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+++Der neue Roman von Beststeller-Autorin Anne Lux+++
Als Redakteurin Matilda nach langem New-York-Aufenthalt zurück in ihre Heimatstadt München kommt, hat sie nicht mehr viel: einen Koffer, ein gebrochenes Herz und einen geplatzten großen Traum. In ihrer Wohnung angekommen, findet sie auch keine Ruhe: Zwischenmieter Emil ist entgegen aller Absprachen noch da, dafür ist die alte Nachbarin aus dem ersten Stock spurlos verschwunden – und irgendwie scheint beides zusammenzuhängen. Doch viel Zeit, darüber nachzudenken, hat Matilda nicht, denn sie muss dringend Geld verdienen. Im Auftrag eines Reisemagazins bricht sie schon bald auf, um mehrere Geschichten zu produzieren. Mit im Gepäck auf ihrer turbulenten Tour zwischen Luxushotels, Atemwanderern und Märchenkönigen: der liebeskranke Gunnar aus dem dritten Stock, eine ordentliche Portion Zukunftsangst, die Hitze eines Jahrhundertsommers, Zwischenmieter Emil – und das große Geheimnis, das er mit sich herumträgt …
Ein warmherziger, humorvoller Roman über Liebe, Leiden und alles, was dazwischen liegt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Anne Lux
Acht Wochen
im August
Roman
Februar 2023
© 2023 by Anne Lux
Franziskanerstraße 43
81669 München
Umschlaggestaltung: Johanna Conrad, Augsburg
Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder Reproduktion (auch auszugsweise) in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder anderes Verfahren) sowie die Einspeicherung, Verarbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung mithilfe elektronischer Systeme jeglicher Art, gesamt oder auszugsweise, sind ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Autorin untersagt. Alle Übersetzungsrechte vorbehalten.
Ein sehr berühmter Autor hat einmal gesagt, dass die Leserinnen und Leser bei einem erzählenden Werk »stillschweigend einen Fiktionsvertrag mit dem Autor« schließen. Dass sie stillschweigend akzeptieren, dass sie bei ihrer Lektüre nicht auf die Realität stoßen, sondern auf etwas, was der Fantasie der Autorin oder des Autors entspringt.
Auch dieser Roman ist reine Fiktion. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Örtliche Begebenheiten und Ereignisse der Zeitgeschichte wurden, selbst wenn es sie gibt oder sie tatsächlich stattgefunden haben, den dramaturgischen Begebenheiten angepasst.
Die bisherigen Romane von Anne Lux in chronologischer Reihenfolge:
Liebestrilogie
Mitten im Sommer, mitten ins Herz (Bd. 1)
Alles auf Anfang, alles auf Glück (Bd. 2)
Sehnsucht nach Insel & Mehr (Bd. 3)
Alles auf Liebe (Sammelband, Bd. 1–3)
Cornwall-Trilogie
Tausche Alltag gegen Insel (Bd. 1)
Tausche Alltag gegen Glück (Bd. 2)
Tausche Alltag gegen Horizont (Bd. 3)
Tausche Alltag gegen Cornwall (Sammelband, B. 1–3)
Weitere Romane
Glück ist wie das Meer
Acht Wochen im August
August 2021
Hätte mein Vater das Zitronensorbet in seiner Nachricht nicht erwähnt, hätte ich ihn vielleicht direkt nach der Landung angerufen. Aber nachdem er mir im Laufe meines Lebens meistens Hiobsbotschaften verkündet hatte, während vor uns auf dem Tisch eine »Heiße Liebe« oder ein Erdbeerbecher darauf warteten, verzehrt zu werden, ließ ich das Handy wieder in meine Tasche gleiten. Eisessen mit meinem Vater war einfach keine gute Idee. Ich erkläre das später noch genauer.
Später war überhaupt das Wort der Stunde, auch wenn es einiges gab, was ich jetzt sofort regeln müsste. Und damit meine ich nicht den Gang zur Gepäckausgabe oder das Kaufen einer Streifenkarte, um mit der S-Bahn in die Münchner Innenstadt zu kommen. Es ging um Geld, Job, Wohnung, Zukunft, um wirklich elementare life decisions, aber jedes Mal, wenn ich das big picture aufrief, verspürte ich mindestens genauso große Beklemmung. Also erst einmal nur auf Sicht fahren, baby steps.
Ich würde das später regeln, und wenn Sie sich jetzt fragen, warum ich hier einige englische Begriffe eingestreut habe – nun: Ich war in New York. Ziemlich lange. Achtzehn Monate, das sind 577 Tage und 1290 Stunden, genug Zeit also, um sich einen leichten amerikanischen Slang anzueignen.
Tja.
Ich scherze.
Ja, ich war 1290 Stunden in New York, aber die meiste Zeit durfte, konnte oder wollte ich meine Wohnung nicht verlassen. Die Gelegenheiten, in denen ich mich wirklich länger mit Einheimischen auf Englisch unterhalten habe? An zwei Händen abzuzählen. Locker. Es reichen sogar zwei Hände eines Schreiners, der im Laufe seines Berufslebens ein, zwei Finger verloren hat. Der gelegentliche Einwurf von englischen Begriffen meinerseits ist also reine Selbsttäuschung. Dazu neige ich manchmal.
Und noch etwas sollten Sie über mich wissen:
Ich heiße Matilda Charlotte Groß, und die Kluft zwischen meinem Nachnamen und meinem Selbstwertgefühl war im Laufe meiner Existenz schon das eine oder andere Mal ausgeprägter, als mir gut tat. Da waren verschiedene Ereignisse in den vergangenen einunddreißig Jahren, in denen alles zusammenzubrechen schien, während die vier Buchstaben meines Nachnamens sich unverändert stoisch zusammenfügten und mir ein Label verpassten, das mit meinem mentalen Zustand nicht viel zu tun hatte. Ich erspare es Ihnen jetzt, alle diese Ereignisse im Einzelnen aufzuzählen, denn wir kennen sie alle, sie reichen von Angst vor der eigenen Courage über Liebeskummer bis hin zu Weltschmerz.
Niemals jedoch war die Kluft zwischen meinem Gemütszustand und meinem Nachnamen so gewaltig gewesen wie an jenem 1. August, als ich nach achtzehn Monaten USA wieder in München ankam. Nichts war in den vergangenen eineinhalb Jahren so verlaufen, wie ich es mir vorgestellt hatte, nicht annähernd, und trotzdem konnte ich mich noch viel glücklicher schätzen als viele, viele andere Menschen, denn ich war gesund geblieben und ja, es würde schon alles wieder werden. Irgendwie. Aber mein Selbstbewusstsein während des Landeanflugs, während die ausgebleichten Felder, kleinen Wälder und Ziegeldächer mit Solaranlagen immer näherkamen: sehr klein. Mini geradezu. Quasi kaum vorhanden. Das absolute Gegenteil von Groß.
