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++ Ein Roman über Liebe, Träume, Sehnsüchte und Sehnsuchtsorte ... +++ Kunstlehrerin Vivian würde ihrem Leben bestenfalls die Note 4 geben: Alles ist irgendwie ausreichend, aber weit davon entfernt, perfekt zu sein. Nur ihr Kollege Jonas und die Gefühle, die er bei ihr auslöst, sorgen für Lichtblicke. Doch Vivians zartes Liebesleben rückt schlagartig wieder in den Hintergrund, als sie einen unerwarteten Anruf aus England erhält. Es folgen eine spontane Reise auf die Scilly-Inseln vor der Küste Cornwalls, eine Beerdigung der etwas anderen Art und eine emotionale Begegnung mit ihrer Vergangenheit und ihren Träumen von früher. Was wäre, wenn sie die Chance erhielte, sie doch noch zu verwirklichen …?
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Seitenzahl: 289
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Epilog
Weitere Titel von Anne Lux
Über die Autorin
Anne Lux
Tausche
Alltag gegen
Insel
Roman
März 2018
© 2018 by Anne Lux
Franziskanerstraße 43
81669 München
Umschlaggestaltung: Michaela Huml, büro aha!, München
Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder Reproduktion (auch auszugsweise) in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder anderes Verfahren) sowie die Einspeicherung, Verarbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung mithilfe elektronischer Systeme jeglicher Art, gesamt oder auszugsweise, sind ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Autorin untersagt. Alle Übersetzungsrechte vorbehalten. Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die bisherigen Romane von Anne Lux in chronologischer Reihenfolge:
Liebestrilogie
Mitten im Sommer, mitten ins Herz (Bd. 1)
Alles auf Anfang, alles auf Glück (Bd. 2)
Sehnsucht nach Insel & Mehr (Bd. 3)
Alles auf Liebe (Sammelband, Bd. 1–3)
Cornwall-Trilogie
Tausche Alltag gegen Insel (Bd. 1)
Tausche Alltag gegen Glück (Bd. 2)
Tausche Alltag gegen Horizont (Bd. 3)
Tausche Alltag gegen Cornwall (Sammelband, B. 1 +2)
Island-Roman
Glück ist wie das Meer (Roman)
Über das Buch
Kunstlehrerin Vivian würde ihrem Leben bestenfalls die Note 4 geben: Ihre große Liebe ist weg, ihre Arbeit ein Kompromiss und ihr Alltag festgefahren. Nur ihr attraktiver Kollege Jonas sorgt für gelegentliche Hochgefühle. Bevor sich die beiden jedoch näherkommen können, erhält Vivian einen unerwarteten Anruf aus England. Es folgen eine spontane Reise auf die Scilly-Inseln vor der Küste Cornwalls, eine Beerdigung der etwas anderen Art und eine schmerzhafte Begegnung mit ihrer Vergangenheit. Bald nach ihrer Rückkehr zeigt sich, dass der Kurztrip für Vivian alles verändern könnte. Aber will sie das überhaupt? Hat sie mit ihren Träumen von früher nicht längst abgeschlossen? Sie reist erneut auf die atemberaubenden Inseln, erlebt den Sommer ihres Lebens und muss sich am Ende entscheiden: Soll sie zurück nach Deutschland, zu Jonas, ihrer Arbeit, ihrem Alltag, oder hier in Cornwall noch einmal neu beginnen?
Wenn ich Geschichten in Worten erzählen könnte,
bräuchte ich keine Kamera herumzuschleppen.
Lewis Hine
Neunundzwanzig Augenpaare waren auf Vivian gerichtet. Oder besser: Neunundzwanzig Augenpaare blickten knapp an ihr vorbei oder durch sie hindurch und starrten einfach ins Nichts.
Es war Vivians anstrengendste Stunde in der Woche. Kunsterziehung in der 11a am Donnerstagnachmittag – das war häufig wie eine One-Woman-Show vor neunundzwanzig Untoten, deren Aufmerksamkeitsspanne sich seit morgens um dreiviertel acht beständig verkleinert hatte. Neunundzwanzig Untote, die ihr nichts mehr entgegenzusetzen hatten außer trägem Desinteresse.
Vivian warf einen raschen Blick aus dem Fenster, das laut Schulordnung nicht mehr geöffnet, sondern zwischen den Stunden nur noch kurz gekippt werden durfte. Das hatte zwar dazu geführt, dass keine Kaugummis mehr aus dem zweiten Stock gespuckt wurden und in den Büschen im Hof landeten, verhinderte aber auch eine gründliche Stoßlüftung. Es kam nicht genügend Frischluft in den Raum, um den Klassen-Mief, eine Mischung aus Schweiß, Parfüm, Östrogen und Testosteron, zumindest temporär zu vertreiben.
Draußen kündigte der Tag bereits sein Ende an, obwohl er noch über acht Stunden Schicht hatte. Es schien bereits zu dämmern, die wenigen verbliebenen Blätter an den Bäumen wurden von einem hartnäckigen Wind geschüttelt, der laut Wetterbericht noch deutlich stärker werden sollte.
Vivian seufzte innerlich. Der November war nicht ihr Lieblingsmonat. Vor allem weil seine Anwesenheit unweigerlich darauf hinwies, dass schon bald gewisse Ereignisse eintreten würden. Ereignisse, die sie seit letztem Jahr nicht mehr mochte: Weihnachten und Silvester.
