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+++ Eine aufregende Reise nach Island wird zur Reise in ein neues Leben: Das neue Buch von Bestseller-Autorin Anne Lux ist eine mitreißende und gefühlvolle Geschichte über Mut, Liebe, Abschied und Neubeginn +++
„Ich glaube, ich liebe dich nicht mehr.“ Sieben Worte ihres Mannes Florian sind es, die Marias Leben urplötzlich auf den Kopf stellen.
Obwohl sie schockiert und tieftraurig ist, fährt sie nach Island, um an einem schon lange gebuchten Schreibworkshop teilzunehmen. In der atemberaubenden Landschaft der Westfjorde will sie erst einmal einen klaren Kopf gewinnen und schließlich einen Plan zur Rettung ihrer Beziehung schmieden. Doch es kommt alles ganz anders. Auch die anderen Teilnehmer des Workshops reisen mit emotionalem Gepäck an, und bald schon wirbeln die geballten Probleme den kompletten Kursablauf gehörig durcheinander. Die Wochen zwischen tiefblau schimmernden Fjorden, windumtosten Bergen und heißen Quellen werden zu einem einzigen Abenteuer für Maria. Am Ende stellt sie sich die Frage, ob sie ihr Lebensglück ausschließlich mit Florian finden kann.
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Inhaltsverzeichnis
Maria
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Maria und Florian
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Maria
Weitere Titel von Anne Lux
Über die Autorin
Island-Tipps von Insiderinnen
Anne Lux
Glück
ist wie das
Meer
Roman
Dezember 2019
© 2019 by Anne Lux
Franziskanerstraße 43
81669 München
Umschlaggestaltung: Michaela Huml, buero aha!, München
Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder Reproduktion (auch auszugsweise) in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder anderes Verfahren) sowie die Einspeicherung, Verarbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung mithilfe elektronischer Systeme jeglicher Art, gesamt oder auszugsweise, sind ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Autorin untersagt. Alle Übersetzungsrechte vorbehalten.
Dieser Roman ist reine Fiktion. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die bisherigen Romane von Anne Lux in chronologischer Reihenfolge:
Liebestrilogie
Mitten im Sommer, mitten ins Herz (Liebestrilogie Bd. 1)
Alles auf Anfang, alles auf Glück (Liebestrilogie Bd. 2)
Sehnsucht nach Insel & Mehr (Liebestrilogie Bd. 3)
Cornwall-Reihe
Tausche Alltag gegen Insel (Roman)
Tausche Alltag gegen Glück (Insel-Roman)
Tage wie Wellen (Roman; erhältlich ab Frühjahr 2020
Island-Roman
Glück ist wie das Meer. Roman
Die Vornamen von Maria Francesca Antonella klangen nach Deckengemälden von Michelangelo. Nach cremigem Schokoladeneis aus einer kleinen Eisdiele in Bologna. Nach einer Arie aus »La nozze di figaro«. Nach sanften Wellen, die an den weißen Strand von Cala Mariolu rollten, nach einer Wäscheleine mit bunten Kleidern, die sich in einer engen Gasse in der Altstadt von Neapel von einem Haus zum anderen spannte.
Bis zu Marias Hochzeit hatte ihr Nachname den Wohlklang perfektioniert. Maria Francesca Antonella Sorrentino. So hatte sie geheißen. Sorrentino. Das war nicht einfach nur ein Name, das war ein Versprechen gewesen! Regelmäßig hatte Maria Menschen früher mit ihrem kompletten Namen in Entzücken versetzt – oder in andere tranceartige Zustände. Da war der Mitarbeiter im Bürgerbüro gewesen, der, vor über zwanzig Jahren, lange auf ihren neuen Personalausweis gestarrt hatte, bevor er ihn ihr schließlich überreichte, mit schimmernden Augen, bebenden Lippen und einem zuckenden dichten grauen Schnauzer.