Ich hatte gefröstelt, als der Flieger aufgesetzt hatte, aber der Blick aus dem Fenster verriet mir, dass es draußen heiß war. Der Himmel strahlend blau, nur ein paar Wolken über ihm verteilt wie kleine Wattefetzen und die Luft am Ende des Rollfelds flirrend, wie man es von Bildern aus der Wüste kennt. Der Vorfeldbus, der vom Flughafengebäude auf uns zufuhr, schien aus beweglicher Materie zu bestehen, seine Farben verflossen ineinander, und erst als er näherkam, wurden seine Konturen fester. Eine Jahrhundert-Hitzewelle hatte seit Wochen nicht nur Bayern, sondern halb Europa im Griff, das hatte sogar die »New York Times« berichtet.
Neben dem Artikel war ein Foto mit Menschen zu sehen gewesen, die in einem öffentlichen Springbrunnen Abkühlung suchten. Ich hatte nicht genauer hinsehen müssen, um zu erkennen, dass es der Vater-Rhein-Brunnen auf der Museumsinsel war, und eine Welle von Rührung überkam mich, als ich meine Heimatstadt auf der Titelseite der berühmtesten Zeitung der Welt sah. Dann folgte jedoch rasch Beklommenheit. Dann Wut. Trauer. Endlose Enttäuschung. Ich hob den Blick und sah auf den East River, auf die Menschen, die entlang des Piers joggten, auf die Frauen mit ihren Kaffeebechern und die Kinder auf ihren Fahrrädern. Es war immer noch unwirklich. New York, die Stadt, die niemals schläft, war allmählich aufgewacht aus einem monatelangen Dornröschenschlaf, und wer so lange schläft, muss sich an ein Leben in Bewegung erst wieder gewöhnen.
Ich rollte die Zeitung zusammen, was schwierig war, weil die Sonntagsausgabe so dick wie ein Ziegelstein war, steckte sie in die Tasche und beobachtete weiter das Treiben. Ich wollte die Stadt noch einmal so sehen, wie sie die ganze Zeit hätte sein können, aber es war eigentlich schon zu spät. Mein Aufenthalt war an diesem Sonntag fast vorüber gewesen, nur noch zwei Wochen lagen vor mir, in die ich natürlich nicht annähernd das pressen konnte, was ich mir für die vergangenen Monate vorgenommen hatte.
Im Flugzeug klickte es jetzt dutzendfach, die Menschen schnallten sich ab und standen auf. Die am Rand sitzenden öffneten die Gepäckfächer und positionierten sich dann im Gang, bereit, in der Sekunde in Richtung Ausgang zu drängen, in der sich die Flugzeugtüren öffneten. Die auf dem Mittelplatz blieben stehen, eingezwängt zwischen Vordersitz und Decke, den Kopf abgeknickt, und lauerten darauf, ebenfalls ihre Taschen und Jacken zu holen. Die bekannte Choreografie, die den meisten Menschen von Geburt an einprogrammiert schien.
Ich schaute aus dem Fenster, bis keiner mehr an meiner Reihe vorbeizog, und wollte einfach bleiben, bis der Tag sich dem Ende zuneigte. Ich wollte wieder mit dem Flieger abheben und weiterfliegen, in dieser lächerlichen Röhre aus Aluminium, die mich für eine gewisse Zeit schützen würde vor dem Dunkel der Nacht, durch die wir fliegen würden, und vor dem Druck der Realität.
Ich blieb sitzen, bis eine Flugbegleiterin zu mir kam und fragte, ob alles in Ordnung sei, und mich dann freundlich, aber bestimmt nach draußen bat.
Hätte ich in diesem Moment gewusst, was mich zu Hause erwartete und was in den folgenden Wochen alles passieren würde, hätte ich vermutlich statt einer Streifenkarte wirklich ein Flugticket gekauft. Ich hätte das letzte Geld auf meinem Konto dafür verwendet, wegzufliegen, vielleicht doch nicht nach New York zurück, denn dort war es noch heißer als hier, aber irgendwohin, wo es kühl und billig war.
Ein bisschen Vorfreude über meine Rückkehr stieg dann doch noch auf. Ich war ja keineswegs unempfänglich für die Vorzüge der bayerischen Landeshauptstadt und auch während der Einsamkeit der letzten Monate keine Maschine ohne Emotionen geworden. Ich sah natürlich, dass es hier niedlich und sauber und schön war. Im Vergleich zu New York präsentierte sich München wie blank geschrubbt, was ich im Moment als wohltuend empfand, ganz anders als in den Wochen vor meiner Abreise. Damals hatte ich es nicht abwarten können, von hier wegzukommen, die altbekannten Strecken und Ziele hinter mir zu lassen, die ewig gleichen Anblicke und Abläufe, die bräsige Sattheit der Stadt und ihrer Bewohner. Ich hatte mich zu Höherem berufen gefühlt und war ganz schön tief gefallen.
Doch jetzt schlug mein Herz ein wenig schneller, als der Bus am Sendlinger Tor hielt und das Kreischen der Kinder zu uns drang, die durch die gischtenden Fontänen des Brunnens sprangen. Als die grünen Stände des Viktualienmarkts zwischen den Häusern kurz aufblitzen. Als wir über die Isar fuhren, deren beide Ufer so voll waren, als würde in der Mitte des Flusses gleich das Wasser zu Seite weichen und eine Hebebühne nach oben fahren, auf der Barack Obama, Billie Eilish und Greta Thunberg gemeinsam über die Zukunft des Planeten referierten und anschließend gemeinsam sangen und tanzten.
Um kurz nach acht stieg ich aus dem Bus, blieb stehen und atmete tief ein und aus. Es war zwar drückend heiß, aber in die sommerlich schwere Luft mischte sich der Geruch von frisch gemähtem Gras, der auf meiner Hitliste der Düfte Platz drei eingenommen hatte, nach Erdbeeren und Max direkt nach dem Sex. Max, wenn er sich schwer atmend über mich beugte, seine Haut feucht und salzig und die herausgetretene Ader auf seiner Stirn pulsierend.
Ich atmete noch einmal tief ein und aus und schnupperte. Glückwunsch an den Duft von frisch gemähtem Gras. Er war schon vor Monaten auf Platz 2 meiner Hitliste vorgerückt.
