Tales of Hope and Despair - Vanessa Golnik - E-Book

Tales of Hope and Despair E-Book

Vanessa Golnik

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Beschreibung

Eine ungewöhnliche Mischung aus Fantasy und Science-Fiction, aus Wissenschaft und Magie – das packende Finale der Tales-Reihe für LeserInnen von Ava Reed und V.E. Schwab

»Keiner von uns weiß, wie lange wir noch haben, aber wenn wir aufgeben, haben wir auf jeden Fall verloren. Wir kämpfen dafür überhaupt eine Chance auf eine Zukunft zu haben.«

Die Akademie ist gefallen. Das Chaos herrscht über Kingston und steht kurz davor auch den Rest Nordamerikas zu unterwerfen. Die Begabten verstecken sich mit den Geflüchteten in einigen der alten Bunker aus der Zeit der großen Bestienplagen, bevor die Gaben sich entwickelten. Liana, Kieran und die anderen Ausgewählten sind die einzigen, die das Chaos noch aufhalten können. Doch ihnen läuft die Zeit davon. Mit jedem Tag wird das Chaos stärker und sammelt mehr Anhänger. Aber auch die Magie hat noch einen letzten Trumpf im Ärmel.

Band 3 der düsteren Fantasy-Reihe »Tales«.

Romantische Fantasy in einem futuristischen Setting mit einem Haufen verrückter Monster

»Dieser Band ist ein grandioser Abschluss der Reihe. Egal ob Selbstfindung, Liebe, Hass oder Vertrauen, emotional ist dieses Finale absolut.« ((Leserstimme auf Netgalley))

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Cornelia Franke

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Annika Hanke

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Triggerwarnung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Danksagung

Bestien-Glossar

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Für Papa, der mich schon früh für Naturwissenschaften begeistert hat. (Doch, das hat etwas mit diesem Buch zu tun. Mehr, als ihr denkt.)

Triggerwarnung

Erwähnung und explizite Beschreibung der einzelnen Stadien von Trauer und die Verarbeitung/Verdrängung dieser, Verlust des eigenen Kindes, des Partners*der Partnerin und von Familienmitgliedern.

Erwähnung und explizite Beschreibung von Diskriminierung (Begabte/Nicht-Begabte, Krieger/Medien, Anhänger Magie/Anhänger Chaos)

Kapitel 1

Sie ist tot, Mom.

Maddie ist tot.

Meine eigenen Worte hallten wieder und immer wieder durch meinen Kopf. Das Medikament, das alle Nicht-Begabten genommen hatten, damit sie den Weg zu unserem Zufluchtsort vergaßen, hatte dafür gesorgt, dass meine Mutter auch vergaß, was ich ihr kurz vor dem Aufbruch erzählt hatte. Erst beim zweiten Mal war mir richtig klar geworden, dass meine kleine Schwester tot war. Dass ich sie nie wiedersehen würde. Wir konnten Maddie nicht einmal beerdigen, da wir ihre Leiche in der Akademie zurückgelassen hatten. Bei dem Gedanken daran wurde mir schlecht. Hatten sich Bestien über ihre Leiche hergemacht? Hatte man sie achtlos entsorgt, gemeinsam mit den anderen Gefallenen?

Kieran legte einen Arm um mich und zog mich zu sich heran. »Kannst du nicht schlafen?« Das Bett, in dem wir lagen, war kleiner als das in Kierans Wohnung. Die Bettwäsche war billig und rau.

Ich schüttelte den Kopf und vergrub das Gesicht an seiner Brust.

»Maddie?«, fragte er.

Ich nickte.

Er begann, mit der Hand sanft über meinen Rücken zu streichen. Kaum zu glauben, dass es erst ein paar Wochen her war, dass er ein Familienmitglied verloren hatte und ich für ihn da gewesen war. Tränen stiegen mir in die Augen. Die Lage war noch nie aussichtsloser gewesen. Wir hatten den Kampf um die Akademie verloren. Der wichtigste Stützpunkt der Begabten, der Ort, an dem alles geregelt wurde, an dem sich alle Informationen, Waffen und Forschungsergebnisse befanden. All das lag nun in den Händen der Sekte, weil wir zu blind gewesen waren, um den Verräter in unserer Mitte zu bemerken.

Es war nicht schwer, euch alle zu täuschen, klangen Arlingtons Worte durch meine Gedanken.

Ich hatte gewusst, wie machthungrig er war, und trotzdem hätte ich niemals erwartet, dass er sich auf die Seite der dunklen Magie stellen würde. Er war bereits das oberste Medium. Was wollte er denn noch? Mehr, immer mehr. Jetzt regierte er gemeinsam mit Menning über Kingston, aber das würde ihnen nicht reichen. Sie würden versuchen, die Kontrolle über ganz Nordamerika zu erlangen.

»Wir können zur Krankenstation gehen und dir etwas holen, damit du schlafen kannst«, schlug Kieran vor.

»Nein«, flüsterte ich, »die haben genug zu tun.«

Unter den Menschen im Bunker gab es viele Verletzte, sowohl Begabte als auch Nicht-Begabte.

MemoBlock, das Medikament, das General Namara den Nicht-Begabten gegeben hatte, damit sie den Weg zum Bunker vergaßen, hatte noch ein paar Stunden nach unserer Ankunft gewirkt, was dazu geführt hatte, dass die Ärzte und Pfleger ständig vergaßen, was sie taten. Jede Spritze, die sie setzten, hatten wir überprüfen müssen, damit das richtige Gegengift im richtigen Patienten landete. Der Bunker bot nur einen begrenzten Vorrat. Jede Dosis war kostbar. Bis zum Abend waren die Verletzten nur notdürftig behandelt worden. Der Magie sei Dank waren die meisten nicht in kritischem Zustand. Die Schwerverletzten hatten es nicht hierher geschafft.

»Bist du sicher?«, fragte Kieran. »Du brauchst deinen Schlaf.«

»Geht schon. Ich bin so erschöpft, dass ich bestimmt bald einschlafe.« Der erste Teil stimmte. Der zweite war gelogen. Mein Körper war am Ende, mein Geist dagegen hellwach und schickte unablässig neue Sorgen durch meinen Kopf.

Ich war mir sicher, dass Kieran mich durchschaute, doch er sagte nichts mehr, sondern strich weiter über meinen Rücken.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich noch in die Dunkelheit starrte, irgendwann musste ich weggedämmert sein, denn ein Klopfen an unserer Tür riss mich aus dem Schlaf.

»Kieran?« Evangelines Stimme drang durch die Tür. »Liana? Wir wollen in einer Stunde eine Besprechung abhalten.«

Irgendwann zwischen dem Zeitpunkt, an dem ihr Mann mir das Du angeboten hatte und wir gemeinsam eine Frau festgehalten hatten, damit ihr das Gegengift für die Grinsekatzen gespritzt werden konnte, hatte auch sie begonnen, mich mit meinem Vornamen anzusprechen.

»Wir kommen, Mutter«, rief Kieran zurück und schaltete das Licht ein. Blinzelnd sah ich mich in dem winzigen Raum um, in den gerade so ein Bett passte. Ansonsten gab es nur ein paar Regalbretter, die vollkommen leer waren. Unsere dreckigen Uniformen von gestern lagen noch auf dem Boden.

»Ich habe euch frische Sachen und Handtücher vor die Tür gelegt«, sagte Evangeline.

Ich setzte mich auf und strich mir die zerzausten schwarzen Locken aus dem Gesicht.

Kieran legte eine Hand an meine Wange und küsste mich auf die Stirn. Dann stand er auf, öffnete die Tür und kam mit den Sachen zurück, die Evangeline uns dagelassen hatte.

Neben der Kleidung und den Handtüchern hatte sie uns außerdem zwei Kulturbeutel gebracht. Ich öffnete einen davon. Haarbürste, Rasierer, Deodorant, Zahnbürste, Zahnpasta. Gestern hatten wir nur grob das Blut von unserer Haut geschrubbt, bevor wir ins Bett gefallen waren.

Kieran hielt mir die Hand hin und ich ließ mich von ihm hochziehen. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zu den Waschräumen.

