Tatort Bodensee - Eva-Maria Bast - E-Book

Tatort Bodensee E-Book

Eva-Maria Bast

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Beschreibung

Sammelband: Drei Bodensee-Krimis in einem Band. »Sturmwarnung« von Gunter Haug: Der schwäbische Kommissar Horst »Hotte« Meyer auf Urlaub am Bodensee und das auch noch ohne Ehefrau Claudia. Das kann nicht gut gehen! Und tatsächlich: Horsts Freund aus alten Kommissar-Lehrgangstagen, Thomas Grundler, der ihn zu einem Tauchtrip an die im Bodensee versunkene »Jura« eingeladen hatte, kommt bei dem Unterwasserausflug ums Leben. Anfänglich ist die Todesursache völlig unklar, doch bald schon kommt die schreckliche Erkenntnis: Das war kein Unfall, das war ein raffiniert eingefädelter, eiskalter Mord. Kommissar Horst Meyer nimmt die Hetzjagd rund um den Bodensee auf. Und mehr als einmal wird der Jäger zum Gejagten! »Seebeben« von Marlies Grötzinger: Endlich Dienst am Bodensee. Für Isabel Böhmer erfüllt sich ein Traum. Voller Vorfreude startet die Wasserschutzpolizistin ihren neuen Lebensabschnitt. Von der ersten Begegnung an verfällt sie dem Charme ihres Chefs, Polizeidirektor Carl Dangelmann, und plötzlich steht Isabel zwischen zwei Männern. Schließlich ist da noch ihr Freund Thomas von Harnsfeld, der vorerst in Tübingen geblieben ist. Als einer von beiden bei einem Unfall spurlos verschwindet, wird ihre Situation nicht einfacher … »Vergissmichnicht« von Eva-Maria Bast: Die Journalistin Alexandra Tuleit stößt auf einen mysteriösen Mordfall, der sich 1980 in Überlingen ereignet hat. Der Täter wurde nie gefasst. Wenig später wird ihre Informantin tot aufgefunden. Zur gleichen Zeit verschwindet in Südfrankreich eine Frau - und die Spuren führen nach Überlingen und Konstanz. Gemeinsam mit Kommissar Ole Strobehn arbeitet Alexandra Tuleit an der Aufklärung des Falls …

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Gunter Haug / Marlies Grötzinger / Eva-Maria Bast

Tatort Bodensee

Sturmwarnung / Seebeben / Vergissmichnicht

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Produktion: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Julia Franze unter Verwendung von: © Timo Günthner – stock.adobe.com (Gesamttitel); Seebeben: © Lars_Nissen – pixabay.com; Sturmwarnung: © Oleksiy Mark – stock.adobe.com; Vergissmichnicht: © azureus70 – stock.adobe.com

Sturmwarnung

Copyright der Originalausgabe © 2000 by Gmeiner-Verlag GmbH

Seebeben

Copyright der Originalausgabe © 2019 by Gmeiner-Verlag GmbH

Vergissmichnicht

Copyright der Originalausgabe © 2012 by Gmeiner-Verlag GmbH

ISBN 978-3-7349-9484-5

Inhalt

Impressum

Gunter Haug: Sturmwarnung

Zum Buch

Vorwort

1

2

3

4

5

6

7

8

9

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32

33

Nachwort

Marlies Grötzinger: Seebeben

Zum Buch

Zitat

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14 

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Dank

Eva-Maria Bast: Vergissmichnicht

Zum Buch

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Dreißigstes Kapitel

Einunddreißigstes Kapitel

Zweiunddreißigstes Kapitel

Dreiunddreißigstes Kapitel

Vierunddreißigstes Kapitel

Fünfunddreißigstes Kapitel

Sechsunddreißigstes Kapitel

Siebenunddreißigstes Kapitel

Achtunddreißigstes Kapitel

Neununddreißigstes Kapitel

Vierzigstes Kapitel

Einundvierzigstes Kapitel

Zweiundvierzigstes Kapitel

Dreiundvierzigstes Kapitel

Epilog

Schlussbemerkung

Danksagung

Gunter Haug: Sturmwarnung

 

Zum Buch

Der schwäbische Kommissar Horst »Hotte« Meyer auf Urlaub am Bodensee und das auch noch ohne Ehefrau Claudia. Das kann nicht gut gehen! Und tatsächlich: Horsts Freund aus alten Kommissar-Lehrgangstagen, Thomas Grundler, der ihn zu einem Tauchtrip an die im Bodensee versunkene »Jura« eingeladen hatte, kommt bei dem Unterwasserausflug ums Leben. Anfänglich ist die Todesursache völlig unklar, doch bald schon kommt die schreckliche Erkenntnis: Das war kein Unfall, das war ein raffiniert eingefädelter, eiskalter Mord. Kommissar Horst Meyer nimmt die Hetzjagd rund um den Bodensee auf. Und mehr als einmal wird der Jäger zum Gejagten!

Gunter Haug, in Schwaigern bei Heilbronn lebender Autor, genießt bei Krimifans inzwischen Kultstatus. Seine Kriminalromane verbinden Spannung, Humor und Lokalkolorit auf eine faszinierende Weise, die sowohl bei Rezensenten als auch Lesern immer wieder auf begeisterte Zustimmung stößt. Seine Bücher »Niemands Tochter« und »Niemands Mutter« wurden zu Bestsellern.

Vorwort

Dieser Roman ist das Produkt langer Überlegungen und vieler Diskussionen zwischen dem Autor, zahlreichen Freunden, Bekannten und anderen Menschen, die diesem Buch positiv gegenüberstanden.

Viele Fakten, Daten und Hintergrundgeschichten wurden seit Jahren von mir gesammelt und haben sich nun – endlich –, aus vielen Puzzlestücken zusammengefügt, in eine einheitliche Geschichte gießen lassen.

Manches von dem hier beschriebenen hat tatsächlich so oder so ähnlich stattgefunden – manches ist auch (das will ich gerne zugeben) nur der eigenen Fantasie entsprungen.

Jede Ähnlichkeit zwischen den Romanfiguren und noch lebenden oder bereits verstorbenen Personen ist natürlich rein zufällig. Und falls sich jemand dennoch wiedererkennen sollte: er/sie denke bitte an den vorangegangenen Satz!

Spekulationen und reale Tatsachen, bloße Möglichkeiten und wirklich Dagewesenes, reale Handlungsorte und fiktionale Hauptdarsteller, Meldungen aus der Vergangenheit, Fragen, die geblieben sind, Antworten, die da­raus abgeleitet werden könnten: dieses gut durchmischte Konglomerat von Fakten und Vorlagen ist es, was das Verfassen eines solchen Werkes zum Vergnügen macht! Und dem Leser (hoffentlich) dergestalt auch letztendlich zugute kommt!

Und dass all diese Gedanken nicht gänzlich danebengedacht worden sind, mag die Tatsache beweisen, dass die »Sturmwarnung« nunmehr bereits in die 6. Auflage gegangen ist.

Gunter Haug

Schwaigern, im Frühjahr 2019

*

Dank an diejenigen, die dieses Buch befördert haben:

Heiner, für seinen Hinweis in letzter Minute;

Uli, der das mit dem Sauerstoff auch nicht wusste;

Karin, die schließlich Chemie studiert hat.

*

Entschuldigung an:

Frieder aus Albstadt, dessen Wohnwagen (dem Hören­sagen nach) top ist;

Jürgen vom Wildenstein, dessen Wein in Wirklichkeit (längst) viel viel besser ist;

die Polizeidirektion Konstanz, in der es natürlich ganz anders zugeht.

 

1

»Aha, es ist also dein voller Ernst! Du willst also tatsächlich so einfach da runter?! Mal schnell ganz locker, ganz cool, mir nichts, dir nichts einen kleinen Trip unternehmen?!« Es war der personifizierte Vorwurf in Gestalt von Claudia, dem sich Horst gegenübersah.

»Cool, Mann, ruhig bleiben«, appellierte der an sich und seine Nerven wie Drahtseile, während er fieberhaft überlegte, welchen Köder er seiner Angetrauten präsentieren könnte, um die Kuh vom Eis zu bekommen (wobei Horst im Zusammenhang mit seiner Frau Claudia nie und nimmer von Kuh hätte sprechen mögen, das war halt nur so eine Redensart, aber …)

»Was heißt hier: die Kuh vom Eis bringen?!« – Schon war es ihm anscheinend herausgerutscht. Vor lauter Nachdenken und überhaupt …

»Was glaubst du denn eigentlich, wen du vor dir hast?!« Claudia war ganz offensichtlich auf dem Wert 180 bei der nach oben offenen Erregungsskala angelangt – mindestens – und eine weitere Steigerung schien unmittelbar bevorzustehen. »Ich kann mich krummlegen noch und nöcher: Praxisvertretung schieben ohne Ende, kochen, putzen, mit den Kindern Hausaufgaben machen, sie zur Musikschule und zum Fußballtraining fahren, Rasen mähen, Auto in die Werkstatt bringen, Wäsche waschen, bügeln …« Die Argumente prasselten auf Horst nieder wie ein Feuerstoß aus einem Maschinengewehr, doch glücklicherweise hatte Claudia im Eifer des Gefechts vergessen zu atmen, sodass jetzt eine Zwangspause zum Luftholen anstand, bevor die nächste Salve abgefeuert werden konnte. Diese Lücke nutzte Horst geistesgegenwärtig für seine Gegenoffensive.