Ich ging näher an den Zaun des Schwimmbads, das bereits geschlossen hatte, und sah dem Mann auf dem roten Rasenmäher eine Weile dabei zu, wie er die Buchen im hinteren Bereich der Liegewiese umkurvte. Unter ihnen hatte ich schon viele Sommertage verbracht, sehr viele, weil ich es nicht weit hatte und ganz spontan meine Badesachen einpacken konnte. Und tatsächlich war es nur ein Vorteil meiner Wohnung, dass sie lediglich einen halben Kilometer von einem Fünfzig-Meter-Pool entfernt lag. Sehr angenehm war auch, dass sie einen Westbalkon hatte und aus zwei großzügigen Zimmern sowie einem kleinen Raum bestand, der aufgrund seiner geringen Quadratmeterzahl nicht wirklich als Zimmer galt, aber völlig ausreichend war für meinen Schreibtisch und einen Stuhl und ein schmales Tagesbett.
Zudem hatte ich mit Else Pickert eine Eigentümerin, die nach einer Erbschaft über so viel Geld verfügte, dass Mieterhöhungen für sie nichts waren, womit sie sich seit meinem Einzug vor elf Jahren jemals beschäftigt hatte. Weil es dabei bleiben sollte, hatte ich mich in die perfekte Mieterin verwandelt – oder in das, was ich darunter verstand: Ich schrieb Grußkarten an Weihnachten und Ostern und – nachdem ich erfahren hatte, dass Frau Pickert praktizierende Buddhistin war – auch an Vesak, dem höchsten buddhistischen Feiertag, an dem an die Geburt, die Erleuchtung und den Tod von Gautama Buddha erinnert wird. Meine Etagennachbarin Martha wohnte ebenfalls in einer Wohnung von Frau Pickert und hatte noch größere Angst als ich vor eine Mieterhöhung, dennoch musste ich sie zurückhalten, als sie vorschlug, ihr hochwertige Räucherstäbchen zu schicken. Meine Maxime war, dass wir uns – außer an den wenigen besagten Feiertagen – still und unauffällig verhalten sollten, damit unsere Existenzen nicht zu sehr in Else Pickerts Bewusstsein drangen. Und sie irgendwann doch daran erinnerten, dass sich unsere Wohnungen am untersten Ende dessen befanden, was sie laut Münchner Mietspiegel dafür verlangen könnte.
Martha hatte München inzwischen verlassen. Auf unbestimmte Zeit, so hatte sie es in ihrer kurzen Nachricht mitgeteilt. Martha war Opernsängerin am Gärtnerplatz und hatte vormittags oft geübt, was ich immer schön gefunden und die anderen Bewohner, die zu dieser Zeit im Haus waren, nie gestört hatte. Neben mir, der Freiberuflerin, waren das ohnehin nur Frau Herbig aus dem Erdgeschoss und Herr Urban aus dem vierten Stock, der ebenfalls schon in Rente war. Aber im Laufe des letzten Jahres hatte es immer wieder Beschwerden gegeben. Alle waren jetzt vormittags zu Hause. Immer. Und nicht jeder kam mit den allmorgendlichen Tonleiter- und Intervall-Übungen zurecht. Oder mit einer Dauerschleife aus »Es grünt so grün«. Martha hatte zuletzt für »My fair Lady« geübt, aber dann war alles zu gewesen, und Martha hatte beschlossen, eine Auszeit vom Singen und der Bühne zu nehmen. Sie war noch nicht wieder zurückgekehrt.
Ich hatte meine Wohnung für die Dauer meines Aufenthalts untervermietet. Natürlich hatte ich Frau Pickert das gesagt und sie auch darüber informiert, dass ich etwas mehr verlangen würde. Denn der temporäre Untermieter, so meine Argumentation, würde unter anderem auch mein WLAN und mein Festnetz benutzen und vermutlich mehr Nebenkosten verursachen als ich. Weil ich grundsätzlich dicke Kleidung dem Aufdrehen der Heizung und kurze kalte Duschen einem heißen Vollbad vorzog. (Beim Gedanken an dicke Kleidung und ein heißes Vollbad wurde mir für einen Moment ganz flau, also griff ich nach meinem Rollkoffer und ging rasch weiter.)
Frau Pickert hatten die finanziellen Feinheiten nicht sonderlich interessiert, aber sie war entzückt davon gewesen, dass mein Nachname Groß und der des zukünftigen Untermieters Klein lautete.
»Wie Yin und Yang«, sagte sie. »Das ist ja hinreißend. Und ein sehr gutes Zeichen für das Gelingen Ihrer Abmachung. Wie lange wird er denn bleiben?«
»Bis zum 30. Juni«, hatte ich geantwortet.
Dann könnte die Wohnung, so hatten Max und ich es uns überlegt, noch einen Monat den Geruch von Emil Klein ausatmen, bevor wir sie wieder beziehen würden. Ja, wir. Der Plan war gewesen, nach unserer Rückkehr zusammenzuziehen. Endlich zusammenzuziehen, wie einige meiner Freundinnen gesagt hatten.
Im Juli hatte Frau Herbig sich um meine Wohnung gekümmert. Sie war gichtkrank, besaß kein Handy und ging nie an ihr Festnetz, aber sie war gewissenhaft und ehrgeizig, was Pflanzenpflege, Post und Lüften anging. Als ich für drei Wochen in Italien gewesen war und ihr ebenfalls den Schlüssel überlassen hatte, berührten nach meiner Rückkehr die Schlingen der Efeututen auf dem Schrank fast den Boden und die Post war farblich geordnet und in drei Stapeln angerichtet gewesen. Den künstlich-seifigen Geruch im Schlafzimmer hatte ich erst nicht zuordnen können, doch dann fand ich die zwei Duftkerzen auf dem Fensterbrett hinter dem Vorhang, die bleiben durften, bis »Citrus Candy« und »Grapefruit Galaxy« olfaktorisch nicht mehr wahrnehmbar waren.
»Ist Yin und Yang denn auch buddhistisch?«, hatte Max gefragt, nachdem ich ihm von Frau Pickerts Reaktion erzählt hatte.
»Nein«, hatte ich geantwortet, denn ich hatte es bereits gegoogelt. »Aber es hat sie verzückt und das ist gut so.«
Ich bog jetzt in meine Straße ein und merkte mit jedem Meter deutlicher, wie erschöpft ich war. Unter meinen Achseln klebte das T-Shirt an der Haut. Wie lange war ich jetzt wach? Es mussten über vierundzwanzig Stunden sein, weil ich in Flugzeugen nicht einmal kurze Nickerchen schaffe.
Das Klingelschild mit meinem Namen war noch überklebt. Mit einem Pflaster, auf dem in krakeligen, schwarzen Buchstaben »Klein« geschrieben stand. Ein Pflaster. Seufzend blieb ich stehen und versuchte, es zu lösen, gab aber nach kurzer Zeit auf. Mein Rücken war nassgeschwitzt unter dem schweren Rucksack und beim Gedanken, meinen hüfthohen, bis zum Anschlag gefüllten Rollkoffer in das zweite Stockwerk zu zerren, wurde mir leicht schwindelig. Ich würde das Pflaster morgen entfernen. Nach achtzehn Monaten kam es auf einen Tag nicht an.