Da war Rosalind gewesen, die junge korpulente Arzthelferin ihres Gynäkologen, die Maria bei einem Termin nicht einfach nur aufgerufen, sondern ihren vollständigen, vierzehnsilbigen Namen laut und inbrünstig (und kakophonisch) gesungen hatte. Maria erinnerte sich noch gut daran, weil sie genau in dem Moment, als das »Soooo-rrrrrrren-tiiiinooo!« in schwindelnd hoher Tonlage durch die Praxisräume geklungen war, Emilia zum ersten Mal gespürt hatte. Wegen der lauten Gesangsdarbietung war Dr. Sieler alarmiert aus seinem Zimmer auf den Flur gestürmt, aber da war das Spektakel schon verklungen. Rosalind tippte stumm etwas in den Computer, und im Wartezimmer saßen Maria und eine andere Schwangere, beide verzückt ihre Bäuche streichelnd.
Das »Sorrentino« war für Maria mittlerweile schon lange Geschichte. Er war abgelöst worden von einem Namen, den Maria durch ihre Hochzeit mit Florian angenommen hatte. Marias Vater Francesco, der in den Sechzigerjahren aus einer kleinen Stadt in Kalabrien nach München gekommen war, hatte tief geseufzt, als sich seine frisch verheiratete Tochter zum ersten Mal mit ihrem neuen Nachnamen am Telefon gemeldet hatte. Die Augen der Menschen begannen nicht mehr zu schimmern, wenn sie ihren Ausweis lasen, und Rosalind sang nie wieder, wenn Maria in der Arztpraxis war.
Denn seit ihrer Hochzeit kam nach Maria und Francesca und Antonella ein Kloß. Seit ihrer Unterschrift im Standesamt hieß sie Maria Francesca Antonella Kloß.
»Wennʼs wenigstens a Knödel wär«, hatte ihr deutscher Großvater Andreas oft gesagt, aber Maria befand, er habe in dieser Angelegenheit nicht die Befugnis zur Beschwerde. Schließlich war wegen ihm vor fast sechs Jahrzehnten aus Philomena Maria Baumeister – was für das Kind von Landwirten aus der oberbayerischen Provinz ein durchaus stolzer Name war – Philomena Maria Köttelgruber geworden. Dagegen war Kloß ein Klacks.
Philomena und Andreas Köttelgruber bekamen zuerst drei Jungen und schließlich ihre Tochter Anna, die achtzehn Jahre nach ihrer Geburt aus dem Gebäude des Münchner Hauptbahnhofs trat und in die Sonne blinzelte. Sie hatte einen Ausbildungsplatz in der Tasche und keine Ahnung, wie sie zu ihrer zukünftigen Unterkunft, einem Schwesternwohnheim in Neuhausen, kommen sollte. Der junge Francesco, Sohn italienischer Einwanderer, der ihr schließlich half, sprach nicht gut Deutsch, aber er lachte wie die Sonne und seine Augen glänzten wie frisch polierte schwarze Lederschuhe. Sie heirateten zwei Jahre später, bekamen eine Tochter, die sie nach der bayerischen Oma, der italienischen nonna und Francescos Schwester nannten, und wurden glücklich. Sie waren es bis heute, seit fast fünfundvierzig Jahren.
Bis vor Kurzem hatte es ausgesehen, als seien Maria und Florian Kloß auf dem besten Weg, in die Fußstapfen von Anna und Francesco Sorrentino zu treten. Sie hatten früh – während des Studiums – geheiratet, waren im Vergleich zu ihren Freunden schnell Eltern geworden und waren seit ihrer Hochzeit glücklich. Ja, Maria hätte sogar gesagt, dass sie sehr glücklich war. Eine sehr glückliche Kloß. Sie wäre auch eine glückliche Dimpflmoser oder Krattlgruber geworden. Sie wäre mit Florian glücklich gewesen, egal, welchen Nachnamen er ihr verpasst hätte, und hatte nie daran gezweifelt, dass er und sie gemeinsam alt würden. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass sie beide, die ein Fels in der bitteren Brandung aus Trennungen, Scheidungen und Schlammschlachten in ihrem Umfeld waren, jemals an ihrer Liebe zueinander zweifeln würden. Keinen Gedanken hatte sie daran verschwendet.