»Aber dafür hast du doch deine Mutter – die kannst du doch herholen und bei uns übernachten lassen, ist doch überhaupt kein Problem. Dann kannst du dich um die Praxisvertretung kümmern und deine Mutter macht den Haushalt, das hat sie ja schließlich schon oft genug angeboten …«

Leider war Claudias Atempause mittlerweile vorüber: »Und der Herr des Hauses kann dann das Geld verjubeln, das sein dummes Weibchen mühsam mit ihrer Hände Arbeit eingenommen hat! Na prima! Das ist ja wie im Mittelalter: da hat der feudale Herr jede Menge Dienstboten für sich und seine Bedürfnisse – vom Essenkochen bis zum Betthäschen!«

»Jetzt ist’s dann aber genug!« Auch Horst war nun allmählich ganz gegen seine Planung am Durchstarten. »So langsam ziehst du die Geschichte aber wirklich auf ein Niveau – ich bitte dich! Jetzt mach aber mal einen Punkt! Was tu ich denn schon Großartiges?«

Gerade diese Aussage aber ermöglichte den ultimativen Blattschuss, der keine Sekunde auf sich warten ließ: »Nichts! Das ist es ja gerade! Ich sag’s ja: Du zwitscherst ab und ich kann gucken, wo ich bleibe – so hab ich mir Partnerschaft aber nie und nimmer vorgestellt!«

Die Ehekrise war in greifbare Nähe gerückt – Zeit für einen Kompromissvorschlag, den er für den Fall der Fälle von Anfang an im argumentativen Notfallkoffer dabeigehabt hatte. »Also – dann lass ich halt die Katze aus dem Sack, es sollte zwar eine Überraschung sein, aber bevor wir uns noch richtig in die Wolle kriegen: Du sollst natürlich nicht alleine daheim bleiben, ich hab von Anfang an danach geguckt, dass wir da unten ein paar Tage zusammen sein können. Es war nämlich in Wirklichkeit so geplant, dass ich am Montag vorfahre und du dann am Freitag mit dem Zug nachkommst, das habe ich schon alles so organisiert – wie gesagt, es sollte eine Überraschung sein …« Mit allen Anzeichen der Resignation zuckte Horst die Schultern, Zerknirschung und Enttäuschung andeutend, während sich im Gesicht seines Gegenübers im selben Moment eine wundersame Verwandlung abspielte: von 30 Tagen Regenwetter zu strahlendem Sonnenschein, und das im Verlauf von nicht einmal einer Sekunde! Mit einem Schlag war anscheinend alles wieder gut!

»Du und ich – wir beide ein verlängertes Wochenende am Bodensee? Das hast du geplant?«

Horst nickte, die Augen demütig-reuevoll auf den Boden geheftet.

»Und mich damit überraschen wollen?«

Wiederum zerknirschtes Nicken.

»Ach, Schatz – wieso sagst du mir das denn nicht gleich?« Sprach’s und stürmte auf Horst zu, um ihn innig zu umarmen und ihm einen dicken Kuss auf die Wange zu drücken. »Das ist ja Spitzenklasse!« Claudia war die Glückseligkeit in Person.

Es gab Momente in seinem Leben, in denen Horst sich seiner selbst schämte! In Wirklichkeit hatte er ja eine richtig schöne freie Woche am Bodensee für sich ganz alleine geplant gehabt und, ehrlich gesagt, gar nicht damit gerechnet, dass Claudia angesichts der beruflichen Belastung, die sie sich mit der Praxisvertretung bei verschiedenen Heilbronner Kinderärzten derzeit aufgeladen hatte, auf die Idee kommen könnte, mitzureisen. Von Claudias Ausbruch überrascht, hatte er glücklicherweise aber doch noch rechtzeitig die Notbremse gezogen und den rettenden Ausweg gefunden, der in Claudias Augen nun wie ein lange geplantes Verwöhn-Wochenende für das Ehepaar Meyer erschien. Angesichts Claudias regelrechter Glückseligkeit fühlte Horst sich einigermaßen niederträchtig – aber dennoch: der Ehefrieden war wiederhergestellt, und weshalb sollte er nun Seelenstriptease betreiben und zugeben, dass er erst im gleichen Moment, als er es ausgesprochen hatte, selbst Kenntnis von dem verlängerten Wochenende für zwei Personen am schönen Bodensee erhalten hatte.

Claudias Neugier war nun natürlich nicht mehr zu stoppen: »Und wo hast du uns eingebucht? Wie ich dich kenne, sicher am Überlinger See, im Badhotel in Überlingen oder etwa sogar im St. Leonhard oder vielleicht im Pilgerhof direkt am Wasser da bei der Birnau oder vielleicht in Seefelden?« Voller Vorfreude und in schönen Erinnerungen an vorangegangene Aufenthalte schwelgend schaute sie Horst ins Gesicht.

»Na komm, sag’s schon – raus mit der Sprache!« Freundschaftlich versetzte sie Horst einen Klaps auf die Schulter.

Oh weh! Die nächste Klippe, die umschifft werden musste! Horst schluckte trocken, bevor er die Kröte ausspuckte: »Na ja … es ist diesmal etwas ganz anderes …«

»Auch gut – mal was Neues, warum auch nicht! Klasse, toll – also komm, raus mit der Sprache: Was hast du da Neues aufgetan?« Claudia war die Spannung in Person.

»Also, neu – neu ist es eigentlich nicht direkt …«, nach wie vor suchte Horst nach den richtigen Worten, permanent bedrängt von seiner vor lauter neugieriger Vorfreude fast platzenden Angetrauten.

»Was Altes also – auch schön – so ein alter, neu renovierter Bauernhof, wie der da damals im Hinterland – wie hieß der gleich noch, da in der Nähe von Frickingen, oder halt, nein, das war glaub ich in Leustetten.« Claudia schien kurz innezuhalten und nachzudenken – Verschnaufpause für Horst. Doch die Pause war vorbei, bevor sich Horst auch nur den Beginn einer neuen Strategie zurechtlegen konnte. »Na – auch egal, aber jetzt hör auf mit dem Rumgedruckse und sag mir, was für ein Hotel es ist!«

Also dann – Augen zu und durch: Auf ins letzte Gefecht! »Hotel ist es keins und Pension auch nicht. Die Idee ist mir neulich gekommen, wo ich mit dem Frieder telefoniert habe, weißt du!«

Claudia wusste nicht. Erste Anzeichen von Ungeduld machten sich nun bemerkbar. »Ja und – was hat dir der Frieder denn empfohlen?«

»Der hat mir vorgejammert, dass er den ganzen Monat überhaupt keine Zeit dazu hat, an den See zu kommen, und mir vorgerechnet, wie teuer das alles für ihn ist, mit seinem Ganzjahresstandplatz in Nußdorf – wegen netto vielleicht vier oder fünf Wochenenden da fast 2.000 Mark im Jahr als Standgebühr abzudrücken, das sei schon ein bisschen heftig, hat er gemeint!«

Man sah es an ihren Augen: In Claudia schien ein furchtbarer Verdacht aufzusteigen. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern auf die Platte des Esstischs. »Und was hat das alles jetzt mit unserem Wochenende zu tun?«

»Na ja – der Frieder hat mir angeboten, seinen Wohnwagen da auf dem Platz in Nußdorf zu benutzen. Besser ich sei drin, als dass er einfach so leer und nutzlos in der Gegend rumstünde, hat er gemeint. Da hab ich Ja gesagt, wo er dann noch gemeint hat, dass ich auch nichts zu bezahlen brauche. Anfang Juli ist’s ja nicht mehr so kalt in der Nacht im Wohnwagen und auch noch nicht so heiß, dass man’s nicht mehr aushält. Und außerdem: quasi Tür an Tür mit dem Martin Walser, hat er gemeint, das sei doch auch nicht ohne!«

»So, hat er gemeint! Ich wusste gar nicht, dass der weiß, wer der Martin Walser ist. Bisher habe ich den maximal die Programmzeitschrift vom Fernsehen lesen sehen, aber dass der jemals ein Buch von Martin Walser in der Hand gehabt hat, das glaubst du wohl selber nicht!«

»Jetzt sei aber nicht ungerecht, komm! Wieso soll einer, der Bäcker ist, denn nicht Walser lesen? Im Übrigen: Gerade Bäcker sind auf dem Gebiet belesener als so mancher Doktor. Und wie viel Bäcker mischen in der Kommunal- oder Landespolitik mit? Mehr als so mancher Bildungsbürger, der zwar diese ganzen ›Pflichtbücher‹ zu Hause im Regal stehen hat, aber wahrscheinlich noch keinen einzigen Blick hineingeworfen hat! Ich für meinen Teil hab immerhin schon im Gymnasium die ›Blechtrommel‹ gelesen!«, setzte Horst mit einem triumphierenden Blick auf Claudia hinzu. Dieser dezente Hinweis auf Claudias ausbildungsmäßige Ochsentour, die erst über Hauptschule, Wirtschaftsgymnasium und Fachabitur zum Medizinstudium geführt und damit wenig Raum für humanistisch-germanistisches Bildungsgut gelassen hatte, sollte einen kleinen Fußtritt für die gerade erlebten und durchlittenen Szenen einer Ehe darstellen. Doch Pustekuchen! Wie gewonnen, so zerronnen!

