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Nowa Ruda im schlesischen Riesengebirge ist ein Ort mit wechselnden Identitäten. Heute polnisch, war das Städtchen früher deutsch, tschechisch, davor österreichisch-ungarisch. Hier, in der Mitte Europas, wo sich Grenzen verschieben und Sprachen kommen und gehen, sind Menschen in Häuser einzogen, in denen noch alte Fotoalben in den Schubladen liegen.Es ist ein Ort, an dem sich Schicksale und Erinnerungen vermischen. Als die Erzählerin mit ihrem Mann in die Gegend kommt, beginnt sie, die Geschichten Nowa Rudas und seiner Bewohner zu sammeln. Dabei hilft ihr die Perückenmacherin Marta, ihre rätselhafte Nachbarin, die sie in die Kunst einführt, die Geschichten vom Tag und die Träume der Nacht zu entwirren.
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Seitenzahl: 486
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Olga Tokarczuk
Taghaus, Nachthaus
Roman
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
Kampa
Dein Haus ist dein größerer Körper.
Er wächst in der Sonne, er schläft in der Nacht. Er träumt.
Schläft dein Haus etwa nicht und verlässt also auch nicht die Stadt,
Um sich im Hain oder auf dem Gipfel eines Berges wiederzufinden?
Dschibran Chalil
In der ersten Nacht hatte ich einen reglosen Traum. In meinem Traum bin ich nichts als ein Blick, ein reines Schauen, ohne Körper, ohne Namen. Ich schwebe … hoch über dem Tal an einem nicht näher bestimmten Punkt, von dem aus ich alles oder fast alles sehe. Ich bewege mich in diesem Zustand des Schauens, bleibe aber an derselben Stelle. Oder besser gesagt: Die Welt ergibt sich mir, während ich sie betrachte, sie nähert und entfernt sich, sodass ich entweder alles auf einmal oder nur die kleinsten Einzelheiten sehen kann.
Ich sehe also das Tal, in dem das Haus steht. Es steht mitten in dem Tal aber es ist weder mein Haus noch mein Tal, mir gehört gar nichts, denn ich selbst gehöre mir nicht, so etwas wie ein Ich existiert überhaupt nicht. Ich sehe die Linie des Horizonts, der das Tal von allen Seiten wie ein Ring umschließt. Ich sehe den aufgewühlten, trüben Bach, der zwischen den Hügeln fließt. Ich sehe die Bäume, die mit ihren mächtigen Beinen in der Erde verwurzelt sind, wie einbeinige, unbewegliche Tiere. Die Reglosigkeit der Dinge, die ich sehe, ist scheinbar. Wenn ich will, kann ich den Schein durchschauen. Dann sehe ich unter der Baumrinde die beweglichen Rinnsale des Wassers und der Säfte, die unentwegt kreisen und auf- und absteigen. Unter den Dächern sehe ich schlafende Menschen, und ihre Reglosigkeit ist auch nur Schein; ihre Herzen klopfen leise, ihr Blut rauscht, selbst ihre Träume sind nicht wirklich, denn ich sehe, was sie sind: pulsierende Fragmente von Bildern. Ich betrachte diese träumenden Körper, und in ihren verworrenen träumerischen Gedanken sehe ich mich selbst, und dann mache ich diese merkwürdige Entdeckung, dass ich der Blick bin, ohne Reflexion, ohne Urteil, ohne Gefühl. Und gleich darauf mache ich noch eine Entdeckung: Ich kann auch durch die Zeit hindurchsehen, ich kann den Punkt, an dem ich in der Zeit stehe, genauso ändern wie den Punkt, an dem ich im Raum stehe. Wie ein Pfeil auf dem Computerbildschirm, der sich selbsttätig bewegt oder einfach nur nichts von der Hand weiß, die ihn bewegt.
So träume ich eine unendlich lange Zeit, wie mir scheint. Es gibt kein Vorher und kein Nachher, ich erwarte auch nichts Neues, denn ich kann weder etwas gewinnen noch etwas verlieren. Die Nacht nimmt kein Ende. Nichts geschieht. Selbst die Zeit ändert das, was ich sehe, nicht. Ich schaue, und weder erkenne ich etwas Neues noch vergesse ich etwas von dem, was ich gesehen habe.
Den ganzen ersten Tag verbrachten wir damit, unseren Grund und Boden abzuschreiten. Die Gummistiefel versanken im lehmigen Boden. Die Erde war rot, der Schmutz, der an den Händen klebte, war rot, und wenn man die Hände wusch, färbte sich das Wasser rot. R. betrachtete zum wiederholten Mal die Bäume im Obstgarten. Alte, buschige Bäume, die in alle Richtungen wucherten. Solche Bäume würden bestimmt keine Früchte hervorbringen. Der Obstgarten zog sich bis zum Wald hin und hörte an der dunklen Wand der Fichten auf. Die Fichten standen da wie ein Heer. Am Nachmittag fiel wieder ein mit Schnee vermischter Regen. Das Wasser sammelte sich auf der lehmigen Erde, es bildete kleine Bäche und Rinnsale und verschwand irgendwo unter der Hauswand. Ein unentwegtes Rauschen machte uns Sorgen, und wir stiegen mit einer Kerze in den Keller hinab. Über die steinernen Stufen ergoss sich ein regelrechter Bach, spülte über den Steinfußboden und floss dann tiefer unten wieder hinaus. Wir erkannten, dass das Haus auf einem Bachlauf stand, es war unvorsichtigerweise über fließendem unterirdischem Wasser gebaut, und jetzt ließ sich nichts mehr daran ändern. Es blieb uns keine Wahl, wir mussten uns an das dumpfe, unablässige Geräusch und die unruhigen Träume gewöhnen.
Draußen vor dem Fenster war noch ein Bach, er führte trübes, rotes Wasser, das ziellos die unbeweglichen Wurzeln der Bäume unterspülte und dann im Wald verschwand.
Aus dem Fenster des langen Zimmers sah man Martas Haus. Seit drei Jahren dachte ich darüber nach, wer Marta war. Sie erzählte immer etwas anderes über sich. Jedes Mal nannte sie ein anderes Geburtsjahr. Wie alles hier existierte auch Marta für R. und mich nur im Sommer, im Winter verschwand sie. Sie war klein, ganz weißhaarig und zahnlos. Ihre Haut war runzlig, trocken und warm. Ich weiß es, weil wir uns zur Begrüßung auf die Wangen küssten, manchmal umarmten wir einander auch unbeholfen, und dann nahm ich ihren Geruch wahr. Sie roch nach Feuchtigkeit, die sich nicht trocknen lässt. Dieser Geruch bleibt haften, man wird ihn nicht los. Kleidung, die im Regen durchnässt worden ist, muss man gründlich waschen, wie meine Mutter sagte, aber sie wusch in der Regel alles, ohne dass es notwendig war. Sie öffnete die Schränke, zog die sauberen, gestärkten Leintücher heraus und warf sie in die Waschmaschine, als habe die Nichtbenutzung sie genauso verschmutzt wie die Benutzung. Der feuchte Geruch an sich war unangenehm, aber an Martas Kleidung und auf ihrer Haut roch er vertraut und freundlich. Wenn Marta hier war, befand sich alles an seinem Platz, alles war in bester Ordnung.
Marta kam gleich am zweiten Abend. Zuerst tranken wir Tee, dann Hagebuttenwein vom letzten Jahr, der dunkel und schwer war und so süß, dass der Kopf schon nach dem ersten Schluck wie benebelt war. Ich räumte Bücher aus einer Kiste. Marta hielt ihr Glas in beiden Händen und schaute teilnahmslos zu. Ich dachte, Marta könne nicht lesen. So kam es mir vor. Das war möglich, denn sie war so alt, dass ihr die Schulpflicht vielleicht erspart geblieben war. Ihr Blick blieb nie an einem Buchstaben hängen, aber ich fragte sie nie danach.
Die Hunde liefen aufgeregt zwischen drinnen und draußen hin und her. Auf ihrem Fell brachten sie den Geruch von Kälte und Wind mit herein. Sie wärmten sich in der geheizten Küche auf, danach zog es sie wieder in den Garten. Marta kraulte ihnen mit ihren langen, knochigen Fingern den Rücken und sagte ihnen immer wieder, wie schön sie seien. So redete sie den ganzen Abend mit den Hunden. Ich sah ihr aus dem Augenwinkel zu, während ich die Bücher auf den Holzregalen aufstellte. Die Wandlampe beleuchtete ihren Scheitel mit seinem Federbüschel dünner, weißer Haare. Im Nacken wurden sie zu einem Zopf.