Bis zu diesem Morgen im Juli. Maria war aus dem Bett gestiegen und ins Bad gegangen, auf ihrem Oberarm eine Schramme von der Nacht und ihr Haar verwildert von Florians Händen. Als sie unter der Dusche stand, tauchte der schemenhafte Schatten ihres Mannes hinter dem Milchglas der Schiebetür auf, bewegte sich unruhig hin und her, bis sie schließlich ihren Kopf herausstreckte und er einen Satz stotterte, dem Harmloses folgen könnte, beispielsweise das Geständnis, dass man den Lieblingspulli des anderen zu heiß gewaschen oder seine Lieblingstasse fallen gelassen habe.
»Maria«, sagte er. »Wir müssen reden.«
Wenn wir jedoch ehrlich sind, folgt auf diesen Satz niemals etwas Harmloses wie die Verkündung von zerbrochenem Geschirr oder ruinierter Kleidung. Meistens, ja, fast in jedem Fall, folgt auf diesen einen speziellen Satz ein leichtes, mittelschweres oder schweres Drama.
Aber beginnen wir von vorne.
Etwa sechzehn Stunden vorher, am frühen Freitagnachmittag, war die Welt für Maria noch in Ordnung gewesen.
Sie saß an ihrem Schreibtisch im Büro, schloss ihr Mail-Programm und atmete auf, weil nur noch zwei Aktionen sie von einem entspannenden Wochenende trennten: der lange geplante und immer wieder verschobene Shoppingtrip mit Franziska und danach die Feier von Florians Chef, der am Mittwoch Geburtstag gehabt hatte und mit seinen Kolleginnen und Kollegen »wie jedes Jahr kurz und schmerzlos« in den Redaktionsräumen anstoßen wollte. Maria hoffte, dass sich seine Ankündigung dieses Mal erfüllen würde und sie nicht wie im vergangenen Juli bis drei Uhr morgens zwischen zwei Naturwissenschaftlern – einer davon war ihr Mann – sitzen würde, die mit zunehmendem Alkoholkonsum immer weniger in der Lage waren, ihre Sprache einem Normalmenschen wie Maria anzupassen, und irgendein physisches Problem erörterten. Sie erinnerte sich aus dem Physikunterricht an nichts mehr außer an die »Schiefe Ebene«, aber das auch nur, weil in jener Zeit ihre Eltern ihr immer wieder Vorträge über ihren großen Bruder Marco gehalten hatten, der ihrer Meinung zu viel feiere. Er würde, so hatte es ihr italienischer Vater immer fälschlicherweise gesagt, auf die »schiefe Ebene« (statt Bahn) geraten und stehe kurz davor, in der Gosse zu landen. Sie solle ihnen sagen, wenn sie ihn auf Partys oder sonst wo kiffen sehe, und Maria hatte genickt und später ihrem Bruder gesagt, er schulde ihr mindestens zwei Monate lang kostenlose Joints, wenn sie ihn nicht verraten würde.
Wie lange das her war. Ihr Bruder war mittlerweile Wirtschaftsanwalt und berauschte sich höchstens an seinem Kontostand. Maria selbst hatte »neigungsbezogen« studiert – so hatte sie es ihren Eltern gegenüber immer bezeichnet, wenn diese ihre Kombination aus diversen geisteswissenschaftlichen Fächern als »brotlos« abgetan hatten.
»Man kann nur gut sein in etwas, das man auch mag«, war heute wie damals ihr Motto, und ihre Eltern machten sich schon sehr lange keinerlei Sorgen mehr um sie.
Sie hatte alles gewuppt. Das Studium mit Kind. Eine sehr lange glückliche Beziehung mit demselben Mann. Ein guter Job. Seit vielen Jahren arbeitete sie in der Agentur »NachKlang«, die Greta, eine ehemalige Kommilitonin von ihr, direkt nach den Magisterprüfungen gegründet hatte. Schon während des Studiums hatten sie beide freiberuflich für Start-ups, die sie interessant fanden, NGOs, deren Ziele sie unterstützten, und Einzelkämpfer, die oder deren Vorhaben sie mochten, PR-Texte geschrieben. Texte, die noch lange »nachklangen«, daraus hatte sich der Name der Agentur gebildet, der bis heute geblieben war. Ansonsten hatte sich vieles verändert. Aus dem Duo Greta und Maria, die nur wenige Wochen nach Gründung der Agentur dazustieß, war ein zwanzigköpfiges, rein weibliches Team geworden. Projektmanagerinnen, Texterinnen, Grafikerinnen, eine Buchhalterin.