Aus dem Schlitz meines Briefkastens (auch hier klebte das »Klein« über dem »Groß«) ragte ein brauner Umschlag, der nicht an mich adressiert war. Ich zog ihn heraus und klemmte ihn mir seufzend unter den Arm, auch wenn die Gefahr bestand, dass er bis oben schweißdurchtränkt war. Egal. Alles, was ich wollte, war die Erlösung von meinem Gepäck, eine Dusche, ein frisch bezogenes Bett und davor kühle Getränke mit etwas Geschmack und etwas Leichtes zu essen. Während ich in den zweiten Stock keuchte, dachte ich an einen israelischen Vorspeisen-Teller, den ich mir bestellen könnte, stellte mir vor, wie mir womöglich bald kühles Radler die Kehle hinabfließen würde, schloss die Tür auf und merkte gar nicht, dass ich den Schlüssel dafür nur einmal umdrehen musste. Ich dachte an kühle, trübe Apfelschorle, die ich in New York nie bekommen hatte – genauso wenig wie knusprige Brezn –, ließ stehend den Rucksack auf den Boden fallen, schlüpfte aus den Schuhen, ohne die Schnürsenkel zu lösen, und kickte sie weg. Dann knallte ich den Schlüssel auf die Kommode unterhalb des Spiegels, ohne zu bemerken, dass dort eine kleine rote Handtasche stand, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte.
Ich merkte auch nicht, dass es in der Wohnung so roch, wie es nicht riechen sollte nach einem Monat Belüftung und Beduftung von Frau Herbig. Nicht, dass es müffelte, nein, es roch eher – bewohnt. Es roch nach Menschen und Miteinander, aber das fiel mir in dem Moment nicht auf, weil ich mich auf den weißen Hocker gesetzt hatte und meine Ferse untersuchte, an der sich eine veritable Blase zu bilden begann. Was lächerlich war, weil ich von den vergangenen vierundzwanzig Stunden einundzwanzig im Sitzen verbracht hatte und die Schuhe längst eingetragen waren.
Erst als hinter mir der Boden knarzte, merkte ich, dass etwas nicht stimmte, und sah langsam auf. Der Fuß glitt aus meiner Hand.
Die fremde Frau mit den verwuschelten Haaren war nackt und starrte mich so an, wie ich vermutlich auch aussah: völlig entsetzt.
Eine fremde nackte Frau in meiner Wohnung war sicherlich etwas Unerwartetes, aber an Umstände, die man nicht erwarten konnte, hatte ich mich in den letzten Monaten gewöhnen können. Zudem wusste ich, dass laute Konfrontation, Anklagen und Hyperventilation in so einem Fall nichts brachten. Das wusste ich deswegen so genau, weil ich vor nicht allzu langer Zeit alles von dem eben Genannten ausgiebig während eines »Gesprächs« angewandt und alles nur schlimmer gemacht hatte. Also tat ich, nachdem ich den ersten Schreck überwunden hatte, das einzig Richtige in einer solchen Situation.
Ich sagte: »Hi.«
Die Frau öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Ich konzentrierte mich auf die Bewegungen ihrer Lippen, um nicht auf ihre Brüste zu schauen, die groß waren und sich ebenfalls leicht bewegten, weil ihre Besitzerin von einem Bein auf das andere trat. Neben ihrem rechten Ohr erschien ein weiteres, ein männliches Gesicht, das wie ihres umgeben war von abstehenden Haaren. Für ein paar Sekunden sahen wir uns alle schweigend an.
»Frau Groß?«, fragte der Mann schließlich.
»Herr Klein?«, fragte ich zurück und sah für einen Moment die verzückte Frau Pickert vor mir. Yin und Yang! Wie hinreißend!
»Sie wollten doch erst Mitte August zurück sein«, sagte Emil Klein. Seine Hände schlossen sich rechts und links um die Hüftknochen der Frau.
»Wann ich zurückkommen wollte, ist unerheblich«, sagte ich. »Fakt ist: Sie wollten zum dreißigsten Juni weg sein.« Meine Ferse begann leise zu pochen und mein Rücken juckte unangenehm unter dem durchgeschwitzten T-Shirt. »Das ist über einen Monat her.«
»Es ist etwas … dazwischengekommen, mit dem ich nicht gerechnet habe«, sagte er, und für eine Sekunde dachte ich, er schöbe die Frau wie ein Schutzschild ein wenig in meine Richtung, bis ich merkte, dass sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien.
»Emil«, sagte sie leise, und endlich lösten sich seine Finger. Die Frau verschwand im Schlafzimmer, und ich sah dezent zur Seite. Als ich meinen Blick wieder auf Emil Klein richtete, hielt er ein gerahmtes Bild vor sein Gemächt.
»Sorry«, sagte er.
Ich verdrehte die Augen.
»Ich habe wirklich gedacht, Sie kämen später.«
»Ich glaube, wir waren schon beim Du.«
Er nickte.
Ich versuchte mich an die letzten Informationen zu erinnern, die ich mit Emil über meine Rückkehr ausgetauscht hatte, aber mein Gedächtnis förderte nichts zutage. Ich hätte ihn auch auf der Straße nicht wiedererkannt. Wir hatten mehrfach gemailt vor meiner Abreise, waren uns aber nie persönlich begegnet. Während wir schwiegen, drang Gelächter vom Hinterhof in den Flur. Durch das offene Fenster in meinem Schlafzimmer, wo jetzt ein Lufthauch über mein Bett strich, in dem sich bis eben eine fremde Frau mit dem fremden Herrn Klein gewälzt hatte.
Ich stöhnte leise und stand abrupt auf. Emil wich einen Schritt nach hinten, das gerahmte Foto immer noch an sich gepresst.
»Ich gehe mir was zu essen holen.« Mit dem Fuß zog ich einen meiner Schuhe näher zu mir heran. »Dauert vermutlich maximal eine dreiviertel Stunde.«
»Matilda, ich … Können wir nachher …«
Die Frau erschien wieder neben ihm, zögerte kurz und drückte sich dann an ihm vorbei. Sie trug ein knöchellanges Kleid mit Spaghettiträgern, das so rot war wie die Handtasche, die sie jetzt von der Kommode nahm.
»Tut mir wirklich leid.« Sie wisperte die Worte fast und sah dabei weder mich noch Emil an, mit dem ich einen schnellen Blick wechselte. Es war nicht klar, wen von uns beiden sie meinte.
»Helen, warte doch unten kurz, dann kläre ich das hier schnell und komme dann runter.«
»Mir scheint, dass es hier etwas mehr zu klären gibt, Emil.« Sie band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. »Ich muss ohnehin heim.«
»Ich melde mich.«
»Klar.«
Der Geruch ihres Parfüms blieb noch eine Weile im Wohnungsflur hängen, nachdem sie die Tür geschlossen hatte. Ich lauschte ihren Schritten auf der Treppe und zog den zweiten Schuh zu mir heran.