Ich kann mich an so viele Dinge erinnern, aber ich weiß nicht mehr, wann ich Marta zum ersten Mal gesehen habe. Ich kann mich an alle ersten Begegnungen mit Menschen, die später für mich wichtig wurden, erinnern; ich weiß noch, ob die Sonne schien, ich kann mich an Einzelheiten der Kleidung erinnern (die komischen DDR-Stiefel, die R. trug), ich erinnere mich an die Gerüche, die Geschmäcker und gleichsam die Beschaffenheit der Luft, ob sie rau und steif oder glatt und kühl wie Butter war. Von solchen Bedingungen hängt die erste Begegnung ab. Solche Dinge schreiben sich den einzelnen, vielleicht animalischen Teilen des Gehirns ein und lassen sich einfach nicht vergessen. Aber an die erste Begegnung mit Marta kann ich mich nicht mehr erinnern.
Es muss Anfang des Frühjahrs gewesen sein, denn das ist hier die Zeit, in der alles beginnt. Es muss auf dem unebenen Gelände des Tales gewesen sein, denn Marta begibt sich nie allein an einen anderen Ort. Bestimmt roch es nach Wasser, nach geschmolzenem Schnee. Sie trug sicher diesen grauen Pullover mit den großen ausgeleierten Knopflöchern.
Ich wusste nicht viel von Marta. Ich wusste nur das, was sie mir erzählt hatte. Alles musste ich mir selbst zusammenreimen, und mir wurde klar, dass ich Geschichten über sie erfand. Ich schuf eine Marta mit einer Vergangenheit und einer Gegenwart. Denn sobald ich sie bat, mir etwas über ihre Jugend zu erzählen, darüber, wie damals all das aussah, was jetzt so selbstverständlich erscheint, wechselte sie das Thema, schaute zum Fenster hinaus oder schwieg einfach, widmete ihre ganze Aufmerksamkeit dem Kohl, den sie gerade raspelte, oder flocht ihre fremd-eigenen Haare. Ich verstand das nicht als Unwillen, etwas zu erzählen. Es war, als hätte Marta nichts über sich zu erzählen. Als hätte sie keine Geschichte. Sie sprach gerne von anderen Menschen, die ich vielleicht ein paar Mal zufällig gesehen hatte oder die ich gar nicht kannte, weil ich ihnen nicht mehr begegnen konnte, denn sie waren schon lange tot. Sie sprach auch von Menschen, die mit Sicherheit gar nicht existierten – später stellte sich heraus, dass Marta gerne Dinge erfand. Und von Orten, an denen sie diese Menschen wie Pflanzen einsetzte. Sie konnte stundenlang reden, bis ich genug hatte und einen höflichen Vorwand fand, sie zu unterbrechen und über die Wiese nach Hause zu gehen. Manchmal hielt sie in ihren Ausführungen plötzlich und ohne Grund inne, wochenlang kam sie dann nicht mehr auf dieses Thema zu sprechen, um irgendwann unvermittelt wieder anzufangen: »Weißt du noch, wie ich dir erzählt habe …«.
»Ja, das weiß ich noch.«
»Also, das ging so weiter …«, und dann spann sie einen eingetrockneten Faden weiter, während ich versuchte, mich daran zu erinnern, von wem sie gesprochen hatte und wo sie stehen geblieben war. Und merkwürdigerweise war mir meistens nicht die Geschichte selbst in Erinnerung geblieben, sondern Marta, während sie erzählte, ihre kleine Gestalt mit den runden Schultern in dem Pullover mit den ausgeleierten Knopflöchern, ihre knochigen Finger. Ich wusste noch, ob sie dabei gegen die Windschutzscheibe des Autos geredet hatte, als wir auf dem Weg nach Wambierzyce waren, um dort Bretter zu bestellen, oder ob es beim Kamillepflücken auf Bobols Feld gewesen war. Auf die Geschichten selbst konnte ich mich nie besinnen, sondern nur auf die Szene, die Umstände, die Welt, die sie in mir Wurzeln schlagen ließ, als seien es gleichsam unwirkliche, erfundene, erträumte, in ihrem und in meinem Kopf hin- und hergespiegelte, von den Worten verwaschene Geschichten. Sie brach die Erzählung so plötzlich ab, wie sie sie angefangen hatte. Wegen einer Gabel, die auf den Boden gefallen war und deren blechernes Scheppern den letzten Satz zersplittert hatte, behielt sie das letzte Wort im Mund und musste es verschlucken. Oder Soundso kam herein, ohne anzuklopfen; wie es so seine Angewohnheit ist, stapfte er von draußen in seinen schweren Stiefeln herein und hinterließ eine Spur aus Wasser, Schlamm, Tau, je nach Witterung, und in seiner Anwesenheit konnte man kein einziges Wort mehr sagen, weil er so laut war.
Ich vergaß viele Dinge, die mir Marta erzählte. Die eine oder andere zusammenhanglose Pointe blieb mir in Erinnerung, so wie Senf, der noch auf dem Tellerrand liegt, wenn die Mahlzeit verzehrt worden ist. Einzelne Szenen, manche schrecklich, manche komisch. Einzelne aus dem Zusammenhang gerissene Bilder, zum Beispiel von Kindern, die mit bloßen Händen im Bach Forellen fingen. Ich wusste nicht, warum ich solche Einzelheiten anhäufte, die ganze Geschichte aber vergaß, obwohl sie ja doch einen Sinn gehabt haben musste, denn sie war eine Erzählung mit Anfang und Ende. Ich behielt nur die Kerne, die meine Erinnerung hinterher, und zwar ganz zu Recht, ausspucken musste.
Es war nicht so, dass ich nur zuhörte. Ich sprach auch mit ihr. Irgendwann am Anfang erzählte ich ihr, dass ich Angst vor dem Sterben hatte, nicht vor dem Tod, sondern vor dem Moment, wenn ich nichts mehr auf später würde verschieben können. Und dass diese Angst immer kommt, wenn es dunkel ist, und niemals tagsüber, und dass sie ein paar schreckliche Momente lang dauert, wie ein epileptischer Anfall. Gleich darauf schämte ich mich, dass ich so unvermittelt ein Bekenntnis abgelegt hatte. Dann versuchte ich, das Thema zu wechseln.
Marta hatte kein Therapeutenherz. Sie fragte nicht nach, sie ließ nicht das Geschirr in der Spüle stehen, um sich zu mir zu setzen und mir auf die Schultern zu klopfen. Sie versuchte nicht wie andere Leute, alles Wesentliche zeitlich einzuordnen, und fragte nicht: »Wann hat das angefangen?« Es ist ja ohnehin so, dass das am wichtigsten ist, was sich gerade abspielt, was man gerade vor Augen hat. Die Fragen nach Anfang und Ende vermitteln kein Wissen, das von irgendeinem Wert ist.
Manchmal dachte ich, Marta höre gar nicht zu oder sei völlig ungerührt wie ein abgeschnittenes, totes Stück Holz, denn in einem solchen Augenblick hörte sie nicht nur wie erwartet nicht auf, mit dem Geschirr zu klappern, auch ihre Bewegungen verloren nichts von ihrer automatischen Geschmeidigkeit. Sie erschien mir sogar in gewisser Weise grausam, und zwar mehrere Male. Zum Beispiel damals, als sie ihre Hähne mästete und dann totschlug und auffraß, alle auf einmal, im Laufe zweier Tage im Herbst.
Ich verstand Marta damals nicht, und ich verstehe sie auch jetzt nicht, wenn ich über sie nachdenke. Aber was sollte es mir auch nützen, sie zu verstehen? Welchen Nutzen hätte ich davon, wenn ich die Motive ihres Verhaltens, die Quellen all ihrer Erzählungen klar durchschaute? Was hätte ich von ihrer Biografie, wenn Marta überhaupt eine Biografie hat? Vielleicht gibt es Menschen ohne Biografie, ohne Vergangenheit und Zukunft, die anderen als ein ewiges Jetzt erscheinen.
In den letzten Tagen kam jeden Abend unser Nachbar Soundso zu uns, immer gleich nach den Fernsehnachrichten. R. erhitzte Rotwein, streute Zimt und Gewürznelken hinein. Jeden Abend erzählte Soundso den Winter, denn der Winter muss erzählt werden, damit der Sommer kommen kann. Es war immer dieselbe Geschichte, die davon handelte, wie Marek Marek sich aufgehängt hatte.
Wir hatten die Geschichte schon von anderen gehört, aber gestern und vorgestern hörten wir sie von Soundso. Er vergaß, dass er sie schon erzählt hatte, und fing wieder ganz von vorne an. Zuerst kam immer die Frage, warum wir nicht zu Marek Mareks Beerdigung gekommen waren. Wir hatten nicht kommen können, weil es im Januar war. Wir waren einfach nicht imstande gewesen, zur Beerdigung zu kommen. Es schneite, die Autos sprangen nicht an, die Akkus röchelten nur. Die Straße hinter Jedlina war zugeschneit, und die Busse standen in endlosen Staus.