„Frau Steiner?“
„Ja?“
„Sie wollten uns noch die Arbeiten rausgeben …“
Vivian sah auf ihre Armbanduhr, die sie längst hatte austauschen wollen gegen eine neue, weil die jetzige sie ebenfalls an Weihnachten erinnerte. Noch knapp drei Minuten bis zum Gong.
„Das stimmt, Simon, vielen Dank.“
Kurzes Aufflackern in einem Augenpaar, zartes Rot, das in Wangen schoss, Lippen, die für Sekunden ein Lächeln andeuteten.
Zumindest Simon zeigt vage Anzeichen, dass Leben in ihm steckt, dachte Vivian und sah auf den Kopf seines Banknachbarn Manuel, der inzwischen bewegungslos auf der Tischplatte lag.
„Die meisten von euch …“, sagte sie und legte ihre rechte Hand auf den Stapel, der auf dem Lehrerschreibtisch lag, „haben die Aufgabe wirklich gut gelöst, kreativ und engagiert.“
Keine Reaktion aus ihrem Publikum.
„Kunst im öffentlichen Raum, die Gestaltung eines Ortes, an dem jeden Tag Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen vorbeikommen – wie gesagt, die meisten hatten tolle Ideen …“ Sie griff mit Daumen und Zeigefinger nach dem obersten Blatt Papier. „Aber bei deinem Beitrag, Manuel, war ich mir nicht ganz sicher …“ Sie hob das Blatt hoch. „Ich nehme an, du wolltest griechische Säulen malen und wurdest dann … abgelenkt, von etwas, was interessanter und animierender war und deine ursprüngliche Intention in andere Bahnen gelenkt hat?“
Die müden Ausdrücke veränderten sich nicht, ein paar Augenpaare wurden gerollt.
Okay, hätte ich auch witzig machen können, dachte Vivian und legte das Blatt wieder ab.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich irgendjemand, vor allem eine Frau, darüber freut, wenn sie in einer Unterführung flankiert wird von überdimensionierten … männlichen Geschlechtsteilen.“
Noch letztes Jahr hätten bei dem letzten Wort zumindest einige der Mädchen gekichert, vielleicht auch der eine oder andere Junge. Jetzt: nichts. Manuels Kopf blieb bewegungslos auf dem Tisch liegen.
„Können wir uns darauf einigen, in Zukunft darauf zu achten, keine derart sexualisierten …“
Der Gong schnitt ihr das Wort an und wiederbelebte die lethargischen Gestalten vor ihr. In Windeseile schoben sie ihre Sachen in die Rucksäcke und die Stühle nach hinten. Nur Simon packte mit bedächtigen Bewegungen und ging dann Richtung Tür, wo er sich noch einmal umwandte.
„Bekommen wir die Arbeiten dann nächste Woche?“
„Ja, ganz sicher, Simon. Das war jetzt einfach zu knapp.“
„Schade eigentlich, dass es nur eine Stunde Kunst in der Woche gibt.“
„Finde ich auch.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Tja, bedank dich beim bayerischen Kultusministerium.“
„Sie sollten Mathe unterrichten. Oder Deutsch.“
„Ach ja, warum?“
„Weil Sie uns dann öfter hätten.“
„Wie gesagt: Die Lehrpläne mache nicht ich. Leider.“
„Okay. Dann bis bald.“
„Tschüss, Simon. Bis nächste Woche.“
Als sie allein war, ließ sich Vivian seufzend auf den Stuhl fallen. Vielleicht sollte sie das Wort „Geschlechtsteil“ doch nicht in der Anwesenheit von hormonbelasteten Teenagern äußern. Vielleicht hatte es doch Auswirkungen auf den einen oder anderen. Vielleicht täuschte sie sich aber auch und Simon hatte eben nicht versucht, mit ihr zu flirten.
Sie sah durch das Fenster. Ein einsames, rot verfärbtes Blatt an einem schaukelnden Ast versuchte verzweifelt, sich zu halten, um nicht auf den kalten Betonboden zu fallen.
Nach einer Weile gab sie sich einen Ruck, verstaute den Stapel Papier in ihrer ausgebeulten Ledertasche und ging auf den Flur.
Kaum war sie aus der Tür, kam ihr Kollege Jonas aus der 11b nebenan. Vivian sah ihn aus den Augenwinkeln, machte eine scharfe Rechtskurve und tat, als hätte sie ihn nicht bemerkt. Er hatte wieder darauf gewartet, bis sie aus ihrer Klasse gekommen war. Sie hörte das Quietschen seiner Sneaker auf dem Linoleumboden und das Klackern ihrer Stiefelabsätze, die durch den Flur hallten. Kein einziger Schüler war mehr zu sehen. Nach der letzten Stunde mutierten sie alle zu Superathleten und waren in der Lage, die Distanz zwischen Klassenzimmer und Hauptausgang in übermenschlichen Zeiten zurückzulegen.
Vivian beschleunigte ihren Schritt, wandte sich aber an der Ecke vor dem Lehrerzimmer so abrupt um, dass Jonas überrascht anhielt und sie fragend ansah.
„Hi!“, sagte sie und rang sich ein Lächeln ab. „Na, den Tag überstanden?“ Besser hier die Sache über die Bühne bringen als im Lehrerzimmer, dachte sie. Besser zu zweit im Flur als vor den Kollegen.