Es musste noch früh sein, denn uns kamen nur wenige Menschen entgegen. Alle trugen die einfachen schwarzen Shirts und Hosen, die Evangeline auch uns gegeben hatte.

Im Waschraum angekommen, stellte ich meinen Kulturbeutel auf die Ablage über den Waschbecken und begann, meine Locken zu entwirren.

Gegenüber den Waschbecken reihten sich Duschkabinen aneinander. Am anderen Ende des Raumes führte eine Tür zu den Toiletten. Es standen noch weitere Frauen an den Becken, doch ich kannte keine davon. Aus den Duschkabinen hörte ich Wasser und Stimmen. Jemand unterhielt sich über das Rauschen hinweg mit der Frau in der Nachbarkabine.

Ich zuckte zusammen, als mir jemand die Hand auf die Schulter legte. Ich hatte so abwesend ins Leere gestarrt, dass ich im Spiegel nicht gesehen hatte, wie Mandy sich genähert hatte.

»Morgen.« Ihre Stimme war leise, als hätte sie Angst, jemanden zu stören. »Wie geht es dir?«

»Den Umständen entsprechend würde ich sagen.« Ich hielt den Blick auf die Strähne gerichtet, die ich versuchte zu entwirren. Blut und Schweiß verklebten sie.

Sie strich mir über den Rücken. »Ich bin für dich da. Egal, was du brauchst.«

»Ich weiß«, murmelte ich. »Danke.«

Mandy wusste genau, wann ich reden wollte und wann nicht. Also wandte sie sich ab und machte sich auf den Weg zu den Duschkabinen.

Nachdem ich meine Haare entwirrt hatte, tat ich es ihr nach. Die Tür zur Kabine führte in einen winzigen Vorraum, in dem es eine Bank gab, auf die ich das Handtuch und meine frische Kleidung legte. Dann zog ich mich aus und öffnete die Dusche. An der Wand hingen zwei Spender mit Shampoo und Seife.

Ich drehte den Hahn auf und stellte mich unter den Strahl. Das kalte Wasser ließ mich erzittern, doch es wurde schnell wärmer.

Ich verteilte eine großzügige Portion Shampoo in meinen Haaren. Gestern Abend hatte ich mich hastig gewaschen, damit mich niemand mehr fragen konnte, wie es mir ging. Ob alles in Ordnung war. Damit mir niemand mehr sein Beileid aussprechen konnte. Tränen mischten sich unter das Wasser, als ich an Maddie dachte. Daran, wie sie mich angegriffen hatte, ihr Gesicht vom Wahnsinn der dunklen Magie verzerrt. Daran, wie die Kugel ihren Kopf durchschlagen hatte. Daran, wie ich sie festgehalten und geschrien hatte, während die anderen kämpften. An Leos entsetztes Gesicht, als ihm klar wurde, dass er jemanden erschossen hatte. Leo, der es nicht in den Bunker geschafft hatte und wahrscheinlich von Bestien zerfetzt worden war. Genau wie Andrew.

Es dauerte, bis ich mich wieder so weit beruhigte, dass ich das Wasser ausstellen und aus der Dusche treten konnte. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich gebraucht hatte, also trocknete ich mich hastig ab, zog mich an und trat wieder ans Waschbecken, um mir die Zähne zu putzen und die Haare zu föhnen.

Mandy stand ein paar Waschbecken entfernt. Sie war früher fertig geworden, wartete aber. Ich hatte nicht die Kraft, sie fortzuschicken. Ein paar Minuten später gesellte sich Charlotte zu ihr, das lange blonde Haar zu einem feuchten Knoten gebunden. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zum Essensraum.

Der Bunker war erstaunlich groß und verwinkelt. Jeder Gang sah gleich aus. Wären nicht an jeder Ecke Wegweiser an die Wände gemalt, hätte ich mich permanent verlaufen. Dennoch musste ich aufpassen, dass ich nicht in Gedanken versunken die falsche Abbiegung nahm. Alles hier war weiß, steril, ohne jegliche Dekoration.

»Wie geht es dir?«, fragte mich nun auch Charlotte.

»Alles in Ordnung.« Ich hielt den Kopf gesenkt, nicht in der Lage, ihr in die Augen zu sehen. Das Mitleid in den Blicken der anderen sorgte dafür, dass der Schmerz stärker wurde. Sie erinnerten mich ständig daran, dass meine eine Schwester tot und die andere in den Händen der Sekte war.

»Sicher?«, hakte Charlotte nach.

Ich hielt inne und sammelte all meine Kraft, um ihr entschlossen in die Augen zu sehen. »Wenn alle, die gestern jemanden verloren haben, zusammenbrechen, ist niemand mehr zum Kämpfen da.«

Ich war längst nicht die Einzige, die sich Sorgen um Verwandte machte. Kierans Cousin Ray, Jasons Bruder, hatte es in den Bunker geschafft, doch niemand wusste, wo die Eltern der beiden waren. Mit den anderen hatte ich noch nicht geredet, doch ich war mir sicher, dass jeder von ihnen jemanden verloren hatte oder vermisste.

Charlotte hob eine Augenbraue. »Gesprochen wie eine wahre Kriegerin. Verdrängen ist unser Motto. Wir sehen uns dann in der Therapie, wenn das alles vorbei ist.« Damit ließ sie mich stehen und ging weiter.

Ich blickte ihr hinterher, bis Mandy nach meiner Hand griff und mich mit sich zog. Natürlich hatte Charlotte recht. Ich verdrängte. Weil ich nicht die Zeit hatte zu verarbeiten. Wir wurden gebraucht, um die Dunkelheit zu bekämpfen.

Der Essensraum war bereits gut besetzt. Er sah so ähnlich aus, wie die Cafeteria in meiner Schule, mit dem Unterschied, dass die langen Tische brandneu und bisher ungenutzt waren. Da alle die gleiche schwarze Kleidung trugen, war es unmöglich zu sagen, wer begabt war und wer nicht. Trotzdem entdeckte ich Kieran und die anderen ausgewählten Paare an einem der Tische. Ich ließ mich von Mandy zur Essenausgabe ziehen, wo sie zwei Tabletts füllte.

Blicke folgten uns, als wir uns auf den Weg zu unserem Tisch machten. Dafür, wie voll der Raum war, war es gespenstisch still. Ich sah kein einziges glückliches Gesicht. Alle wirkten müde, niedergeschlagen und hoffnungslos.

Als wir uns setzten, murmelten die anderen eine kurze Begrüßung, verfielen allerdings sofort wieder in Schweigen. Kieran legte einen Arm um mich und küsste mich auf die Wange, bevor er weiter aß. Mein Blick schweifte zunächst über die Begabten am Tisch.

Jack starrte auf seinen Teller, während er sein Essen ungeschickt mit links in sich hineinschaufelte. Seine rechte Hand war verbunden.

Neveah hatte eine Wunde an der Stirn, die genäht worden war. Ihr Tablett war bereits leer. Sie versuchte Tally, die neben ihr saß, zum Essen zu bewegen. Doch die schüttelte nur den Kopf. Ihre Augen waren rot und verquollen. Vermutlich hatte sie die ganze Nacht um Andrew geweint.

Ihr gegenüber saß Leos Partner Darren. Er aß, doch ich sah, wie seine Hand zitterte, wenn er den Löffel zu seinem Mund führte.

Jason und Dina schenkten mir beide ein kurzes Lächeln, genau wie Beth und Carly, die am anderen Ende des Tisches saßen. Die anderen kamen mir zwar bekannt vor, aber ich wusste nur, dass sie zu den letzten Paaren gehört hatten, die ausgewählt wurden.

Mühsam würgte ich mein Müsli herunter. Mandy hatte Joghurt und Dosenfrüchte dazugegeben, doch ich schmeckte kaum etwas.

Sobald wir unser Frühstück beendet hatten, folgten wir Kieran durch die weißen, leeren Gänge, bogen um Ecken, die alle gleich aussahen, bis Kieran schließlich die Tür eines Raumes öffnete.