Marek Marek wohnte in einem Haus mit Blechdach. Im letzten Herbst war seine Stute in unseren Garten gekommen und hatte das Fallobst unter den Apfelbäumen gefressen. Sie hatte die Äpfel unter dem angefaulten Laub hervorgescharrt. Uns sah sie gleichgültig an, R. meinte sogar, ihr Blick sei ironisch.
Am Nachmittag, als es schon anfing, dunkel zu werden, war Soundso nach Ruda zurückgekommen. Er sah, dass die Tür von Marek Mareks Haus genauso angelehnt war wie am Morgen, deshalb stellte er sein Fahrrad an der Wand ab und schaute durch das Fenster hinein. Er sah ihn sofort. Halb hing, halb lag er an der Tür, verdreht und zweifellos tot. Soundso schirmte die Augen mit der Hand ab, um besser sehen zu können. Marek Mareks Gesicht war dunkel und bläulich, und seine Zunge ragte heraus. Seine Augen starrten irgendwo in die Höhe. »Das ist doch ein Trottel«, sagte Soundso zu sich selbst, »der kann sich nicht mal richtig aufhängen.«
Er nahm sein Fahrrad und ging davon.
In der Nacht fühlte er sich etwas unbehaglich. Er überlegte, ob Marek Mareks Seele in den Himmel oder in die Hölle gekommen war oder wo auch immer man hinkommt, wenn überhaupt irgendwohin.
Plötzlich wachte er auf, es dämmerte schon, und er sah ihn neben dem Ofen stehen. Marek Marek stand da und sah ihn an. Soundso wurde wütend. »Ich bitte dich, geh hinaus. Das ist mein Haus. Du hast dein eigenes Haus.« Die Erscheinung regte sich nicht, sie schaute ihn direkt an, aber ihr Blick war ganz sonderbar, als sehe er durch ihn hindurch.
»Marek, ich bitte dich, geh weg«, sagte Soundso wieder, aber Marek – oder was auch immer er inzwischen war – reagierte nicht. Da überwand Soundso die Angst vor jeglicher Bewegung, die ihn plötzlich überkommen hatte, stand auf und nahm seinen Gummistiefel in die Hand. So bewaffnet ging er auf den Ofen zu. Vor seinen Augen verschwand die Erscheinung. Er blinzelte und kehrte in sein gemütliches, warmgelegenes Bett zurück.
Als er am Morgen Holz holte, blickte er wieder durchs Fenster bei Marek hinein. Nichts hatte sich verändert, der Körper lag immer noch in derselben Stellung, aber heute kam ihm das Gesicht dunkler vor. Den ganzen Tag brachte Soundso auf dem Weidenschlitten, den er im letzten Jahr selbst angefertigt hatte, Holz aus den Bergen herunter. Er brachte kleine Birken nach Hause, die er selbst fällen konnte, und dicke Stämme umgestürzter Fichten und Buchen. Er legte das Holz in seinem Schuppen zurecht, um es später in kleinere Stücke hacken zu können. Dann heizte er im Ofen ein, bis die Herdplatte rot glühte. Er kochte für sich und die Hunde eine Kartoffelsuppe, danach schaltete er den Schwarzweißfernseher ein und schaute sich beim Essen die flackernden Bilder an. Er hörte keinen Ton. Als er ins Bett ging, schlug er zum ersten Mal seit zig Jahren, vielleicht zum ersten Mal seit der Konfirmation oder der Hochzeit, das Kreuzzeichen. Diese so lange vergessene Geste brachte ihn auf einen Gedanken: Er konnte zum Pfarrer gehen und ihm die Sache vortragen. Am nächsten Tag strich er schüchtern um das Pfarrhaus. Er traf den Priester, als dieser mit raschem Schritt der Kirche zustrebte, bemüht, den tauenden Schneeflecken auszuweichen. Soundso war nicht dumm, deshalb sagte er nie etwas geradeheraus. »Was würden Sie tun, Herr Pfarrer, wenn ein Geist zu Ihnen käme?« Der Pfarrer sah ihn verwundert an, dann wanderte sein Blick zum Dach der Kirche, wo eine nicht enden wollende Reparatur im Gange war. »Ich würde ihn wegschicken.«
»Aber wenn es ein hartnäckiger Geist wäre, der nicht weggehen will, was würden Sie dann tun?«
»Man muss in allem konsequent sein«, antwortete der Pfarrer weise und machte geschickt einen Bogen um Soundso.
In der nächsten Nacht war alles wie in der vorhergehenden. Soundso erwachte plötzlich, als hätte ihn jemand gerufen, er setzte sich im Bett auf und sah Marek Marek am Ofen stehen. »Verschwinde!«, schrie er. Die Erscheinung regte sich nicht, und Soundso hatte sogar den Eindruck, als sehe er ein ironisches Lächeln auf seinem aufgeschwollenen, dunklen Gesicht.
»Soll dich der Schlag treffen, warum lässt du mich nicht schlafen?«, sagte Soundso. Er nahm einen Gummistiefel und stürzte damit bewaffnet zum Ofen. »Bitte verschwinde von hier!«, brüllte er, und der Geist verschwand.
In der dritten Nacht kam die Erscheinung nicht mehr, und am vierten Tag fand Marek Mareks Schwester die Leiche und erhob ein großes Geschrei. Sofort kam die Polizei, wickelte Marek Marek in schwarze Folie und nahm ihn mit. Sie fragten Soundso aus, wo er gewesen sei und was er gemacht habe. Er sagte, er habe nichts Besonderes bemerkt. Er sagte auch, wenn jemand so trinke wie Marek Marek, würde er früher oder später so enden. Sie stimmten ihm zu und gingen.
Soundso nahm sein Fahrrad und strampelte bis nach Ruda. Im Restaurant Lido stellte er einen Krug Bier vor sich auf den Tisch und schlürfte ihn ganz langsam, Schluck für Schluck. Was er vor allem empfand, war Erleichterung.
Der Lokalsender Radio Nowa Ruda brachte täglich zwölf Stunden Programm. Hauptsächlich Musik. Zur vollen Stunde gab es Nachrichten aus dem ganzen Land und jeweils um halb Lokalnachrichten. Außerdem wurde jeden Tag ein Wettbewerb veranstaltet. Es gewann fast immer derselbe Mensch namens Wadera. Er musste über ein sagenhaftes Wissen verfügen, er wusste Dinge, auf die man unmöglich kommen konnte. Ich schwor mir, irgendwann einmal herauszubekommen, wer dieser Herr Wadera war, wo er wohnte und woher er das alles wusste. Ich würde über die Berge nach Nowa Ruda gehen, um ihn irgendetwas Wichtiges zu fragen, ich wusste selbst nicht was. Ich stellte mir vor, wie er unwillig täglich den Hörer hochhob und sagte: »Ja, ich weiß die Antwort, es handelt sich um den Canis lupus, den größten Vertreter der Gattung Hund.« Oder: »Die Glasur, mit der Keramikziegel vor dem Brennen überzogen werden, heißt Angoba.« Oder: »Die Lehrer des Pythagoras waren, wie allgemein angenommen wird, Pherekydes, Hermodamas und Archemanas.« Und so weiter, jeden Tag. Der Preis war immer ein Buch aus dem lokalen Buchgroßhandel. Herr Wadera musste eine umfangreiche Bibliothek haben.
Einmal hörte ich, wie der Sprecher, bevor er die Preisfrage stellte, mit zitternder Stimme sagte. »Herr Wadera, bitte rufen Sie heute nicht an.«
Zwischen zwölf und eins las eine angenehme Frauenstimme einen Roman in Fortsetzungen vor. Diese Sendung bekam man zwangsläufig mit, alle mussten jeden Roman anhören, denn das war die Zeit, um die man das Mittagessen vorbereitete und Kartoffeln schälte oder den Teig für Piroggen knetete. Auf diese Weise hörte ich den ganzen April über Anna Karenina.
»›… Er liebt eine andere, daran besteht kein Zweifel‹, dachte sie entschlossen, als sie in ihr Zimmer ging. ›Ich sehne mich nach Liebe, aber diese Liebe gibt es nicht. Und deshalb ist alles zu Ende. Man muss all dem ein Ende setzen.‹
›Aber wie?‹, fragte sie sich und ließ sich auf den Sessel vor dem Spiegel sinken.«
Manchmal kam Marta um diese Zeit und machte sich sogleich daran zu helfen. Zum Beispiel schnitt sie Möhren in kleine Würfel.
Marta hörte ruhig und ernst zu, aber sie sagte nie ein Wort, weder über Anna Karenina noch über irgendeinen anderen Roman, der vorgelesen wurde. Ich hatte sogar den Verdacht, dass sie diese Erzählungen, die aus Dialogen bestanden, aber in einer Stimme vorgelesen wurden, gar nicht verstand und nur einzelnen Worten und der Sprachmelodie an sich lauschte.
