Brautpaar. Das Bild steht schon vor mir auf dem Schreibtisch. – Gegen Abend fuhren wir wieder in die Ausstellung. Diesmal sahen wir uns in einem Zelt marokkanische Bauchtänzerinnen an. Währenddem trat der Jüngling, der uns tags zuvor angerufen hatte, an uns heran, nannte seinen Namen – mir scheint Busse – behauptete, mit mir öfters Billard gespielt zu haben und auch Lotte zu kennen und setzte sich ungebeten und obgleich ich ihm gesagt hatte, daß ich mich seiner nicht erinnere, zu uns an den Tisch, wo er gleich anfing, mich unendlich viel zu fragen. Ich ließ ihn derartig abfahren, daß er seine Unerwünschtheit bald merkte und beleidigt aufstand. Ich schenkte Lotte noch einige Gebrauchsdinge, einen Hut und aller[l]ei fürs Kleid. Einen Teil des Tages und den späten Abend brachten wir im Caféhause zu, die vierte Nacht war da. Am nächsten Nachmittag war die Abreise festgesetzt. Ich hatte an Franz Diederichs geschrieben, der mich antelefonierte und mich bat, ihn von der Redaktion der »Dresdner Volkszeitung« abzuholen. Nachdem ich Lotte in die Galerie gefahren hatte, wo ich selbst noch die Sixtinische Madonna betrachtete, die mich kalt ließ, und einige schöne Botticellis sah, ging ich zu ihm. Wir aßen zusammen Mittag. Ein sehr sympathischer Herr von etwa 50 Jahren. Wir unterhielten uns über vielerlei. Er brachte mich auf den Gedanken, einen «Kain-Kalender« herauszugeben und erzählte, daß Glasbrenner ähnliches gemacht habe. Ich will morgen mit Steinebach drüber reden. Ferner riet er mir sehr zu einem neuen Gedichtband, einer Zusammenfassung aus der »Wüste« und dem »Krater« und meinte, daß nach dem »Zukunft«-Protest ein Totschweigen meiner Lyrik in der Presse nicht mehr möglich sei. Er kündigte für eine der nächsten Nummern des »Literarischen Echos« eine Besprechung des »Kraters« an, die schon sehr lange dort läge, und von der er jetzt die Korrektur bekommen habe. Sehr erfreulich. – Ich holte dann Lotte aus dem gewohnten Kaffee ab und wir gingen heim packen. Ich kann nicht leugnen, daß es nicht beim Einpacken blieb. Wir hatten uns noch einmal lieb, denn in Berlin – das hatte Lotte von Anfang an gesagt – werde die Hochzeitsreise zu Ende sein. Endlich fuhren wir los und kamen gegen 8 Uhr am Anhalter Bahnhof an. Ich brachte unsere Effekten ins Hotel Bismarck, da Lotte mir noch eine Nacht bewilligt hatte, und Lotte erwartete mich dann im Café des Westens. Dort trafen wir alle möglichen Bekannten wieder, vor allem Spela, die also nicht gestorben ist, sondern, da sie sich nicht mehr anmalt, viel besser aussieht als früher und René Schickele, den ich, als er vor 3 Jahren nach Paris abfuhr, zuletzt gesehn hatte. Er beschimpfte mich wegen der rumänischen Deserteure, die ich ihm kürzlich zugeschickt hatte, und durch die er sehr große Unannehmlichkeiten hatte. Hubert war da, Höxter und Brann, und schließlich gingen wir noch zu Bols. Als ich um ½ 4 Uhr nachts mit dem Puma zum Hotel am Knie fuhr, war sie totmüde und bat mich, sie die Nacht allein zu lassen, da sie zu abgespannt sei. Ich möge erst morgens zu ihr kommen. Wie sie mich beim Gute Nacht sagen küßte, das zeigte mir deutlich, daß sie andre Gründe wirklich nicht hatte. Morgens kam ich dann noch zu ihr ins Zimmer und ins Bett – und das war nun wirklich das letzte Mal, daß ich diese unendliche Süßigkeit genießen durfte.
Jetzt begann der Berliner Betrieb mit seiner Geschäftigkeit und Nervosität, erschwert immer wieder durch die bodenlose unerhörte Hitze, die uns schon ganz hat vergessen lassen, was Regen überhaupt ist. Lotte sah ich täglich im Café, und sie war nett und ungeheuer lieb mit mir, besonders wenn wir allein waren. Sonst durfte nichts Auffälliges geschehn, da Strich viele Freunde hat. – Ich war also draußen in Waidmannslust, am andern Tage suchte ich die Herren Eckert und Co (die Compagnie heißt Schwartzkopf) auf, und nun hatte ich mit der Bande genug zu tun. Es wurde geschachert und gehandelt, und das Ergebnis ist, daß ich jetzt einen Kontrakt in der Tasche habe, nach dem ich das Buch »Glaube, Liebe, Hoffnung« an den Verlag für 500 Mk mit allen Rechten (außer dem Aufführungsrecht) abgebe. Leider erhalte ich erst 50 Mk, da die Gesellschaft einen großen Dalles zu haben scheint. Ich hörte zu, wie Schwartzkopf am Telefon einen Geldgeber bewegen wollte, für die Sache Geld zu lockern und wäre vor Lachen fast geborsten, wie er die Aussichten übertrieb, erlogene Zahlen nannte und dgl. – Ich betrachte das Geld als gefunden, da ich längst verzweifelt hatte, für die Arbeit noch mal Geld zu sehn. Von der Deutschen Montagszeitung holte ich mir 25 Mk, die, was ich garnicht wußte, für mich noch gut waren. Die 100 Mk vom alten Verlag des Blattes, hieß es, seien auch ganz sicher. Tant mieux. Bei Hans war ich erst vorgestern, spät abends. Er schimpfte über den »Kain«. Im Gefängnistagebuch kommt einmal das Wort »Pferdeärsche« vor. Mein Bruder ist tief empört über den Ausdruck und erklärte, er könne seiner Frau das Heft deswegen nicht zeigen. Gestern war ich mit Lotte bei ihm, die sich eine Brandnarbe operieren lassen will. Er lud uns zum Kaffee ein. Das Puma machte sich nachher weidlich lustig. Zum Abendbrot hatte mich gestern Lottes Mutter, »die alte Pumerin« eingeladen. Eine köstliche Frau, Lottes Vertraute in allen Liebesdingen. Eine so tolerante und verständige Mutter wird nicht so leicht zum zweiten Mal gefunden werden. Um 10 Uhr 30 fuhr ich ab, nachdem mich das liebe teure Puma noch an den Bahnhof begleitet und dort mit einem guten Kuß verabschiedet hatte. Ich konnte auf der Fahrt zur Bahn kaum sprechen. So nahe ging es mir, mich jetzt für 2–3 Monate von Lotte trennen zu müssen. – Ich mußte dritter Klasse fahren, weil von den 500 Mk, die ich mit dem, was ich in Berlin einnahm, die Zeit hindurch gelebt hab, nur noch 25 Mk hatte. Jetzt habe ich keine 3 mehr, kann mir aber von der Deutschen Bank noch holen, was morgen geschehn soll. – Ich bereue die Ausgaben nicht. Davon hatte ich wirklich etwas, und das Puma brauchte nichts zu entbehren. Wie bin ich dem lieben starken schönen klugen feinen Mädchen dankbar! Wie hat sie mich bereichert und beglückt! – Gestern abend erzählte sie mir noch ganz stolz, daß sie mir, seit sie in Berlin sei, noch immer treu sei. Ob es jetzt noch stimmt, da ich dies schreibe? – Sie soll leben; ich will es auch!