Im Inneren stand ein langer Tisch, an dem bereits ein paar Leute saßen. Neben Kierans Eltern entdeckte ich noch Professor Barton, die oberste Alchemistin der Akademie, Detective Ramos von der Polizei Kingstons und Alain Bernard, der Vize-Präsident Nordamerikas.

Während wir uns setzten, zählte ich die ausgewählten Paare.

Ich kam auf sechzehn. Vor dem Kampf um die Akademie waren wir noch achtundzwanzig gewesen.

»Gut, sind alle anwesend?«, fragte General Namara.

Seine Frau nickte. »Bis auf die vier, die momentan auf der Krankenstation sind, ja.«

»Sind sie schwer verletzt?«, fragte eine Begabte, deren Namen ich nicht kannte. Sie trug eine Kriegerbrosche, hatte blaue Haare und ostasiatische Gesichtszüge. Neben ihr saß eine junge Frau mit roten Locken und Sommersprossen, die sich an ihren Arm klammerte. Sicher ihre Partnerin, auf deren Brust ich die Alchemistenbrosche erkannte.

»Wir haben noch keine Informationen zu ihrem Zustand, Miss …?« Fragend sah Evangeline sie an.

Die junge Frau blinzelte ein paar Mal, bevor sie den Mund öffnete. »Cho. Anna Cho.«

»Miss Cho«, wiederholte Evangeline, »auf der Station geht es noch drunter und drüber, aber wir werden bald Informationen bekommen.«

Anna nickte. Sie wirkte verstört. War es nur das Trauma der gestrigen Schlacht oder war es mehr? Ich war mir sicher, dass sie zu denjenigen gehörte, die von der Magie in den gemeinsamen Rausch gezwungen worden waren. Hatte sie sich davon noch nicht erholt? Und was war mit denjenigen auf der Krankenstation? Ich konnte mich nicht daran erinnern, einen von ihnen dort gesehen zu haben, aber es war so chaotisch gewesen.

»Wir haben einiges zu besprechen«, begann General Namara, »aber zunächst wollen wir Ihnen einen Teil der Berichte zeigen, die momentan auf Channel One laufen, damit Sie alle wissen, wie die Situation in Kingston aussieht.« Er tippte auf seinen Core und der große Bildschirm, der an der hinteren Wand des Raumes hing, erwachte zum Leben. Der Bildschirm war klobiger als die Modelle, die ich kannte. Viel dicker und das Bild hatte eine schlechtere Qualität. Der Bunker war zur Zeit der ersten Bestienplagen ausgerüstet worden, also musste der Großteil der Technik achtzig bis neunzig Jahre alt sein, wenn nichts erneuert worden war.

In der rechten oberen Ecke leuchtete das Logo von Channel One, doch die Frau, die mit einem Mikrofon in der Hand auf einer verwüsteten Straße stand, hatte ich noch nie gesehen. Sie erzählte von der Zerstörung, die wir angeblich angerichtet hatten, während im Hintergrund immer wieder Bestien durchs Bild schlichen.

Als sich hinter ihr einige Grinsekatzen auf eine Frau stürzten, strahlte sie nur noch breiter.

»Wir haben bereits den Regierungssitz eingenommen. Gemeinsam wird es uns gelingen, auch den Rest der Begabten zu stürzen. Niemand, der nicht auf der Seite dieser Verräter steht, hat etwas zu befürchten. Sie sind sicher.« Erneut waren Schreie zu hören.

»Mir ist schlecht«, murmelte Mandy neben mir.

Das Bild wechselte ins Studio von Channel One. Der Raum in der Akademie, in dem auch Kieran und ich unsere Interviews gegeben hatten.

Doch nicht Darla saß auf dem Stuhl, sondern ein Mann. An seiner Seite Menning und Arlington, die beide zufrieden lächelten.

Sie trugen Talare, doch nicht den lilafarbenen, der Arlington als oberstes Medium gekennzeichnet hatte, sondern einen weißen, auf dem eine orangefarbene Sonne mit verschlungenen schwarzen Pfeilen prangte. Das Symbol der Kirche des Chaos.

»Prophet Menning, Prophet Arlington, schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mit uns zu sprechen«, begann der Reporter.

Menning breitete gönnerhaft die Arme aus. »Für uns ist die Kommunikation mit dem Volk das Wichtigste. Im Gegensatz zu den Begabten werden wir nichts verschweigen.«

Von Charlotte kam ein Würgegeräusch, für das sie sich einen bösen Blick von Evangeline einfing.

»Ich bin sicher, die Bevölkerung weiß das zu schätzen, nachdem sie so lange belogen wurde.« Der Mann wandte sich an Arlington. »Prophet Arlington, Ihnen ist es zu verdanken, dass wir einen großen Erfolg feiern können. Sie haben sich in die Akademie eingeschleust, unsere Feinde untergraben und dabei Ihr Leben riskiert. Wollen Sie uns mehr darüber erzählen?«

Arlington faltete die Hände über dem Bauch. »Das Chaos hat sich mir schon vor Jahren offenbart. Es war nicht leicht, stillschweigend all die Verbrechen zuzulassen, die die Begabten begangen haben, aber das Chaos musste noch Kraft für unseren Kampf sammeln. Erst vor ein paar Monaten führte es mich zu Richard und seinen Verbündeten. Dann schickte es uns die Riesenwarane, damit die Begabten abgelenkt waren und wir unsere Pläne vorbereiten konnten.«

Mein Magen krampfte sich zusammen. Von Anfang an hatte er uns an der Nase herumgeführt. Hatte akzeptiert, dass tausende Menschen von den Riesenwaranen getötet wurden, nur damit er noch mehr Macht bekommen konnte.

»Es hat wunderbar funktioniert. Die Begabten waren so damit beschäftigt, sich als angebliche Helden zu präsentieren, dass niemand bemerkte, wie wir die Akademie infiltrierten. Es war ein weiter Weg, aber gestern waren wir endlich bereit zuzuschlagen.«

Das Lächeln des Reporters wirkte nicht nur aufrichtig, sondern dankbar, dabei würden Arlington und Menning keinen Finger rühren, sollten die Bestien ihn zerfetzen. »Diese Worte machen Mut und ich bin sicher …«

General Namara tippte erneut auf seinen Core und der Bildschirm erlosch. »Das waren die wichtigsten Informationen. Sie laufen noch stundenlang durch die Straßen und geben uns die Schuld an jedem umgeknickten Blümchen.«

Es waren mehr als nur umgeknickte Blümchen. Hinter der Reporterin waren Leichen zu sehen gewesen, sowohl von Bestien als auch von Menschen. Die Sekte hatte bei ihrem Zug durch die Stadt randaliert, Müll füllte die Straßen. Fenster waren eingeworfen worden, Türen eingetreten. Blutflecken verdunkelten den Asphalt.

»Mr Bernard und eine Handvoll Parlamentsmitglieder sind die einzigen der Regierung, die hier bei uns sind«, fuhr der General fort. »Sie waren gemeinsam mit Detective Ramos in der Akademie, um die Kriegerzentrale zur Koordination der Streitkräfte zu nutzen. Daher sind auch einige Polizisten im Bunker. Im Regierungsgebäude hat es niemand in den dortigen Bunker geschafft.«

Meine Augenbrauen schossen in die Höhe. »Im Regierungsgebäude gibt es auch einen Bunker?«

General Namara zuckte mit den Achseln. »Das ist unsere Vermutung. Sicher weiß es nur Martinez.«

»Martinez ist tot.«

Alle Köpfe fuhren zu Bernard herum.

Der schloss kurz die Augen, bevor er zu sprechen begann. »Er hat mir gesagt, dass er Geheimnisse kennt, die niemals in die Hand der Dunkelheit geraten dürfen und er sich umbringen wird, wenn sie je versuchen sollte, ihn zu übernehmen. Deswegen hat er mich in die Akademie geschickt. Damit wir bessere Chancen haben, dass zumindest einer von uns überlebt.«

Es war totenstill im Raum, während alle Bernard anstarrten.

Evangeline war die Erste, die sich erholte. »Martinez war ein guter Präsident und ein mutiger Mann. Er wusste, dass die Sekte ihn ohnehin getötet hätte, sobald sie ihm alle Informationen entlockt hätte. Genauso werden sie mit den Regierungsmitgliedern und Journalisten umgehen, die sie festgenommen haben.«

»Sie haben auch Journalisten festgenommen?« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, während ich an Darla und das Team von Channel One dachte.