»Die ›Blechtrommel‹ hat ja der Walser schließlich auch nicht geschrieben, sondern der Grass. Walser, von dem sind ›Das Einhorn‹ oder ›Ein fliehendes Pferd‹ oder …«

»Genug, genug!«, unterbrach Horst den Wortschwall und hob als Eingeständnis seiner Niederlage beide Hände in Brusthöhe vor sich. »Du hast gewonnen – ich gebe mich geschlagen!«

Claudia fixierte ihn misstrauisch. »So – und du hast also gemeint, ich soll mit dir da in der verrosteten alten Konservendose namens Wohnwagen übernachten – auf einem Campingplatz!! Wo wir doch beide schon vor Jahren geschworen haben, dass wir auf keinen Campingplatz mehr gehen – auf gar keinen Fall! Und dann ausgerechnet in die alte Affenschaukel von deinem Freund Frieder! Also wirklich!«

»Das ist kein Campingplatz – das ist nur ein Standplatz in Nußdorf, auf dem Gelände von einem Bauernhof – hundert Meter vom See weg. Und im Umkreis von 20, 30 Metern steht da kein anderer Wohnwagen, garantiert. Ich hab’s doch selber vor zwei Jahren gesehen, als ich den Frieder damals besucht habe! Ehrenwort!« Horst versuchte es nun auf die romantische Tour, machte einen Schritt auf Claudia zu, nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. »Und außerdem – so ein schnuckeliges kleines Wohnwägelchen, nur für uns zwei beide, ganz allein, ganz romantisch. Mit gegrillten Würstchen und Steaks, eine schöne Flasche Lemberger (oder zwei) im Freien vor dem Wagen sitzend, keine Menschenseele weit und breit, das wär doch mal wieder was für uns, oder?« Er streichelte ihre Wange. »Na, komm schon – das ist doch mal was ganz anderes, das hat mit dem üblichen seelenlosen Hoteltrott nichts zu tun. Ist doch auch mal wieder schön – so ganz einfach und so ganz für uns alleine!« Er gab ihr einen leichten Klaps aufs Hinterteil und schlug anschließend unternehmungslustig die Hände zusammen: »Also – sag schon Ja, komm. Das wird irre gemütlich!«

Claudias Widerstand zerbröselte widerstrebend, aber sichtbar. »Das mit dem ›irre‹ glaube ich dir sofort. Aber gut, wenn du meinst, also: Ja! Aber nur unter einer Bedingung …«

Horst wusste, er hatte gewonnen. »Und die wäre?«

»Wenn die alte Schüssel sich dann doch als muffig und verwanzt herausstellen sollte, dann gehen wir ins Hotel – und zwar ohne Wenn und Aber! Okay?«

»Einverstanden – aber ich sag dir jetzt schon: Es wird dir gefallen auf dem Platz, da wette ich um eine Kiste Lemberger trocken, Kabinett. Da – schlag ein!«

Claudia winkte lachend ab: »Von wegen! Schlaumeier! Selbst wenn du die Wette verlieren solltest, bist du ja der eigentliche Gewinner, denn wer trinkt bei uns den meisten Lemberger? Du natürlich!«

Auch Horst musste schmunzeln. »Na gut. Auf jeden Fall ist ja jetzt alles geritzt. Also – am Montag früh starte ich und vorher besorge ich dir noch die Fahrkarte, damit du dich gleich am Freitagnachmittag in den Zug setzen kannst. Ich hol dich dann am Bahnhof in Überlingen ab. Und deine Mutter rufe ich auch an, dass sie wieder drei Tage mit ihren heißgeliebten Enkeln verbringen darf – nicht dass sie jetzt noch was mit ihren Freundinnen ausmacht!«, fügte er mit leichtem Stirnrunzeln hinzu.

»Ach wo«, beruhigte ihn Claudia. »Das geht auf jeden Fall klar, sie hat mir schon angedeutet, dass sie in der nächsten Woche eh nichts vorhat, das müssten wir hinbekommen!«

»Also, auf. Dann rufe ich jetzt den Frieder an und sag ihm Bescheid, dass ich sein Angebot annehme und dass er mir erzählt, wo er den Schlüssel für den Wohnwagen deponiert hat.« Das alles hatte er zwar schon längst geregelt, aber weshalb aufs Neue schlafende Schäferhunde wecken, wenn sich die Sache mit dem Urlaub von zu Hause so leicht doch noch hatte hinbiegen lassen? »Und dem Thomas sage ich dann auch Bescheid, dass ich komme. Du, der freut sich riesig darauf, hat er mir neulich am Telefon gesagt, wo wir das ausgemacht haben.«

Ein schneller Blick, in dem sich neu aufkeimendes Misstrauen widerspiegelte, ließ ihn blitzschnell die Kurve kriegen. »Na, du weißt doch – ich hab mit dem Thomas letzte Woche telefoniert, wegen so einer Umweltgeschichte da, die einen Menschen aus Konstanz betrifft. Und da haben wir dann ausgemacht, dass es ganz schön wäre, wenn wir uns bald mal wiedersehen könnten. Schließlich haben wir das beim Kommissarlehrgang in Wertheim schon im Januar verabredet gehabt und dann wieder aus den Augen verloren – wie immer halt. Und wenn wir jetzt nicht einen Knopf dranmachen, dann wird’s in diesem Jahr wieder nichts mit einem Treffen. Vor allem, wo’s doch jetzt warm ist da unten und der See auch schon 19 Grad haben soll, sagt der Thomas. Und außerdem: Ich hab irgendwie den Eindruck gehabt, der braucht grade mal jemanden zum Reden. Da scheint’s im Dienst nicht so besonders gut zu laufen und im Privaten gleich zweimal nicht. Der Thomas und die Susanne, die scheinen richtig Stress momentan miteinander zu haben. Er hat’s angedeutet: Er muss sich das alles mal von der Seele reden! Und wozu sind Freunde schließlich da?«

Claudia faltete die Hände vor der Brust, drehte die Augen in gespielter Frömmigkeit zum Himmel und vermerkte mit leicht spöttischem Unterton: »Mein Mann, der barmherzige Samariter! Die Polizei – dein Freund und Helfer! Hauptkommissar Horst Meyer – dein Kummerkasten in jeder Lebenslage!«

»Na – jetzt übertreib mal nicht! Aber wie auch immer: ich freue mich auf den See!«

»Klar – verstehe ich ja. Aber tu bloß nicht so, als würdest du nur aus reiner Nächstenliebe dort runterfahren – ganz so naiv bin ich dann doch nicht. Oder willst du dein Tauchzeug etwa nicht einpacken?«

»Natürlich will ich – na und?!«

»Nichts na und. Ich wollte es nur geklärt haben, ich gönne es dir ja auch. Obwohl – ich lass meine Sachen ganz sicher zu Hause. Mich bringst du im Leben nicht zum Tauchen im Bodensee – nein danke!« In gespieltem Entsetzen schüttelte sich Claudia und rieb die Oberarme mit ihren Händen, als fröstele sie. »Da warte ich lieber wieder ein Jahr, bis wir genug Geld für die Malediven oder die Karibik zusammenhaben. Da sind die Fische bunt, das Meer ist warm und vor allem: Man sieht weiter als zwei Meter fünfzig!«

»Hast ja recht«, Horst nickte eifrig – sie hatten das Thema schon oft diskutiert und sich nach einigem Widerstreben auch schon zu ein paar wenigen Tauchgängen in deutschen Baggerseen überreden lassen. Jedes Mal hatten sie anschließend den Kopf geschüttelt und sich versichert, lieber ein halbes Jahr länger auf den nächsten Urlaub zu warten, als noch einmal wie ein Moderlieschen in kalten schlammigen Baggerseen herumzupaddeln. »Aber der Thomas ist ja auch Taucher und der hat mich so weit gekriegt, dass ich Ja gesagt habe. Er kennt den See wie seine Westentasche und will mir unbedingt mal das Wrack der ›Jura‹ zeigen. Das sei ein echtes Erlebnis, da runterzutauchen!«

»Wenn der meint – von mir aus! Ich auf jeden Fall lasse mir dann von euch erzählen, was ihr alles nicht gesehen habt und wie kalt es da unten gewesen ist. Hauptsache, die Geschichte ist nicht gefährlich, oder?« Forschend blickte Claudia ihrem Mann ins Gesicht.

»Wo denkst du hin«, schüttelte der energisch den Kopf. Dass die »Jura« auf rund 38 Metern stockdunkler Tiefe im Schlick des Bodensees lag, musste man ihr ja nicht unbedingt auf die Nase binden. Das konnte warten, bis er wieder glücklich aufgetaucht war und mit stolz geschwellter Brust von seinen Heldentaten unter Wasser erzählen konnte. »Der Thomas ist ja auch vorsichtig und der hat Erfahrung ohne Ende – mit über 500 Tauchgängen. Da passiert garantiert nichts – im Leben nicht!«

Wie leichtfertig man im alltäglich Sprachgebrauch so manche Formulierung in den Mund nimmt – aber an dieses Gespräch erinnerte sich Horst erst viel später wieder, erst dann, als es bereits zu spät war …

2

Es war ein strahlend schöner Montagmorgen, als Horst, der erst noch die Kinder zur Schule gefahren hatte, mit seinem Wagen bei der Anschlussstelle Heilbronn-Untergruppenbach auf die A 81 einbog. Nichts, aber auch gar nichts konnte ihm jetzt noch seine Urlaubslaune verderben. Was gab es Schöneres, als einen Teil seiner respektablen Überstunden, die sich innerhalb des letzten Jahres bei der Arbeit in der Polizeidirektion Heilbronn angesammelt hatten, bei herrlichem Sommerwetter am Bodensee abzufeiern? Tauchen, grillen, einen guten Freund wiedersehen, ordentlich einen draufmachen, ganz Mensch – und nicht in tausend Zwängen steckender Polizist – sein dürfen: einfach herrlich!

