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Gerade ist nach langer Ehe Paraskewias Mann gestorben, in ihrem Haus hoch oben auf dem Berg, das im tiefsten Winter von der Außenwelt abgeschnitten ist. Und so schreibt sie die Nachricht von seinem Tod in großen Buchstaben in den Schnee, damit die Menschen unten im Tal davon erfahren. Ihre Enkelin Maja erlebt das Sterben ganz anders. Im Urlaub auf einer heißen Südseeinsel begegnet sie einem schwerkranken Zauberkünstler, in dem sie ihren Vater zu erkennen glaubt. Der Tod kommt schnell, plötzlich. Majas Mutter Ida möchte noch ein Mal ihr Elternhaus sehen. Im Schneetreiben verunglückt sie mit dem Auto und findet Unterschlupf bei einem älteren Ehepaar, das eine Sterbeklinik für Tiere unterhält, und begegnet auch ihrer Mutter Paraskewia – in einer mythischen Vision.
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Seitenzahl: 354
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Olga Tokarczuk
Letzte Geschichten
Roman
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
Kampa
Auf den kleinen Seitenstraßen sieht man im Winter nicht die weißen Linien. Nur an den Schneehaufen, die sich am Straßenrand türmen, zeichnet sich der Verlauf der Straße grob und ungefähr ab. Die Autoscheinwerfer bohren sich in die unförmigen Hügel am Rand, doch sie enthüllen nur halbkreisförmige Ausschnitte einer beweglichen Bühne, die sich immer weiter nach vorn verschiebt, in der Hoffnung, dass sie ihren Schauspieler schließlich aus der Dunkelheit hervorholen wird. Die Fernscheinwerfer sind völlig nutzlos, sie entlocken dem Dunkel nur die milchigen winterlichen Dunstschwaden, die über der Welt hängen.
»Gefrorener Leichenatem«, denkt die Frau am Steuer des Autos. »Leichenatem« ist ein Oxymoron, das eine Wort steht im Widerspruch zum anderen, doch auf merkwürdige Weise ergeben sie zusammen einen Sinn. Gleich kommt sie an eine größere Kreuzung, wo sie nach rechts abbiegen wird, in Richtung Süden, und an der Landesstraße wird sie mit Sicherheit ein Motel oder eine Pension finden. Hier wimmelt es von Pensionen, dauernd springen ihr aus der Dunkelheit die Schriftzüge entgegen: Zimmer frei, Zimmer, Ferien auf dem Bauernhof, auf Bretter gemalt, die an Zäune oder Bäume am Straßenrand genagelt sind. Das Radio murmelt vor sich hin, eine Diskussion zieht sich träge in die Länge, die Frau hört nicht zu.
Rechts zeichnet sich jetzt ein dunkler Umriss im Nebel ab, der auf dem Schnee gut sichtbar ist. Sie bremst vorsichtig und wendet den Kopf – am Straßenrand erkennt sie einen Hund. Er liegt auf der Seite, in einer sanften Schneemulde, die Beine hat er von sich gestreckt, den Kopf etwas angehoben, als ruhe er auf einem Kissen. Eine Vorderpfote ist leicht angewinkelt, der buschige Schwanz liegt aufgefächert wie ein Federbüschel. Dem Anschein nach ist es eine Promenadenmischung, etwas wolfshundeartig, aber kleiner, schwarz gestrichelt, Rasse »Sudetenscheußlichkeit«, wie man hier sagt. Er sieht wie schlafend aus, als hätte ihn plötzlich unterwegs beim Spaziergang ein unüberwindbares Bedürfnis nach Schlaf überwältigt, hier, jetzt, auf der Stelle, dem er nicht widerstehen konnte. Deshalb musste er mitten im Lauf innehalten, sich im Schnee am Wegrand rasch ein Lager scharren, nur einen Meter von den Rädern der abgelenkten Autos entfernt.
Das Licht der Autoscheinwerfer lässt ihn in seinem geheimnisvollen plötzlichen Schlaf einen Augenblick lang sichtbar werden, es offenbart ihn und lässt ihn dann wieder in die Dunkelheit zurücksinken.
Die Frau beschleunigt, obwohl es nicht nötig ist, denn die Straße führt jetzt bergab, das Auto gleitet darüber, als sollte es von einer großen Schanze zu einem Nacht-und-Nebel-Flug abheben.
Es ist ein angenehmes Gefühl, so hinabzusinken, das Herz hüpft, wird leicht, wiegt nichts mehr. Mit halb geschlossenen Augen gibt sich die Frau dem Genuss dieser Empfindung hin.
Rechts springt ein Wegweiser mit der Aufschrift Bardo – Bożków aus der Finsternis, bittend breitet er die Arme aus wie ein aufdringlicher Tramper, der hysterisch von den Vorbeifahrenden einen Entschluss verlangt: Entscheide dich sofort: links oder rechts, nimm mich mit oder lass mich stehen. Los, mach schon.
»Nichts da, mein Lieber«, denkt sie. Die Straße führt geradeaus, die beste aller möglichen Richtungen, und dem Märchen zufolge die sicherste, denn das ist die Linie des geringsten Widerstands, die garantiert, dass man ans Ziel gelangt.
Gleich wird sie eine ordentliche Landstraße erreichen, schwarz und solide, mit einer weißen Steppnaht in der Mitte, dort wird auch mit Salz gestreut sein.
Als sie am Nachmittag aus dem Kurort über die Serpentinenstraße hinunter ins Tal fuhr, musste sie unmittelbar vor einer bei Glatteis sehr gefährlichen scharfen Kurve halten. Dort war viel Salz gestreut, um das Eis auf dem Asphalt zum Schmelzen zu bringen. Eine für alle Hupen taube Kuhherde versperrte an dieser Stelle die Straße, und die Kühe leckten das Salz auf. Sie waren friedlich und glücklich, hielten die weichen, samtigen Lider gesenkt, verbargen den Blick hinter den dichten Wimpern. Langsam und mit Bedacht leckten sie das Salz, gleichmütig. In dem metallischen Winterdämmer waren sie dort auf der Straße plötzlich keine Tiere mehr. Sie wirkten wie Geschöpfe, die über Jahre meditierend an ihrem Gleichmut gearbeitet hatten. Jemand, wahrscheinlich ihr Besitzer, versuchte verzweifelt, sie von dem Salz wegzutreiben, er rannte zwischen ihnen hin und her und drosch mit dem Stock auf ihre knochigen Hinterteile, doch sie fürchteten seine Schreie nicht, vielleicht hörten sie sie nicht einmal. Die Autos bildeten schon einen Stau, jemand weiter hinten hupte ungeduldig. Ein anderer stieg aus dem Auto, und als er sah, was los war, zündete er sich eine Zigarette an. »Kühe lecken am Asphalt«, gab er nach hinten weiter. Die Leute nahmen die Information mit Verständnis auf, klar, warum nicht. Sie schauten einander mit leicht ironischem Lächeln an – die Kühe lecken das Salz auf. Dann wischten sie die Scheiben, knallten mit ihren Kofferraumdeckeln und machten Anrufe auf ihren Mobiltelefonen. Es dauerte eine Weile, bis die Tiere zu sich kamen und, fast beschämt über ihre plötzliche Schwäche und die Behinderung, die sie dort auf der Straße gebildet hatten, im Trab ins Tal setzten, ohne auf ihren Hirten zu warten.