Wie auf Kommando kam Otto Hörmann um die Ecke geschlurft. Geschichte-Erdkunde-Sport, ungefähr Ende der Fünfzigerjahre geboren, zweimal geschieden, länger als jede andere Lehrkraft an der Schule und fast immer in einem eng geschnittenen Adidas-Trainingsanzug, um den sich das Gerücht rankte, Hörmann habe ihn während der olympischen Spiele 1972 in München erworben. Osmanen-Otto oder Ottomane genannt wegen seiner präferierten Epoche der Geschichte.
Als er Vivian und Jonas sah, blieb er kurz stehen, um dann zwinkernd an ihnen vorbeizugehen. „Mahlzeit!“
Vivian stöhnte kaum hörbar. Sie hatte Hörmann schon öfter gebeten, das Zwinkern sein zu lassen, zumal, wenn er an einer Gruppe Schülerinnen vorbeiging und sich seine Lider so rasch bewegten wie die Flügel eines Kolibris.
„Trockene Augen“, hatte er trocken behauptet und Vivian einfach stehen gelassen. Später hatte Lilli sie einmal unauffällig an Ottomanes Fach im Lehrerzimmer vorbeigezogen, im dem gut sichtbar ein kleines Fläschchen stand.
„Augentropfen“, hatte Lilli geraunt, und seitdem war Vivian gegenüber Ottomane milder gestimmt, wenn auch nicht restlos davon überzeugt, dass die zwanghaften Bewegungen seiner Lider ausschließlich körperliche Ursachen hatten.
Sie wartete, bis er und seine zwinkernden Augen verschwunden waren, und wandte sich dann wieder Jonas zu.
„Du gehst mir aus dem Weg“, sagte er.
„Quatsch, wieso sollte ich.“
„Wegen vorletztem Wochenende …“, begann er, aber sie hob die Hand, als wolle sie sich damit vor weiteren Worten abschirmen.
„Nein, Jonas“, sagte sie schnell. „Wir müssen nicht darüber reden. Es … Wir waren betrunken und es ist einfach passiert und ich weiß nicht, was ich mir gedacht habe, als ich dich …“
„Ich war nicht betrunken. Ich trinke keinen Alkohol.“
Vivian sah ihn verblüfft an. Seine Augen richteten ein tiefes Grün auf sie, sein Blick war offen und klar. Nicht einmal die Anzeichen eines Zwinkerns.
„Von meiner Seite aus ist es nicht einfach so passiert“, sagte er und lachte. „So etwas passiert nicht einfach so, wir sind keine ferngesteuerten Roboter, Vivian.“
Mach hier kein Drama, wir haben uns doch bloß geküsst, dachte Vivian mit einem Anflug von Ärger, ich mach das hin und wieder, Männer küssen. Sie hielt den Satz im letzten Moment zurück, bevor er an die Oberfläche kommen konnte. Jonas war mit Sicherheit ein prima Kerl, sie musste ihn nicht beleidigen mit einer Aussage wie dieser.
„Ich …“, sie wies mit dem Daumen über ihre Schulter. „Ich müsste …“
„Wollen wir am Wochenende etwas unternehmen? Kaffee, Kino, Museum?“
Sie schüttelte stumm den Kopf. „Ich muss arbeiten“, sagte sie dann.
„Korrigieren?“
„Ja. Unter anderem.“
„Ich auch.“ Jonas wies mit dem Kopf in Richtung Papierstapel, den er unter den rechten Arm geklemmt hatte. „Gedichtinterpretation. Rilke. Sie haben sich die Finger wundgeschrieben.“
Vivian sah auf die Blätter und den Bizeps, der sich unter dem Langarmshirt abzeichnete. Ihr Blick wanderte nach oben, traf wieder auf die grünen Augen.
Jonas Berger, Deutsch-Sport („Eine Traumkombi“, wie Lilli immer betonte. „Ein Mann, der läuft UND liest!“), fünfunddreißig, seit einem guten Jahr an der Schule und seit einigen Monaten getrennt von seiner langjährigen Partnerin, trug im Gegensatz zu Ottomane Trainingsklamotten nur in der Turnhalle.
Am vorletzten Tag der Herbstferien hatte er sie in strömendem Regen bis vor ihre Haustür gebracht, nach einem Essen bei Lilli und Alex. Die beiden luden regelmäßig Freunde, Bekannte und Kollegen zu sich ein, mehrheitlich Singles und immer ein Alibi-Paar, das, davon war Vivian überzeugt, darüber hinwegtäuschen sollte, dass die Abende eigentlich Kuppeleiveranstaltungen waren.
Als sie zusammen mit Jonas unter dem Schirm vor ihrem Haus stand, kroch die Kälte vom nassen Asphalt durch ihre Stiefel. Oben in ihrer dunklen Wohnung, das wusste sie, war es kaum wärmer, dort wartete nichts auf sie außer finsterer Kühle. Da fragte sie ihn. Ob er mit hochkommen wolle. Er verneinte lächelnd, zögerte kurz und beugte sich dann vor und küsste sie, zärtlich, aber doch fordernd, berührte sie nur mit den Lippen. Vivian hatte die Augen geschlossen, spürte die Wirkung der zwei Gläser Wein, sie hob die Hände und legte sie auf die Unterarme von Jonas, fragte ihn noch einmal. Er verneinte erneut, schob sie sanft von sich weg und sagte, dass er sich sehr freue, sie am Montag in der Schule wiederzusehen. Als sie allein in ihrer Wohnung stand, schämte sie sich wegen ihrer plumpen Vorgehensweise und war gleichzeitig verwirrt. So war es ihr noch nie ergangen. Bis jetzt hatte sie in solchen Situationen stets die Choreografie vorgegeben, und die Männer waren ohne Widerspruch ihren Anweisungen gefolgt.