Den Kollegen, oder vielmehr: den Freund Thomas Grundler kannte er schon seit Urzeiten. Damals, als sie beide gemeinsam auf der Polizeifachhochschule in Villingen-Schwenningen die ersten Stufen zur Kommissarausbildung absolviert hatten – du meine Güte: Das war nun auch schon wieder gut und gerne 15 Jahre her! Und seitdem hatten sie sich immer wieder getroffen und den Kontakt gehalten, obwohl der eine von ihnen, Horst, von Sigmaringen über Tübingen und Ulm schließlich in Heilbronn gelandet war, und es Thomas endlich geschafft hatte, in den äußersten Süden, in seine Heimat am Bodensee nach Konstanz versetzt zu werden. Der wohnte in Meersburg, wo er auch aufgewachsen war, und fuhr jeden Tag mit der Autofähre über den See nach Konstanz in die Direktion. »So fängt jeder Tag eigentlich schon an wie ein richtiger Urlaubstag – besser kann man es gar nicht erwischen –, und bis ich wieder zu Hause bin, habe ich durch die Rückfahrt mit der Fähre schon längst alles abgestreift und komme heim: dorthin, wo andere Urlaub machen! Nein, keine zehn Pferde und keine noch so verlockende Polizeikarriere bringen mich jemals wieder vom See weg – lieber bleibe ich das, was ich bin, und ärgere mich jeden Tag über unsere Karrierehengste, als diese Mühle auf mich zu nehmen«, hatte Thomas mehr als einmal ein eindeutiges Bekenntnis zum Bodensee und seinem Wohnort Meersburg abgegeben und Horst hatte jedesmal eigentlich nur zustimmend nicken können.

Auch er genoss seit Jahren immer wieder die Stimmung am See, wobei er die alte Reichsstadt Überlingen als Standort favorisierte, die sich gerade in den letzten Jahren mächtig nach vorne entwickelt hatte. Und so war zwischen den beiden mehr als einmal ein freundschaftlich-deftiger Disput über die Frage ausgebrochen, welche Stadt am See denn nun die schönere und liebenswertere sei: Meersburg mit der alten Burg, den romantischen engen und steilen Gassen und dem großen Hafen oder Überlingen mit der größten Promenade am See und seiner verwinkelten Altstadt mit den vielen Lokalen und wunderschönen Strandbädern. Ein solcher verbaler Schlagabtausch würde mit Sicherheit auch dieses Mal zwischen den beiden geführt werden, darin war sich Horst jetzt schon sicher. Doch wie auch immer: Auch Horst hatte – sehr zur Verwunderung seines Kollegen – mittlerweile seine ideale Heimat gefunden. Dass dies ausgerechnet Heilbronn sein sollte, die zweitgrößte Stadt von Württemberg, hatte Thomas anfangs mit schallendem Gelächter quittiert – später dann, nach einigen Besuchen und manchem Glas Lemberger auf der jährlich im September stattfindenden Präsentation der Unterländer Weingüter in der Heilbronner Innenstadt (Slogan: »Deutschlands schönstes Weindorf«) oder in einer der vielen Besenwirtschaften im Umland, war die Ironie einem anerkennenden Gesichtsausdruck gewichen – zumindest, wenn man auf das Thema Unterländer Wein zu sprechen kam.

Logisch, dass Horst seinem Beinamen »Lemberger trocken«, den Thomas ihm bei einem der Heilbronner Weindorf-Besuche nach dem sechsten Viertele verpasst hatte, auch dieses Mal alle Ehre angedeihen ließ: Einen ganzen Karton Lemberger Kabinett trocken hatte er in den Kofferraum gepackt – und zwar was »Gescheites«, einen 1996er Heilbronner Staufenberg! Dazu noch eine Flasche aus seinem Geheimfach, von dessen Existenz nicht einmal Claudia den Schimmer einer Ahnung besaß: einen 97er Lem­berger Spätlese trocken aus dem Holzfass vom Grafen Neipperg aus Schwaigern! In dessen Kellerei hatte er sich vor einigen Wochen in einem Anflug von Wahnwitz (so zumindest würde es Claudia mit Sicherheit formulieren, hätte sie Kenntnis von dem »Vorfall«) einen 6er-Karton besorgt, die (einzelne!) Flasche um den stolzen Preis von 30 Mark. Für Claudias 40. Geburtstag im nächsten Sommer waren die paar Fläschchen eigentlich bestimmt, als Extra-Überraschung sozusagen, streng tabu bis dahin: andererseits … man sollte schon mal vorher eine Flasche probiert haben, ob der Inhalt den Erwartungen auch tatsächlich entsprechen würde, hatte er insgeheim für sich beschlossen und so eine Flasche mit auf die Reise an den Bodensee genommen. Hoffentlich hielt der Wein seinen Erwartungen stand, denn sonst konnte er sich den Kommentar seines Freundes jetzt schon lebhaft vorstellen, der in etwa lauten würde, dass man um diesen Preis beim Aldi gleich einen ganzen Karton bekommen könne und dass der – ehrlich gesagt – auch nicht unbedingt um 150 Mark schlechter schmecken würde … Nein – gleich bei seiner Ankunft würde er ihn an einem schönen Plätzchen lagern, frühestens nach drei Tagen öffnen und ihm dann noch einen ganzen weiteren Tag Zeit geben, sein Aroma zu entfalten. Ach ja, die Vorfreude war doch wieder mal die schönste Freude …

Auf dem Spätzleshighway zwischen Böblingen und Herrenberg war wieder mal die Hölle los – glücklicherweise aber in Richtung Stuttgart, und nicht auf der Strecke ans Schwäbische Meer (Horst freute sich schon da­rauf – da würde der Thomas als eingefleischter Badener wieder toben, wenn man seinen Bodensee zum Schwäbischen Meer umfunktionierte!).

In der Nähe von Bad Dürrheim klingelte Horsts Handy. Er nahm den Fuß vom Gaspedal, drückte die grüne Taste und meldete sich, wie immer mit schlechtem Gewissen, denn das telefonieren während der Fahrt war ja eigentlich gerade für ihn als Polizeibeamten tabu – außerdem ärgerte er sich immer wieder über die Idioten mit ihrem fast unkalkulierbaren Fahrstil, wenn sie mit einer Hand am Handy und mit der anderen am Steuer klebten.

Der Gesprächsteilnehmer am anderen Ende war so gut wie überhaupt nicht zu verstehen, aus dem Hörer kam Horst eine Salve von zerhackten Wortfetzen, metallischen Sphärenklängen und verrauschten Orkanböen entgegen. Er zog sein Fahrzeug deshalb, nachdem er einen LKW überholt hatte, auf die rechte Fahrspur herüber und drosselte weiter das Tempo. »Moment noch«, rief er ins Mi­krofon. »Bei mir ist noch der Zerhacker an, wird gleich besser, einen Augenblick bitte.«

Allmählich wurde das Kauderwelsch verständlicher, die verzerrte metallische Stimme entpuppte sich als die des Kollegen und Freundes Michael Protnik, der offensichtlich aus Leibeskräften in den Hörer hineinbrüllte: »Hallo, hallo! Hotte – verstehst du mich? Hotte, hallo, Hotte!«

Typisch Protnik; wenn schon, dann immer gleich hoch zehn! Horst schmunzelte in sich hinein: Eigentlich brauchte der gar kein Telefon, der hätte – bei dieser Lautstärke – seine Nachricht auch mit dem Wind herüberbrüllen können!

»Sputnik, hallo, Sputnik! Halt mal ganz kurz die Luft an! Ich versteh dich ja jetzt! Hallo – Sputnik, hier ist der Horst, was gibt’s denn?«

»Na endlich! Diese Scheißdinger! Den ganzen Tag klingeln sie und terrorisieren einen, und wenn man sie dann selber mal braucht, dann versteht man nix! Hallo, Horst!« Die Lautstärke von Protnik hätte noch immer mühelos dafür ausgereicht, auch ohne Mikrofon einen Wettbewerb gegen die Rolling Stones überlegen zu gewinnen.

»Hallo, Michael! Na – was gibt’s denn?« Da vorne war ein Parkplatz. Am besten er hielt dort kurz an und telefonierte von hier aus in aller Ruhe mit Protnik, bevor die Verbindung wieder schlechter wurde und der Kollege sich von Neuem genötigt fühlte, seine Phonstärke ins nicht mehr Messbare zu steigern. Schließlich saß Horst ja kein Termin im Nacken, das war ja gerade das Schöne an diesen paar freien Tagen.

»Ich bin jetzt da, das hab ich dir bloß sagen wollen – grade angekommen«, ganz allmählich reduzierte sich Prot­niks Lautstärke nun auf einigermaßen verzerrungsfreien Normalstandard. Dennoch verstand Horst nicht die Bohne!

»Wie angekommen, wo angekommen?« Typisch Prot­nik! Der Kerl schaffte es einfach nicht, sich klar und eindeutig auszudrücken! Jedes Mal dasselbe, wenn man mit dem telefonierte: ein einziges Versteckspiel Marke »Rate-mal-wo-ich-bin-ich-weiß-es-schon-aber-du-nicht«! Das war dem Freund und Kollegen bei der Ulmer Kripo selbst in hundert Jahren anscheinend nicht abzugewöhnen!

»Weißt du doch! Du hast mir doch selber den Tipp gegeben da im Januar!« Ein leichter Vorwurf schien durch das Handy an Horsts Ohr zu dringen. Mimose!