Die Fahrt ist angenehm wie gesalzener Asphalt. Das Auto fährt jetzt sehr schnell, der steilste Teil der Strecke verläuft schnurgerade. Die Frau sieht zwar die aus dem Schnee ragenden Pfosten, an denen die Farbe verblasst ist, doch erst im nächsten Augenblick begreift sie, dass diese eine Kurve markieren. Ohne jede Ankündigung. Kein Schild am Wegrand, oder es ist im Schnee versunken. Sie reißt das Steuer mit Gewalt nach links, aber das Auto gehorcht ihr nicht, es rast geradeaus, und einen Augenblick lang – so scheint es ihr – hebt es tatsächlich von der Erde ab. Sie spürt seine besinnungslose Kraft und wundert sich darüber, sie hatte immer gemeint, das Auto unter Kontrolle zu haben, doch es war eher so gewesen, dass ihrer beider Wege und Absichten einer geometrischen Koinzidenz unterlegen waren, es war eine Folge des Zusammentreffens ihrer Interessen gewesen, dass sie in dieselbe Richtung fuhren und an denselben Tankstellen anhielten. Doch jetzt trennen sich ihre Wege: Das Auto, ein kleiner silberfarbener Honda, segelt über den hohen Schneewall, die Schnauze nach oben, aufbegehrend. Im Radio beginnen gerade die Nachrichten. Die Frau sieht nicht, dass sie fliegt, sie spürt es eher. Die Scheinwerfer sind himmelwärts gerichtet, deshalb ist in ihrem Lichtkegel nichts zu sehen. Es dauert ziemlich lange, sie will schon ungeduldig werden, hört dieser Flug denn gar nicht auf, es geht ja nirgendwohin! Sie weiß noch, dass sie mit dem Kopf aufs Steuerrad schlägt, sie hört ein unangenehmes Geräusch im Kopf, wie beim Ziehen eines Zahnes. Aber das dauert nur einen Augenblick.
Problemlos gelingt es ihr, den Gurt zu lösen und direkt hinaus in den Schnee zu kriechen – aber dort kann sie sich nicht auf den Beinen halten und geht in die Knie. Sie wischt sich mit dem Handrücken über den Mund, er ist voll mit dicker warmer Flüssigkeit, sie muss sich beim Aufprall in die Zunge gebissen haben, meint sie. Das Auto ist auf den Hinterrädern zum Stehen gekommen, das sieht aus, als hätte es versucht, die Äste des Baumes zu erreichen, und sei mitten in dieser besinnungslosen Attacke einer Maschine auf ein Lebewesen erstarrt. Seine Augen werfen ihr gnadenloses Licht auf die Krone der Fichte. Der Kühler steht offen zum lautlosen Wutschrei, und die Räder drehen sich hilflos in der Luft, immer langsamer. Im Radio kommt der Wetterbericht.
Sie tastet hinter sich ins Innere des Autos, und trotz ihres Schwindelgefühls gelingt es ihr, den Schlüssel aus dem Anlasser zu ziehen. Die grellen Augen erlöschen. Plötzlich ist es dunkel, still und kalt. Sie hat das Gefühl, dass sich irgendwo in dieser Dunkelheit eine grenzenlose kahle Ebene erstreckt, der kalte Wind saust darüber hinweg, und da ist kein Strauch, kein Baum, nichts, was ihn aufhalten könnte. Sie fühlt die Wucht der Windstöße auf ihrem Gesicht. Schwankend steht sie auf und setzt sich in Bewegung, nach oben, zur Straße.
Der Nebel verschwindet, die Dunkelheit wirkt rein, frostig, durchsetzt mit den fernen Lichtern des Sternenhimmels. An der Straße, die sich kaum ausmachen lässt, bleibt die Frau stehen und schaut empor. Sie erkennt die Sternbilder, wie ihr Vater sie ihr beigebracht hat. Zuerst der Große Wagen, die Rückkante fünfmal verlängert zwischen den Sternen hinauf – da ist der Polarstern und gleichzeitig der Anfang der Deichsel des Kleinen Wagens. Und am Knick der Deichsel des Großen Wagens sieht sie da neben dem großen Stern einen kleinen, wie die Tochter neben dem Vater, kann sie den sehen? »Ja, den sehe ich.« »Dann könntest du Krieger werden. Damit nämlich prüften die Araber die Augenschärfe ihrer Krieger.«
Sie findet Orion und Kassiopeia, eine geometrische Ordnung von Lichtpunkten, vielfache Linien, große und kleine, die sich zu einfachen wiederkehrenden Rhythmen fügen, und die daraus entstehenden planlosen Dreiecke, Polygone, schwankenden Trapeze und Rhomben … Ist das nicht genug? Muss man diese vollkommenen Formen noch mit rätselhaften, vagen Geschichten erläutern?
Während sie nun am Straßenrand entlang auf eine Reihe formloser gelber Lichter zugeht, findet sie auch ihr liebstes Sternbild wieder – das Haar der Berenike, ein kleiner Kranz aus Sternen, nicht viel Haar, kaum eine Strähne, ein winziger Zopf. Es wirkt weiter von der Erde entfernt als andere, ein Kinderdrachen, der in einem Augenblick der Unachtsamkeit zu hoch gestiegen ist.
Hinter der Kurve ist der Fichtenwald, durch den die Straße führt, zu Ende, und die Frau erblickt die Lichter einer Art Vorstadt. Vorne vereinzelte Lichtflecken, die sich dann verdichten und in weiterer Ferne eine bräunliche Lichtglocke bilden, in die Schornsteine ragen, schmale, hohe, durchbrochene Gebäude.
Bei den ersten Schritten auf dem bebauten Gelände – zu beiden Seiten des Weges ziehen sich lang gestreckte, niedrige Lagerhallen, Warenspeicher mit unleserlichen Schildern, mit Auffahrtsrampen und breiten Toren – bemerkt sie, dass es still ist wie in der tiefsten Nacht und dass kein einziges Auto vorbeigekommen ist.