Leute im Alter Martas erkranken an Sklerose und Alzheimer. Einmal jätete ich im Garten Unkraut und von der anderen Seite des Hauses rief R. nach mir. Bevor ich antworten konnte, fragte er Marta: »Ist sie dort drüben?« Marta stand so, dass sie uns beide sehen konnte. Sie warf einen Blick auf mich und rief ihm zu:
»Nein, hier ist sie nicht.«
Dann wandte sie sich ruhig um und ging nach Hause.
Und ich nicht?«, fragte ich Marta einmal.
»Weil er innen leer ist«, sagte Marta. Ich verstand das damals so, als meinte sie damit Gedankenlosigkeit und Einfalt. Ein Mensch, der innen voll ist, erschien mir wertvoller als ein leerer Mensch.
Später wischte ich den Fußboden in der Küche und begriff plötzlich, was Marta mir hatte sagen wollen. Denn Soundso ist einer von den Menschen, die sich Gott so vorstellen, als stünde er dort und sie hier. Soundso sieht alles außerhalb von sich selbst, sogar sich selbst sieht er außerhalb von sich selbst, er betrachtet sich selbst wie eine Fotografie. Er nimmt sich nur im Spiegel wahr. Wenn er beschäftigt ist, zum Beispiel, wenn er seine filigranen Schlitten baut, hört er überhaupt auf, für sich selbst zu existieren, denn er denkt nur an den Schlitten und nicht an sich selbst. Er findet sich selbst als Gegenstand seiner Gedanken nicht interessant. Erst wenn er sich anschickt, seine tägliche Pilgerfahrt nach Nowa Ruda anzutreten, um eine Schachtel Zigaretten und Tabletten mit einem Kreuzchen darauf zu besorgen, wenn er sich selbst zum Aufbruch bereit im Spiegel sieht, dann denkt er an sich, aber als »der da«. Niemals als »ich«. Er sieht sich nur mit den Augen anderer, deshalb ist ihm sein Aussehen so wichtig, die neue braune Joppe, das cremefarbene Hemd, dessen heller Kragen einen Kontrast zu dem gegerbten Gesicht bildet. Deshalb ist Soundso auch für sich selbst jemand, der außerhalb von ihm existiert. In seinem Innern gibt es nichts, was aus dem Inneren blickt, deshalb gibt es auch kein Spiegelbild. Dann sieht man Geister.
Er war irgendwie ein schönes Kind – das sagten alle. Marek Marek hatte fast weiße Haare und ein engelsgleiches Gesicht. Die älteren Schwestern hatten ihn sehr lieb. Sie fuhren ihn in einem von den Deutschen zurückgelassenen Kinderwagen über die steilen Wege in den Bergen und spielten mit ihm wie mit einer Puppe. Die Mutter wollte nicht aufhören, ihn zu stillen; wenn er an ihrer Brust saugte, hatte sie die vage, traumartige Vorstellung, dass sie sich für ihn ganz und gar in Milch verwandeln und aus der eigenen Brustwarze fließen könnte, das wäre eine bessere Zukunftsaussicht, als sie sie als Frau Marek jemals haben könnte. Aber Marek Marek wuchs heran und hörte auf, nach ihrer Brust zu suchen. Dafür fand der alte Marek sie und machte ihr noch ein paar Kinder.
Der kleine Marek Marek war zwar niedlich, doch aß er schlecht und weinte nachts. Vielleicht war das der Grund, warum der eigene Vater ihn nicht mochte. Wenn er betrunken nach Hause kam, fing er mit dem Prügeln immer bei Marek Marek an. Wenn die Mutter ihn beschützen wollte, drosch er auf sie ein, wohin die Fäuste gerade trafen, bis schließlich alle nach oben flüchteten und dem Vater die ganze Wohnung überließen, die er mit seinem Schnarchen dann auch ausfüllte. Den älteren Schwestern tat der Bruder leid, deshalb brachten sie ihm rasch bei, sich auf ein verabredetes Signal hin zu verstecken, und von seinem fünften Lebensjahr an saß Marek Marek die meisten Abende im Keller. Da weinte er tonlos und tränenlos.
Dort verstand er auch, dass das, was ihm Schmerzen bereitete, nicht von außen, sondern von innen kam und nichts mit dem betrunkenen Vater oder der Brust der Mutter zu tun hatte. Der Schmerz entstand aus sich heraus, und zwar aus den gleichen Gründen, aus denen morgens die Sonne aufging und nachts die Sterne am Himmel erschienen. Es schmerzte. Er wusste noch nicht, was es war, aber manchmal kam es ihm vor, als erinnere er sich undeutlich an ein warmes, heißes Licht, das die ganze Welt zum Schmelzen bringt. Woher das kam, wusste er selbst nicht. Von der Kindheit blieb ihm Dunkles in Erinnerung, eine ewige Dämmerung. Ein dunkler Himmel, eine in trüber Finsternis versunkene Welt, Traurigkeit und Kälte von Abenden ohne Anfang und Ende. Der Tag, an dem im Dorf die Elektrizität eingeführt wurde, war ihm auch in Erinnerung geblieben. Die Strommasten, die vom nächsten Dorf her über den Berg marschiert kamen, erschienen ihm wie die Pfeiler einer gewaltigen Kirche.
Marek Marek war die erste und einzige Person aus dem kleinen Dorf, die bei der Gemeindebibliothek in Nowa Ruda Mitglied wurde. Nun nahm er immer ein Buch mit, wenn er sich vor dem Vater versteckte, und so hatte er viel Zeit zum Lesen.
Die Bücherei in Nowa Ruda befand sich in dem Gebäude einer ehemaligen Brauerei, und es roch dort immer noch nach Hopfen und Bier, die Wände, Fußböden und Decken waren durchtränkt von dem säuerlichen Geruch. Sogar die Buchseiten stanken, als sei Bier darübergegossen worden. Marek Marek wurde der Geruch lieb und teuer. Mit fünfzehn Jahren betrank er sich zum ersten Mal. Es ging ihm gut, zum ersten Mal vergaß er das Dunkel völlig, ja er sah gar keinen Unterschied mehr zwischen Hell und Dunkel. Sein Körper wurde ganz langsam und gehorchte ihm nicht mehr, das gefiel ihm auch. Als könnte er seinen Körper verlassen und neben ihm leben, ohne zu denken, ohne zu empfinden.
Die älteren Schwestern heirateten eine nach der anderen und verschwanden aus dem Haus. Ein jüngerer Bruder jagte sich mit einem Blindgänger in die Luft. Der zweite war auf der Sonderschule in Klodzko, deshalb stand nur Marek Marek dem alten Marek zum Verprügeln zur Verfügung. Prügel dafür, dass er die Hühner nicht eingesperrt oder das Gras zu hoch gemäht hatte, dass ihm die Achse der Dreschmaschine zerbrochen war. Aber als Marek Marek etwa zwanzig Jahre alt war, schlug er den Vater zum ersten Mal zurück, und von diesem Zeitpunkt an prügelten sie sich regelmäßig. Wenn Marek damals ein wenig Zeit und kein Geld zum Trinken hatte, las er Edward Stachura. Die Fräulein von der Bücherei hatten die Gesamtausgabe in dem hellblauen Einband, der wie Jeans aussehen sollte, eigentlich nur für ihn gekauft.
Er war immer noch hübsch. Er hatte schulterlange blonde Haare und ein glattes, kindliches Gesicht. Und seine Augen waren sehr hell, fast wie gebleicht, als hätten sie Farbe verloren, während sie auf dunklen Dachböden nach Licht ausschauten, als hätten sie sich beim Lesen der Bände in den hellblauen Einbänden zu sehr angestrengt. Aber die Frauen hatten Angst vor ihm. Mit einer war er bei der Diskothek vor den Schuppen gegangen, hatte sie plötzlich in den Holunder gezerrt und ihr die Bluse vom Leib gerissen. Zum Glück schrie sie, da kamen andere herbeigelaufen und polierten ihm die Fresse. Dabei gefiel er ihr, nur wusste er wohl nicht, wie man mit einer Frau spricht. Und einmal betrank er sich und richtete einen Bekannten seiner Bekannten übel mit dem Messer zu, als hätte er ein absolutes Recht auf sie, als hätte er das Recht, sein Recht mit dem Messer zu verteidigen. Zu Hause weinte er dann.
Er trank, und ihm gefiel dieser Zustand, wenn ihn die Beine von selbst über die Berge trugen und sein ganzes Inneres und damit auch der Schmerz in seinem Inneren ausgeschaltet waren, als hätte man an einem Schalter gedreht, und plötzlich wäre es dunkel geworden. Es gefiel ihm, in der Kneipe namens Lido inmitten von Lärm und Rauch zu sitzen und sich dann plötzlich, ohne im Geringsten zu wissen, warum, in einem blühenden Flachsfeld wiederzufinden und dort bis zum Morgen liegen zu bleiben. Als stürbe er. Oder im Jubilatka zu trinken und plötzlich festzustellen, dass er auf dem Weg nach Hause war, auf der Serpentinenstraße, die in sein Dorf führte, mit blutigem Gesicht und eingeschlagenen Zähnen. Nur halb dazusein, nicht bei Bewusstsein. Auf sanfte Weise nicht zu sein. Am Morgen aufzustehen und Kopfschmerzen zu haben, dann wusste man wenigstens, was wehtat. Durst zu haben und ihn stillen zu können.