»Okay, ich bin dann auch kurz weg.«
Emil nickte eifrig. »Ich mach hier mal Ordnung, und wenn du wieder hier bist, dann …« Er hielt inne.
Dann bist du hoffentlich weg, dachte ich, aber es kam mir nicht über die Lippen.
»Kannst du denn nicht zu ihr?«, fragte ich.
»Zu Helen?« Emil lachte kurz und verächtlich auf. »Klar. Ich werde sie fragen.«
»Gut. Bis gleich.«
Er murmelte etwas Unverständliches, stellte das Bild mit meinen Großeltern unsanft zurück auf die Kommode, wo es scheppernd umfiel, und ging in das Schlafzimmer.
Draußen empfing mich die Luft mit klebrig-warmen Fingern, aber die Abkühlung nahte. Ein leichter Wind war aufgekommen, und die Wolken hingen nicht mehr als vereinzelte Fetzen am Himmel, sondern hatten sich zu gewaltigen, blumenkohlartigen Gebilden aufgetürmt. Die Blätter der Kirschbäume, die im Frühling meine Straße für wenige Tage in ein rosaweißes Blütenparadies verwandelten, raschelten konspirativ. Ein Gewitter war im Anmarsch, auch wenn es die vielen leicht bekleideten Menschen, die mit Flaschen und fröhlichen Gesichtern Richtung Isar strömten, noch nicht wahrhaben wollten.
Ein Tropfen traf meine Nase. Gewitter hatte ich in New York kein einziges erlebt. Wenn der Tag schwül begonnen hatte, endete er auch schwül, wie ein konstant geheiztes Dampfbad, aus dem man nur entkam, wenn man sich in Geschäfte oder Cafés rettete, wo Klimaanlagen die Raumtemperatur herunterkühlten. Hier regelten das die Alpen, an denen sich die feuchten Luftmassen sammelten, aufstiegen und dann in München für Turbulenzen sorgten.
An der nächsten Kreuzung blieb ich unschlüssig stehen. Die Blase an der Ferse pochte im selben Rhythmus wie das Klopfen hinter meinen Schläfen. All diese Menschen um mich, sie schienen so gut gelaunt zu sein und alle ein Ziel zu haben, auf das sie sich freuten. Ich kam mir wie in eine Schicht Watte gepackt vor, die mich von ihnen trennte und ihre gute Laune von mir abprallen ließ. Ich fühlte fast gar nichts, nur der Unmut gegenüber Emil Klein wuchs. Ich war eben nicht in der Lage gewesen, ihn einfach zum sofortigen Gehen aufzufordern, aber die Wut in mir wurde größer, während ich wieder am Freibad vorbeiging. Der Rasen war, von einigen kreisrunden Stellen, an denen das Gras höher wachsen durfte und wo sich gerne Enten aufhielten, kurz gemäht, der Mann mit seinem Rasenmäher verschwunden.
Ich blieb stehen. Erwog, umzukehren und Emil Klein, angezogen oder nicht, ohne weiteren Aufschub auf die Straße zu setzen. Auf die Straße, über die ich jetzt schlurfen musste, anstatt mir in meiner eigenen Dusche die Schicht aus Schweiß und Schmutz und Schwermut abzuwaschen.
Was mich zum Weitergehen brachte, war kein aufwallendes Verständnis für eine möglicherweise vertrackte Lage, in der sich Emil Klein befand, sondern die Schlange am Kiosk an der Wittelsbacher Brücke. Sie bestand unerwarteterweise nur aus sechs Personen, und ich stellte mich kurz entschlossen hinter die Letzten in der Reihe, einen Mann und eine Frau, sie deutlich kleiner als er. Ihre Köpfe berührten sich dennoch, weil er seinen Hals um neunzig Grad zur Seite bog, um seine Schläfe fast auf ihrem Scheitel abzulegen. Gemeinsam schauten sie auf sein Handy und lachten immer wieder zeitlich versetzt, er stets eine Sekunde vor ihr, als würde er einen Witz für lustig erklären und sie seiner Einschätzung in Windeseile folgen. Vielleicht hörte er aber auch einfach besser als sie oder hatte schärfere Augen.
Ich holte mein Telefon hervor und loggte mich in meinem Bankaccount ein, was ich seit einigen Wochen nicht mehr getan hatte. Warum auch? Ich wusste, was einging, und wollte nicht wissen, was hinausging. Vor der Abreise hatte ich das Finanzielle minutiös geplant und kalkuliert, um mich voll und ganz auf ein Leben konzentrieren zu können, von dem ich seit einigen Jahren geträumt hatte, und es hatte trotzdem nicht viel gebracht.
»Hallo?«, sagte jemand hinter mir. »Es geht weiter! Jetzt mal nicht übertreiben mit dem Abstand!«
Das Paar vor mir war inzwischen drei Meter von mir entfernt. Ich schloss ein wenig auf und scrollte durch meine Kontoauszüge. Das laute Lachen des Mannes vor mir ertönte, kurz darauf das sanftere der Frau. Über uns war ein leises Donnergrollen zu hören, und Emil Klein hatte für Juli keine Miete überwiesen. Für August natürlich auch nicht.
»Arschloch«, murmelte ich.
»Geht’s noch?«, fragte die Stimme hinter mir.
Ich schüttelte den Kopf, dann straffte ich die Schultern und drehte mich um. »Ich habe nicht dich gemeint.«
»Mir war nicht bekannt, dass wir per Du sind.«
Ich schätzte mein schlaksiges Gegenüber mit der zarten Haut auf etwa sechzehn und wandte mich seufzend wieder nach vorne. Das Paar zog mit seinen frisch erworbenen Flaschen davon, selbst im Gehen lachten sie zeitlich versetzt weiter, Schulter an Schulter, seine Schläfe an ihrer Stirn.
Ich kaufte ein Radler und eine Portion Pommes und setzte mich auf die Wiese in der Nähe des Kiosks. Noch hielt das Wetter. Der Himmel kam immer näher und schien die dunklen Wolken Richtung Dächer zu drücken, aber außer dem einen Tropfen war kein weiterer Regen niedergegangen. Zwanzig Minuten hatte Emil Klein inzwischen Zeit gehabt, das Bett abzuziehen, mein Schlafzimmer zu räumen und sich zu überlegen, was er jetzt tun konnte. Ob ich ihm schreiben sollte, dass es ein riesiges Motel One in der Nähe gab, wo er mit Sicherheit ein Zimmer bekäme, wenn es anders gerade nicht ginge? Ich tunkte eine Pommes in Ketchup und holte mit der anderen Hand mein Telefon heraus, das im selben Moment so energisch die »Internationale« von sich gab, dass ich es fast fallen ließ.