Da fällt ihr Blick auf eine Seitenstraße, die zwischen den Lagerhallen hinausführt und dann abbiegt, in Richtung Wald. Sie liegt im Schein hoher Straßenlaternen, die im Unterschied zu allen anderen violett leuchten. Die Straße ist vom Schnee befreit und sauber. Weiter entfernt steht ein Haus, seine Fenster sind erleuchtet. Ohne zu überlegen, biegt sie ab, in Gedanken immer noch beim Haar der Berenike, denn sie weiß gar nicht, wer diese Berenike eigentlich war und warum ihr Haar am Himmel ist. Dann, im bläulichen Schein der violetten Lampen, hört sie von dem erleuchteten Haus her Hundegebell. Dieser Richtung folgt sie.
Das Haus sieht nicht aus wie ein Landhaus, es erinnert eher an eine verlassene kleine Villa, die sich an den Stadtrand verirrt hat, einstöckig, schmal, mit etlichen Veranden und Anbauten. Die Pläne des Erbauers hatten vielleicht einst hier eine ganze Reihe solcher Häuschen vorgesehen, eine Siedlung für wohlhabende Leute, aber irgendetwas hatte die Verwirklichung dieses Planes vereitelt, und es blieb bei dem einen Haus, einsam, abgelegen an Hügel und Wald, in seiner Andersheit diskret von weiter entfernten Gebäuden beobachtet, die sich schwer ausmachen lassen, sie wirken verkümmert, teils verfallen, sind von einfacher Form wie Garagen, Baracken, Werkstätten und dergleichen. Dazwischen verlaufen Eisenbahngleise, zweimal muss sie diese überqueren, bevor sie in einen weiten Hof gelangt, doch sie scheinen unbenutzt; der Schnee hat ihre Richtung und ihr Ziel unkenntlich gemacht. Auf die Existenz parallel verlaufender Eisenbahnschienen unter dem Schnee verweisen nur die Weichenanlagen und die spärlichen Signale, die wie einarmige Skulpturen aus dem Schnee ragen, als seien sie aufgestellt, um Ankömmlinge zu begrüßen.
Aus den Fenstern scheint ein schwaches Licht, das sie besonders ungern mag, weil es in ihr immer eine unvermittelte, unerklärliche Traurigkeit hervorruft. Glühbirnen von höchstens vierzig Watt, die hoch unter der Decke hängen. Ein Selbstmordlicht.
Von irgendwoher taucht neben ihr ein Hund auf, groß und weiß, mit ein paar schwarzen Flecken auf dem Rücken – wahrscheinlich derselbe Hund, der eben gebellt hat, aber jetzt schweigt er, beschnuppert sie nur aufmerksam und routiniert, hechelnd, und führt sie zum Eingang. Die Frau tritt in einen dunklen Flur. Der Hund kratzt drinnen an einer Tür, während ihre Hand nach einem Lichtschalter tastet.
»Da bist du schon wieder? Du bist doch gerade erst hinausgegangen?«, sagt eine Frauenstimme ungehalten.
Ein schmaler Lichtstreif fällt auf den Boden, erreicht die Füße der Besucherin.
»Huch!«, flüstert die Stimme erschrocken. »Wer ist da?«
Die Frau versucht, sich in den Lichtspalt zu zwängen.
»Bitte entschuldigen Sie vielmals, ich habe mich verirrt, ich weiß nicht, wo ich bin. Ich war unterwegs auf der Straße nach Klodzko, und plötzlich bin ich den Abhang hinuntergestürzt. Ich habe mir den Kopf aufgeschlagen. Ich dachte, es wäre gut, wenn ich jemanden finde …«
»Kommen Sie doch herein, es ist kalt.«
Eine große Küche mit einem Tisch in der Mitte und einer großen weißen Kredenz an der Wand. Ein älterer Mann mit einer gestreiften Weste über dem Schlafanzug erhebt sich unwillig vom Tisch. Vor ihm steht eine kleine ausgemergelte Frau in einem verschossenen, speckigen Hauskittel. Die Besucherin erklärt noch einmal verwirrt ihre Situation, sagt immer dasselbe: Sie hat das Auto zurückgelassen, ist in den Graben gestürzt, war unterwegs nach Klodzko, eine schöne Nacht, schließlich redet sie vom Haar der Berenike. Sie mustern sie mit einem merkwürdigen Blick, sie kann diesen Ausdruck nicht deuten: Trauer? Gelassenheit? Verdruss?
Die kleine Frau steht vor ihr wie eine Kartenverkäuferin, gleich wird sie ihr ein Billett geben. Ihr kleines Gesicht rötet sich von dem frostigen Zugwind, der jetzt durch die offene Tür hereingefahren ist, oder umgekehrt, von der Hitze, die von der rot glühenden Herdplatte aufsteigt. Dann zieht sie ein Papiertaschentuch aus der Tasche.
»Setzen Sie sich doch«, sagt sie. »Sie haben Blut am Mund.«
Behutsam wischt sie das Blut ab, ihre Bewegungen sind kurz und sicher.
»Fehlt Ihnen nichts? Möchten Sie einen Tee?«
»Ja, gerne, natürlich. Tee, egal, irgendwas.«
Der Mann hilft ihr aus der Jacke, sorgfältig faltet er ihren Schal zusammen.
»Sind Sie verletzt? Haben Sie Schmerzen?«
Diese einfachen Fragen kommen ihr verworren und zusammenhanglos vor. Sie holt tief Luft, um zu antworten, doch anstelle von Worten kommt nur ein Weinen heraus.
»Ich bin mit dem Kopf aufgeprallt, mein Auto ist in den Schnee gestürzt. Ich bin hinausgekrochen und hierhergekommen. Ich glaube, mir ist nichts passiert, man sieht doch nichts, oder? Alles funktioniert noch, gucken Sie doch« – sie lächelt schwach und bewegt die Arme und Beine wie ein Hampelmann.
Die kleine Frau setzt ihr ein Glas Tee in einem zierlichen Metallhalter vor. Die beiden nehmen ihr gegenüber am Tisch Platz.
»Das ist das Wetter. Da verliert man den Orientierungssinn«, sagt der Mann und schaut auf das Fenster, in dem sich die Vierzigwattbirne unter dem runden weißen Schirm spiegelt, ein Widermond.
»Der Winter will kein Ende nehmen.«
»Morgen kommt unser Enkelsohn, er kann Sie untersuchen. Wir haben Zimmer oben, bleiben Sie über Nacht bei uns, jetzt ist es sowieso zu spät, um etwas zu unternehmen. Wir müssen nur die Elektroheizung anschalten, damit es warm wird«, setzt die kleine Frau noch hinzu und schaut ihren Mann an.
Der Mann wirft sich eine dicke Strickjacke über und geht wortlos hinaus. Bald darauf hört man seine Schritte von oben. Die gläserne Deckenlampe schwankt kaum merklich.