Evangeline sah mich an, als wäre ich schwer von Begriff. »Natürlich. Sie bauen ein totalitäres Regime auf. Freie Berichterstattung können sie nicht gebrauchen. In ihren Augen sind die Journalisten genauso Volksverräter wie wir und die Regierung.«

»Es ist trotzdem etwas anderes, wenn man einige dieser Leute kennt.« Kieran fuhr sich durch das dunkle Haar. »Also, was ist der Plan? Ich nehme an, wir werden nicht untätig rumsitzen, bis uns das Essen ausgeht?«

Evangeline warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, doch es war ihr Mann, der antwortete.

»Wir haben direkt gestern Abend versucht, die anderen Akademiestädte zu kontaktieren. Bisher erfolglos. Ohne ihre Hilfe sind die Aussichten schlecht. Von hier aus können wir die Stadt nicht zurückerobern. Wir haben nicht genug Krieger. Die meisten hier sind Zivilisten.«

Neveah lehnte sich vor. »Also sabotieren wir, damit die anderen von außen in die Stadt kommen, so, wie die Sekte es mit den Bestien gemacht hat?« Ihr Grinsen wirkte wie eine Kriegserklärung.

»Wieso konnten Sie die anderen Städte nicht erreichen?«, wollte Mandy wissen. »Wie kommunizieren Sie überhaupt? Ich dachte, der Empfang der Cores ist blockiert, damit wir nicht gefunden werden.«

Mein Blick fiel auf meinen Core, der seit gestern nur noch anzeigte, dass er sich nicht mit dem Netz verbinden konnte. Etwas, was vorher noch nie passiert war. Innerhalb des Bunkers konnten wir problemlos Nachrichten verschicken und telefonieren, doch eine Verbindung nach außen gab es nicht.

»Festnetztelefon, genau wie in der Kriegerzentrale«, erklärte General Namara. »Die Anrufe sind allerdings so gesichert, dass ein Code eingegeben werden muss, bevor die Verbindung aufgebaut werden kann. Nur die anderen Generäle haben diesen Code und wissen, dass es diese verschlüsselten Anrufe gibt. Ich vermute, dass bisher niemand verstanden hat, was los ist, aber früher oder später wird der erste General reagieren.«

Charlotte hob die Hand, begann aber zu sprechen, bevor sie dazu aufgefordert wurde. »Was ist mit General Omar? Hat er es nicht in den Bunker geschafft?«

General Omar war der General der Krieger, der Einzige, der noch über den Generälen der Akademiestädte stand.

Kierans Eltern tauschten einen Blick, bevor Evangeline antwortete. »General Omar war bereits seit einiger Zeit krank, weswegen er sich immer mehr zurückgezogen hat. Er hat Arthur darauf vorbereitet, seinen Posten zu übernehmen. Auf dem Weg zum Bunker wurde er von einer Grinsekatze gebissen und das Gift war zu viel für sein Herz.«

Gemeinsam mit Halluzinationen löste das Gift der Grinsekatzen Panik aus, um die Schreckensszenarien noch beängstigender zu machen. Zu viel Adrenalin. General Omar war fast siebzig gewesen. Für einen Krieger ein stolzes Alter.

»Also sind Sie jetzt General der Krieger?«, fragte Neveah General Namara. »Und wer wird jetzt General von Kingston? Sie, Colonel?« Neugierig sah sie Evangeline an, deren Augen sich verengten.

»Das ist im Moment unser geringstes Problem.« Evangeline konzentrierte sich auf das Tablet, das vor ihr lag. »Wir müssen die Versorgung der Verletzten sicherstellen, unsere Vorräte sichten und das weitere Vorgehen planen. Oberste Priorität hat es, die anderen Städte zu kontaktieren, was wir leider nur bedingt kontrollieren können. Wir werden weiter anrufen, bis wir Erfolg haben.«

In diesem Moment klingelte das Telefon, das am Ende des Tisches stand. Ich war nicht die Einzige, die zusammenzuckte.

Kapitel 2

Auf den Gesichtern der meisten anderen im Raum breitete sich verhaltene Freude aus, doch mein Herz raste. War das der ersehnte Anruf aus einer der anderen Akademiestädte?

»Freuen Sie sich nicht zu früh«, mahnte General Namara, bevor er aufstand und zum Telefon ging. »Das könnte auch einer der Krieger aus meinem Büro sein.«

Kieran hob die Augenbrauen. »Und warum sollten die über das Telefon anrufen und nicht über deinen Core?«

General Namara nahm den Hörer ab. »Ja?« Eine kurze Pause. »Stellen Sie durch.« Er drückte ein paar Tasten auf dem Telefon, um besagten Code einzutippen. »Larsson! Schön, von Ihnen zu hören. Ich stelle Sie auf Lautsprecher. Ich bin gerade in einer Besprechung.«

Meine Augenbrauen schossen in die Höhe.

»Larsson ist die Generalin der Winnipeg Academy«, flüsterte Kieran mir zu.

Ich schenkte ihm ein dankbares Lächeln, denn ich hatte keine Ahnung, wer zu welcher Akademie gehörte. Bisher war es für mich nicht nötig gewesen, das zu wissen.

»Wie geht es Ihnen, Namara?«, erklang eine raue Stimme durch den Lautsprecher. »Wie ist die Lage?«

Arthur sah in die Runde. Alle starrten ihn erwartungsvoll an. »Den Umständen entsprechend. Wir haben einige Verletzte, um die sich noch gekümmert wird, zumindest die Lebensmittelversorgung ist fürs Erste gesichert. Wie sieht es bei Ihnen aus?«

»Die Bestienangriffe haben nicht nachgelassen, doch gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Sekte einen größeren Angriff plant. Wird nicht lange so bleiben. Wir sollten möglichst schnell einen Plan aufstellen. Ich werde die anderen Generäle sofort informieren und mich dann wieder melden. Wir werden nicht zulassen, dass diese Sekte die Kontrolle über Kingston behält. Bis später, General Namara.«

Ein Tuten erklang, als sie auflegte.

General Namara riss den Blick vom Telefon los. »Wir sollten die Zeit nutzen, um einen umfassenden Bericht zusammenzustellen. Wir brauchen Informationen darüber, wer alles hier ist. Wer uns helfen kann. Außerdem brauchen wir einen Überblick über die Lage in der Krankenstation und die Ausstattung der Labore und Werkstätten.«

Ich setzte mich gerader hin. »Es gibt Labore hier?«

Der General nickte. »Der Bunker ist darauf ausgelegt, von hier aus Bestien zu bekämpfen. Es ist eine recht rudimentäre Einrichtung. Nichts, was auf die Produktion großer Mengen ausgelegt ist, aber das Wichtigste ist vorhanden.«

»Ich dachte, dieser Bunker wurde vor Jahrzehnten gebaut. Bevor es den Großteil der Bestien gab, die wir heute haben«, meldete Carly sich zu Wort.

»Die Ausstattung wurde regelmäßig aktualisiert«, erklärte der General. »Die Krieger, die mir geholfen haben, wurden jedes Mal von der Magie geblendet, aber wir haben Protokolle im internen System des Bunkers gefunden, auf denen vermerkt wurde, gegen welche Bestien wir gerüstet sind.«

Jack verzog das Gesicht und wies auf den Bildschirm. »Warum haben wir dann diese uralte Technik?«

»Prioritäten, Mr Dennings. Die Technik hier funktioniert einwandfrei, auch wenn sie alt ist.« Evangeline lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Wir sollten Gruppen einteilen, die sich die verschiedenen Bereiche anschauen. Professor Barton, Sie wollen sicherlich die Labore übernehmen. Dazu gebe ich Ihnen am besten die Alchemisten mit, die gerade hier sind. Sie können sich schon auf den Weg machen, ich schicke Ihnen den Standort.« Sie tippte auf ihren Core.