Emma rief an. Ich stöhnte.
Vor drei Jahren hatte mein Vater mich um ein Treffen gebeten. Er schlug vor, in eine Eisdiele zu gehen, und allein das hätte mich misstrauisch machen sollen, denn, ich habe es eingangs bereits angedeutet, bei unangenehmen Neuigkeiten war er immer mit mir Eisessen gegangen. Als ob der süße Geschmack von Schoko und Vanille die Wucht der schlechten Nachrichten abmildern würde.
Mit dreizehn beispielsweise schaufelte ich an einem schwül-heißen Sommertag gerade einen Bananensplit in mich hinein, als er mir verkündete, dass wir noch vor Beginn des neuen Schuljahres von unserer Kleinstadt nach München umziehen würden. Mein Vater war Sozialpädagoge und, so habe ich später vermutet, einfach gelangweilt gewesen von seiner Aufgabe, die in der Leitung des örtlichen Jugendzentrums und der Organisation von Tischtennisturnieren und Karaoke-Abenden bestand. Er wollte Kids von schiefen Bahnen in solide Ausbildungen bringen, wollte Jugendlichen aus zerrütteten Familien das Selbstbewusstsein und die Zuversicht geben, dass sie es später nicht nur beruflich, sondern auch privat gut hinbekommen würden. Solche Jugendlichen gab es in unserer kleinen Stadt aber höchstens vereinzelt.
Seine neue Arbeitsstätte befand sich in Milbertshofen, aber ich kam auf ein Gymnasium in Schwabing. Dort musste ich meine Rollen als Klassensprecherin und Königin meiner Clique hinter mir lassen und mich als Provinzmädchen von der untersten Sprosse der Coolness-Leiter wieder nach oben arbeiten. Meine Mutter hatte sich von Anfang gegen den Umzug gesträubt. Sie war gut vernetzt gewesen in der Kleinstadt und glücklich mit ihrer Teilzeitstelle in der Bibliothek.
Auch ich war geschockt gewesen, als mir mein Vater seinen Plan eröffnete. Aber ich hatte tapfer genickt, während meine verschwitzten Oberschenkelrückseiten an einem Plastikstuhl klebten und zwickten, wenn ich sie zu bewegen versuchte.
Mein Vater verkündete die Scheidung von meiner Mutter bei einem Spaghettieis und seinen Krebs, als ich mich gerade an einen Krokantbecher machte. Es sei die Prostata, sagte mein Vater und schob sich eine Piemont-Kirsche in den Mund. Dann erklärte er mir, dass die Behandlung gut anschlage und ich mir keine Sorgen machen müsse.
Danach ging ich für lange Zeit nicht mehr mit ihm Eisessen. Erst viele Jahre später, er war wieder völlig genesen, saßen wir uns bei einem Affogato gegenüber. Meine Vorliebe für große Eisbecher war längst der Vorsicht vor zu hohem Zuckerkonsum gewichen, und mein Vater achtete seit seiner Krankheit ohnehin sehr bewusst auf seine Ernährung. Er war immer schlank und Gelegenheitssportler gewesen, aber inzwischen fast drahtig, ein leidenschaftlicher Schwimmer und Bergsteiger, der seit der Trennung von meiner Mutter seine Wochenenden am liebsten mit mehrtägigen Wanderungen verbrachte. Meistens allein.
Bei diesem Treffen, es war ein prachtvoller Herbsttag mit glühenden Bäumen gewesen, fiel zum ersten Mal der Name Emma. Nun war ich zwar keine Expertin in Sachen Namensgebung, aber blitzartig kam mir der Gedanke, dass jemand, der heutzutage Emma hieß, entweder relativ jung war oder sehr alt. Älter als Frau Herbig, die mit Vornamen Hildegard hieß, und älter als meine Großmutter Gisela. Emma sei neu im Stadtteilzentrum, sagte mein Vater, es habe anlässlich ihres Einstands eine kleine Feier mit allen Kollegen gegeben, nette Frau, er habe sich länger mit ihr unterhalten. Und sie einige Tage später ins Café eingeladen.
Diese Information kam so plötzlich, dass ich zunächst nicht verstand, was mir mein Vater damit sagen wollte. Ich nickte und nahm einen Schluck Espresso, worauf er mich einen Moment stumm ansah und dann hinzufügte: »Und einen Tag später zum Essen.«
»Ihr seid essen gegangen, du und diese Emma?«, fragte ich.
»Ja.«
»Warum das denn?«
»Und jetzt sind wir zusammen.«
Ich sah meinen Vater an, sein lichter werdendes, graues Haar, unter dem die helle Kopfhaut schimmerte. Seit er näher an der Sechzig denn an der Fünfzig war, schienen mir seine Ohren und seine Nase größer zu werden. Das Alter war wie ein schlechter Bildhauer, der meinen Vater zur Karikatur seiner selbst meißelte.
»Oh«, sagte ich und rührte mit dem Löffel in meiner Espressotasse. Für eine Weile waren nur das Klackern und die Stimmen von den Nebentischen zu hören. Mein erster Gedanke zum Namen Emma fiel mir wieder ein, aber ich wollte die Frage nicht als Erstes stellen, wichtiger war doch, was sie privat gerne machte, woher sie kam, ob sie Geschwister hatte, ob und welche Bücher sie las, ob sie gerne reiste, und wenn ja, wohin, ob sie Berge auch so liebte wie er, ob sie ihn zum Lachen brachte und glücklich machte.
»Wie alt ist Emma denn?«, fragte ich also.
Ich hatte, das sagte mein Vater mir später, in diesem Moment wie das exakte Ebenbild meiner Mutter ausgesehen mit meiner gerunzelten Stirn, den zusammengekniffenen Augen und den vorgeschobenen Lippen, sodass er am liebsten den Außenbereich der Eisdiele verlassen hätte. Aber er blieb sitzen und sah mich nur wortlos an, ein wenig hilflos und ein bisschen flehentlich.
»Oh«, sagte ich wieder. »Also deutlich jünger als du?«
»Ja«, antwortete mein Vater.