„Es klappt sicher bald“, sagte Jonas jetzt und ging an ihr vorbei. „Spätestens in den Weihnachtsferien schaffen wir es.“
Sein Tonfall duldete keine Widerrede. Vivian sah ihm mit hochgezogenen Augenbrauen nach und folgte ihm dann ins Lehrerzimmer.
An ihrer Wohnungstür klebte eine Nachricht ihrer Nachbarin aus dem Erdgeschoss, die bat, das Paket rasch abzuholen, das bei ihr abgegeben worden war. Für den Fall, dass sie wieder keine Benachrichtigungskarte bekommen hätte. Vivian riss den Zettel ab und überlegte, was heute angekommen sein könnte. Sie hatte den Überblick verloren. Es war ihr dritter Anlauf, die Wohnung neu zu gestalten, und wie bei den zwei Versuchen davor war er nach dem Bestellen der Dekogegenstände ins Stocken geraten.
Der Flur empfing sie düster und abweisend, es roch noch leicht nach dem Toastbrot, das ihr heute Morgen verbrannt war. Vivian machte Licht und schlüpfte aus Stiefeln und Mantel. Als sie den dicken Wollschal vom Hals wickelte, lösten sich leise knisternd einige Blätter und segelten auf den Boden. Kaum hatte sie die Mütze vom Kopf gezogen, richteten sich ihre Haare wie elektrisiert auf und strebten in alle Richtungen.
„Wild“, sagte eine Stimme hinter ihr, und Vivian fuhr kreischend herum, schlug die Hand von ihrer Schulter und griff reflexartig nach dem Regenschirm, den sie heute Morgen auf der Kommode im Flur vergessen hatte.
„Woah, ganz ruhig.“ Der Mann, der nur T-Shirt und Boxershirt trug, wich zurück in Richtung Schlafzimmer, aus dem der gekommen war.
„Himmel, hast du mich erschreckt“, zischte Vivian. „Was zum Teufel machst du noch hier?“
„Ich habe auf dich gewartet?“
„Du warst den ganzen Tag hier und hast …“
„Ich war zwischendurch mal Zigaretten holen.“
„Wie bist du danach wieder reingekommen?“, fragte Vivian scharf.
Er wies mit dem Kopf auf den Korb auf der Kommode. „Du hast einen Ersatzschlüssel hier.“
„Du hast alle Schlüssel ausprobiert?“
Er zuckte mit den Schultern. „Sind ja nicht viele.“
„Hast du keinen Job, zu dem du musst?“
„Ich studier noch und …“
„Was? Wie alt bist du denn? Nein, stopp. Egal.“ Vivian presste beide Zeigefinger an die Schläfen. „Okay. Hör zur, ich hatte einen langen Tag und wäre sehr froh, wenn ich jetzt allein sein könnte …“ Sie ließ die Hände sinken und sah ihn an.
„Du weißt nicht mehr, wie ich heiße.“
„Doch, ich …“, sie warf einen Blick auf die Armbanduhr, die ihr Ben vor drei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, „aber ich möchte jetzt wirklich, dass du gehst.“
„Darf ich dich anrufen?“
„Ich ruf dich an.“
„Hast du denn meine Nummer noch?“
„Muss ich gucken.“ Sie wusste, dass sie gereizt klang, aber es tat ihr nicht leid. Allmählich ging ihr der Typ wirklich auf die Nerven.
„Kleine Erinnerungsstütze“, fuhr er fort. „Offensichtlich hattest du gestern doch mehr intus, als ich dachte. Wir haben gestern auf der Vernissage im Café Glück Nummern getauscht. Beziehungsweise du hast mir deine gegeben und ich hab dich sofort auf deinem Handy angerufen. Gegen halb zehn. Diese Nummer bin also ich.“ Er verschwand im Schlafzimmer. Vivian hörte etwas klackern, vermutlich die Schnalle eines Gürtels, und stöhnte leise.
„Hör zu“, sagte sie dann laut, „ich … ich habe einfach sehr viel um die Ohren gerade, im Beruf vor allem.“
Er erschien wieder im Türrahmen, jetzt in Jeans und Pulli, und sah sie abwartend an.
„Ich … ich vergesse gerade wirklich irgendwie alles und …“
„Schon okay“, sagte er, „kannst dich ja melden, wenn du willst. Wie gesagt: die Nummer von gestern, die dich um halb zehn angerufen hat. Kannst du abspeichern unter T. Wie Tobias.“
Vivian sah ihn stumm an.