Professor Barton erhob sich, genau wie die restlichen Alchemisten im Raum. Dann sah sie auf ihren Core und nickte. »Danke, Colonel Namara.« Den Blick auf den Core gerichtet verließ sie den Raum und wir folgten ihr.

Carly ging neben mir. Sie beobachtete mich mit einem genauso besorgten Blick wie alle anderen, aber sie sagte nichts, wofür ich dankbar war. Außer Jack, Tally und der rothaarigen Alchemistin, die sich an Anna Cho festgeklammert hatte, war noch ein weiterer Alchemist in unserer Gruppe.

Irgendwann, ich hatte mir keine Mühe gemacht, mir die Gänge zu merken, hielt Professor Barton an und sah sich lächelnd um. »Hier sind wir also!«

Für mich sah auch hier alles gleich aus. Die gleichen weißen Wände und Türen wie überall im Bunker.

»Mr Dennings, Mr Dalton, wenn Sie sich bitte Ihre Werkstatt angucken würden.« Sie deutete auf die Tür, mit der Aufschrift Technikwerkstatt. Sofort trat Jack darauf zu und öffnete. Gemeinsam mit dem anderen Alchemisten verschwand er dahinter. »Dr. Howard, Miss Wong könnten Sie einen Blick auf die Waffenwerkstatt werfen?«

Carly nickte und ging gemeinsam mit Tally durch den Gang zur nächsten Tür.

»Miss Williams, Miss Schmidt, die Syntheselabore sind auf der rechten Seite. Wenn Sie sich darum kümmern, würde ich Dr. Howard und Miss Wong helfen.«

»Natürlich«, murmelte ich.

Die rothaarige Alchemistin sagte nichts, aber sie folgte mir durch die erste Tür.

Der Raum ähnelte den Laboren in der Akademie. Arbeitsflächen, Abzüge, ein Kühlschrank. Ein großer gelber Sicherheitsschrank, in dem die Chemikalien gelagert wurden. Ich drückte den Knopf, der die Lüftung aktivierte und ein leichtes Summen ertönte.

»Ich bin übrigens Liana«, stellte ich mich der anderen Alchemistin vor.

»Ich weiß.« Ihr Blick glitt durch das Labor. Sie wirkte abwesend.

Als sie bemerkte, wie ich die Augenbrauen hochzog, lief sie rot an. »Valerie. Ich bin Valerie.« Ich hatte den Eindruck, dass sie durch mich hindurch sah.

»Freut mich. Ist alles in Ordnung?«

Sie nickte, immer noch rot im Gesicht. »Ja, es ist nur ein bisschen viel. So alles.«

»Das kannst du laut sagen.« Vielleicht erging es ihr ähnlich wie mir und sie wollte nicht ständig an die schrecklichen Ereignisse erinnert werden. Also trat ich an ihr vorbei und schritt auf den Sicherheitsschrank zu, der ein leises Quietschen von sich gab, als ich ihn öffnete. Ich zog eins der gutgefüllten Fächer heraus. Alle Flaschen waren originalverschlossen und in gutem Zustand. Ich fand die Inhaltsstoffe der Gegengifte für LSD-Mäuse und Giftratten, doch auf den ersten Blick nichts Aktuelleres.

»Die neueren Sachen sind vielleicht woanders gelagert«, sagte ich, während ich den nächsten Schieber herauszog. Hier standen alle möglichen Lösungsmittel. »Das hier ist bloß Grundausstattung. Wie sieht es bei dir aus?«

Valerie öffnete gerade einige Schubladen unter den Arbeitsflächen und hielt einen Kolben hoch. »Glasgeräte.«

Ich schloss den Schrank und ging an Valerie vorbei zu den Abzügen. Dort standen einige Magnetrührplatten und Hebebühnen. Ich griff nach der Rolle Papiertücher, riss eins ab und steckte es in die Lücke zwischen der Arbeitsfläche des Abzugs und dem Schieber, der ihn verschloss. Das Tuch flatterte wild im Zug der Lüftung. Ein erleichtertes Lächeln trat auf mein Gesicht. Alles schien einwandfrei zu funktionieren.

Ich zuckte zusammen, als es hinter mir klirrte, und wirbelte herum.

Valerie stand vor einem Haufen Glasscherben.

Mir entwischte ein nervöses Lachen. »Hast du mich erschreckt.«

Sie reagierte nicht, stand nur wie angewurzelt vor den Scherben.

Langsam trat ich auf sie zu. »Alles in Ordnung?«

Selbst als ich ihr eine Hand auf die Schulter legte, starrte sie mit weit aufgerissenen Augen ins Leere.

»Valerie?« Ich wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. »Valerie, kannst du mich hören?« Keine Reaktion.

Mein Herz begann, schneller zu schlagen, während ich mich hektisch umsah. Auf dem Kühlschrank entdeckte ich ein Kehrblech, mit dem ich hastig die Scherben zusammenfegte. Ich hatte Angst, dass Valerie sich daran verletzen könnte, wenn plötzlich wieder Leben in sie kam.

Ich legte das Blech und den Handfeger auf die Arbeitsfläche und umfasste dann mit beiden Händen Valeries Schultern. »Valerie? Hörst du mich?« In meinem Kopf rief ich nach der Magie, doch keine Antwort erklang. Sie hatte angekündigt, dass wir die nächsten Tage nichts von ihr hören würden, aber einen Versuch war es wert gewesen. Valeries leerer Blick erinnerte mich viel zu sehr an die Begabten, deren Verstand von der Dunkelheit zerstört worden war. Die gute Magie hatte sie in den gemeinsamen Rausch gezogen, bevor sie bereit dazu gewesen waren. Ich war mir sicher, dass daher ihre plötzliche Starre rührte.

Ich griff nach Valeries Hand und zog daran. Bereitwillig folgte sie mir aus dem Labor.

»Professor Barton«, rief ich im Gang, »Professor Barton!« Meine Stimme klang schriller, als mir lieb war. Wie groß war der Schaden, den Valeries Verstand erlitten hatte?

»Ja?« Professor Barton steckte den Kopf aus der Tür der Waffenwerkstatt. »Was ist denn, Miss Williams?«

»Ich muss mit Valerie zur Krankenstation.«

Sofort eilte Professor Barton zu uns, dicht gefolgt von Carly und Tally. »Hat sie sich verletzt?« Sie hielten inne, als sie Valeries leeren Blick bemerkten.

»Ich glaube, sie hat Probleme wegen des gemeinsamen Rauschs.« Wenn Valerie bereits derart weggetreten war, wie erging es dann denjenigen, die seit gestern auf der Krankenstation lagen?

Jetzt traten auch Jack und Dalton auf den Gang. Prüfend betrachtete ich Dalton, doch sein Blick fokussierte sich auf mich, die Augenbrauen zusammengezogen. Er sah nicht durch mich hindurch. Als er meine Worte hörte, wurde er bleich. Auch er war in den Rausch gezwungen worden, bevor er bereit gewesen war.

»In Ordnung, Miss Williams, gehen Sie.« Professor Bartons Hand zitterte, als sie damit den Gang entlang deutete. »War denn im Labor soweit alles in Ordnung?«

Ich nickte.

»Dr. Howard, würden Sie die beiden begleiten?« Professor Bartons Blick ruhte auf Valerie, als sie das sagte. Hatte sie etwa Angst, dass sie mich angreifen würde? Dennoch war ich froh, Valerie nicht allein zur Krankenstation bugsieren zu müssen, also widersprach ich nicht.

»Natürlich.« Carly trat zu uns. Auch sie musterte Valerie besorgt.

Ich griff nach Valeries Arm und zog daran, damit sie sich umdrehte, dann führten Carly und ich sie durch den Gang.

»In welcher Richtung liegt die Krankenstation?«, fragte ich, denn ich hatte bereits auf dem Hinweg die Orientierung verloren.

Carly schaltete die Navigation auf ihrem Core ein. »Hier links.«

Valerie folgte uns, ohne einen Mucks von sich zu geben.

»Ich versteh das nicht.« Carlys Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Vorhin ging es ihr noch gut.«

»Sie hat plötzlich aufgehört, sich zu bewegen«, zischte ich zurück, »hoffentlich ist es kein permanenter Schaden.« Oder es war eine verzögerte Reaktion gewesen, die wir so noch nicht kannten. Was wussten wir schon? Nur eines: Bisher hatte sich niemand aus diesem Zustand erholt.