Die kleine Frau legt die Hände auf den Tisch und sagt überraschend heiter:
»Ich will’s Ihnen gleich sagen, ich hab Probleme mit dem Gedächtnis, also mit wichtigen Fragen wenden Sie sich besser an ihn« – sie weist mit dem Kinn nach oben, zur Decke. »Ich erinnere mich gut an alles, was vor langer Zeit geschehen ist, zum Beispiel als wir im Krieg hierhergekommen sind, ich weiß sogar noch, wie viel das Brot damals gekostet hat, gleich nach der Befreiung. Weißt du, wie viel, Kind? Ich weiß es genau, nämlich zwanzig Groschen. Aber dafür habe ich Mühe, mich an Dinge zu erinnern, die gestern geschehen sind. Das ist nicht diese Krankheit mit ›A‹, du weißt schon, die alle haben. Ich bin bloß alt.«
»Gut, ich werd’s mir merken.«
Die alte Frau holt eine angebrochene Wodkaflasche aus dem Schrank und gießt ein wenig in das Teeglas.
»Davon wird Ihnen wärmer, trinken Sie nur.«
»Ich bin Olga«, sagte sie dann. »Und das«, sie richtet den Blick nach oben, zur Decke, »das ist Stefan.«
Die Frau trinkt von dem heißen Tee und will etwas erwidern, hat den Mund schon geöffnet, doch sie spürt, wie sich ein kalter dichter Nebel in ihrem Kopf breitmacht. Sie zeigt mit dem Finger auf sich selbst, richtet ihn genau auf die Mitte der Brust, spürt die Berührung. Sie weiß, sie müsste sich nur konzentrieren, dann würde es ihr bestimmt einfallen. Die Gedanken ballen sich wie unruhige Kaulquappen direkt unter der Wasseroberfläche. Das ist bestimmt von dem Aufprall, deshalb fühlt sie sich so merkwürdig, als würde sie schlafen und schlafwandeln, bestimmt hat sie eine Gehirnerschütterung, und davon sind die Gedanken zerkrümelt und auseinandergebrochen wie Figürchen aus Eis. Sie weiß, dass ihr gleich alles einfallen wird, sie muss sich nur konzentrieren. Die andere schaut sie aufmerksam an, wartend. Aber sie ist müde, muss ihre Gedanken sammeln, und zum Glück wird Olga von ihrer nicht gestellten Frage abgelenkt, denn sie steht auf und geht in eine Ecke. Dort steht eine flache Holzkiste, über die eine grobe braune Decke gebreitet ist, und darauf liegt etwas Schwarzes, Zotteliges. Ein Hund. Sein langes Fell erinnert an Garn, an wollene Stränge, dicke verhedderte Knäuel, vor allem am Kopf und am Hinterteil. Er atmet schwer und stöhnt ab und zu. Sie und Olga beugen sich beide über das unförmige schwarze Bündel. Ein unangenehmer saurer Geruch steigt ihr in die Nase. Als fühlte er ihre Anwesenheit, öffnet der Hund ein Auge und wirft ihnen einen kurzen Blick zu. Dieser Blick ist undurchdringlich, schwarz, tief wie ein Brunnen, auf dessen Grund man die Oberfläche des unterirdischen Wassers sehen kann.
Auf der Treppe gerät sie ins Taumeln. Die beiden stützen sie. Sie führen sie in ein kühles, spärlich möbliertes Zimmer. Ein niedriger, gedrungener Schrank steht darin, darauf die Porzellanbüste eines Mädchens mit hellen Haaren, die mit einem blauen Band zusammengehalten sind, außerdem ein Eisenbett und ein ramponierter Korbsessel, einstmals weiß, jetzt scheckig. Flocken abgeplatzter Farbe liegen auf dem Boden, die Möbel schuppen sich. Unter dem Fenster liegen Äpfel auf ausgebreiteten Zeitungen, sie sind noch kaum runzlig, obwohl es schon Ende Februar ist. Die Luft ist glatt und feucht wie die Schalen der Äpfel. Sie erwärmt sich langsam durch die Elektroheizung.
Die beiden reden noch etwas, während sie den Schrank öffnen (lauter alte, schlüpfrige, unbezogene Decken liegen darin), die Vorhänge zuziehen, den Krug zurechtrücken, das Tischtuch auf dem Tisch richten. Sie hört nicht mehr zu. Langsam, vorsichtig legt sie sich aufs Bett, als wäre sie eine kostbare Porzellanfigur, die man nur in der Verpackung aufbewahren kann, in liegender Stellung. Kurz darauf kommt die kleine Frau wieder und bringt ein Handtuch und ein verwaschenes Flanellnachthemd.
»Das Badezimmer ist unten«, flüstert sie und verschwimmt in der Dunkelheit, um bald wieder zu flüstern, rascheln und knirschen, wobei sie mit dem Mann abgerissene Sätze wechselt, während sie irgendwelche vergessenen Stühle rücken, Lichtschalter knipsen, in der Tür den Schlüssel umdrehen.
Sie liegt auf dem Rücken, schließt die Augen. Jetzt sollte sie ihre Schlaftabletten nehmen. Sie sollte sich Wachsstöpsel in die Ohren stecken, sich auf die Seite legen und darauf warten, dass die Pillen wirken, aus denen der Schlaf in die klamme Stille keimt. Aber sie hat weder Pillen noch Ohrenstöpsel. Sie legt die Hand auf die Brust und prüft, wie immer, ob ihr Herz schlägt. Ihr Körper ist hart, widersetzt sich dem Druck der Hand. »Hart wie Holz«, hört sie und sieht sich selbst, wie sie den Abhang hinabläuft, etwa dreizehn Jahre alt, in einem Cretonnekleid mit Mohnblumenmuster, das die Mutter später, als es verschlissen war, zu Staubtüchern zerriss. Sie ist unterwegs, um sich in der Ruine am Fluss mit anderen Mädchen zu treffen. Die Namen wollen ihr nicht einfallen, war eine Bożena dabei? Eine Jadzia?
Irgendjemand hatte es aufgebracht, aber niemand wusste mehr, wer, es musste sehr lange her gewesen sein. Danach gaben es die älteren Mädchen an die jüngeren weiter. Es klappte immer.
Alle knien sich im Kreis auf die Erde und schweigen, bis das Schweigen schließlich natürlich wird und nichts Besonderes mehr ist, so lange, bis man gar nicht mehr sprechen will. Danach zeigt jedes Mädchen mit der Hand eine Zahl. Sie zählen ab. Diejenige, die ausgezählt ist, legt sich in den Kreis und schließt die Augen.
Dann beginnen die anderen, sie mit den Fingerspitzen zu berühren, zuerst nur mit den Fingerkuppen, dann immer stärker, und dabei sagen sie immer wieder die Worte: »Hart wie Holz, kalt wie Eis, leicht wie Federn.« Immer wieder von vorne, bis die Hände ganz auf dem Körper liegen. Und sie drücken den liegenden Körper an den Boden und sagen dabei immer dieselben Worte: wie Holz, wie Eis, wie Federn, und dann, unvermittelt, ganz von selbst wissen sie jedes Mal genau, wann der Zeitpunkt für diese Worte gekommen ist:
Wie Holz so hart,
Wie Federn so leicht,
Wir tragen deinen Sarg,
Königstöchterlein.