„Oder auch nicht“, sagte Tobias, verschwand erneut und kam mit einem Paar Sneaker in der Hand zurück in den Flur. „Ich gehe dann jetzt. Und wünsche ein angenehmes Leben.“
Als Tobias weg war, löschte Vivian seine Nummer in ihrem Handy, band ihre verwuschelten Haare rasch zu einem Knoten im Nacken und versuchte, auch Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Sie war gestern nicht betrunken gewesen, sie trank unter der Woche grundsätzlich nicht. Und sie hatte auch nicht vergessen, wie der Mann hieß, mit dem sie die Nacht verbracht hatte. Aber so zu tun, als habe sie keine Erinnerung mehr, aus welchen Gründen auch immer, funktionierte am besten. Die meisten meldeten sich daraufhin nie mehr.
Der Kühlschrank war noch voll von ihrem Samstagseinkauf am Markt. Zwiebeln, Chilischoten, Süßkartoffeln, Zucchini. Grünkohl, der schon etwas ermattet aussah. Sie hatte Reis, Kokosmilch, Knoblauch, Ingwer, Curry-Paste, sie könnte eine Art Gemüse-Curry machen, den Rest einfrieren und später in der Woche noch einmal davon essen. Sie verharrte in der Hockstellung vor dem Kühlschrank, bis ihr die Knie schmerzten, dann nahm sie eine Zwiebel heraus, stand abrupt auf und legte sich Brett und Messer auf die Arbeitsfläche. Langsam und bedächtig begann sie zu arbeiten: Zwiebel häuten, halbieren, würfeln, Knoblauch, Ingwer und Chili klein schneiden. Als sie den Herd einschaltete und sich sofort der leichte Geruch von Gas in der Küche ausbreitete, klingelte ihr Handy auf dem Tisch. Vivian zog laut Luft ein. Dieser Tobias würde hoffentlich nicht die Ausnahme sein, die die Regel bestätigte. Als sie die Nummer sah, atmete sie auf. Sie legte das Messer ab und drehte den Herd aus.
„Papa?“
„Schätzchen, ich wollte nicht stören, habe nur zwei kurze Fragen.“
„Papa, du störst nie.“
„Was machst du?“
„Ich koche und werde dann essen und danach auf die Couch sinken, mich stundenlang nicht mehr erheben und auf ein mobiles Endgerät oder den Fernseher schauen.“
„Das klingt gemütlich und sehr passend für ein so scheußliches Wetter wie heute.“
„Sehe ich auch so. War das schon die erste Frage? Was ich mache?“
Er lachte. „Nein, Schätzchen. Ist unsere kleine Gabe gut bei dir angekommen?“
„Ihr habt mir wieder Geld überwiesen?“
„Nun ja. Nur ich eigentlich … also … deine Mutter …“
„Mama weiß es nicht.“
„Nein, nicht wirklich.“
„Papa, ihr sollt und müsst mir kein Geld überweisen, ich komme wirklich klar und ihr habt selber doch nicht … also … nicht sooo …“
„Ich weiß, ich weiß. Es war ja auch nicht viel, das mache ich jetzt vielleicht noch ein, zwei Monate und ab nächstem Jahr gibt es erst wieder zu Weihnachten Finanzspritzen von uns, okay?“
„Okay. Ich schaffe das wirklich, wirklich auch allein.“
„Ich weiß, aber ich wollte … ah, da kommt deine Mutter … Moment … ja, was meinst du, Karla?“
Vivian hörte die Stimme ihrer Mutter im Hintergrund, verstand aber nicht, was sie sagte.
„Mama lässt grüßen.“
„Das war alles? Klang nach mehr.“
„Nein, sie …“
„Sag ihr, ich komme ganz sicher bald wieder vorbei. Ich weiß, dass sie danach gefragt hat. Es ist nur einfach … es ist so viel zu tun zurzeit.“
„Ich weiß, Schätzchen. Ich will dich jetzt auch nicht mehr aufhalten.“
„Was war denn die zweite Frage?“
Einen Moment war es ruhig in der Leitung. Vivian wusste, dass er wartete, bis ihre Mutter den Raum wieder verlassen hatte. Und sie wusste, was er fragen würde, es war ein seit Jahren eingespieltes Ritual, das seit ihrer Trennung von Ben nur noch häufiger stattfand als davor.
„Wie geht es dir, Vivian?“
„Papa, mir geht es gut.“
„Beruflich und privat.“
„Ja.“
„Gut, Liebes, das wollte ich hören.“
„Wie geht es dir? Bei dem Wetter?“
„Die Hüfte mag den November nicht, aber ich komme zurecht. Deiner Mutter geht es …“
„Wie gesagt, ich komme sicher bald zu euch.“
„Wie es dir passt. Wir freuen uns. Jetzt koch weiter, Vivian, wir hören uns bald. Schönen Abend.“
„Dir auch, Papa. Euch auch.“
Kaum hatte Vivian aufgelegt, klingelte es erneut.
„Was ist heute los?“, zischte sie, als sie den Namen auf dem Display sah. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, und sie ärgerte sich darüber. Kurz überlegte sie, nicht ranzugehen, dann nahm sie das Telefon und sagte möglichst beiläufig: „Ja?“
„Hallo, Vivi. Stör ich?“
„Ich koche.“
„Ah, schön.“ Sie kannte ihn und wusste, dass er so entspannt war, wie er klang. Entspannt und freundlich, in sich ruhend. Glücklich. „Was gibt’s Leckeres?“
Sie sah auf Ingwer, Knoblauch, Chili. „Nur ne schnelle Nudel.“ Curry hatten sie zu oft gemeinsam gekocht. „Muss gleich noch mal los zu einer Verabredung“, log sie.