Schließlich vergriff sich Marek Marek an seinem eigenen Vater. Er schmetterte ihn so lange gegen eine Steinbank, bis dem Alten die Rippen brachen und er das Bewusstsein verlor. Die Polizei kam, steckte Marek Marek in die Ausnüchterungszelle und behielt ihn dann in Haft, und da gab es nichts zu trinken.
Da erinnerte sich Marek Marek in seinem verkaterten Halbschlaf und zwischen den Kopfschmerzwellen daran, dass er irgendwann einmal, vor langer Zeit, gesunken war. Dass er einmal hoch oben gewesen war, jetzt aber tief unten war. Ein Abrutschen mit Schrecken, ja sogar mehr als Schrecken. Etwas, für das es kein Wort gab. Marek Mareks dummer Körper hatte dieses Angstgefühl gedankenlos übernommen und bebte jetzt, sein Herz hämmerte, als wollte es zerspringen. Aber Marek Mareks Körper wusste nicht, was er da auf sich nahm, eine solche Angst konnte nur eine unsterbliche Seele ertragen. Der Körper erstickte darin, er krampfte sich zusammen und warf sich an die Wände der kleinen Zelle, trieb Schaum hervor. »Hol dich der Teufel, Marek«, brüllten die Wärter. Sie drückten ihn auf den Boden, fesselten ihn und gaben ihm eine Spritze.
Er kam in die Entwöhnung. Zusammen mit anderen verblichenen Schlafanzügen schlich er durch die breiten Korridore und über die gewundenen Treppen der Klinik. Gehorsam stellte er sich um Medikamente an. Er schluckte Antabus wie die Hostie. Er schaute aus dem Fenster, und da dachte er zum ersten Mal, dass es sein Ziel war, so bald wie möglich zu sterben, sich aus diesem verdreckten Land zu befreien, von dieser rötlich grauen Erde, dieser überheizten Klinik, dem verwaschenen Schlafanzug, diesem vergifteten Körper. Und von da an kreiste sein Denken nur noch um alle möglichen Todesarten.
Eines Nachts schnitt er sich unter der Dusche die Pulsadern auf. Die weiße Haut des Unterarms tat sich auf, und das Innere von Marek Marek kam zum Vorschein. Es war rot und fleischig, wie frisches Rindfleisch. Bevor er das Bewusstsein verlor, empfand er etwas wie Erstaunen, denn aus irgendeinem Grund dachte er, er sehe dort ein Licht.
Natürlich wurde er in eine Isolierzelle gesteckt, man machte viel Wind um die Sache, und sein Klinikaufenthalt verlängerte sich. Er verbrachte den ganzen Winter dort, und als er nach Hause kam, stellte er fest, dass seine Eltern zu der Tochter in die Stadt gezogen waren, und er jetzt alleine im Haus war. Sie hatten ihm das Pferd zurückgelassen, und mit diesem Pferd holte er Holz aus dem Wald, hackte es und verkaufte es weiter. Er hatte Geld, deshalb konnte er auch wieder trinken.
Er hatte einen Vogel in sich sitzen, das fühlte er. Aber es war ein seltsames, unkörperliches, unbenennbares Vögelchen, das im Übrigen auch nicht vogelhafter war als er selbst. Es zog ihn zu Dingen hin, die er nicht verstand und vor denen er sich fürchtete: zu Fragen, auf die es keine Antwort gab, zu Menschen, in deren Gegenwart er sich immer fühlte, als stimme etwas nicht mit ihm, dazu, auf die Knie zu fallen und zu beten, nicht einmal um etwas zu beten, sondern einfach zu reden, reden, reden in der Hoffnung, dass ihm jemand zuhörte. Er hasste dieses Wesen in ihm, denn es bereitete ihm so viel Schmerz. Ohne es hätte er in aller Ruhe trinken, vor dem Haus sitzen und den Berg betrachten können, der sich gegenüber seinem Haus erhob. Danach würde er wieder nüchtern und den Kater mit Schnaps kurieren und sich wieder betrinken – ohne einen Gedanken, ohne Schuld, ohne Besinnung. Dieses Vögelchen musste Flügel haben. Manchmal schlug es blindlings damit in seinem Innern, angekettet flatterte es, doch Marek Marek wusste, dass seine Füße gebunden, ja vielleicht sogar an etwas Schweres geschmiedet waren, denn es konnte niemals wegfliegen. Mein Gott, dachte er, obwohl er überhaupt nicht an Gott glaubte, warum quäle ich mich mit diesem Etwas in meinem Innern? Kein Alkohol konnte diesem Tierchen etwas anhaben, es blieb immer schmerzlich bewusst, es erinnerte sich an alles, was Marek Marek tat, was er vergeudete, was er verschleuderte, was er verpasste, was er missachtete, was er versäumte. »Scheiße«, grölte er im betrunkenen Zustand Soundso zu, »warum quält mich das Ding so, warum sitzt es in mir drin?« Aber Soundso war taub und verstand ihn nicht. »Du hast mir die neuen Strümpfe gestohlen«, sagte er. »Die hingen zum Trocknen auf der Leine.«
Dieses Vögelchen in Marek Marek hatte Flügel, gefesselte Beine und verschreckte Augen. Marek Marek nahm an, dass es in ihm eingesperrt war, irgendjemand hatte es in ihm eingesperrt, obwohl er überhaupt nicht begriff, wie das möglich war. Manchmal, wenn er nachdachte, begegnete er diesem schrecklichen Blick in ihm und hörte die verzweifelte tierische Klage. Dann sprang er auf und rannte blindlings drauflos, den Berg hinauf, durch Birkenhaine, über Waldwege. Und im Laufen sah er sich die Äste an: Welcher würde das Gewicht seines Körpers aushalten? Das Vögelchen in ihm schrie: Lass mich raus, befreie mich aus dir, ich gehöre nicht zu dir, ich bin von einem anderen Ort.
Zuerst dachte Marek Marek, es sei eine Taube, wie sein Vater sie gezüchtet hatte. Er hasste Tauben, ihre runden, leeren Augen, ihr unablässiges Getrippel, ihren unentschlossenen Flug mit unsteter Richtung. Wenn sie überhaupt nichts mehr zu essen hatten, ließ der Vater ihn ins Taubenhaus kriechen und die tumben, ungerührten Vögel herausholen. Er hielt sie mit beiden Händen und reichte einen nach dem anderen dem Vater, der ihnen mit einem geschickten Handgriff den Hals umdrehte. Er hasste ihr Sterben. Sie starben wie Dinge, wie Gegenstände. Den Vater hasste er genauso. Aber einmal sah er am Teich der Frosts einen anderen Vogel, er flog vor seinen Füßen auf und erhob sich schwerfällig über die Büsche, die Bäume und das ganze Tal. Er war groß und schwarz. Nur sein Schnabel war rot, und er hatte lange Beine. Der Vogel schrie durchdringend, und sein Flügelschlag versetzte die Luft eine Zeit lang in Bewegung.
Dieses Vögelchen in ihm war ein schwarzer Storch, aber seine roten Beine waren gefesselt und seine Flügel zerzaust. Er schrie und flatterte aufgeregt. Marek Marek wachte in der Nacht auf, hörte diesen Schrei in sich drin, einen schrecklichen, höllischen Schrei. Er setzte sich im Bett auf und hatte Angst. Dann wusste er, dass er bis zum Morgen nicht mehr einschlafen würde. Das Kopfkissen stank nach Feuchtigkeit und Erbrochenem. Er stand auf und suchte etwas zu trinken. Manchmal war am Boden der Flasche vom Vortag noch etwas übrig, manchmal nicht. Es war zu früh, um ins Geschäft zu gehen. Es war zu früh, um zu leben, deshalb ging er nur im Zimmer auf und ab und starb vor sich hin.