»Und seit wann … Also, seit wann seid ihr …?«
»Seit diesem Essen.«
»Und wann war das?«
»Anfang des Jahres.«
»Wow.«
»Ich wollte sichergehen, dass es auch wirklich etwas Ernstes ist, Schatz. Ich wollte nichts erzählen, bevor …«
»Könnte sie denn meine Mutter sein?«, fragte ich. »Rein biologisch, meine ich?«
Mein Vater wiegte seinen Kopf ein paar Mal hin und her. »Das wäre … Das wäre dann schon …« Er nahm einen Schluck aus seiner Tasse, die längst leer sein musste. »Das wäre dann vermutlich schon eher ein biologisches Wunder.« Er lachte und es klang wie Atemholen. »Quasi schon eine Umkehr der Zeit ein bisschen. Haha.«
Ich war geschockt. Ich belasse es bei diesen drei Worten. Denn dann muss ich hier nicht ausführen, wie ich so heftig aufstand, dass mein Stuhl nach hinten umkippte. Ich muss auch nicht genauer beschreiben, dass durch den umkippenden Stuhl der eben an uns vorbeigehende Kellner, der dem Paar am Nebentisch gerade einen Coup d’Amour servierte (das weiß ich, weil ich die Kreation aus erschreckend vielen verschiedenen Eissorten, Soßen, Toppings und Accessoires vorher auf der Speisekarte bewundert hatte) vor Schreck stolperte. Worauf mein Vater ebenfalls aufsprang (ich bewunderte im Nachhinein sein Reaktionsvermögen), ihn mit beiden Armen am Bauch umfasste und ihn so drehte, dass sich der Inhalt des Coup d’Amour zumindest auf den Boden und nicht über die Kleidung des Pärchens ergoss. Ich muss dann auch nicht näher berichten, dass mein Vater mich, als alle Stühle und Kellner wieder standen, eindringlich ansah und bat: »Bitte erzähle deiner Mutter erst einmal noch nichts.«
Ihre Trennung war lange her, aber ich willigte ein, denn er war frisch verliebt und meine Mutter allein. Einige Monate nach der Scheidung hatte es für kurze Zeit wieder einen Mann in ihrem Leben gegeben, einen Versicherungsberater, den sie irgendwann wiederwillig traf, weil eine Bekannte ihn ihr immer wieder empfohlen hatte. Er brachte sie dazu, eine Versicherung für häusliche Notfälle abzuschließen, was an und für sich schon dreist war, weil diese Versicherung als überflüssig gilt. Dann warb er noch privat um sie und versprach, er würde nicht nur ihre Policen und Depots immer gut im Auge haben, sondern stets auch ihre Bedürfnisse. Als Frau und Mensch. Das tat er eine Zeit lang, bevor eine andere Klientin seine Expertise – als Mann, Mensch und Versicherungsberater – dringender brauchte als meine Mutter. Die seitdem, man muss es so sagen, auf gewisse Weise ein häuslicher Notfall war.
»Ganz so einfach war die ganze Geschichte nicht«, würde mein Vater sagen. »Die Hintergründe sind stets vielfältig, es gibt immer Kontext.«
Es gibt immer Kontext. Das war sein Satz, sein Credo, mit dem er Menschen und ihre Taten, besonders die schlechten, gerne erklärte. Eine Art Welpenschutz für Menschen, der niemals endet. Und ich glaube, dass er davon ausging, dass er ihn auch genoss – zumindest bei den nächsten Angehörigen.
Jedenfalls: Emma und mein Vater sind mittlerweile verheiratet, und jetzt, am Tag meiner Rückkehr nach München, war meine Stiefmutter Emma die Erste aus meiner Familie, die mich anrief. Ich lehnte den Anruf ab. Mir war klar, was sie wollte. Sie wollte noch mal nachhaken wegen der Einladung. Sie und mein Vater erwarteten, dass Max und ich sie möglichst bald besuchten in ihrem Eigenheim am südlichen Rand von München, für das sie sich bei der Besichtigung so ungemein begeistert hatten, dass sie sich vier Wochen später bei der Bank unglaublich dafür verschuldeten. Sie wollten auf der Terrasse sitzen und plaudern und selbstgemachtes Zitronensorbet essen, und mir wurde kurz schlecht bei dem Gedanken. Ich schob die Pommes von mir weg.
Das Handy bimmelte noch einmal hell, weil Emma mir vermutlich auf die Mailbox gesprochen hatte. Ich stand auf und klopfte mir Gras von der Jeans. Der Wind war stärker geworden. Viele der leicht bekleideten jungen Mädchen hatten die Hände um die nackten Oberarme geschlossen, weil ihnen nun doch kalt wurde. Der Regen stand unmittelbar bevor. Ich warf die leere Pommestüte weg, brachte die Flasche zurück zum Kiosk und machte mich auf den Heimweg. Vierzig Minuten waren vergangen, seitdem ich meine Wohnung verlassen hatte, und jetzt war es genug. Ich musste ins Bett.
Vor meiner Wohnung lauschte ich kurz, bevor ich den Schlüssel behutsam ins Schloss steckte, und atmete innerlich auf, als ich ihn zweimal umdrehen musste, bevor ich die Tür öffnen konnte.
Der Flur war dunkel, weil es mittlerweile draußen so finster geworden war, dass durch die Fenster kaum mehr Tageslicht in die Zimmer fiel. Es roch anders und nach frischer Luft, der Geruch nach Menschen hatte sich verflüchtigt. Ich schaltete das Licht im Schlafzimmer an und war zufrieden. Am Fußende des abgezogenen Betts lag ein Stapel mit Laken und Bettwäsche. Der Nachttisch war leer bis auf meinen Wecker. Im Wäschekorb in der Ecke befand sich nichts.
Das gerahmte Bild mit Oma Gisela und Opa Paul stand wieder aufrecht, und zwischen Türstock und Kommode, das war mir vorhin entgangen, hatte Emil einen Karton gestellt und ihn mit meiner Post aus den vergangenen eineinhalb Jahren befüllt. Auch das quittierte ich zufrieden und ging dann in die Küche, wo die Arbeitsflächen und der Tisch so aussahen, als seien sie noch niemals benutzt worden. Es stand nichts herum, was nicht auch schon am Tag meiner Abreise seinen Platz gehabt hatte: der Brotkorb, die Kaffeemaschine, der Messerblock, der Topf mit Basilikum auf dem Fensterbrett (wobei ich mir schwerlich vorstellen konnte, dass er noch derselbe war wie vor achtzehn Monaten).
Erleichtert ließ ich mich auf einen Stuhl fallen. Ich würde Emil eine Nachricht schreiben und ihm vorschlagen, dass wir uns gerne auf einen Kaffee treffen könnten, sollte er noch länger in München sein. Dann könnten wir alles besprechen. Ich erwähnte nicht, dass ich mit »allem« in erster Linie die Mietzahlungen für Juli und August meinte, die er mir meiner Überzeugung nach schuldete und die ich momentan dringend brauchen könnte. Ich schickte die Nachricht ab und fuhr hoch, als es im selben Moment irgendwo in meiner Wohnung läutete.