»Und was, wenn die Magie uns wieder braucht? Was, wenn beim nächsten Mal Dalton den Verstand verliert?« Carlys Stimme wurde noch leiser, als uns ein paar Leute entgegenkamen. Ihnen schien nicht aufzufallen, wie merkwürdig Valerie sich verhielt.

»Lass uns keine vorschnellen Schlüsse ziehen.« Die Magie war geschwächt. Sie würde sich erst erholen müssen, bevor sie uns wieder in den Rausch zog. »Wir sollten abwarten, was die Ärzte sagen.«

Carly schnaubte verächtlich. »Du weißt genau, dass die ihr nicht helfen können.«

Natürlich wusste ich das, aber im Moment wollte ich es nicht hören. »Sie können sie vielleicht nicht heilen, aber sie können uns bestimmt sagen, wie schlimm es ist. Mit kognitiven Tests und so was.«

Carly wirkte nicht überzeugt, schwieg jedoch.

Auf der Krankenstation hatte die Lage sich inzwischen beruhigt. Alle Betten waren belegt, aber niemand lag oder saß mehr auf dem Boden, so wie gestern.

Kieran, Charlotte und Anna redeten gerade mit einem der Ärzte, vermutlich, um sich einen Lagebericht geben zu lassen.

Kieran runzelte die Stirn, als er Carly, Valerie und mich entdeckte. Er wusste sofort, dass etwas nicht in Ordnung war, im Gegensatz zu Anna, die uns anlächelte. Immerhin konnte sie noch lächeln. Nicht so wie Valerie.

Doch als wir uns näherten, bemerkte auch Anna, wie abwesend ihre Partnerin war.

»Valerie?«, fragte sie, doch die reagierte nicht. Annas Blick wanderte zu mir. »Was ist mit ihr?«

Der Arzt, der ihnen die Lage auf der Station geschildert hatte, schob sie sanft zur Seite und leuchtete Valerie mit einer Taschenlampe in die Augen. Er wirkte vollkommen erschöpft. Hatte er die ganze Nacht durchgearbeitet? Seine Haare waren fettig und seine Wangen von dunklen Stoppeln bedeckt. Auch einige Blutspritzer entdeckte ich auf seinem Gesicht. Offensichtlich hatte er noch keine Zeit gehabt, um zu duschen.

»Sie hat plötzlich aufgehört zu reagieren.«

»Hm.« Der Arzt bewegte die Taschenlampe hin und her. Valerie rührte sich nicht, zuckte nicht einmal zusammen, als das Licht sie blendete. »Sieht so aus wie bei den anderen.«

»Was heißt das?« Anna packte ihn am Arm. »Bleibt sie jetzt für immer leer? Und was ist mit mir? Ich bin ihre Partnerin, werde ich auch …«

Der Arzt steckte die Taschenlampe weg und musterte Anna. In seinen Augen konnte ich nicht viel Hoffnung erkennen. »Im Gegensatz zu den anderen ging es ihr nach dem Rausch noch gut. Es könnte nur eine vorübergehende Stressreaktion sein, aber wir wissen zu wenig über die Folgen des gemeinsamen Rauschs, um Prognosen zu treffen. Ich werde Sie beide untersuchen und dann sehen wir weiter. Wir brauchen erst einmal eine Trage.« Er sah sich im Raum um, doch alles schien belegt zu sein.

»Sie kommt mit, wenn Sie sie an der Hand nehmen«, teilte Carly ihm mit.

»Wirklich?« Der Arzt legte den Kopf schief. »Interessant, das tun die anderen nicht.« Er schenkte Anna ein Lächeln. »Das könnte ein gutes Zeichen sein.«

Anna wirkte jedoch nicht überzeugt. Sie griff nach Valeries Hand und folgte gemeinsam mit ihr dem Arzt.

»Und sie hat einfach so aufgehört zu reagieren?«, fragte Charlotte leise, den Blick auf Valeries Rücken geheftet.

Ich nickte. »Sie hat einen Kolben fallen lassen und seitdem wirkt sie vollkommen leer.«

»Wie geht es den anderen ausgewählten Paaren?« Carly schlang die Arme um sich selbst. Auch ihre Stimme war leise, aber eindringlich.

Charlotte wandte sich ihr zu und wir bildeten einen Kreis. »Auf den MRT-Aufnahmen sieht man kaum höhere Hirnfunktionen. Dr. Simons sagt, dass sich niemand von so etwas wieder erholt.«

Kieran warf einen Blick über die Schulter zu der Ecke, in der Dr. Simons einen Vorhang zuzog, der Anna und Valerie vor uns verbarg. »Die Magie wusste genau, was sie riskiert, als sie die anderen in den gemeinsamen Rausch gezwungen hat, und es war ihr egal.«

Nervös trat Carly von einen Fuß auf den anderen. »Ich hoffe wirklich, Anna und Valerie erholen sich wieder. Ich will nicht darüber nachdenken, dass es noch andere von uns erwischen könnte.«

Wir alle fuhren herum, als Stimmen durch den Gang hallten.

»Du wirst mich nicht davon abhalten, diese elenden Lügner fertigzumachen!«, schrie jemand.

Kieran und ich wechselten einen Blick, bevor wir in den Gang stürmten und den Stimmen folgten, Carly und Charlotte uns dicht auf den Fersen.

Als wir um die nächste Ecke bogen, rannten wir fast in zwei Männer, die sich prügelten.

»Du bist ein undankbares Arschloch!«, brüllte der eine, der eine Platzwunde am Kopf hatte.

»Und du ein hirnloser Mitläufer!«, konterte der andere, dessen Auge gerade zuschwoll.

»Ist es zu viel verlangt, mal eine ruhige Minute zu haben?«, brummte Charlotte, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Da sind sie!« Der eine Mann stieß seinen Gegner zu Boden und deutete auf uns. »Wenn deine Begabten so toll sind, wie du behauptest, können sie uns sicher erklären, warum sie uns belogen haben!«

»Arlington und Menning sind diejenigen, die gelogen haben.« Meine Stimme zitterte bei diesen Worten. Ich hatte erwartet, dass allen im Bunker klar war, was wirklich passiert war. Dass sie auf unserer Seite standen.

»Dreckige Lügnerin!«, knurrte der Mann und stürmte auf mich zu.

Kieran packte ihn und hatte ihn im Schwitzkasten, bevor ich überhaupt reagieren konnte.

»Danke, dass ihr mich vor diesem Verrückten rettet«, keuchte der andere Mann, dessen Gesicht inzwischen blutüberströmt war.

Kieran sah zwischen beiden hin und her. »Was ist passiert?«

»Vielleicht glaubst du mir jetzt! Der Begabte hier macht mich dafür fertig, dass ich anders denke als er«, zischte der Mann, den Kieran immer noch festhielt.

Der andere schnaubte verächtlich.

»Mir ist scheißegal, was Sie denken.« Kieran löste seinen Griff, hielt den Mann allerdings immer noch am Arm fest. »Mir geht es um Ihre Taten. Also? Was ist passiert?«

»Er hat über die Begabten hergezogen«, begann der Mann mit der Platzwunde sofort zu erzählen. »Hat gesagt, dass sie nicht besser als die Sekte sind, weil sie uns auch manipulieren. Als ich gesagt habe, dass wir dankbar für unsere Rettung sein sollten, hat er mir eine reingehauen. Dann wollte er mich davon abhalten, Sie zu informieren.«

»Gerettet wovor? Du hast die Bilder aus der Stadt selbst gesehen! Die Sekte hätte die Leute unbescholten nach Hause gehen lassen.«

»Ganz Kingston ist voller Bestien und sie tun nichts dagegen. Wir wären niemals heil nach Hause gekommen.« Dem Mann mit der Platzwunde traten Tränen in die Augen.

Ich musste an die Reporterin denken, die gelächelt hatte, als die Grinsekatzen jemanden in ihrer Nähe angegriffen hatten.