Wenn er nüchtern war, spürte er den Vogel in seinem ganzen Körper. Bis unter die Haut. Manchmal kam es ihm sogar vor, dass er selbst dieser Vogel war, und dann litten sie zusammen. Jeder Gedanke, der die Vergangenheit oder die zweifelhafte Zukunft streifte, schmerzte. Vor Schmerz war Marek Marek nicht in der Lage, auch nur einen Gedanken zu Ende zu denken, jeden Gedanken musste er verwischen und zerstreuen, damit er leer und bedeutungslos wurde. Wenn er daran dachte, wer er gewesen war, schmerzte es. Wenn er daran dachte, wer er jetzt war, schmerzte es noch mehr. Wenn er daran dachte, wer er sein würde, was mit ihm geschehen würde, dann war der Schmerz nicht mehr auszuhalten. Dachte er ans Haus, sah er sogleich morsche Balken vor sich, die jeden Tag einstürzen konnten. Dachte er ans Feld, fiel ihm ein, dass er nichts darauf gesät hatte. Dachte er an seinen Vater, wusste er, dass er ihn zusammengeschlagen hatte. Dachte er an seine Schwester, erinnerte er sich daran, dass er ihr Geld gestohlen hatte. Dachte er an seine geliebte Stute, kam ihm die Erinnerung daran, wie er sie nach der Ausnüchterung tot neben ihrem neugeborenen Fohlen gefunden hatte.
Aber wenn er trank, ging es besser. Nicht, dass das Vöglein mit ihm getrunken hätte. Nein, das Vöglein betrank sich nie, und es schlief nie. Marek Mareks betrunkener Körper und seine betrunkenen Gedanken schenkten dem Flügelschlagen des Vogels keine Beachtung. Deshalb musste er trinken.
Einmal versuchte er, selbst Wein zu machen. Verbissen pflückte er die Johannisbeeren, von denen sein Garten voll war, und stopfte sie mit zitternden Händen in eine bauchige Flasche. Er knapste sich ein wenig Geld ab und kaufte Zucker, dann stellte er den Glasbehälter auf den warmen Dachboden. Er freute sich, dass er eigenen Wein haben würde, dass er in Zukunft, wenn er sich ausgetrocknet fühlte, einfach auf den Dachboden zu steigen brauchte und mit einem Strohhalm direkt aus der Flasche trinken konnte. Aber ohne dass er wusste, wie es geschehen war, hatte er alles bis auf den letzten Rest getrunken, bevor es noch richtig vergoren war. Dann aß er sogar den Satz. Fernseher und Radio hatte er längst verkauft, das Tonbandgerät auch. Deshalb konnte er sich nichts anhören, immerzu hatte er das Flügelschlagen im Ohr. Er verkaufte den Schrank mit dem Spiegel, den Teppich, die Egge, Fahrrad, Anzug und Kühlschrank, die Heiligenbilder von Christus mit der Dornenkrone und der Muttergottes mit dem Herz außen auf der Brust, Gießkanne, Schubkarre, Garbenbinder und Heuwender, den Wagen mit Gummirädern, Teller und Töpfe und sein Heu, und er fand sogar noch einen Käufer für seinen Mist. Dann ging Marek Marek durch die Ruinen der ehemaligen Deutschenhäuser und suchte im hohen Gras nach Steintrögen. Die verkaufte er einem Mann, der sie nach Deutschland ausführte. Zum Teufel, er hätte sein ganzes vergammeltes Haus verkauft, aber das konnte er nicht. Es gehörte nämlich noch seinem Vater.
Am schönsten waren die Tage, an denen es ihm wie durch ein Wunder gelang, bis zum Morgen ein wenig Alkohol aufzubewahren, sodass er sich gleich einen antrinken konnte, ohne auch nur aufstehen zu müssen. Ihm wurde ganz wohl zumute, aber er versuchte, nicht einzuschlafen, um diesen herrlichen Zustand auszukosten. Er stand schwankend auf und setzte sich auf die Bank vor dem Haus. Früher oder später kam immer Soundso an ihm vorbei, der nach Ruda ging und sein Fahrrad neben sich herschob. »Du blöder alter Herumtreiber«, sagte Marek Marek zu ihm und hob die unsichere Hand zum Gruße. Soundso schenkte ihm ein zahnloses Lächeln. Die Strümpfe hatten sich wiedergefunden. Der Wind hatte sie von der Leine gerissen und ins Gras geworfen.
Im November brachte Soundso einen schwarzen Welpen. »Da«, sagte er. »Damit du wegen Diana nicht so traurig bist. Sie war so eine schöne Stute.« Marek Marek nahm den Hund erst ins Haus, aber dann wurde er wütend, weil ihm der Hund auf den Boden pinkelte. Deshalb brachte er einen alten Waschzuber hinaus, stülpte ihn um und stützte den Rand auf der einen Seite mit zwei Steinen ab. Er schlug einen Pflock in die Erde und band den Welpen mit einer Kette daran fest. So hatte der Hund eine praktische Hütte. Zuerst jaulte und heulte er, aber schließlich gewöhnte er sich daran. Er wedelte mit dem Schwanz, sobald er Marek Marek sah, der ihm das Fressen brachte. Mit dem Hund ging es Marek Marek besser, und der Vogel in ihm beruhigte sich ein wenig. Aber im Dezember schneite es, und eines Nachts war es so kalt, dass der Hund erfror. Am Morgen fand ihn Marek Marek zugeschneit. Er sah aus wie ein Haufen Lumpen, die jemand fortgeworfen hatte. Marek Marek stieß ihn mit der Fußspitze an, er war ganz steif.
Zu Heiligabend lud die Schwester Marek Marek ein, aber er geriet gleich mit ihr in Streit, weil sie zum Abendessen keinen Wodka ausschenken wollte. »Mensch, verdammt noch mal, was ist das denn für ein Heiligabend, ohne Wodka!«, sagte er zu seinem Schwager. Er zog sich an und ging. Die Leute waren schon zur Mitternachtsmesse unterwegs, um sich in der Kirche gute Plätze zu sichern. Er lungerte an der Kirche herum und hielt Ausschau nach bekannten Gesichtern. Er machte sich an Soundso heran, denn sogar der war durch den Schnee bis ins Dorf gestapft. »Was für eine Kälte«, sagte Soundso, lächelte breit und schlug Marek Marek auf die Schulter. »Hau ab, du alter Trottel«, sagte Marek Marek zu ihm. »Ja, ja«, nickte Soundso und ging in die Kirche. Die Leute kamen an Marek Marek vorbei und erwiderten kühl seinen Gruß. Im Vorraum der Kirche klopften sie ihre Schuhe ab und gingen hinein. Er zündete sich eine Zigarette an. Das Schlagen zerfledderter Flügel klang ihm im Ohr. Schließlich läutete die Glocke, die Menschen verstummten und die verzerrte Stimme des Priesters ertönte durch die Lautsprecher. Marek Marek ging in den Vorraum und berührte mit den Fingerspitzen die Oberfläche des Weihwassers, aber er schlug kein Kreuzzeichen. Nach einiger Zeit wurde ihm schlecht vom Geruch der dampfenden Pelze und Feiertagskleider, die aus Gott weiß was für Winkeln gezogen worden waren. Er hatte eine Idee. Er schlich sich zurück in den Vorraum und dann nach draußen. Der Schnee fiel so heftig, als wollte er alle Spuren verwischen. Marek Marek ging geradewegs zum Laden. Unterwegs schaute er beim Schuppen seiner Schwester vorbei und holte den Spaten heraus. Mit dem Spaten brach er die Tür auf und stopfte sich die Taschen mit Wodkaflaschen voll. Er steckte sie sich ins Hemd und in die Hose. Er fand es zum Lachen. »Einen Scheiß werden die finden«, sagte er zu sich und verbrachte die Nacht damit, die Wodkaflaschen in den Wasserbehälter neben dem Ofen zu leeren. Die Flaschen warf er in den Brunnen.
Das waren die schönsten Weihnachten in seinem Leben. Sobald er nur ein wenig nüchtern wurde, kniete er sich vor den Wasserbehälter und drehte den Hahn auf. Er öffnete den Mund, und der Wodka floss ihm direkt aus dem Himmel hinein.
Gleich nach Weihnachten setzte Tauwetter ein. Der Schnee verwandelte sich in einen unangenehmen Regen, und die Welt ringsum erinnerte an einen mit Wasser durchtränkten grauen Pilz. Außerdem ging der Wodka zur Neige. Marek Marek stand nicht aus dem Bett auf, weil es kalt war und ihm alles wehtat. Die ganze Zeit dachte er darüber nach, wo er ein wenig Alkohol auftreiben könnte. Ihm kam der Gedanke, dass Marta Wein haben musste. Ihr Haus stand im Winter leer, denn sie verschwand immer irgendwohin. Er sah ihre Küche vor sich und Flaschen mit hausgemachtem Wein unter dem Tisch, obwohl er genau wusste, dass Marta nie Wein machte. Aber vielleicht hatte sie doch Wein gemacht, vielleicht hatte sie just in diesem Jahr aus Johannisbeeren oder Pflaumen Wein aufgesetzt, den sie unter dem Tisch aufbewahrte. Ach, der Schlag soll sie treffen, dachte er und rappelte sich aus dem Bett auf. Er ging schwankend und unsicher, denn seit mehreren Tagen hatte er nichts mehr gegessen, und sein Kopf tat ihm so weh, als wollte er zerspringen.