Wie Eis so kalt,
So hart wie Holz,
Wir vergraben deinen Sarg
In ewiger Gruft.
So hart wie Holz,
Wie Federn so leicht,
In der Erde das Loch
Ist nun dein Heim.
Auf den Spitzen ihrer Zeigefinger heben die Mädchen den steifen, vor Verblüffung totenstarren Körper hoch, mühelos wie einen hohlen Stängel, eine Figur aus Bimsstein, eine Schaumstoffgestalt.
Nein, nein, es ist nie besser innerhalb des Kreises, besser ist es zu bewegen, als bewegt zu werden, besser zu zaubern, als sich in die Gewalt eines Zauberspruchs zu begeben, besser, lebendig zu sein als tot, auch wenn man sich nur tot stellt. Was wäre passiert, wenn einmal eine von ihnen nicht aus der Trance erwacht wäre, wenn sie so stocksteif und bewusstlos geblieben wäre, mit geschlossenen Augen, weder tot noch lebendig? Wenn sie von dieser Reise nicht zurückgekehrt, für die anderen nur ein Ding geblieben wäre wie ein geknickter Zweig, ein Stein im Bach? Doch jede kommt zurück. Setzt sich auf und blinzelt mit den Augen, weit weg.
Das sieht komisch aus, die anderen brechen in Lachen aus, und damit ist es vorüber. Diejenige, die in der Mitte des Kreises gewesen ist, geht als Letzte nach Hause ins Dorf, sie hat das unbestimmte Gefühl, ausgenutzt worden zu sein, wie ein zufälliger Zuschauer im Publikum, der von einem Hypnotiseur auf die Bühne geholt und veranlasst wird, Ungehöriges zu tun. Sie trödelt hinterher, noch schmollend, aber bevor sie gemeinsam ins Dorf gelangen, ist alles wieder in Ordnung, man überwindet sich und vergisst.
Aber sie wurde nie ausgezählt, deshalb wusste sie nicht, wie es war, wenn man in der Mitte lag und sein Gewicht verlor. Sie stellte es sich vor wie einen Schlaf. Schlaf ist selten nur ein dunkles Nichts, meistens tut sich allerhand im Schlaf, aber anderes als im Wachen. Unglaubliche Dinge werden ganz natürlich, und die Zeit hüpft und schlägt Purzelbäume. Vielleicht hat man dann ein Wissen, das zu nichts nutze ist, das niemand braucht. Vielleicht verhält sich der von außen aus dem Kreis betrachtete Körper, der sich auf den Fingerspitzen weniger Mädchen tragen lässt, vollkommen normal und steht in keinem Widerspruch zu irgendetwas. Es ist wie mit diesem Leichenatem, unmöglich und trotzdem irgendwie sinnvoll. Sie fühlt jetzt wieder das Gewicht auf den Fingern, dieses Gewicht, das seiner selbst zu spotten scheint, Schwere und Leichtigkeit zugleich.
Am Morgen erwacht sie schlagartig, plötzlich – sie öffnet die Augen und sieht das graue Licht, in dem die Nähte und Falten der Decke zu einer einförmigen, matt glänzenden Oberfläche verschwimmen.
Sie hört eine Tür zuschlagen, das Dröhnen eines mühsam anspringenden Dieselmotors. Der Anlasser röchelt lange, dann verstummt er. Das wiederholt sich mehrere Male, schließlich – zu ihrer Erleichterung – springt der Motor an, und das Brummen entfernt sich langsam.
Nach dem Aufwachen horcht sie immer auf ihren Herzschlag, ob alles in Ordnung ist, ob es schlägt und wie es schlägt. Sie tastet ihren Körper ab, ob er nicht durch irgendeinen Zufall über Nacht auseinandergebrochen ist, aber jetzt, so unbeweglich auf dem Rücken liegend, fühlt sie sich so wohl, dass sie nicht einmal die Hand hebt, um sie auf die Brust zu legen. Der Anblick der gleichförmigen Oberfläche der Zimmerdecke beruhigt sie, ihre Hände schlafen noch auf dem rauen, gestärkten Laken. Sie erinnert sich wieder.
Sie heißt Ida Marzec. Vierundfünfzig Jahre alt. Gemeldet in Warschau, Adam-Plug-Straße 89, Wohnung 21. Sozialversicherungsnummer 50012926704. Gott sei Dank.
Die Tür quietscht leise, und sie hört kurze klackende Schritte, wie das Ticken einer Uhr. Sie hält die Augen geschlossen und spürt einen warmen Atemhauch im Gesicht. Es ist der weiße Hund, das weiß sie. Sicher betrachtet er sie, und sein Atem streift dabei ihre Wange. Sie reagiert nicht, und der Hund geht leise davon. Sie bleibt noch eine Weile liegen, langsam fällt ihr wieder ein, wo sie sich befindet. Sie stellt fest, dass sie in Strumpfhose und Bluse geschlafen hat, ihr Rock liegt auf dem Boden. Der Anblick dieses Rocks aus dicker grauer Wolle, ein teurer, schräg geschnittener Rock, der modisch ist und schlank wirken lässt, weckt eine vage unangenehme Erinnerung, ein Gedanke will sich ihr in den Kopf drängen, sie wehrt sich dagegen, schiebt ihn fort und unterdrückt ihn.
Vor dem Haus sitzen ihre Eltern. Der Vater wickelt Garnknäuel auf und schaut sie nicht an. Die Mutter ist jung, sie erinnert an Maja, sie ist wie die erwachsene, fremde, stets abwesende Maja. »Du kommst nie zu uns, wir haben dich schon fast vergessen«, sagt die Mutter vorwurfsvoll. Dann steht sie beleidigt auf und geht ins Haus. Sie geht hinter ihr her, schaut auf ihren Rücken, aber sie hat das Gefühl, dass die Mutter ihr ausweichen will. Sie geht hin und her durch die Zimmer, die unvermittelt zu einer endlosen Flucht werden. Sie bekommt Angst, weil ihr plötzlich einfällt, dass sie Maja, ihre kleine Tochter, draußen vor dem Haus gelassen hat. Sie will zurückgehen, aus diesem Labyrinth herausfinden, aber sie weiß nicht, wie. Alles wird hellblau.
Sie hört die Tür quietschen, Flüstern, dann eine leise, an den Hund gerichtete Rüge: »Hier darfst du nicht rein, geh nach unten!« Jemand nähert sich behutsam ihrem Bett und setzt sich auf die Kante. Ihr bleibt nichts anderes übrig, sie muss die Augen öffnen.