„Und sonst? Alles gut? Wie läuft es in der Schule?“
„Gut, sehr gut. Viel zu tun, wie immer, aber es macht mir immer noch Spaß.“
„Das ist doch schön.“
Ein paar Sekunden Schweigen, dann überwand sich Vivian. „Und bei dir?“
„Puh, ja. Deswegen rufe ich an.“
Vivian schwieg. Puh, ja? Wann immer Ben in ihren gemeinsamen neun Jahren „Puh“ gesagt hatte, war etwas passiert, was ihm nicht gefiel. Überhaupt nicht gefiel. Vielleicht waren er und Eva …? Tief in Vivian begann sich etwas zu regen, kroch langsam in ihr hoch. Sie versuchte es zu ignorieren, sah aus dem Fenster in den Hof, wo die Birke im Wind hin und her wogte.
Sie fixierte ihr Spiegelbild im Fenster und sah sich selbst in die Augen. Vivian Steiner, einunddreißig, Kunstlehrerin, seit knapp einem Jahr von ihrer großen Liebe getrennt, auf die sie sich, das war in der Therapie mehrmals zur Sprache gekommen, zu sehr fixiert und darüber eigene Interessen vergessen hatte. Sie war nicht sehr groß und ihre Beine waren ein wenig zu kurz und stämmig, aber wenn es auf ihr Äußeres kam, hielt Vivian es mit Romy Schneider, die über sich einmal gesagt hatte: „Meine Haxen sind eigentlich krumm, aber mit meiner Fresse reiß ich alles wieder raus.“
„Ich wollte es dir dieses Mal sagen, bevor du es von Dritten erfährst“, fuhr Ben jetzt fort und seufzte. „Das von damals tut mir immer noch leid.“
„Ach“, sagte Vivian. „Schnee von gestern.“ Wieder eine Lüge. Was Ben andeutete, hatte sich bei ihr eingebrannt und Narben hinterlassen. Wenige Wochen nach ihrer Trennung war er mit Eva nach Neuseeland aufgebrochen, zu einer Reise, von der Vivian immer geträumt hatte. Sie hatte es durch Zufall erfahren, durch ihre Mutter, die Bens Mutter bei einem Konzert getroffen hatte? Oder im Theater? Sie wusste es nicht mehr. Es war auch egal. Sie wusste jedenfalls, dass Ben und Eva monatelang eine Affäre gehabt hatten, bevor sie sich endlich entschlossen, es der arglosen, dämlichen Vivian zu sagen. Im Januar sollte die Beichte erfolgen. Und kurze Zeit später die Abreise nach Neuseeland. Doch so lange hatte Ben nicht durchgehalten. Am ersten Weihnachtsfeiertag war es aus ihm herausgeplatzt. Auf dem Flur im Haus ihrer Eltern. Vivian hatte die Worte gehört, die aus seinem Mund kamen, aber sie hatte sie nicht verstanden. Sie hatte auf seinen neuen Wollpullover gestarrt, den ihre Eltern ihm für den Skiurlaub in der kommenden Woche geschenkt hatten, und auf das Etikett, das noch am Halsausschnitt hing. Der Pullover war immer noch bei ihren Eltern. Der Ski-Urlaub fand nicht statt und für die Neuseelandreise war er nicht geeignet. Dort hatte es im Januar tagsüber im Durchschnitt fünfundzwanzig Grad.
„Vivi, wir …“
„Naja, zumindest eine Karte aus Neuseeland hättet ihr mir schreiben können …“
„Ich …“
„Alles gut, war nur ein Scherz.“ Sie zwang ihre Lippen zu einem Lächeln, weil sie hoffte, dass sich das positiv auf ihre Stimme niederschlagen würde. „Ist lange her und verjährt.“
„Okay.“ Sie hörte ihn tief Luft holen und wieder seufzen.
„Ben? Was ist passiert? Alles okay mit dir und Eva?“
Vivian wusste, dass in ihrer Frage die böse Hoffnung mitschwang, die sich gerade auch in ihrem Körper ausbreitete. Sie war fast froh, dass er nicht darauf einging.
„Ich … Also, ich wollte fragen, ob es in Ordnung wäre, wenn ich demnächst die beiden Schlitten aus dem Keller hole. Du hast mich ja ein paar Mal darum gebeten und jetzt … puh. Ja, ich wollte sie holen.“
„Muss nicht mehr unbedingt sein, Ben.“ Sie dachte an das vollgestopfte ehemalige Arbeitszimmer. „Ich habe in der Wohnung ja jetzt mehr Platz.“
Als er schwieg, runzelte sie die Stirn. „Ist das alles, Ben?“
Er lachte schnell. Es hörte sich nicht mehr entspannt an. „Nein, nicht ganz. Ist mir nur grad noch eingefallen.“
Die warme Hoffnung, die in ihr aufgestiegen war, verfestigte sich zu einem Klumpen und zog sich langsam zurück. Vivian legte ihre linke Hand flach an die Wand, als ob sie sich damit stützen könnte. Falls die kommenden Worte sie umhauen würden.
„Und dann wollte ich …“ Er lachte und klang zum ersten Mal in ihrem Gespräch nicht mehr ganz entspannt, „wollte ich dir sagen, dass ich … Also, dass wir, dass Eva und ich heiraten werden.“
Der Klumpen in ihr wurde zu einem Stück Eis. Vivian versuchte ihn hinunterzuschlucken und zu antworten, aber sie brachte kein Wort heraus.