»Maria, duhuuu?«
Maria wandte sich langsam um. Sie kannte Greta. Sie zog die Worte nur dann in die Länge, wenn ihr die darauffolgende Frage unangenehm war.
»Oh-oh, habe ich etwas verbrochen?«
»Nein, ich habe nur eine Bitteeee.« Greta, ihre Chefin und Freundin, die kinderlos, karrierebewusst und konsequent sozialdemokratisch (kein Leichtes in Bayern) durch ihr Leben schritt, schob die Lesebrille in das Haar, sodass Maria genau sehen konnte, wie weit der graue Bereich mittlerweile nachgewachsen war. Fünf Zentimeter mindestens, schätzte sie. Vor etwa einem halben Jahr hatte Greta verkündet, dass sie genug habe von dem jahrelangen Blondfärben und nun der Natur freien Lauf lassen wolle. »Ich weiß, ab Montag ist die letzte Woche vor deinem Urlaub und du hast vermutlich genug damit zu tun, alles abzuschließen, aaaaber …«
»Lass es einfach raus, Greta.«
»Aber könntest du ab Montag WM machen?«
»Die ganze Woche?«
»Vermutlich nur drei Tage. Je nachdem, wann dir etwas zur neuen Ausrichtung einfällt. Wir schieben den Auftrag schon eine Weile vor uns her, und allmählich sollten wir …«
»Ja, mach ich.«
»Echt?«
»Klar, kein Problem.«
WM war der interne Begriff für »Warzen-Mike«. Warzen-Mike, der mit richtigem Namen Michael Stockmann hieß und Biologie studierte, hatte ein natürliches Warzenmittel entwickelt und »NachKlang« mit Homepage, Packaging, PR- und Pressetexten beauftragt. Der Wirkstoff seiner Tinktur, Thuja occidentalis, war prinzipiell nicht neu, aber Verpackung und Texte sollten komplett anders sein als bei anderen Mitteln. »Fresh« und unbefangen stellte Mike sich alles vor, schließlich hatte fast jeder Mensch im Laufe seines Lebens einmal eine Warze, es war also an der Zeit, sie und die Mittel dagegen endgültig aus der Schmuddelecke zu holen.
»Ich hab Mia und Sarah gefragt, aber beide haben sich gewunden und …«
»Ist schon gut, Greta, ich mache es wirklich gerne.«
Keine der jüngeren Kolleginnen riss sich um Warzen-Mike, obwohl er erst Mitte zwanzig war. Aber sein Produkt war eben nicht cool, und er selbst war es auch nicht. Er schwitzte zu stark, vergaß immer wieder, dass sein bescheidenes Budget nicht dafür reichte, um jetzt noch zwei Stunden über das Strafmaß bei der Tötung von Wespen zu reden, und er würde, wenn man ihn ließe, am liebsten auf einem Stuhl neben Grafikerin und Texterin sitzen, um »direkt Input« geben zu können – die Höchststrafe für Mia, Sarah und die anderen.
Maria aber mochte Warzen-Mike. Er erinnerte sie an die »guten, alten Zeiten«, als sie und Greta in einem Ladenbüro in der Nordendstraße, das sie sich mit zwei jungen Architekten teilten, zusammen an Pressetexten und Konzepten für Webseiten gefeilt hatten. Oft bis tief in die Nacht, am Rand ihrer Tische gestapelte Pizzakartons und ungespülte Espressotassen. Sie waren voller Elan und hatten alles gegeben für wenig Geld. Für ein neues Mutter-Kind-Café in Haidhausen. Für eine kleine Kaffee-Manufaktur in Sendling. Für das Giesinger Stadtteilfest. Den meisten Kunden dieser Art war »NachKlang« mittlerweile viel zu hochpreisig. Inzwischen betreuten sie Uhrenmanufakturen, E-Bike-Hersteller und Biosupermärkte. Von Warzen-Mikes allein könnten die laufenden Kosten nicht gedeckt werden, aber Greta machte immer wieder eine Ausnahme und nahm auch Projekte an, die sich eigentlich nicht rentierten.