An der Tür steht ein Mann. Auf seinem Gesicht liegt ein Ausdruck trauriger Besorgtheit. Olga – sie ist es, die sich auf die Bettkante gesetzt hat – lächelt, ihr Gesicht ist klein, braun gebrannt, runzlig, es hat etwas beunruhigend Asymmetrisches an sich.
»Den ganzen Tag hast du geschlafen, Kind, jetzt wird es dunkel, und Adrian muss fort, aber er möchte dich gern untersuchen. Vielleicht hast du etwas gebrochen. Dann müssten wir nämlich einen Arzt rufen, Adrian ist Tierarzt. Aber das ist ja egal … Darf er hereinkommen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ruft sie: »Komm rein, Ad.«
Ein junger Mann tritt ein, blond, mittelgroß, ein wenig verschwitzt, als hätte er sich beeilt oder wäre die Treppe hinaufgelaufen. Ungefähr in Majas Alter, um die dreißig. Er trägt einen dicken Pullover aus blau-weiß melierter Wolle. Seine hellen Haare sind schon merklich gelichtet, sie kleben ihm an der Stirn. Er lächelt verlegen, niemandem ähnlich, fremd. Jung. Er sieht sie ruhig an, lächelnd, forschend. Dann betrachtet er fachmännisch ihre Augen und Unterlider, bewegt ihre Hände, betastet ihren Bauch. Er bittet sie, sich aufzusetzen und die Beine zu bewegen. Mit den Augen seinem Finger zu folgen. Ida fühlt sich von der Untersuchung eingeschüchtert, wie immer, alle Ärzte sind junge Männer, die fremdestmöglichen Wesen.
»Ihnen scheint nichts zu fehlen«, sagt der Tierarzt schließlich, er hat eine hohe Stimme. »Sie haben einen Schrecken bekommen, nicht wahr? Stehen Sie nicht auf, bleiben Sie liegen.«
»Ich weiß nicht so recht, wie ich mich fühle. Nicht wohl.«
»Sicher, das ist nicht verwunderlich, das kommt von der Anspannung, es geht von selbst wieder vorüber.«
»Ich würde gern die Polizei anrufen, das Auto ist geliehen.«
»Ja, das muss man erledigen. Vielleicht morgen?«
»Heute nicht? Das Auto muss herausgezogen werden.«
»Heute ist es schon zu spät. Außerdem schneit es die ganze Zeit. Es ist doch nicht so dringend, oder? Morgen bin ich auch hier. Und übermorgen auch.«
»Aber ich bin hier nur auf der Durchreise.«
»Selbstverständlich.«
Der Mann sieht sie lächelnd an, wie ein Kind, mit dem man Doktor spielt. Als glaubte er ihr nicht. Er verneigt sich scherzhaft zum Abschied und geht eilig hinaus. Energisch läuft er die Treppe hinunter, noch draußen hört man seine Schritte, dazu das Knirschen von Schnee, dann das Röcheln des Dieselmotors. Beim dritten Anlauf springt das Auto an. Olga gibt ihr einen alten karierten Morgenmantel, und sie gehen in die Küche hinunter.
»Er ist Tierarzt«, sagt Olga, während sie ihr einen Becher heiße Milch vorsetzt und mit offensichtlichem Genuss Honig hineingibt. »In der Stadt hat er eine Praxis. Hast du Kinder, Familie?«
Der Honig rinnt in einem dünnen Faden hinunter und verschwindet in dem weißen Strudel.
»Eine Tochter«, antwortet sie und betrachtet die Mischung. Früher hätte sie so etwas niemals getrunken, aber jetzt hat sie Lust zu probieren, wie es schmeckt. »Ich habe eine Tochter, und sie hat schon einen Sohn.«
»Ach, dann bist du auch schon Großmutter«, freut sich Olga.
Stefan kommt herein, er reibt sich die Hände, offensichtlich war er draußen. Er holt Topfen und gelben Käse aus dem Kühlschrank, legt sie auf ein Brettchen, dazu Tomaten. Mit einem großen Messer schneidet er Brot.
»Ich müsste sehr hungrig sein, ich habe seit gestern nichts gegessen«, sagt Ida, sie sieht, dass die Frau ein künstliches Gebiss hat, das zu locker sitzt, ein unangenehmer Anblick, wenn sie spricht.
Beide schneiden ihr Käsebrot in quadratische Stücke, die sie langsam, andächtig in den Mund schieben. Kauend sehen sie sie an. »Ein menschlicher Tierblick«, denkt Ida und wendet verstohlen die Augen ab. Sie schaut auf das Essen, aber verspürt keinen Hunger. Sie geht zum Wasserhahn und trinkt Wasser direkt aus den zu einer Schale zusammengelegten Händen.
Sie erwartet, dass die beiden sie nach dem Unfall fragen werden, aber sie schweigen, essen den weichen Käse mit Tomate und Brot, werfen ihr nur zufriedene Blicke zu. Sie bricht ein Stück Käse ab und schiebt es in den Mund. Sie schmeckt nichts.
»Ich hatte noch nie einen Unfall«, sagt sie, »noch nicht mal einen Blechschaden. Ich fahre immer sehr vorsichtig. Wahrscheinlich klebte Schnee an dem Straßenschild, ich wusste nicht, dass eine Kurve kam. Ich hatte das Auto von einer Freundin geliehen, um endlich den Ort zu besuchen, wo ich als Kind gewohnt habe, bei Lewin.«
»Lewin? Klar«, sagt Stefan mit vollem Mund. »Weißt du noch?«, wendet er sich an seine Frau, sie runzelt die Stirn, als versuchte sie, sich an etwas zu erinnern.
»Dort sind wir hingefahren, um das Pferd zu holen, weißt du noch? Das ist hinter Polanica.«
Olga nickt zustimmend.
»Dann hast du hier in der Nähe gewohnt«, sagt sie verwundert.
»Wir wohnten in einem kleinen Dorf in den Bergen, aber ich bin ziemlich früh von dort weggegangen.« Ida lächelt, ihre Hand zögert vor dem nächsten Stück Käse.
»Und die Eltern?«, fragt Olga.
Ida erzählt bereitwillig. Ihre Eltern leben nicht mehr. Nach dem Tod der Mutter, die ein paar Monate nach dem Vater starb, hat sie das Haus verkauft und nicht mehr daran gedacht. Es war unbequem, hoch in den Bergen, alt und klein. Sie sagt auch, dass sie sich nie danach gesehnt hatte, aber jetzt, vor ein paar Tagen, als sie hier in der Gegend war, bekam sie plötzlich Lust, dort vorbeizuschauen.