»Protnik! Januar ist vor gut und gerne einem halben Jahr gewesen! Jetzt haben wir Juli! Was hab ich dir denn damals empfohlen?«

»Na, den Wildenstein natürlich! Deine Lieblingsburg im Donautal! Schon wieder vergessen, Herr Alzheimer?«

Ach so! Ja, natürlich! Den Tipp hatte er seinem alten Kollegen vor einiger Zeit gegeben. Wenn er mal ein paar Tage Zeit hätte, dann solle er sein Fahrrad aufs Auto schnallen und einen Abstecher ins Donautal zwischen Tuttlingen und Sigmaringen machen und dort dann auf Horsts Lieb­lings­burg, der imposanten Festung Wilden­stein, hoch über dem Donautal in der dort eingerichteten Jugendherberge übernachten. Das war es, was Protnik jetzt also offenbar auch umgesetzt hatte. »Du bist jetzt also auf dem Wildenstein? Heißt das, du hast grade ein paar Tage Urlaub?«

»Ja, was glaubst du denn? Wie ist das bei euch in Heilbronn: Kann man da etwa während der Dienstzeit einen Trip ins Grüne machen, oder wie? Klar – eine ganze Woche hab ich mittlerweile freie Tage und die feiere ich jetzt hier im Donautal ab!«

»Ist ja prima!« Horst hatte sich dafür entschieden, die Spitze in der Antwort seines Kollegen schlichtweg zu überhören. »Da können wir uns ja mal treffen, oder? Ich hab nämlich auch gerade ein paar Tage frei! Was meinst du?«

»Na ja«, die Begeisterung am anderen Ende des Gesprächs schien sich in engen Grenzen zu halten. »Also vom Wildenstein nach Heilbronn, das dürften ja fast 200 Kilometer sein – und dann noch am Stuttgarter Dreieck vorbei … Ich weiß nicht … Einerseits: Wiedersehen würde ich dich ja schon mal wieder gerne, aber wo ich doch jetzt das Fahrrad dabeihabe und ich doch eigentlich eine Art Aktivurlaub …«

Horst unterbrach den qualvollen Entscheidungs­fin­dungs­prozess seines ehemaligen Mitarbeiters, mit dem er vor Jahren in Ulm zusammengearbeitet hatte und mit dem ihn seither eine herzliche Freundschaft verband: »Quatsch: nix ist mit Heilbronn! Ich bin nämlich grade auf dem Weg an den Bodensee – gar nicht weit weg von dir. Ich habe da nämlich einen Wohnwagen in Nußdorf bekommen, da bleibe ich die ganze Woche. Das sind vom Wildenstein«, Horst überlegte kurz, »schätzungsweise 35, maximal 40 Kilometer, das wäre doch machbar, eventuell sogar mit dem Rad.« Die Tatsache, dass es dann vom Bodensee wieder zurück auf den rauen Heuberg immerhin gut und gerne stattliche 400 Höhenmeter zu bewältigen galt, ließ Horst vorsichtshalber lieber einmal unerwähnt. »Und der Thomas, den kennst du doch auch, der Thomas Grundler, der kommt auch dazu, na, wär das was? Da hätten wir sturmfreie Bude und könnten kräftig einen draufmachen, was meinst du?«

»Na ja, wenn du aber schon mit dem Grundler was ausgemacht hast. Also – ich weiß nicht so recht.« Oh Gott, das beleidigte Mimöschen in Protnik war wieder zutage getreten. Typisch Sputnik: er oder keiner! Dabei hatten sie sich bei ihren gelegentlichen Zusammentreffen bei irgendwelchen Fortbildungsveranstaltungen immer hervorragend verstanden – alle drei! Aber einzig und allein mit Thomas Grundler etwas ausgemacht und ihn, Protnik, nicht davon unterrichtet zu haben, das war anscheinend schon wieder gleichbedeutend mit einer Überdosis für das oft und mit Inbrunst zur Schwermut neigende Gemüt des Ulmer Kollegen.

Horst versuchte es mit einem Köder, der normalerweise ziehen musste: »Also komm, jetzt tu nicht so und gib dir einen Ruck! Ich hab zwar nur Lemberger dabei, aber extra für dich könnte ich mir vorstellen, dass ich noch ein paar Flaschen Hefeweizen besorgen könnte. Ein richtig schön gekühltes Meckatzer Löwenbräu, na – wie wäre das?!« Horst wusste genau, allein beim Stichwort Hefeweizen und erst recht bei der Erwähnung von Protniks Weizenbier-Lieblingsmarke, die er zu seinem größten Bedauern nur am Bodensee und im Oberland, aber eben nicht in Ulm zu trinken bekam, würde dessen Widerstand schmelzen wie ein Schneemann im Backofen. Genauso war es.

»Na ja – ich weiß nicht. Ich überleg’s mir mal. Okay.« Die Annäherung kam zögerlich, aber unaufhaltsam. »Also: vielleicht könnte ich es einrichten, sagen wir am Mittwoch. Also Mittwoch könnte eventuell klappen!«

Blödmann! Als ob der an seinen freien Tagen so von Terminen zugedeckt wäre wie ein Börsenmakler! Aber gut, irgendwie versuchte halt jeder auf seine Weise, das Gesicht zu wahren. »Klasse, Protnik, also abgemacht! Ich ruf dich heute Abend noch mal an und erklär dir, wo du mich dann finden kannst. Toll! Also dann bis Mittwoch und grüß mir meine Lieblingsburg! Sag dem Herbergsvater übrigens einen schönen Gruß von mir, ich müsse unbedingt mal wieder vorbeigucken, ich habe schon regelrechte Entzugserscheinungen – vielleicht klappt’s ja sogar auf der Rückreise am Sonntag!«

Das Wiedersehen mit der Burg Wildenstein lag in der Tat in greifbarer Nähe, und es sollte viel schneller stattfinden, als Horst es zu diesem Zeitpunkt ahnen konnte.

3

Kaum war Horst wieder vom Parkplatz auf den Spätzleshighway eingebogen und hatte sein Fahrzeug beschleunigt, da klingelte das Handy von Neuem. »Scheiß­dinger!«, entfuhr es Horst, der mit der immer mehr um sich grei­fenden Handy-Manie und dem Überall-und-jederzeit-er­reich­bar-sein-können-und-müssen so seine Probleme hatte. »Nirgendwo hat man mehr seine Ruhe!« Missmutig drückte er die grüne Taste an seinem Mobiltelefon. »Meyer!« bellte er unwirsch ins Mikrofon.

»Hallo, Horst, gut dass ich dich erreicht habe! Hier ist der Thomas!«

»Ach, du bist es! Na dann ist alles halb so wild!« Horsts schlechte Laune war augenblicklich verflogen. »Ich dachte schon, irgend so ein Depp auf der Direktion meint wieder, er müsse unbedingt etwas wissen, das nicht bis nächste Woche Zeit hat, aber das natürlich auch noch in der übernächsten Woche zu klären wäre. Na gut: Also wenn ich richtig schätze, dann müsste ich in einer guten halben Stunde bei dir sein können. Ich bin nämlich grade schon hinter Geisingen auf der Höhe Hegaublick, und da vorne seh ich ein bisschen was vom See und sogar den Säntis. Meine Güte, ist das ein Panorama heute!« Die Sicht über die Hegauvulkane hinüber zum See und auf die Österreicher und Schweizer Alpen war tatsächlich atemberaubend schön! Das war es, so musste Urlaub im wahrsten Sinn des Wortes aussehen, so musste es sich auch anfühlen: strahlender Sonnenschein und eine wunderschöne Alpensicht, wie man sie nur an einer Handvoll Tagen im Jahr genießen konnte. In Horst machte sich eine euphorische Urlaubsstimmung breit, so wie fast immer, wenn er dem Ziel seiner langersehnten Ferien nahe kam. Die Frage, die sich danach stellte, war freilich immer wieder dieselbe: Hoffentlich hielten die nächsten Tage auch das, was die Ouvertüre in Aussicht gestellt hatte. Und eine solche Wetterlage mit Alpensicht bedeutete Föhn – oft genug schlug dann das Wetter in den kommenden 24 Stunden ins Gegenteil um – oft genug, aber doch sicher nicht diesesmal – oder?

Doch schon kam der erste Dämpfer: »Du, schön, das freut mich für dich! Aber heute wird’s leider nichts mit unserem Treffen! Ich hab da grade einen saublöden Fall am Hals und ich seh keine Chance, da heute noch ein paar Stunden freimachen zu können!« Die Stimme am Handy klang nicht unbedingt verärgert, sondern eher ziemlich deprimiert. Eigentlich ganz und gar nicht die Art, wie er Thomas Grundler kannte.

Für einen kurzen Moment stieg in Horst Enttäuschung auf – man sollte den Tag nun mal nicht vor dem Abend loben! »Schade – ich hatte mich schon gefreut, dich mal wieder in der PD zu besuchen, aber was nicht ist, können wir im Lauf der Woche ja vielleicht noch hinbekommen. Also gut, dann fahr ich eben erst mal nach Nußdorf und bring den Wohnwagen auf Vordermann.« Vielleicht auch kein Fehler, erst mal in Ruhe das Terrain zu sondieren, einzukaufen und sich zu entspannen: einfach so in der Sonne zu liegen, mal schnell mit dem Fahrrad (in Frieders Wohnwagen wurde zum Glück eines aufbewahrt) nach Überlingen ins Ostbad zu fahren und es sich dort gut gehen zu lassen. Und morgen war dann ja auch noch ein Tag – zum Tauchen … »Aber das mit dem Tauchen morgen klappt doch, oder? Ich hab extra meine Flasche dabei – die hab ich gestern noch füllen lassen: mit eins a Heilbronner Luft, da werde ich tauchen wie ein Weltmeister!«

Die Antwort kam zögerlich: »Na ja, ich hoffe schon, dass das klappt! Ich ruf dich heute Abend noch mal an, okay?«

Das war aber alles andere als beruhigend! »Okay – Dienst ist schließlich Dienst, was soll man da machen? Mach dir keine Gedanken, ist alles halb so wild!« So ein Mist! Da war alles so wunderschön geplant gewesen und jetzt zerplatzte die ganze Geschichte womöglich wie eine Seifenblase!

Offenbar war ihm die Enttäuschung durch das Handy hindurch anzuhören gewesen. »Glaub bloß nicht, dass mir das recht ist, Horst! Aber ich hab da grade eine elende Geschichte auf dem Schreibtisch, ich sag’s dir, da vergeht einem allmählich das Lachen! Ich kann jetzt am Handy nicht darüber reden, aber ich hoffe, ich bin morgen dann wesentlich weiter und kann endlich einen Knopf an die Chose machen. Also, wie gesagt – ich ruf dich heute Abend an. Tschüss!« Und schon hatte Thomas aufgelegt.