Die Tür war verschlossen. Er trat sie mit dem Fuß auf. Die Angeln quietschten nass und feindselig. Marek Marek wurde es mulmig zumute. Die Küche sah aus, als wäre Marta erst gestern weggefahren. Auf dem Tisch lag ein kariertes Wachstuch, das bis auf den Boden reichte. Darauf lag ein langes Brotmesser. Marek Marek schaute schnell unter den Tisch und sah zu seinem Erstaunen, dass dort nichts war. Er schnüffelte nun in den Schränken herum, sah im Ofen nach, im Holzkorb, in der Kommode, wo sauber gefaltet das Bettzeug in Stapeln lag. Alles strömte den Mief winterlicher Feuchtigkeit aus, es roch nach Schnee, feuchtem Holz, Metall. Er schaute jetzt überall nach, betastete Matratze und Federbett, fuhr sogar mit der Hand in die alten Gummistiefel. Er hatte eine Vision: Er sah Marta wie sie im Herbst, vor ihrer Abreise, die Flaschen mit ihrem selbstgemachten Wein wegräumte. Aber er sah nicht wohin. »Die dumme alte Sau«, sagte er und brach in Tränen aus. Er setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf auf die Hände, seine Tränen fielen auf das Wachstuch und tropften auf die Mäuseköttel. Er betrachtete das Messer.
Als er hinausging, sicherte er die Tür mit einem Holzkeil, denn er mochte Marta. Er wollte nicht, dass der Schnee bis in ihre Küche drang. Am selben Tag kam die Polizei zu ihm. »Wir wissen sowieso, dass du es warst«, sagten sie. Und sie setzten hinzu, dass sie wiederkommen würden.
Marek Marek legte sich wieder hin. Ihm war kalt, aber er wusste, dass seine Hände zu schwach waren, um die Axt zu halten. Der Vogel in ihm schlug mit den Flügeln, und von diesem Flügelschlagen bebte Marek Marek am ganzen Körper.
Die Dämmerung sank plötzlich herab, als hätte draußen jemand das Licht abgedreht. Der Regen, der noch in der Luft gefror, schlug immer wieder in Wellen an die Fensterscheiben. Wenn ich doch wenigstens einen Fernseher hätte, dachte Marek Marek, als er da auf dem Rücken lag. Er konnte nicht schlafen, in der Nacht stand er mehrere Male auf und trank Wasser aus dem Eimer, es war kalt und faulig. Sein Körper verwandelte das Wasser in Tränen, die am Abend von selbst zu fließen begannen und bis zum Morgen nicht versiegten. Sie flossen ihm in die Ohren und kitzelten ihn am Hals. Gegen Morgen schlief er ein, und als er nach einer Weile aufwachte, war sein erster Gedanke, dass in dem Wasserbehälter kein Wodka mehr war.
Er stand auf und pinkelte in einen Kochtopf. Er begann, in den Schubladen nach Kordel zu suchen, doch als er nichts fand, riss er den Vorhang aus altem, verschossenem Kattun vom Fenster und zog die Schnur heraus. Draußen vor dem Fenster sah er Soundso, der sein Fahrrad in Richtung Ruda schob. Marek Marek wurde es plötzlich ganz wohl zumute; der Regen draußen war endlich versiegt, und das graue Winterlicht drang durch alle Fenster ins Haus herein. Das Vöglein war auch still geworden, vielleicht war es schon verendet. Marek Marek knüpfte aus der Schnur eine Schlinge und befestigte sie an dem Haken im Türrahmen, an dem seine Mutter früher die Bratpfannen aufgehängt hatte. Er hatte Lust zu rauchen und machte sich auf die Suche nach einer Zigarette. Er hörte das Rascheln eines jeden Papierchens, das Knarren der Bodendielen, das leise Aufschlagen auf dem Holz, als er irgendwelche Tabletten verschüttete. Er fand nichts. Deshalb kehrte er zu der Tür mit dem Haken zurück, legte sich die Schlinge um den Hals und ließ sich auf den Boden gleiten. Er fühlte einen gewaltigen, ungerechten Schmerz im Nacken. Eine Zeit lang blieb die Schnur angespannt, dann löste sie sich und rutschte von dem Haken. Marek Marek fiel auf den Boden. Er begriff nicht, was passiert war. Der Schmerz strahlte in seinen ganzen Körper aus, das Vöglein begann wieder zu schreien. »Ich habe gelebt wie ein Schwein, und ich sterbe wie ein Schwein«, sagte Marek Marek laut, und in dem leeren Haus hallte es wider wie eine Aufforderung zur Zwiesprache. Die Hände zitterten ihm, als er die Schnur wieder an dem Haken befestigte. Er verknotete sie, wickelte und drehte sie um den Haken. Die Schlinge war jetzt viel höher als vorher, nicht so hoch, dass er einen Stuhl brauchte und nicht so tief, dass er sich hinsetzen musste. Er streifte sich die Schlinge über den Kopf, schaukelte eine Zeit lang auf den Fußballen hin und her und ließ sich dann plötzlich zu Boden fallen. Diesmal war der Schmerz so stark, dass ihm schwarz vor Augen wurde. Sein Mund schnappte nach Luft, und seine Füße suchten verzweifelt nach einem Halt, obwohl er es gar nicht wollte. In seinem verwunderten Schrecken über das, was da mit ihm vorging, schlug er um sich, bis ihn plötzlich eine so große Angst ergriff, dass er sich in die Hosen pinkelte. Er blickte auf seine Füße in den löchrigen Strümpfen wie sie hin und her schlugen und durch die Urinpfützen am Boden schleiften. Ich warte bis morgen, dachte er noch voller Hoffnung, aber er konnte keinen Halt mehr für seinen Körper finden. Er warf sich noch nach vorn, um sich mit den Händen irgendwo abzustützen, aber in diesem Moment hörte er im Kopf ein Krachen: einen Knall, einen Schuss, eine Explosion. Er wollte sich an der Wand festhalten, aber seine Hand hinterließ nur eine schmutzige feuchte Spur darauf. Er erstarrte, denn er hatte immer noch die Hoffnung, alles Schlimme werde an ihm vorübergehen und ihn unbeachtet lassen. Er heftete den Blick aufs Fenster, ein unklarer, flüchtiger Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Soundso würde ja gleich zurückkommen. Dann verschwand das helle Viereck des Fensters.
Im vergangenen Jahr gab ich eine Anzeige in der Nie-derschlesischen Börse auf, darin stand, dass ich Träume sammele. Aber ich wurde bald enttäuscht, denn die Leute wollten mir ihre Träume verkaufen. »Machen wir einen Preis aus«, schrieben sie. »Ich schlage zwanzig Zloty pro Traum vor. Das ist ein anständiger Preis.« Deshalb gab ich meinen Plan auf, ich wäre sonst an den fremden Träumen pleite gegangen. Ich hätte befürchtet, dass sie sich fürs Geld Träume ausdenken. Träume haben ihrer Natur nach nichts mit Geld zu tun.
Aber dafür fand ich eine Seite im Internet, wo die Leute von sich aus ihre Träume aufschrieben, und zwar umsonst. Jeden Morgen erscheinen dort neue Beschreibungen in allen möglichen Sprachen. Die Leute schreiben ihre Träume für andere auf, für fremde Menschen, die andere Sprachen sprechen, aus Gründen, die ich eigentlich nicht verstehen kann. Vielleicht ist der Wunsch, die eigenen Träume zu erzählen, so stark wie der Hunger. Vielleicht ist er bei denen sogar noch stärker, die gleich nach dem Aufwachen, noch vor dem Frühstück, den Computer anschalten und schreiben: »Ich habe geträumt, dass …« Dann fasste ich selbst Mut. Zuerst schrieb ich einen kleinen, völlig unbedeutenden Traum auf. Das war meine Eintrittskarte, mit der ich das Recht erwarb, die anderen, fremden Träume zu lesen. Und so wurde es mir zur Gewohnheit, jeden Morgen diese Computerwelten zu öffnen, die winterlichen, wenn es noch dunkel ist und der Kaffee in der Küche dampft, und die sommerlichen, wenn die Fenster schon voller Sonne sind, die Tür von der Diele auf die Veranda offen steht und die Hunde von ihrem Rundgang durch ihr Gelände zurückkommen.