»Ich wollte morgens von Jelenia Góra aus losfahren und abends wiederkommen, aber das klappte nicht. Ich hatte vor, irgendwo auf dem Land in einer Pension zu übernachten und am nächsten Morgen weiterzufahren, in das Dorf. Na ja, aber jetzt ist das passiert, und das Auto ist sicher kaputt.«
»So was kommt vor. Iss etwas und mach dir keine Sorgen«, sagt Olga.
Aber Ida hat keinen Appetit. Der fette gelbe Käse schmeckt wie feuchtes Papier. Olga isst und sieht sie mit ihrem leeren Tierblick an. Sie hat ein Gesicht wie eine Katze oder ein Fuchs – wachsam. Als es plötzlich raschelt, richtet sie den Blick auf die Kiste, wo der Hund liegt. Ihr Mann macht dasselbe, wie auf Kommando. Beide schauen starr auf die Kiste.
»Du willst rausgehen, nicht? Du willst rausgehen und schaffst es nicht allein, nicht wahr?«
Der kleine unansehnliche Mann hebt den ziemlich großen Hund hoch und nimmt ihn auf den Arm. Es sieht nicht so aus, als könnte man dem Tier noch helfen. Der schwarze zottelige Hundekopf hängt kraftlos herab.
»Macht mir die Tür auf«, sagt er.
Ida erhebt sich rasch, hält die Tür auf und folgt den beiden nach draußen. Der Hund steht schwankend im Schnee, ein mitleiderregender Anblick. Unwillkürlich wendet Ida den Blick ab, die Schwäche des Tiers erscheint ihr intim und peinlich. Der Mann ermuntert den Hund sanft, ein paar Schritte zu tun, er schiebt ihn zart voran: »Nun geh, beweg dich etwas.«
Ida schlägt die Schöße des Morgenmantels zusammen, dabei wird ihr bewusst, dass ihre Beine nackt sind. Aber sie spürt keine Kälte. Von Sekunde zu Sekunde wird es dunkler im Hof, als sei der Abend fest entschlossen, hier, vor ihren Augen, anzubrechen. Es schneit, der Schnee hat die Spuren des Autos schon fast zugedeckt. Der Hund macht ein paar Schritte auf schwankenden Beinen, dann lässt er einen Strahl Urin, ohne überhaupt zu versuchen, in die Hocke zu gehen. Ein dunkler Fleck im Schnee. Reglos steht er darüber, hilflos, offenbar haben die paar Schritte seine Kräfte völlig erschöpft, und er senkt den Kopf.
Der Alte nimmt ihn auf den Arm und trägt ihn unter sichtlicher Anstrengung ins Haus.
»Was fehlt ihm?«
»Sie kann nicht mehr«, sagt der Mann. »Sie hat Krebs. Es ist eine Hündin. Ina, so heißt sie.«
»Lässt sich nichts mehr machen? Eine Operation oder Bestrahlungen?«
»Es ist für alles zu spät.«
»Was soll denn dann werden?«, sagt sie mit plötzlicher Sorge, ja Panik.
»Sie wird sterben«, sagt der Mann keuchend unter dem Gewicht des Tieres und verschwindet im dunklen Viereck der Tür.
Ida folgt ihm nicht in die Küche, sondern bleibt im dunklen Flur stehen. Sie greift nach dem Geländer, sie fühlt sich, als wöge sie Tonnen, als wäre sie schwer wie die ganze Welt. Sie versucht, ihr Bein zu bewegen, aber es gelingt ihr nur, den Fuß ein kleines Stück nach vorn zu schieben. Der Körper gehorcht ihr nicht. Sie will nach Olga rufen, doch die Stimme versagt ihr. Kehle und Zunge sind in der richtigen Stellung, aber die Luft fließt einfach durch sie hindurch, berührt sie nicht einmal. Vor Angst wird ihr heiß. Sie meint einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu haben, etwas Plötzliches, das sich wie ein Netz über sie gestülpt hat und sie einengt. Langsam, Wort für Wort, Gedanke für Gedanke, muss sie sich klarmachen, dass dies ihre Beine sind und dass sie ein Recht auf sie hat. Sie konzentriert sich auf ihre Beine, und nach einer Weile gelingt es ihr, einen kleinen Schritt zu tun. Wie eine Schwerkranke beginnt sie, die Treppe hinaufzusteigen. Es geht immer besser, ja, das Schreckliche ist vorüber. Auf der Suche nach dem Lichtschalter tastet sie im Dunkeln, findet ihn und dreht ihn, es ist ein altmodischer brauner Ebonitschalter, die Finger müssen lernen, ihn zu drehen und nicht zu knipsen. Ihr wird übel.
»Entschuldigung«, sagt sie nach unten. »Ich lege mich einen Augenblick hin.«
Sie bemerkt Olga, die unten an der Treppe steht und ihr besorgt nachschaut. Noch ein paar Schritte, und sie hat es geschafft, sich in dem entsetzlichen düsteren Licht der Glühbirne zur Tür ihres Zimmers zu schleppen. Erst jetzt begreift sie, dass es nur Angst ist, die sie quält, keine Krankheit.
Olga kommt in ihr Zimmer, setzt sich auf die Bettkante und nimmt ihre Hand.
»Ich bin bei dir. Es ist ja alles gut.«
Dankbar erwidert Ida den Druck der trockenen, knochigen Hand.
Das Bild erscheint zaudernd, schwerfällig – zuerst füllt sich das Rechteck des Fensters vor dem Hintergrund der gleichmäßigen Dunkelheit im Zimmer mit Grau, dann leuchtet es silbern und kalt, wie eine aus der Lethargie erweckte Leinwand unmittelbar vor einer Projektion. Ida könnte nicht genau sagen, wann sie aufgewacht ist. Aber sie weiß undeutlich, was kommen wird, sie hat das Gefühl, dass sich hier ein Tagesanbruch wiederholt, vielleicht sogar viele Tagesanbrüche.
Das Wachen unterscheidet sich vom Schlaf durch die Anspannung der Gedanken – diese unsterblichen, dehnbaren Atome der Welt, diese summenden, bebenden Saiten, ohne Anfang und Ende, Geschosse, die mit Lichtgeschwindigkeit durch den Kosmos schnellen wie die Samen von Außerirdischen. Sie siedeln sich in den Köpfen an und verbinden sich miteinander durch einzelne Details, Assoziationen, Analogien zu unendlichen Ketten. Eigentlich weiß niemand, wie sie sich verbinden, was sie zusammenhält, was für eine Ordnung darin herrscht, und sie wissen es selbst nicht, sie brauchen keine Ordnung, lieber geben sie sich nur als Ordnung aus, schaffen kurzlebige, schöne, logische Konfigurationen, phantastische Schneeflocken, fügen sich zu einfallsreichen Abläufen mit Ursache, Grund und Ergebnis, die sie dann jedoch unvermittelt wieder zerstören, zerschlagen, zerreißen und auf den Kopf stellen, sie eilen weiter, doch auf gewundenen Wegen, als Kreis, Spirale, Zickzack oder umgekehrt, sie verschwinden, ersterben, verfallen in einen tiefen Schlaf, um dann plötzlich zu explodieren und als Lawine abzugehen. Man kann auf gut Glück einen Gedanken fangen, ihn packen wie die Schnur eines Drachens, sich eine Zeit lang tragen lassen oder daran festhalten, ihn genauer betrachten und dann beiseitelegen, um anderen, noch verwickelteren und zudringlicheren Platz zu machen. Im Wachen spiegeln sie eine Ordnung vor und täuschen, der Schlaf befreit sie vom Schein. Nachts führen sie ihr Lotterleben.