»Wie könnt ihr immer noch alle so blind sein!«, brüllte der Mann mit dem geschwollenen Auge. »Die Begabten wollen nicht einsehen, dass sie verloren haben und halten uns deshalb hier gefangen! Wir sind ihre Geiseln!«

»Wenn noch mehr von den Geflüchteten so denken, dann haben wir schon verloren. Für wen kämpfen wir eigentlich?«

Mein Kopf fuhr zu Charlotte herum, die die beiden Männer anstarrte, die Arme vor der Brust verschränkt.

Ihre Frage war berechtigt. Für wen kämpften wir, wenn sogar diejenigen, die wir hier in Sicherheit gebracht hatten, sich gegen uns richteten?

Kapitel 3

Bis die Männer verarztet und von Ramos’ Leuten abgeführt worden waren, hatte General Namara die nächste Besprechung vorverlegt.

»Was machen wir mit solchen Leuten?«, wollte Charlotte wissen. »Dieser Typ wird nicht der einzige sein. Wenn sie andere angreifen, versuchen, aus dem Bunker zu kommen oder die Dunkelheit zu rufen, bringen sie uns alle in Gefahr, aber wir können auch nicht alle wegsperren. Oder?«

Der Bunker war nicht darauf ausgelegt, Leute einzusperren. Es gab keine Zellen. Er war ein Zufluchtsort.

»Vor allem, weil das gegen deinen dritten Punkt nicht hilft«, bekräftigte Kieran.

»Ist es überhaupt möglich, dass die Dunkelheit sie hier finden kann?«, wollte Mandy wissen, »Die Magie hat alles getan, um unseren Standort vor ihr zu verbergen.«

»Aber was, wenn sie jemand aktiv ruft?« Ich stützte die Ellenbogen auf den Tisch. »Die Magien spüren uns als Energie, wenn ich das richtig verstanden habe. Also können sie uns finden, aber anderen nicht zeigen, wo wir sind, weil unsere Energie-Signatur keine GPS-Daten übermittelt.«

»Aber was, wenn jemand sie zu uns führt?«, mischte Professor Barton sich ein. »Wenn jemand aus dem Bunker flieht?«

Meine Augenbrauen zogen sich zusammen. Dazu musste derjenige zuerst herausfinden, wie genau man hier herauskam, denn auch das wussten wir nicht.

»Also doch einsperren?«

»Sind wir überhaupt noch unter Kingston?«

Ihr müsst sie in der Stadt aussetzen. Die Stimme der Magie hallte schwach durch meinen Kopf. Sie war noch nicht wieder zu Kräften gekommen, das spürte ich genau. Alle, die den gemeinsamen Rausch beherrschten, erstarrten. Sie hatten die Stimme auch gehört. Ihr müsst zusammenarbeiten, wenn wir gewinnen wollen. Ansonsten sind wir zum Scheitern verdammt. Es ist riskant, aber es muss sein. Gebt mir ein paar Tage, um Kraft zu sammeln, damit ich euch helfen kann.

Professor Barton, Kierans Eltern, Detective Ramos und Mr Bernard diskutierten immer noch heftig, bis Kieran sie unterbrach. Sie hatten nicht bemerkt, was gerade geschehen war.

»Die Magie hat zu uns gesprochen. Wir müssen alle, die an uns zweifeln, hoch in die Stadt bringen.«

Evangeline klappte die Kinnlade herunter. »Das ist Wahnsinn. Wir sollen riskieren, dass die Dunkelheit unseren Aufenthaltsort erfährt?«

»Die Magie sagt, es sei der einzige Weg, um die Dunkelheit zu besiegen.« Ich zuckte mit den Achseln. Es war nicht das erste Mal, dass die Magie uns eine Aufgabe gab, die völlig verrückt war. »Dass wir zusammenarbeiten müssen und diese Leute uns gefährden.«

»Und Sie wollen wirklich darauf vertrauen?« Ramos’ Augenbrauen schossen in die Höhe. »Sogar bei etwas, das so lebensmüde ist? Woher wissen wir, dass die Magie wirklich unfehlbar ist?«

Charlotte gab ein trockenes Lachen von sich. »Die Magie hat längst durchgerechnet, was alles passieren könnte. Wenn sie sagt, das ist der beste Weg, dann ist das so. Außerdem ist sie nicht gerade bekannt dafür, uns eine Wahl zu lassen.«

Evangeline hatte mehr Verständnis für Ramos’ Zweifel. »Es ist schwer nachzuvollziehen, wenn man die Magie nie selbst gespürt hat, aber sie leitet uns seit fast hundert Jahren. Ohne sie wären wir längst verloren gewesen.«

Ramos musterte uns Begabte, die Arme vor der Brust verschränkt. »Kein Wunder, dass die Leute das Vertrauen in Sie verlieren. Das klingt alles vollkommen wahnsinnig.« Er vertraute uns, aber er kannte uns auch besser als die meisten Nicht-Begabten. Die würden immer mehr zweifeln. »Bleibt noch die Frage, wie wir diese Leute sicher an die Oberfläche bringen.«

»Zuerst müssen wir herausfinden, wie viele Leute überhaupt gehen wollen.« Professor Barton tippte mit einem Finger gegen ihr Kinn. »Wir müssen ihnen auf jeden Fall wieder MemoBlock geben, damit sie uns nicht verraten können. Also werden einige Begabte mitgehen und sie vom Eingang des Bunkers wegbringen müssen, damit sie nicht direkt davorstehen, wenn sie wieder Erinnerungen speichern können.«

»Außerdem hält die Wirkung des Mittels einige Stunden an«, warf ich ein. »Wir müssen zusehen, dass ihnen in dieser Zeit nichts passiert.« Meine Hand zitterte, als ich mir eine Haarsträhne hinters Ohr schob. Der Gedanke daran, in ein Kingston zurückzukehren, das von der Sekte beherrscht wurde, machte mir Angst.

»Moment mal.« Mandy hob einen Finger. »Der Eingang zum Bunker ist in der Akademie. Da können wir kaum reinspazieren.«

Arthur stützte das Kinn auf seine Hände. »Ich bin mir sicher, dass es mehrere Eingänge gibt. Alles andere wäre sicherheitstechnisch ziemlich dumm.«

Die Diskussion dauerte noch eine Weile, bis der Plan so weit ausgereift war, dass Arthur uns entließ.

Im Essensraum gab es bereits Abendessen. Obwohl ich den ganzen Tag beschäftigt gewesen war, verspürte ich keinen Hunger. Trotzdem lud ich mir den Teller voll. Ich hatte seit heute Morgen nichts gegessen und wenn ich mir nicht selbst genug nahm, würden Kieran oder Mandy dafür sorgen.

Die anderen setzten sich wieder an den Tisch, an dem wir auch gefrühstückt hatten, doch ich entdeckte meine Mutter, die allein in ihrem Essen herumstocherte, und hielt auf sie zu. Kieran, Mandy und Charlotte folgten mir.

»Hey, Mom.«

Sie zuckte zusammen, als ich mich neben sie setzte.

»Liana.« Ihr Lächeln wirkte schwach. »Schön, dich zu sehen. Geht es dir gut?«

Ich wollte ja sagen, aber die Lüge kam mir nicht über die Lippen. »Wir haben uns heute die Ausstattung der Labore hier angesehen«, sagte ich stattdessen.

»Schön«, murmelte sie.

Ich wusste nicht, was ich sonst noch sagen sollte. Maddie war nicht das erste Familienmitglied, um das wir trauerten, doch als mein Vater gestorben war, war alles anders gewesen. Mit fünf Jahren hatte ich kaum verstanden, was sein Tod bedeutete. Maddie und Tamy noch weniger. Sie konnten sich nicht einmal an ihn erinnern. Meine Mutter war mir damals so stark erschienen. Sie hatte alles geregelt. Sie hatte mich beruhigt, wenn ich weinte, weil mein Vater mich nicht mehr ins Bett brachte. Sie hatte mir die Angst genommen, dass auch ich von Bestien getötet werden würde. Er hatte damals an den Sicherheitsanlagen außerhalb der Stadt gearbeitet, als seine Truppe von einer Horde Grinsekatzen angegriffen worden war. Niemand hatte überlebt.