Verwundert starrte Horst einen Moment lang sein Handy an: So knapp und gehetzt hatte er seinen Kollegen noch nie erlebt! Weder privat noch bei dem einen oder anderen Fall, in dem sie schon zusammengearbeitet hatten, er – Horst – von der Heilbronner Mordkommission aus und Thomas Grundler als Hauptkommissar beim Wirtschaftskontroll­dienst der Polizeidirektion Konstanz.

Vor lauter Grübeln wäre Horst nun beinahe an der Abzweigung in Richtung Überlingen vorbeigefahren. Mit einem ärgerlichen Fluch lenkte er sein Auto im letzten Moment nach rechts, begleitet von wütendem Hupen des nachfolgenden Wagens, der gerade Gas gegeben hatte und nun durch Horsts überstürztes Lenkmanöver zu einem heftigen Tritt auf die Bremse genötigt wurde. Doch der Kriminalkommissar aus Heilbronn machte keine Anstalten, in eines der berühmt-berüchtigten bundesdeutschen Autobahnduelle mithilfe eindeutig-zweideutiger Zeichensprache einzusteigen; dafür war er im Augenblick viel zu sehr mit dem gerade beendeten Telefongespräch und Thomas Grundlers deprimiertem Tonfall beschäftigt.

4

Der Tag im Strandbad Ost von Überlingen war traumhaft schön verlaufen. Urlaub, wie er idealer fast nicht sein konnte, nur – ganz ehrlich – zu zweit, also mit Claudia, wäre alles doch noch viel schöner gewesen. Das gestand sich Horst ehrlicherweise ein, wie er da alleine auf dem Rasen liegend dem bunten Treiben um sich herum im Ostbad zuschaute. Vor allem die Pärchen oder die Familien mit Kindern erinnerten ihn nachdrücklich immer wieder daran, dass er zum Single halt doch nicht geschaffen, sondern in Wirklichkeit – aller ärgerlichen Beteuerungen dann und wann zum Trotz – ein ausgesprochener Familienmensch war, dem allein zu Hause oder im Urlaub recht schnell die Decke selbst da auf den Kopf fiel, wo – wie im Strandbad – gar keine Decke vorhanden war.

Dennoch, bei solch schönem Wetter am See, auf dem penibel kurz gemähten saftig-grünen Rasen seines Lieb­lings­bades in Überlingen war sich Horst wieder mal bombensicher: Nirgendwo konnte Urlaub schöner sein als am Bodensee – sofern natürlich das Wetter mitmachte. Kein unangenehm schmeckendes Salzwasser im Mund, kein lästiger Sand, der sich in alle Poren setzte, eine picobello gepflegte Anlage mit Süßwasserdusche, Rasen, ein schönes Baderestaurant mit Currywürstchen, Schnitzel, Pom­mes und Hefeweizen: Herz, was willst du mehr?

Beschwingt radelte Horst am Abend die paar Meter zurück nach Nußdorf zum Wohnwagen, der sich ihm bei seiner Ankunft am Vormittag schon in angenehm gutem Zustand präsentiert hatte. Der Landwirt, auf dessen Platz Frieders mobiles Feriendomizil abgestellt war, war bereits von seinem bevorstehenden Eintreffen unterrichtet gewesen und hatte ihn schon erwartet. Schnell war der Koffer ausgepackt und der noch benötigte Proviant besorgt gewesen, sodass einem gemütlichen Abend am See eigentlich nichts mehr im Wege stand.

Horst beschloss, sich zunächst einmal sommer-ausgehfertig umzuziehen: weiße Jeans, gelbes Polo T-Shirt und die Wildledermokassins – genau der richtige Dress, um noch ein oder zwei Stunden auf der Überlinger Uferpromenade entlangzubummeln und sich dort hinterher noch im »Faulen Pelz« ein oder zwei Spätburgunder-Weißherbst zu gönnen. Einen vielleicht vom Überlinger Spitalweingut und den anderen – mal sehen, was auf der Karte stand – entweder vom markgräflichen Weingut auf der Birnau oder aber einen Hagnauer von der dortigen Winzergenossenschaft. So ein richtig schöner gemütlicher Absacker mit einem kühlen, erfrischenden Weißherbst vor sich und die an der Promenade auf- und abflanierenden Menschen – das gehörte für ihn einfach zu einem Sommerurlaub in Überlingen dazu, wie das Wasser zum Bodensee.

Während er so gemütlich im »Faulen Pelz« saß, dessen an die Fassade gemalten Wahlspruch »Faul ist und bleibt der Pelz« er bei jedem Besuch aufs Neue wieder mit einem zufriedenen Lächeln quittierte, blätterte er im neuen »Bodensee-Magazin«, das er vorher am Kiosk an der Uferpromenade erstanden hatte. Mal schauen, welche Angebote in der näheren Umgebung er noch nicht kannte und wohin man vielleicht mal an einem nicht ganz so schönen und sonnigen Tag einen lohnenswerten Ausflug unternehmen konnte. Der Rahmen war ja mittlerweile ganz schön weit gespannt: fast hundert Kilometer im Umkreis, da gab es sicher noch manches zu entdecken, während er das Seeufer und das unmittelbare Bodensee-Hinterland halt doch schon fast flächendeckend abgegrast hatte.

Jetzt begann die Sonne allmählich tiefer zu sinken und das gleißend-helle Licht, das diesen Tag so warm und strahlend gemacht hatte, ging allmählich in zarte Rottöne über. Es war ein Sonnenuntergang am Wasser wie aus dem Bilderbuch: die Sonne, die ihre letzten Strahlen nun glutrot an den mittlerweile von einigen Wolken strukturierten Himmel schickte, während sich auf dem Wasser ein kilo­meter­langer roter Teppich vom Ufer bis zur Sonne zu spannen schien. Eine Sicht, wie sie klarer nicht sein konnte: im Hintergrund die zum Greifen nahen Alpen, ein allmählich aufkommendes warmes Lüftchen, das den zahllosen Segelbooten draußen auf dem See ermöglichte, etwas schnellere Fahrt in Richtung Hafen aufzunehmen, ein orangefarbener Reflex am gegenüberliegenden Ufer bei der Mainau drüben, einige Sekunden später noch mal einer. Nein, halt, Horst setzte sich auf und blinzelte mit den Augen. Das konnte doch eigentlich gar nicht sein, oder doch? Das war kein Reflex, es war vielmehr das orangene Blinklicht der rings um das ganze Seeufer aufgestellten Sturmwarnleuchten. Horst zählte langsam mit: ungefähr alle anderthalb Sekunden ein Blitzlicht, das bedeutete Sturm­vor­warnung, also zunächst einmal eine Vorsichtsmeldung. Wären die Blitze im Abstand von weniger als einer Sekunde ausgesandt worden, hätten sie unmittelbare Sturmgefahr signalisiert, also die dringende Aufforderung an alle Boote auf dem See, sofort den nächsten Hafen anzusteuern. Auch die Kapitäne der Segelboote hatten die Warnlichter registriert – es war deutlich zu erkennen, wie die meisten von ihnen nun auch reagierten und schneller als ursprünglich geplant Kurs auf den Hafen und ihre Liegeplätze nahmen.

Eigentlich fast nicht vorstellbar, dass an diesem angenehm-milden Sommerabend von irgendwoher Sturm aufkommen sollte, doch Horst kannte »seinen« See in der Zwischenzeit gut genug, um zu wissen, dass Gewitter – gerade bei der momentan vorherrschenden Föhnwetterlage – von jetzt auf nachher praktisch wie aus heiterem Himmel von den Alpen herunter über den See jagen konnten, ohne dass man eine Viertelstunde zuvor als arglos auf dem Wasser dahinschippernder Segelbootslenker im Entferntesten an eine derart schnelle Änderung der Wetterverhältnisse geglaubt hätte. Aber genau diese tückische, sich blitzschnell ändernde Wetterlage war in der Vergangenheit schon so manchem Freizeitkapitän samt seinem Boot zum Verhängnis geworden, und nicht zuletzt aus je­-nem Grund waren vor vielen Jahren schon die orangenen Sturm­warnleuchten rings um den gesamten See installiert worden.

»Na, was sagst du dazu? Würde man doch im Traum nicht für möglich halten, dass wir heute noch Sturm bekommen sollen!« Horst schreckte aus seinen Gedanken auf und blickte hoch. Er hatte vor lauter Sinnieren überhaupt nicht bemerkt, wie sich jemand seinem Tisch genähert hatte.