Wenn man das regelmäßig macht, wenn man jeden Morgen aufmerksam Dutzende und sogar Hunderte fremder Träume liest, stellt man leicht fest, dass die Träume Ähnlichkeiten aufweisen. Ich frage mich schon lange, ob andere das auch bemerken. Es gibt Fluchtnächte und Kriegsnächte, Säuglingsnächte und Nächte zwielichtiger Liebschaften. Nächte des Herumirrens in Labyrinthen – in Hotels, auf Bahnhöfen, in Studentenwohnheimen und eigenen Wohnungen. Und Nächte, in denen Dinge geöffnet werden – Türen, Schachteln, Kästen und Schränke. Oder Reisenächte, in denen die Träumenden mit Bahnhöfen, Flughäfen, Zügen, Autobahnen und Motels zu tun haben, in denen sie Koffer verlieren, auf Fahrkarten warten, fürchten, einen Anschluss zu verpassen. Jeden Morgen könnte man diese Träume wie Perlen auf eine Schnur reihen, und es würde sich eine sinnvolle Ordnung ergeben, eine einmalige, unwiederholbare Halskette, die aber vollständig, schön und in sich geschlossen wäre. Man könnte es wagen, die Nächte nach den jeweils am häufigsten vorkommenden Motiven zu benennen, ihnen Titel zu geben: Nacht der Speisung der Schwachen und Gebrechlichen; Nacht der Dinge, die vom Himmel fallen; Nacht der seltsamen Tiere; Nacht der erhaltenen Briefe; Nacht des Verlustes kostbarer Dinge. Vielleicht ist das noch zu wenig, vielleicht sollte man die Tage nach den Träumen der Nächte benennen. Oder ganze Monate, sogar Jahre, Epochen, in denen die Menschen ähnlich träumen, in einem gleichen Rhythmus, der nicht mehr erkennbar ist, sobald die Sonne aufgeht.
Würde jemand das erforschen, was ich nur betrachte, würde man die Traumgestalten, die Bilder und Gefühle der Träume summieren, daraus Motive erstellen und das Ganze unter Einbeziehung all der Korrelationstests, die wie ein Zauberleim dem Anschein nach unvereinbare Dinge miteinander verbinden, statistisch berechnen, entdeckte man darin vielleicht einen Sinn, eine Ordnung, die dem Muster ähnlich ist, nach dem in dieser Welt die Börsen oder die großen Flughäfen funktionieren – eine Karte untergründiger Verbindungen oder starrer Pläne. Unberechenbarer Ahnungen und ausgetüftelter Algorithmen.
Ich bat Marta oft, mir ihre Träume zu erzählen. Sie zuckte dann mit den Schultern. Ich glaube, die Träume kümmerten sie nicht. Ich glaube, selbst wenn sie nachts Träume hatte, erlaubte sie sich nicht, sie in Erinnerung zu behalten. Sie wischte sie wie verschüttete Milch von ihrer Wachstuchdecke mit dem großen Erdbeermuster. Sie wrang das Wischtuch aus. Sie lüftete ihre niedrige Küche. Ihr Blick blieb an den Geranien hängen, sie zerrieb die Blätter zwischen den Fingern, und der herbe Geruch erstickte ein für alle Mal, was auch immer in der Nacht geschehen war. Ich hätte viel darum gegeben, auch nur einen Traum von Marta zu erfahren.
Dafür erzählte Marta fremde Träume. Ich habe sie nie gefragt, woher sie sie kennt. Vielleicht hat sie sie sich ausgedacht, genauso wie ihre Geschichten. Sie bediente sich dieser fremden Träume, genauso wie sie sich fremder Haare bediente, um ihre Perücken herzustellen. Wenn wir zusammen irgendwohin fuhren, zum Beispiel nach Klodzko oder nach Nowa Ruda, und sie dann vor der Bank im Auto auf mich wartete, sah sie sich durchs Autofenster die Menschen an. Später, wenn wir nach den Einkäufen wieder im Auto saßen, wühlte sie in den Einkaufstüten und fing immer irgendwie scheinbar unwillig an, etwas zu erzählen. Zum Beispiel fremde Träume.
Ich war mir nie sicher, ob es zwischen dem, was Marta sagte, und dem, was ich hörte, eine Grenze gab. Ich konnte es nämlich nie trennen – nicht von ihr und nicht von mir, nicht von dem, was wir beide wissen und was nicht, und nicht von dem, was am Morgen im Radio Nowa Ruda gesagt worden war, was in den Wochenendausgaben der Zeitungen mit dem wöchentlichen Fernsehprogramm stand, nicht von der Tageszeit und nicht einmal von dem Glanz der Sonne auf den Dörfern im Tal, an denen wir vorbeifuhren.
Im Wald fanden wir ein Auto. Es war so verborgen, dass wir ohne es zu merken auf seine lange, mit Fichtennadeln bedeckte Kühlerhaube traten. Auf dem Vordersitz wuchs eine Birke, um das Steuerrad wanden sich Efeuranken. R. sagte, das sei ein DKW, er versteht etwas von Autos. Die Karosserie war völlig verrostet, und die Räder waren bis zur Hälfte im mulchigen Waldboden versunken. Als ich versuchte, die Tür auf der Fahrerseite zu öffnen, behielt ich die Klinke in der Hand. Auf dem Lederpolster wuchsen gelbe Pilze und bildeten regelrechte Kaskaden bis hinunter auf den löchrigen Boden. Wir erzählten niemandem von diesem Fund.
Am Abend kam ein anderes Auto von der Grenze her aus dem Wald gefahren, ein eleganter roter Toyota mit Schweizer Nummernschild. In dem karminroten Lack spiegelte sich kurz die untergehende Sonne. Mit abgestelltem Motor rollte es ins Tal hinab. In der Nacht suchten aufgeregte Grenzschützer mit Taschenlampen nach den Spuren des Autos.
Am Morgen erschienen im Internet Träume von Autos.
Krystyna von der Genossenschaftsbank in Nowa Ruda hatte einen Traum. Das war im Frühjahr neunundsechzig.
In ihrem Traum hörte sie Stimmen in ihrem linken Ohr. Erst war es eine Frauenstimme, die redete und redete, aber Krystyna verstand kein Wort. In ihrem Traum dachte sie zuerst besorgt: Wie soll ich denn arbeiten, wenn mir einer dauernd im Ohr brummt. Dann meinte sie, man könnte die Stimme abschalten, so wie man das Radio abschaltet oder den Telefonhörer auflegt. Aber das konnte man nicht. Die Quelle der Laute steckte tief im Ohr drin, irgendwo in diesen gewundenen Gängen voller Trömmelchen und Spiralen, in den Labyrinthen feuchter Häutchen, den dunklen Höhlen des Inneren. Die Stimme ließ sich weder dadurch abstellen, dass man mit dem Finger im Ohr bohrte, noch dadurch, dass man sich die Ohren mit den Händen zuhielt. Krystyna hatte das Gefühl, die ganze Welt hörte diesen Lärm. Vielleicht war es wirklich so: Die ganze Welt vibrierte vom Geräusch dieser Stimme. Immer kehrten bestimmte Sätze wieder, Phrasen, die grammatisch einwandfrei richtig waren und sich schön anhörten, aber überhaupt keinen Sinn ergaben und nur so taten, als bedienten sie sich der menschlichen Sprache. Krystyna hatte Angst vor diesen Sätzen. Aber bald darauf meldete sich eine andere Stimme in ihrem Ohr zu Wort, eine männliche Stimme, die klar und angenehm war. Es machte Spaß, sich mit dieser Stimme zu unterhalten. »Ich heiße Amos«, sagte sie. Amos erkundigte sich nach ihrer Arbeit, nach dem Befinden der Eltern, aber im Grunde – so kam es ihr jedenfalls vor – hatte er das gar nicht nötig, denn er wusste schon alles von ihr. »Wo bist du?«, fragte sie ihn zaghaft. »Mariand«, antwortete er, und sie wusste, dass es eine Gegend in Zentralpolen gab, die so hieß. »Warum höre ich dich in meinem Ohr?«, wollte sie noch wissen. »Weil du eine außergewöhnliche Frau bist, und ich habe mich in dich verliebt. Ich liebe dich.« Das wiederholte sich drei, vier Male. Immer der gleiche Traum.
Am Morgen trank sie inmitten ihrer Bankpapiere Kaffee. Draußen fiel ein nasser Schnee, der sofort schmolz. Die Feuchtigkeit drang sogar bis in die geheizten Büros der Bank, legte sich über die Mäntel auf den Kleiderbügeln, die Damenhandtaschen aus Kunstleder, die Russenstiefelchen und die Kunden. Und an diesem ungewöhnlichen Tag begriff Krystyna Poploch, Leiterin der Kreditabteilung, dass sie zum ersten Mal im Leben total, allumfassend und bedingungslos geliebt wurde. Die Entdeckung traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Ihr wurde schwindlig. Der Kundenraum der Bank verschwamm vor ihren Augen, und eine Zeit lang herrschte Stille in ihren Ohren. In dieser Liebe, die sie so unversehens heimgesucht hatte, fühlte sich Krystyna wie ein bislang unbenutzter Teekessel, der zum ersten Mal mit kristallklarem Wasser gefüllt wird. Ihren Kaffee hatte sie ganz vergessen, er wurde kalt.