„Eva meinte, ich solle es dir persönlich sagen. Bevor du … wie gesagt … es wieder von jemand anderem erfährst.“
Die tolle Eva. Immer sensibel und mitfühlend. Sie spürte, wie der Klumpen wieder hochschoss, kochend heiß dieses Mal, mit Wut und Hass im Schlepptau.
„Ist ja toll“, brachte sie unter Aufbietung aller Kräfte heraus. „Schön. Herzlichen Glückwunsch.“
„Danke, Vivi.“
Die Art, wie er die Kurzform ihres Namens aussprach. So vertraut. Und so vergiftet.
„Ich melde mich wegen der Schlitten“, sagte sie mit belegter Stimme. „Das Wasser kocht, Ben, ich muss, ich melde mich ganz bald.“
„Vivi, warte, und dann ist da …“
„Bis bald, Ben.“
Sie legte auf und hielt das Telefon mit angehaltenem Atem von sich weg. Doch er rief nicht wieder an. Nach einer Weile wandte sie sich der Arbeitsfläche zu. Sie nahm das Messer, ließ es jedoch sofort wieder sinken, als sie sah, dass ihre Hand zitterte.
Nein. Sie schüttelte den Kopf, schloss die Augen und atmete einige Male tief durch. Nein. Es war okay, dass sie jetzt kurz traurig und enttäuscht war. Geschockt. Aber nur kurz. Sie war schon so weit gekommen. Hatte so viel unternommen, um gegen die Hass- und Wutwellen anzukämpfen, und zuletzt waren sie so schwach und so selten gekommen, sie würde sich jetzt nicht zurückwerfen lassen, nur weil Ben die Schlitten holen wollte, um damit in Kürze mit seiner zukünftigen Gattin die Mini-Hügel im Englischen Garten hinunterzusausen. Oder irgendwo am Tegernsee. Nach dem Besuch der See-Sauna.
Sie öffnete die Augen wieder. Vermutlich hatte Eva ihm empfohlen, erst etwas Argloses wie die Schlitten zu erwähnen. Um erst einmal eine Gesprächsbasis zu haben. Die tolle Eva. Selbstlos und sooo empathisch.
Sie sah auf ihre Hand, die sich beruhigt hatte, und hackte lustlos ein wenig Knoblauch. Schließlich legte sie das Messer seufzend zur Seite und trommelte minutenlang mit den Fingern auf die Arbeitsfläche. Dann stieß sie sich ab, holte die letzten zwei Scheiben Toastbrot aus der Packung und steckte sie in den Toaster.
Als sie fertig gegessen hatte, rief sie Jonas an und sagte ihm, dass sie am Wochenende doch Zeit hätte. Er war überrascht, sagte aber gleich zu.
Gut gemacht, Vivian, dachte sie, als sie den Termin in ihren Wandkalender eintrug und mit einem Stift mehrfach umkreiste. Es war Zeit, nach vorne zu schauen und wieder ein Leben zu führen, in dem keine One-Night-Stands mehr vorkamen. Mit Studenten, die den ganzen Tag nur einmal kurz die Wohnung verließen, um Zigaretten zu holen. Oder, sie dachte mit Schaudern an den Oktober, mit Anwälten für Familienrecht, die bei jedem Treffen über die Exfrau schimpften. Oder, sie schüttelte sich leicht, mit Trainern aus dem Fitnessstudio, deren Bauchpartie so hart wie Granit war, denen aber im Bett so schnell die Puste ausging, dass sie danach, mit Panik in den Augen, in Vivians Küche stürmten, den Kühlschrank aufrissen und sich drei rohe Eier in den Mund kippten. Schuld an der sexuellen Misere sei nämlich nur die Tatsache gewesen, dass sie in der letzten Zeit zu wenig Eiweiß konsumiert hätten.
Vivian schaute auf den eingekreisten Termin und nickte erneut. Sie war wieder eine gute, zuverlässige Lehrerin. Sie kellnerte in ihrer Freizeit, um sich allein eine schöne Wohnung im teuren München leisten zu können. Sie war fleißig, sie trieb regelmäßig Sport und aß nicht jeden Tag nur Toast. Rauchte nicht und trank kaum. Also: sehr wenig. Zumindest nicht wirklich viel. Sie hatte ihr Leben im Griff. Zumindest, was das Berufliche und das Finanzielle betraf.
Und alles andere würde ebenfalls wieder ins Lot kommen. Zum Beispiel ihr Sozialleben. Sie würde ihre Freundinnen, die ihr nach der Trennung beigestanden hatten, wieder öfter sehen. Und sie würde sich mit netten, freundlichen, tollen Männern treffen. Treffen. Ohne Sex. Ohne peinliche Situationen am Morgen danach. Ohne irgendetwas. Also. Zumindest zunächst.
Sie würde den feinen, klugen Deutsch-Sport-Jonas treffen und sich gut mit ihm unterhalten. Dass sie ihn einmal geküsst hatte, spielte keine Rolle. Sie würden in eine Ausstellung und dann Kaffee trinken gehen und anschließend gepflegt parlieren.
Yep. Sie warf einen letzten Blick auf den Kalender und begann dann mit dem Aufräumen der Küche.