Um so verblüffter war er jetzt, nachdem er den vor ihm Stehenden erkannte. »Thomas! Was tust du denn da? Wie hast du mich denn gefunden?«

Thomas Grundler, ein sympathischer, leger gekleideter braun gebrannter Mann Anfang 40, lächelte leise. »Na – ich bitte dich! Wo muss man denn den Hotte schon suchen, wenn man ihn am Wohnwagen in Nußdorf nicht finden kann? Entweder im Ostbad – aber dazu war es meiner Meinung nach schon fast zu spät am Tag – oder aber im »Faulen Pelz« in Überlingen, wo er sich noch einen kleinen Absacker-Weißherbst gönnt! Andere Möglichkeiten sind um diese Uhrzeit bei diesem Wetter fast auszuschließen! Du siehst also, mein Lieber«, und nun zog sich ein breites Grinsen über sein Gesicht, »du bist ganz schön leicht auszurechnen mit deinen Gewohnheiten! Also gerate ja nie auf die andere Seite: Dich hätten wir nämlich unter Garantie blitzschnell geschnappt – wetten?!«

Ebenfalls lachend hob Horst abwehrend die Hände: »Hab ich auch gar nicht vor. Ich tauge, glaub ich, nicht so sonderlich gut zum Al Capone. Außerdem müsste ich dann ja Zigarren rauchen – wär nix für mich und meine Lunge! Aber komm«, er beugte sich vor und zog einladend einen Stuhl an den Tisch, »setz dich endlich hin! Ist ja eine tolle Überraschung, dass es doch noch geklappt hat mit uns beiden. Prima! Dann können wir ja doch noch einen draufmachen heute Abend!«

Thomas Grundler ließ sich bedächtig auf dem ihm angebotenen Stuhl nieder. Er warf den Kopf in den Nacken, streckte die Beine aus und ließ einen lang gezogenen Seufzer hören. »Brrr – tut das gut. Endlich mal ein bisschen Entspannung.« Er beugte sich vor und warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf Horsts noch halb volles Weinglas. »Darf ich mal? Ich hab’s wirklich dringend nötig!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, griff sich Thomas das Glas und nahm einen ausgiebigen Schluck von dem kühlen Weißherbst zu sich. »Ahhh – fantastisch! So schnell geht’s einem besser, wenn das richtige Getränk auf dem Tisch steht! Hallo!« Mit diesem Ruf drehte er sich in Richtung der Kellnerin, die gerade am Nebentisch bediente, und deutete mit dem Zeigefinger auf das Glas. »Noch zwei, bitte – vom selben!« Er setzte das Weinglas ab und rieb sich mit der einen Hand heftig den linken Unterarm, dann den Unterschenkel. »Verdammt, da juckt was furchtbar. Mir scheint, ich hab die Krätze! Da guck mal hin!«

In der Tat war der Arm, den Thomas gerade so heftig gerieben hatte, krebsrot geworden – eine ungesunde Farbe, die sich durch das Kratzen mit den Fingernägeln nun noch verstärkte.

Horst schüttelte den Kopf. »Dann lass doch die Krat­zerei sein und hol dir eine Salbe aus der Apotheke. Das ist sicher irgendeine Allergie, da hast du vielleicht was gegessen, das du nicht verträgst, und da machst du es mit Kratzen nur noch schlimmer. Es ist schließlich Sommer, da schwirren jede Menge Pollen durch die Luft, da ist man empfindlicher gegen irgendwelches Zeugs als im Winter!« Horst als jahrzehntelanger Heuschnupfenkandidat wusste haargenau, wovon er sprach. Gott sei Dank war die Heuschnupfensaison bei ihm für dieses Jahr aber vorüber: sie dauerte alljährlich – man konnte regelrecht die Uhr danach stellen – immer sechs Wochen, von Mitte Mai bis Ende Juni.

»Wahrscheinlich hast du recht«, nickte Thomas zustimmend. »Aber das ist grade erst gekommen, einfach so! Wird schon wieder verschwinden!« Sprach’s – und kratzte sich nun am Hinterkopf und danach intensiv am rechten Oberarm.

In Horst regte sich allmählich Unmut. »Mensch, hör bloß auf! Die Leute gucken schon! Das sieht ja aus, als ob du Flöhe hättest!«

Thomas verzog das Gesicht. »Du hast leicht reden, dich juckt’s ja nicht!«

»Und wie oft habt ihr alle über mich und meine Heu­schnupfenattacken gelästert und behauptet, das sei alles nur psychisch – ich solle mit Claudia zur Eheberatung oder so und schon würde der Schnupfen aufhören? Jetzt weißt du mal, wie das ist – von wegen psychisch!« Horst erinnerte sich an mehr als ein Beispiel, wo er am liebsten an die Decke gehüpft wäre, wenn die Kollegen auf irgendeinem Lehrgang im Sommer mal wieder über seine ständig laufende Nase gelacht und ihm hämisch grinsend den Gang zum Psychologen angeraten hatten.

Sein Gegenüber lächelte gequält. »Gar nicht mal so falsch mit der Psyche! Aber was ist denn nun mit dem Wein? Fräulein! Hallo!« Suchend blickte er sich um, bis er die Bedienung entdeckte. »Ja, genau! Denken Sie noch an unseren Weißherbst? Okay – wir sind nämlich grade am Verdursten!« In gespielter Verzweiflung die Augen rollend drehte er sich wieder zu Horst. »Ich sag’s dir, die Bedienungen am See sind auch nicht mehr das, was sie früher mal waren! Lauter Ausländer und von nichts eine Ahnung. Nur wenn’s ums Trinkgeld geht, da sind sie fit wie ein Turnschuh – fürchterlich!«

Horst blickte seinen Kollegen verwundert an. Thomas, den er bisher nur als die Leutseligkeit in Person gekannt hatte, schien mit einem Mal ein ganz anderer geworden zu sein. Nervös, fahrig, sich ständig hastig umblickend, kratzend, polternd: So hatte er den Kriminalkommissar aus Meersburg noch nie erlebt! Er beugte sich leicht vor und sah Thomas direkt ins Gesicht: »Sag mal, ist alles in Ordnung mit dir? Du bist so nervös, wie ich dich noch nie vorher gesehen habe! Stimmt irgendetwas nicht?«

Thomas schoss erkennbar die Röte ins Gesicht. Verlegen schaute er zur Seite, senkte den Kopf und sagte gar nichts. Horst spürte, dass da etwas war, mit dem Thomas innerlich kämpfte. Am besten, er wartete ab und ließ ihn den Kampf mit sich allein ausfechten. Erst nach einer ganzen Weile hob Thomas den Kopf und öffnete zögernd den Mund. »Ja also, weißt du, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen …«

Doch gerade in diesem Augenblick kam die Bedienung mit zwei Gläsern Wein und unterbrach die Unterhal­-tung. »Bitte schön, zwei Kaiserstühler Gutedel. Sehr zum Wohl!«

Verwundert blickten die beiden erst sich, dann die Bedienung an. Horst fand als erster die Sprache wieder: »Wer hat denn hier Weißwein bestellt?«

»Na, der Herr da neben Ihnen!« Für die Bedienung schien alles glasklar zu sein. Sie deutete mit dem Zeigefinger auf Thomas.

Der reagierte mit einem zornigen Schnauben. »Also, jetzt glaub ich das auch noch! Ich und Weißwein, und dann noch«, er nahm einen vorsichtigen Schluck aus dem Glas. »Dachte ich’s mir doch! Honigsüß! Also, dass das klar ist!« Mit strengem Blick fixierte er die nun schon deutlich eingeschüchterte Bedienung. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch kein Glas lieblichen Weißwein getrunken, und schon gar keinen Gutedel. Das kann ich also in hundert Jahren nicht bestellt haben. So – nehmen Sie also das Gesöff wieder mit«, damit griff er sich die beiden Gläser und stellte sie energisch zurück aufs Tablett, »und dann bringen Sie mir das, was ich auch bestellt habe: nämlich zwei Gläser Weißherbst, trocken natürlich. Und zwar Überlinger, Überlinger Spitalweingut! Und falls Sie das nicht haben, dann einen Birnauer oder einen Hagnauer oder meinetwegen einen Meersburger! Aber bitte: Weißherbst, trocken und kühl – Okay? Okay!« Mit einer energischen Handbewegung schob er die verdatterte Bedienung samt ihrer zwei vollen Weißweingläser zurück in Richtung Lokal und lehnte sich mit einem resignierten Seufzer zurück. »Ich sag’s ja: die Bedienungen am See! Es gibt Tage, da kommt wirklich alles zusammen!«

Horst wunderte sich aufs Neue über die Aggressivität, die Thomas heute an den Tag legte. Beruhigend legte er seine Hand auf die Linke seines Gegenübers. »Na komm, ist doch kein Beinbruch! Kann doch mal passieren! Und wenn du es richtig betrachtest: Du hast doch nur das leere Glas gehoben und drauf gedeutet – da kann man doch schon mal im Eifer des Gefechts was verwechseln, oder?«

»Fall du mir ruhig auch noch in den Rücken! Einer mehr oder weniger, das spielt ja allmählich auch keine Rolle mehr!« Bitter zog Thomas die Mundwinkel he­runter und starrte auf den Boden.

»Aber jetzt halt mal langsam die Luft an! Keiner ist gegen dich! Ich zumindest nicht! Jetzt spuck aber endlich mal aus, wo denn eigentlich der Schuh drückt!« Horst stand auf und zupfte seinen Kollegen am Hemdsärmel. »Wir gehen aber besser rein, denn ich glaube, es dauert nimmer lang, und dann wütet es hier draußen wirklich!«

Mittlerweile hatte sich das anfänglich so laue Som­mer­abendlüftchen in einen unangenehm blasenden Wind verwandelt, der auf dem See draußen für die ersten Schaumkronen auf den Wellen sorgte. Es war dämmrig geworden und der gerade eben noch so romantisch-friedlich schimmernde See hatte eine unschöne schwarzgraue Farbe angenommen. Das Alpenpanorama war wie mit einem Schlag verschwunden und dunkle Gewitterwolken verdeckten die Berge. Die orangenen Lichter an der Uferlinie blinkten mittlerweile hektischer – genau 90 Mal in der Minute: Sturmwarnung!