Damals hatte meine Mutter vor mir versteckt, wie sehr sie das mitnahm. Jetzt fehlte ihr dazu die Kraft.

Ich wollte ihr unbedingt helfen, doch ich wusste nicht, wie. Es gab nichts, was ich sagen konnte, nichts, das diese Situation irgendwie besser gemacht hätte.

Meine Mutter griff nach meiner Hand und hielt sie fest. Wenigstens meine Anwesenheit schien zu helfen.

In diesem Moment tauchte Mandys Familie an unserem Tisch auf. Mandys Mutter Kate setzte sich auf die andere Seite meiner Mutter.

»Wie geht es euch?«, wollte sie wissen.

»Alles in Ordnung«, murmelte ich reflexartig. Meine Mutter sagte nichts. Mandy begann davon zu erzählen, dass sie gemeinsam mit Jason die Vorratskammern überprüft hatte. Den Rest des Abendessens unterhielt sie uns mit Small Talk, damit sich nicht wieder Stille ausbreitete. Meine Mutter war die Einzige, die sich nicht an unseren Gesprächen beteiligte.

»Wie geht es dir wirklich?«, fragte Kieran später in unserem Zimmer, die Hände an meine Wangen gelegt.

»Ich kann das gerade nicht verarbeiten«, flüsterte ich, »sonst breche ich zusammen.« Wenn ich ehrlich war, war ich froh darüber, dass wir uns im Bunker ständig um irgendetwas kümmern mussten. Die Stille bei Nacht war kaum zu ertragen, denn ich konnte meine Gedanken nicht stoppen. Es war naiv zu hoffen, dass es Tamy gut ging, aber ich musste mich an diesen Lichtblick klammern, um weitermachen zu können.

Er nickte, auch wenn sein Blick immer noch besorgt war.

Am nächsten Vormittag berief General Namara eine Versammlung ein. Alle Geflüchteten und Begabten quetschten sich in den Essensraum und sahen ihn erwartungsvoll an. Jeder wusste von dem gestrigen Streit. Wenn man auf so engem Raum zusammengepfercht war, verbreiteten sich Gerüchte unglaublich schnell.

Arthur kletterte auf einen der Tische, um besser gesehen und gehört zu werden. Gemeinsam mit Kieran, Mandy und Charlotte stellte ich mich neben diesen Tisch. Die anderen Ausgewählten bauten sich hinter uns auf.

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich den Tag erleben würde, an dem General Stock-im-Arsch Namara auf einen Tisch klettert«, murmelte Charlotte. Dabei hatte der General sich in den letzten Monaten stark verändert. Mit jeder Katastrophe beharrte er weniger auf das Protokoll. Früher hatte er seinen eigenen Sohn genauso distanziert behandelt wie die anderen Krieger unter seiner Führung.

Kieran gab ein leises Lachen von sich. »Sagt die Tochter der einzigen Menschen, die noch steifer sind als meine Eltern.«

»Erinnere mich nicht daran.« Charlotte verdrehte die Augen. »Das Zimmer meiner Eltern ist direkt um die Ecke von meinem und es gibt ungefähr drei Orte, an denen man sich hier aufhalten kann. Wie soll ich ihnen so bitte aus dem Weg gehen?« Genau wie Kieran hatte auch Charlotte ihr Leben lang unter den hohen Erwartungen ihrer Eltern gelitten. Doch während sich Kierans Beziehung zu seinen Eltern gebessert hatte, ließen Charlottes sie weiterhin spüren, wie enttäuscht sie darüber waren, dass sie Kieran nicht heiraten würde, um starke Kriegerbabys in die Welt zu setzen.

Bevor noch jemand etwas sagen konnte, begann General Namara zu sprechen. »Danke, dass Sie alle gekommen sind. Sie werden sicher vom gestrigen Vorfall gehört haben.«

»Je weniger Flur, desto effektiver der Flurfunk«, brummte Charlotte. Sie wirkte genervt. Ich dagegen war nervös.

»Unsere Absicht war und ist es, Ihnen einen sicheren Zufluchtsort zu bieten. Sie sind nicht unsere Gefangenen. Doch wir mussten darüber nachdenken, was wir mit Leuten machen, die sich hier nicht sicher fühlen und gehen wollen, denn die Sicherheit der …«

»Ist das nur ein langer Vortrag, um uns zu erklären, warum wir nicht gehen können?«, rief jemand dazwischen.

»Werden alle Andersdenkenden weggesperrt, so wie Harold Bay?«, brüllte ein anderer.

Genau diese Reaktionen hatte ich befürchtet. Auch wenn es der Sekte nicht gelungen war, die meisten von ihrer Ideologie zu überzeugen, hatten sie es doch geschafft, Zweifel zu säen.

General Namara hob beschwichtigend die Arme. »Harold Bay wurde in Gewahrsam genommen, weil er jemanden tätlich angegriffen hat. Genauso wie Jackson Kerry, da er zurückgeschlagen hat. Dieser Bunker ist nicht darauf ausgelegt, Gefangene zu nehmen, und das ist auch nicht das, was wir wollen. Wenn wir hier sicher sein wollen, müssen wir zusammenhalten. Wir haben entschieden, Menschen, die gehen wollen, zurück nach Kingston zu bringen.«

Stimmen hoben an, die Anwesenden riefen durcheinander, bis General Namara laut um Ruhe bat. Ich versuchte, meine Miene genauso ausdruckslos zu halten, wie Kieran und Charlotte, doch es fiel mir schwer. Mandy und ich wechselten einen kurzen Blick. Auch sie wirkte nervös. Was, wenn wir die Unterstützung der Leute verloren? Wir konnten sie nicht alle zurück nach Kingston bringen.

»Das Risiko ist vertretbar. Die Magie unterstützt diesen Plan. Es gibt natürlich ein paar Bedingungen, die gewährleisten sollen, dass wir hier weiterhin sicher sind. Wer sich entscheidet zu gehen, muss erneut MemoBlock nehmen.«

»Also bringen Sie Leute nach oben und liefern sie damit den Bestien aus?« Die Stimme der Frau, die diese Frage gestellt hatte, klang schrill. Sie hielt ein kleines Mädchen festumschlungen, als fürchtete sie, wir würden sie ihr entreißen. Ich schämte mich dafür, dass ihre Angst mich beruhigte. Wenigstens hatte sie vor den richtigen Leuten Angst.

»Niemand wird gezwungen. Die Entscheidung obliegt jedem Einzelnen. Wir können Sie allerdings in der Stadt nicht beschützen. Die Sekte lässt den Bestien freien Lauf und wir müssen in den Bunker zurückkehren. Das muss Ihnen klar sein. Sie haben die Bilder der Liveübertragungen gesehen.«

Auch im Essensraum hing ein Fernseher, genau wie in den wenigen Aufenthaltsräumen. Alle Geflüchteten kannten die Berichte, die Channel One sendete.

»Wenn Sie dennoch gehen wollen, werden wir Sie in die Stadt bringen und auf Sie aufpassen, bis MemoBlock nachlässt. Doch danach sind Sie auf sich allein gestellt.«

Das sorgte erst einmal für angespannte Stille. Ich versuchte, aus den Gesichtern der Anwesenden abzulesen, wie sie sich entscheiden würden, doch das war unmöglich.

General Namara ließ den Blick kurz über die Menge schweifen, bevor er weitersprach. »In drei Tagen sollte die Magie soweit gestärkt sein, dass sie uns bei unserer Mission behilflich sein kann. Dann werden wir alle, die das wollen, in die Stadt führen. Bitte melden Sie sich bei Evangeline Namara, sobald Sie Ihre Entscheidung getroffen haben, damit wir abschätzen können, wie viele Krieger wir für Ihren Schutz benötigen. Sie können dies über das Benachrichtigungssystem der Cores tun, sodass niemand davon erfahren muss, bis Sie aufbrechen, falls Sie fürchten, für Ihre Entscheidung verurteilt zu werden. Das ist alles.«

»Was ist mit Harold Bay? Wird er zur Strafe in die Stadt gebracht? Oder wird er hier eingesperrt?«, rief ein Mann.

Ende der Leseprobe