Sie waren drei eng miteinander befreundete Paare gewesen, die sich seit Uni-Tagen kannten und gemeinsam in die Zeit nach dem Studium gestartet waren. Mittlerweile fand das Rennen allerdings ohne die drei Paare statt. Vivian und Ben waren die Ersten, die ausgeschieden und auf der Strecke geblieben waren, lange vor dem Ziel.
„Das Ziel ist nicht, dass wir auf Teufel komm raus bis an unser Lebensende zusammenbleiben“, hatte Ben gesagt, als sie letztes Jahr am zweiten Weihnachtsfeiertag auf dem Flur von Vivians Eltern standen. An diesen Satz erinnerte sie sich noch gut. Sie erinnerte sich auch noch an ihren Vater, der schwungvoll um die Ecke gekommen war, um sie wieder ins warme Wohnzimmer zu holen, und ebenso energisch kehrtgemacht hatte, als Ben in diesem Augenblick gesagt hatte: „Und wir beide sind nicht glücklich, Vivi. Nicht so. Nicht zusammen.“
An die Fahrt nach Hause erinnerte sich Vivian dagegen nicht. Irgendwann waren sie wieder in ihrer eigenen Wohnung gewesen, wo Ben weiter auf sie eingeredet und sie erneut auf seinen Mund gestarrt hatte, dem Wort und Wort entkam.
Als die Dämmerung die Nacht verdrängte, war Ben gegangen.
Sie seien eben gerade nicht auf der Strecke geblieben, sagte er, als er plötzlich wieder vor Vivian stand. Sie wusste nicht, wie viele Stunden vergangen waren, seitdem er die Wohnung verlassen hatte, sie hatte sich in der Zeit nicht bewegt, war auf dem Sofa sitzen geblieben und hatte aus dem Fenster gestarrt, hinter dem zarte Flocken zur Erde rieselten. Zum ersten Mal seit vielen Jahren schneite es an den Weihnachtsfeiertagen.
Sie seien nicht auf der Strecke geblieben, wiederholte Ben, im Gegenteil. Sie seien vielmehr vom Weg abgekommen, um nicht auf der Strecke zu bleiben. Vom Weg, der eine Einbahnstraße war und sie definitiv nicht glücklich machte. „Und ich habe eine Chance bekommen, wieder glücklich zu werden. Und du wirst sie auch bekommen, Vivi.“
Dann hatte er ein paar Sachen gepackt und war erneut verschwunden. Wahrscheinlich hatte er noch viel mehr gesagt oder sagen wollen, aber Vivian konnte sich nicht mehr an Details erinnern. Auch nicht an die Wochen nach der Trennung.
Kurze Zeit nach ihrer Trennung hatten sich, als hätten Ben und sie eine ansteckende Krankheit, ihre Freunde Marie und Tom getrennt, nur wenig später Lilli und Florian. Nur Lilli und Ben waren inzwischen wieder liiert. Marie und Tom arbeiteten viel und reisten allein oder mit wechselnden Bekanntschaften munter durch die Weltgeschichte, Florian war nach einer gescheiterten Blitzehe mit einer Internetbekanntschaft, die er kurz nach der Trennung von Lilli kennengelernt hatte, überzeugter Single und trainierte in seiner Freizeit Marathon. Eine Strecke, die man besser einkalkulieren konnte als die als Paar.
Nachdem Ben aus ihrem Leben verschwunden war, hatte Vivian versucht zu funktionieren, hatte sich wie ein Roboter von Anforderung zu Anforderung manövriert. Morgens aufzustehen, nach einer von schlechten Träumen und ewigen Gedankenspiralen zerstückelten Nacht, war dabei das Schwierigste gewesen. Viel schwieriger jedenfalls als der Unterricht, den sie ihrer Meinung nach eigentlich ganz passabel über die Bühne brachte, bis der Direktor höchstpersönlich sie zur Seite nahm und ihr mitteilte, dass ihm Beschwerden über sie zu Ohren gekommen waren. Von Schülern und deren Eltern. Dann die Krankschreibung. Die vielen Wochen zu Hause, in denen sie planlos durch die Tage waberte, schließlich eine Therapie und die Ratschläge von Frau Dr. Franke, die sie mit dem Eifer der Verzweiflung umzusetzen versuchte. Tun Sie sich was Gutes, hatte Dr. Franke oft gesagt, gönnen Sie sich was. Damit hatte sie Kultur und Sport und Sauna gemeint. Ein neues Hobby. Vivian war öfter in die Sauna gegangen, hatte phasenweise exzessiv Sport gemacht, war gerannt, bis ihr vor Erschöpfung und Trauer die Tränen über die Wangen liefen. Sie war mit Lilly in Paris gewesen, ein Wochenende, an dem sie vor Kummer kaum aufstehen konnte und von dem ihr die Decke des Hotelzimmers besser in Erinnerung geblieben war als der Anblick des Eiffelturms oder die Aussicht über die Dächer der Stadt der Liebe. Aber sie hatte es versucht, sie hatte wirklich versucht, Dr. Frankes Ratschläge zu beherzigen, und irgendwann festgestellt, dass es ihr ein wenig besser ging. Nach drei Monaten hatte sie beim Aufstehen nicht mehr das Gefühl gehabt, neben ihrem Körper auch noch ein tonnenschweres zusätzliches Gewicht aus dem Bett zu stemmen.