5

Der nächste Morgen war grauenhaft – im wahrsten Sinn des Wortes. Dröhnende Kopfschmerzen hatten dazu geführt, dass Horst bereits um 6 Uhr in der Frühe aufgewacht war, an Weiterschlafen war überhaupt nicht mehr zu denken! Ein Blick aus dem Wohnwagenfenster ließ ihn zusätzlich schaudern: dunkelgraue schwere Regenwolken zogen in schneller Folge über den Himmel, ein ekelhaft-feiner Nieselregen strömte wie an unsichtbaren Fäden auf die Erde. Eine unangenehme Kälte machte sich im Wohnwagen breit und bemächtigte sich aller Glieder. Horst versuchte erst gar nicht, einen Blick durch die Hecke auf den knapp hundert Meter entfernten See zu werfen – er konnte sich auch so nur zu gut vorstellen, wie es da draußen jetzt aussehen mochte. Das waren die Tage, an denen er Campingurlaub am Bodensee genauso hasste, wie er sonst glücklich und zufrieden auf dem grünen Rasen am Strandbad die Sonne genoss und sich nichts Schöneres vorstellen konnte als einen legeren Sommerurlaub am See!

Mit Sicherheit würden die dunklen Wolken über dem Wasser nicht einmal die Sicht zum höchstens zweieinhalb Kilometer entfernten gegenüberliegenden Ufer bei Din­gels­dorf ermöglichen, dunkelgrau-schmutziges Wasser würde aus den Wellen steigen und den paar Unverzagten, die sich draußen herumtrieben, die kalte Gischt begleitet von einem permanent-böigen Wind ins Gesicht blasen. Nein – kein Wetter für Wassersport! Die gestern knapp erreichten 20 Grad Wassertemperatur, die der Bademeister im Ostbad in ein Meter Tiefe gemessen hatte, waren erfahrungsgemäß durch den Wellengang und die unruhige Strömung auf höchstens 16 Grad zurückgefallen, zu wenig, um auch nur den großen Zeh ins Wasser zu strecken.

Andererseits: Für ihr Vorhaben spielte das so gut wie keine Rolle, denn Thomas und Horst wollten es heute dennoch angehen, koste es, was es wolle! Der Tauchgang an die vor fast 140 Jahren in der Nähe von Bottighofen versunkene »Jura« würde heute Nachmittag stattfinden – so oder so! Und schließlich spielte die Oberflächentemperatur in einer Tiefe von 38 Metern, wo das ganze Jahr über sowieso nie mehr als 6 Grad herrschten, eh keine Rolle mehr. So schön es auch gewesen wäre, sich anschließend, wenn man nass und klamm aus dem Wasser stieg, von der Sonne wärmen zu lassen anstatt von einem Glas heißen Tees mit Rum aus der Thermoskanne – mitten im Hochsommer!

Aber das Wetter war, wie es eben war: nichts zu machen! Horst fluchte leise und fasste sich an die schmerzende Stirn. Bei der vergangenen Nacht im Wohnwagen hatte es sich um einen einzigen Horrortrip gehandelt! Spät in der Nacht erst war er von Überlingen und seinem Treffen mit Thomas auf den Platz zurückgekehrt, nachdem so manches zusätzliche Glas Weißherbst von den beiden geleert worden war. Horst durfte gar nicht daran denken, was passiert wäre, wenn er mit seinem Promillegehalt einer Polizeikontrolle in die Arme geraten wäre! Völlig idiotisch hatte er sich benommen, an dieser Erkenntnis führte kein Weg vorbei. Zum Glück würde Claudia davon nichts mitbekommen, denn die hätte ihm sonst mit tödlicher Sicherheit – und zudem auch noch absolut zu Recht – kräftigst den Kopf gewaschen!

Und als er dann – glücklicherweise unbehelligt – am Wohnwagen angekommen war, da hatte er die Bescherung gesehen! Das Klappfenster neben der Tür war weg! Einfach verschwunden! Ein dunkles schwarzes Loch aus dem der rotbraune Vorhang des Vehikels wehte und zwei verbogene Metallstangen: das war alles, was vom Fenster noch übrig war! Einbrecher, die das Fenster aufgestemmt hatten und dann hineingeklettert waren – ausgerechnet auch das noch! Horst fingerte hektisch den Schlüssel aus der Hosentasche, zitterte ihn ins Schloss, riss die Türe auf und stürmte in den Wagen. Dort freilich war von einem Einbruch nicht das Geringste zu merken: Alle Gegenstände lagen noch am selben Ort, an dem sie Horst zurückgelassen hatte, bevor er nach Überlingen fuhr. Kein durch­wühl­ter Koffer, kein auf den Kopf gestellter Schrank – nichts! Allmählich hatte es dann begonnen, bei ihm zu dämmern. Da waren keine Einbrecher am Werk gewe­-sen, das hatte er selbst fabriziert! Ganz eindeutig: eigene Schuld! Er hatte schlichtweg beim Wegfahren das Fenster ausgeklappt gelassen, um das schwül-hitzige Klima im Wohnwagen wenigstens etwas auf einigermaßen erträgliche Schlaftemperatur herunterzuschrauben. Als nun am Abend der Sturm aufgekommen war, da hatte eine Bö ganz offensichtlich einen derartigen Druck entwickelt, dass sie das sowieso schon recht wacklige Plastikfenster regelrecht weggeblasen hatte. Und Horst, der ahnungslos mit Thomas im »Faulen Pelz« sitzend den Überlinger Weinvorräten den Kampf angesagt hatte, war natürlich nicht im Entferntesten auf den Gedanken gekommen, eventuell einmal am Wohnwagen nach dem Rechten zu sehen und das Fenster zu schließen!

Mist verfluchter! Denn das mit dem Fenster war noch nicht alles gewesen! Der heftige Wind hatte den Regen durch die Fensteröffnung ins Innere des Wohnwagens geweht. Dass sich die Schlafcouch aber auch direkt unter dem Fenster befinden musste! Und so war Horst bei seiner mitternächtlichen Rückkehr schließlich nichts anderes übrig geblieben, als den Rest der Nacht fluchend auf dem nackten harten Boden des Gefährts zu verbringen – notdürftig bedeckt mit seiner Regenjacke. Alles andere, also Bett, Decke und Schlafsack, war nämlich derart von Feuchtigkeit durchtränkt worden, dass an eine normale Nachtruhe auf keinen Fall mehr zu denken war!

Klar, dass die Nacht auf dem Wohnwagenboden alles andere als gemütlich verlaufen war – schon beim bloßen Gedanken daran schmerzten Horst sämtliche Knochen im Leib. Dazu kam noch dieser pochende Kopfschmerz! Ihm war speiübel! Nie mehr wieder würde er etwas anderes zu sich nehmen als seinen bewährten Heilbronner Lem­berger, doch auch beim bloßen Gedanken daran breitete sich ein unerträgliches Drücken im Magen aus.

In diesem Moment dröhnte ein unangenehm-schrilles Geräusch durch Horsts gemartertes Großhirn: das Handy! Um diese Uhrzeit! Das konnte doch nur ein Verrückter sein!

Mit einer ärgerlichen Handbewegung schnappte er sich das Telefon und bellte wütend hinein: »Es ist 6.30 Uhr am Morgen und ich habe Urlaub!« Bevor er weitersprechen konnte, durchzuckte von Neuem ein stechender Schmerz seinen Schädel – Gelegenheit für den Ruhestörer am anderen Ende der Leitung, sich nun selbst zu Wort zu melden.

»Na, das kommt davon, wenn man seine Freunde ver­gisst!«

Protnik! Wer auch sonst?! »Sputnik!«, stöhnte Horst in das Mikrofon. »Was in drei Teufels Namen reitet dich denn für ein Gespenst …«

»Gespenst?«, unterbrach ihn sein Gegenüber am Telefon. »Den ganzen Abend hab ich das Handy eingeschaltet gelassen und auf deinen Anruf gewartet, wegen unserer Verabredung heute! Das ist vielleicht ein doofes Gefühl, wenn du da in einer Wirtschaft sitzt und das blöde Ding da klingelt! Die Blicke, die sie einem da zuwerfen …«

»Völlig zu Recht – man geht auch nicht mit eingeschaltetem Handy zum Essen – nicht mal in Russland!« Ein gezielter Schuss auf Protniks Herkunft aus den Tiefen des längst zerbröselten sowjetischen Riesenreichs!

»Ja ja – hau du nur wieder drauf auf die Aussiedler! Einmal Russe, immer Russe! Und jetzt fehlt bloß noch der Spruch mit dem deutschen Schäferhund …« Die Stimme am andere Ende klang deutlich gekränkt.

Aber Horst konnte seinen Treffer nicht richtig auskosten, denn immer mehr stieg nun die kurzzeitig verdrängte Übelkeit in ihm auf. Ungeduldig unterbrach er seinen Kollegen: »Also, Protnik, jetzt sag schon, was los ist – wieso du zu nachtschlafender Zeit Telefonterror betreibst. Auf geht’s – komm zur Sache!«

»Telefonterror! Hat man da noch Töne! Du hast mir doch gestern versprochen, mich am Abend anzurufen, weil wir uns morgen treffen wollten, oder etwa nicht? Und wer hat nicht angerufen – du oder ich?« Jetzt war der andere aber ganz eindeutig eingeschnappt! Und zu allem Über­fluss hatte er auch noch recht: Horst hatte den Anruf bei Protnik total verschwitzt!

»Okay, stimmt. Tut mir leid! Habe ich wirklich vergessen gestern Abend! Aber ich bin auch wirklich nicht dazu gekommen!«

Die Mimose kostete ihren Triumph augenblicklich bis zur Neige aus. »Aus den Augen, aus dem Sinn! So schnell haben einen die lieben Kollegen vergessen!«

»Blödsinn – lass den Quatsch! Und tu mir einen Gefallen und gib mir noch zwei Stunden Zeit. Mir geht’s nämlich grade nicht so besonders gut! Ich versprech dir, ich ruf dich dann ganz sicher an. Aber jetzt – du ich muss auflegen! Also bis später!« Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte Horst auf den roten Knopf des Handys und warf es anschließend mit mürrischem Brummen auf die Liege. Gleichzeitig entriegelte er hastig die Tür des Wohn­wagens und rannte so schnell er konnte in Richtung Hecke …

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