Für Sekunden hoffte ich, mich vielleicht geirrt zu haben, aber dann hörte ich noch etwas anderes, ein kurzes Schmatzen, stand langsam auf und ging in das Wohnzimmer. Ich schaltete das Licht an und stieß trotzdem gegen einen großen schwarzen Rollkoffer, weil sich mein Blick sofort auf die zwei nackten Füße richtete, die über die Sofalehne ragten. Der Rest des Körpers war komplett in meine grüne Wolldecke gewickelt, nur oben schauten einige Haare hervor, etwas drahtig und an den Spitzen fast ausgebleicht. Die Deckenrolle bewegte sich nicht und das Schmatzen schien ich mir nur eingebildet zu haben, denn Emil Klein gab keinen Laut von sich. Mein Kopfkino sprang an, während ich reglos dastand, und präsentierte mir einen kurzen eindrucksvollen Trailer zu einem Film, in dem eine Frau einen Toten in ihrer Wohnung findet und an seinem Schicksal nicht ganz unschuldig ist. Doch dann bewegten sich seine Zehen kurz, und auch ich löste mich aus meiner Starre und atmete hörbar aus.
Ich hätte Emil, der hier lag wie eine schlecht gewickelte Mumie, an dieser Stelle die Decke vom Leib gezogen, wenn nicht im selben Moment das gekippte Fenster kurz gebebt hätte. Sekunden darauf begann es draußen ohrenbetäubend zu prasseln. Der Regen hatte uns lange warten lassen, wie eine Band ihr Publikum warten lässt, bis es vor Spannung schier explodiert. Dann knallte ein Donner, doch der grüne Grottenolm auf dem Sofa rührte sich weiterhin nicht. Ich ging an das andere Ende der Couch und schlug die Decke ein wenig zurück.
Emil schlief. Seine Wangen waren leicht gerötet und eine Locke verdeckte sein linkes Auge. Er atmete gleichmäßig, und sein Mund stand ein wenig offen. Ein einäugiges Grottenolm-Baby, das selbst ein Schlagbohrer direkt neben ihm nicht wecken würde. Trotzdem schloss ich das Fenster, zog die Decke ein wenig nach unten, damit seine Füße nicht kalt wurden, und schlich dann Richtung Tür, bevor ich ihm in meiner Fürsorge noch Socken häkeln würde.
Ich bezog mein Bett, holte ein paar Kleidungsstücke aus meinem Koffer, putzte mir die Zähne und wusch mir das Gesicht. Als ich noch einmal in die dunkle, nur vom Licht im Flur erhellte Küche kam, lag da immer noch der Umschlag für Emil auf dem Tisch. Er war von Annika Klein aus Hamburg, vermutlich seine Mutter.
Draußen donnerte es zweimal kurz hintereinander, es klang, als würde Metall bersten, dann hörte ich den Regen auf die geparkten Autos trommeln. Ein Blitz erhellte für Sekunden die Küche, und ich erschrak, weil ich plötzlich die vielen Augenpaare wahrnahm, die auf mich gerichtet waren. Emil Klein hatte den Kühlschrank tapeziert mit Kinderfotos. Eine ganze Fußballmannschaft aus kleinen Menschen sah mich an.
Ich schaltete das Licht ein und betrachtete all die runden Pausbacken, die dunklen und blonden Löckchen, die winzigen Milchzähne, die Rotzglocken und herausgestreckten Zungen. Auf zwei Fotos war Emil Klein selbst zu sehen, auf dem einen dick eingepackt wie die zwei kleinen Jungen neben ihm, die ihre kurzen Arme um seinen Hals schlangen. Alle drei strahlten. Emil Klein trug eine graue Wollmütze, aber eine blonde Locke hatte sich daraus befreit und verdeckte sein linkes Auge. Das zweite Bild zeigte ihn inmitten mehrerer Kinder vor einer Affenskulptur, die ich sofort verorten konnte. Ich war aus dem Zoo-Alter herausgewachsen, als wir nach München gezogen waren, aber den bronzenen Gorilla vor dem Affenhaus im Tierpark Hellabrunn kannte ich trotzdem.
Wieder folgte ein Blitz unmittelbar nach einem krachenden Donner.
Erzieher, fiel es mir wieder ein. Emil Klein war Erzieher und für eine Elternzeitvertretung nach München gekommen. Er hatte sein Glück kaum fassen können, eine bezahlbare Wohnung in dem Viertel zu finden, wo sich seine Kindertagesstätte befand. Ich hatte das Gespräch und seine Freude darüber völlig vergessen, aber so ging es mir mit vielem, was vor meinem Abflug nach New York passiert war: Diese Zeit schien länger her zu sein als das Erdmittelalter.
Ich ging in den Flur und warf einen kurzen Blick in das Wohnzimmer, wo die Deckenrolle unbeweglich auf der Couch lag. Dann schloss ich leise die Tür und steuerte auf Zehenspitzen mein Bett an, obwohl die Mischung aus Blitz, Donner und Regen lauter war, als es meine Schritte jemals hätten sein können. Als ich die Decke an mein Kinn zog, war mein Ärger in sich zusammengefallen. In meine Erschöpfung mischte sich auch ein wenig Erleichterung, dass ich Emil Klein nicht geweckt und zum Gehen aufgefordert hatte.
Draußen prasselte der Regen. Ich lauschte dem Rattern der Rolläden und dem Rauschen in meinen Ohren. Als der Schlaf einfach nicht kommen wollte, drehte ich die zweite Bettdecke zu einer Rolle zusammen, die ich mit beiden Armen und Beinen umarmte wie einen geliebten Menschen.
Das Gewitter grollte noch mehrere Stunden, in denen ich im Bett lag und die wechselnden Muster beobachtete, die von den Autoscheinwerfern an die Decke gezeichnet wurden. Mit der Zeit wurden die Abstände zwischen den vorbeifahrenden Wagen immer länger, und schließlich blieb es so lange dunkel, dass ich fast einschlief. Aber dann schob sich doch wieder eine Lichtdusche über mich hinweg und ich war erneut hellwach.
Irgendwann musste ich trotzdem eingeschlafen sein, denn als ich die Augen wieder aufschlug, fiel das Licht grell und gnadenlos durch die Ritzen im Rollo. Ich war nackt unter der Decke und fand das kurz irritierend, weil ich im Bett nur nackt war, wenn ein Mann an meiner Seite war, und in dieser Wohnung befand sich neben mir ausschließlich der grüne Grottenolm, der vermutlich immer noch eingewickelt auf der Couch schlief. Vielleicht aber auch nicht. Ich richtete mich auf und versuchte, durch konzentriertes Lauschen herauszufinden, ob noch jemand in der Wohnung war. Doch dann klopfte es leise an der Tür, und ich sank zurück in das Kissen. Es klopfte ein zweites Mal.
Die verwuschelten Haare erschienen als Erstes, dann folgten eine Gesichtshälfte, ein Auge, eine halbe Nase, ein halber Mund.
»Matilda, bist du wach?«
»Mmm.