Mit dem Licht, das durch das Fenster hereinfällt, werden sie immer aggressiver und ausgeprägter, sie formieren sich zu heimtückischen Gruppen und ziehen aus, den Tag zu unterwerfen, sie zerrupfen ihn unter sich, reißen ihn in kleine Streifen, zerstampfen ihn. Die Denkmaschine läuft.
Ein Gedanke ist stärker als die anderen, er drängt sich vor, und nach Sekundenbruchteilen herrscht er über alle anderen. Es ist ein Bild: Mai, Frühling. Ida erkennt den Geruch der Erde, die die ersten Knospen schon hat durchbrechen lassen und jetzt ein wenig ausruht. Die Sonne fällt durch die kleinen, zerkratzten Fensterscheiben, verschönert das Haus, verwandelt es in ein anderes Gebäude, das größer, heller ist. Die fast waagrechten Lichtstrahlen lassen die Struktur des Putzes auf den Wänden hervortreten, die Geheimnisse der Placken und Wasserflecken, lassen die älteren Farbschichten sichtbar werden. Die Sonne ist nicht die Schöpferin der Kunst der Welt, vielmehr bietet sie sie auf gewiefte Weise feil.
Ida ist acht Jahre alt, sie lernt zaubern, ganze Nachmittage vergnügt sie sich mit der Herstellung von Mixturen, die ihr Zauberkraft verleihen sollen. Sie ist oben in ihrem Zimmer. Sie geht ans Fenster und sieht einen Schmetterling, den die Sonne aus seinem Schlupfloch geholt hat. Schmutzig, verstaubt liegt er auf der Fensterbank, bestimmt ist er vom letzten Jahr. Die Flügel mit dem schönen symmetrischen Muster hat er ausgebreitet. Das ist kein gewöhnlicher Schwalbenschwanz, sondern ein selteneres Exemplar. Auf den graubraunen Flügeln zeichnet sich ein Augenpaar ab. Die Illusion ist vollkommen: In der Mitte der mandelförmigen Augen sind die dunkelgrüne Regenbogenhaut und die schwarze Pupille. Der Schmetterling sitzt reglos da, wie ein schöner, geheimnisvoller Gegenstand, ein zartes, chimärisches Schmuckstück. Sie meint zu erkennen, dass die Flügelspitzen zittern. Die kleine Ida schiebt vorsichtig die Hand unter den Schmetterling und legt ihn genau in die Mitte, wo sich die Handlinien kreuzen: Die waagrechte Schicksalslinie schneidet die Herzlinie und gleich dahinter die Lebenslinie. Manchmal spielt sie mit der Mutter Handlesen, daher weiß Ida das. Sie schließt die Augen und stellt sich vor, dass die Handmitte einen Leben spendenden Dunst ausströmt. Der federleichte Schmetterling ist ganz darin eingetaucht, der Dunst wäscht Staub und Winter von ihm ab und gibt ihm das Leben zurück. Ihre Aufregung steigert sich, als sie nach einiger Zeit eine Bewegung spürt, ein verhaltenes nervöses Zittern, sie öffnet die Augen und sieht, dass sich die Flügel wirklich bewegen, sie wollen sich weiter strecken, den ganzen Raum umspannen. Der Schmetterling wandert nun unbeholfen über ihre Handfläche, trippelt nach vorn und zurück, rollt auf der Landebahn. Ida bewegt sich behutsam, hält den Atem an. Sie öffnet das Fenster und streckt die Hand mit dem Schmetterling von sich. Die Luft strömt in frischen Wellen herein, in leisen Windstößen. Der Schmetterling lebt auf, er spürt das Sonnenlicht, das den Raum erfüllt, den warmen Tag, und beginnt mit den Flügeln zu schlagen. Idas Herz klopft heftig, sie hält den Atem an. Die Augen erklimmen ihren Mittelfinger und erforschen eine Zeit lang die Luftströme, wie ein Flieger, der auf den rechten Moment für den Start wartet. »Flieg, flieg!«, sagt sie zu ihm, aber er zaudert, die Flügel schwirren, die kleinen Beinchen klammern sich noch an der Fingerhaut fest, wollen nicht gehorchen. Zu guter Letzt löst er sich, unwillig und langsam, von seinem Halt und setzt sich in Bewegung, erst fällt er ein kleines Stück, dann schwebt er hinauf – Ida sieht ihn auf der Höhe der Dachkante, dort zieht er ein paar Kreise und fliegt schließlich zum Kamin. Links davon kann das Mädchen noch aus dem Augenwinkel einen kleinen Schatten erkennen. Alles geschieht sehr schnell. Ein braunes Vögelchen, sperlingsgroß, mit orangefarbenem Schwanz, fliegt auf den vom Flug benommenen Schmetterling zu und fängt ihn mit einer weichen Bewegung wie ein vom Wind aufgewirbeltes Papierfetzchen auf. Er verschwindet hinter dem Haus.
Verblüfft steht sie da, die Hand in die Luft gestreckt.
Sie setzt sich aufs Bett. Sie hebt ihre Sachen auf und fängt an sich anzuziehen. Es ist kalt, die Apfelfeuchtigkeit haftet auf der Haut, jetzt nimmt Ida in diesem Geruch einen Hauch von Fäulnis wahr.
Es war eine dumme, unüberlegte Idee gewesen, bei diesem Wetter loszufahren, um das alte Haus zu besuchen. Eine unkluge Sentimentalität, vielleicht gab es das Haus gar nicht mehr. Als sie es verkaufte, hielt es sich kaum noch aufrecht. Und selbst wenn es noch existiert – sicher wohnen jetzt fremde Leute dort, die aus der Stadt auf Urlaub hier sind, und solche Besuche sind für beide Seiten peinlich. Sie sieht den Flur vor sich, Skibindungen und Skistöcke liegen drunter und drüber, in der Küche Rucksäcke, fremde Socken, die über dem Herd trocknen. Den Kachelofen haben sie abgerissen und stattdessen einen norwegischen Eisenofen aufgestellt. Vielleicht haben sie auch renoviert, und es ist nichts mehr da, was sie erkennen könnte.