»Was haben wir denn bis jetzt?«, fragte Maria.
»Nur diesen Thuja-Spruch: Schützt vor Blicken und vor Warzen.«
»Hmm.«
»Mikes Vorschlag.«
»Hmm-hmm. «
»Ich weiß.«
»Montag setze ich mich ran.« Maria warf ein Blick auf ihr Handy. »In genau … fünf Minuten muss ich allerdings los. Spätestens.«
»Grüß Franziska von mir.«
»Mach ich.«
»Und sag ihr, ich warte immer noch auf das Rezept ihres Heidelbeer-Tiramisus.«
»Mach ich auch.«
»Wie sie noch so viel kocht neben diesen vielen Kindern, ist mir ein Rätsel.«
»Tja.« Maria wartete, bis ihr Bildschirm ausgeschaltet war, und stand dann auf. »Frauen wie Franziska und ich haben unsere Leben eben perfekt im Griff.«
»Verschwinde, Frau Kloß.«
»Bin schon weg, Greta-Pamphleta. Bis morgen.«
»Bis morgen, Klopsi.«
Der Himmel war bedeckt, und die graue Wolkendecke schien die Hitze des Tages nach unten zu drücken, in die Straßen Münchens, die sich mit Feierabendverkehr zu füllen begannen.
Maria krempelte die Ärmel ihrer weißen Bluse hoch, band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz und schloss in Zeitlupe das Fahrradschloss auf. Schnelle Bewegungen in dieser schwülen Luft hätten nur für Ungemach gesorgt. Auch deswegen war sie gnädig mit Warzen-Mike, dem so schnell der Schweiß ausbrach: Sie war sowohl im Bauch-Beine-Po-Kurs als auch beim längeren Warten im Supermarkt oder bei der Post stets unter den Ersten, die zu schwitzen begannen.
Sie fuhr aufrecht und bedächtig die wenigen Minuten zum größten Outdoorladen der Stadt und atmete erleichtert auf, als sie die angenehme Kühle im Inneren des Geschäfts spürte. Franziska stand an der Treppe neben einer Schaufensterpuppe in khakifarbenen Shorts und grünem Top und fächelte sich mit zwei Flyern Luft zu.
»Nicht umarmen«, wies sie an, als Franziska näherkam. »Ich bin heißer als ein Backofen.«
Maria spitzte die Lippen zu einem Kussmund. »Ich auch. Müssen wir in den ersten Stock?«
»Ja, ich glaube. Höher schaffe ich es heute auch nicht mehr. Ich glühe.«
»Anstrengenden Tag gehabt?«
»Wechseljahre.«
»Quatsch. Dafür bist du zu jung.«
»Meine Mutter meinte, bei ihr habe es mit neunundvierzig angefangen.«
»Du bist noch keine vierundvierzig.«
»Das ist doch quasi dasselbe.«
»Nein, ist es nicht. Wir haben einfach Hochsommer, deswegen schwitzt du.«
»Ich schwitze heute besonders.«
»An Tagen wie heute schwitzen alle. Komm, je schneller wir hochgehen, desto kühler ist der Wind, der uns entgegenkommt.«
»Haha.«
Die Wand entlang der Treppe war tapeziert mit Fotos, die Menschen auf ihren Reisen zeigten. An Stränden, in Wüsten, im dichten Urwald, in Wildwasserkajaks über Steilwände stürzend. Strahlende Gesichter, ausgestreckte Daumen, blutrote Sonnenuntergänge und pastellfarbene Sonnenaufgänge und in jedem Foto mindestens eine farbenprächtige Outdoorjacke.
Bei einem Bild blieb Maria stehen. Eine junge Frau, die von weit oben auf Machu Picchu blickte. Emilia musste vor zwei Tagen an derselben Stelle gestanden haben, denn der Hintergrund auf dem Foto von ihr und Felix, das sie Maria und Florian geschickt hatte, war derselbe: Über ihren Köpfen ragte die Bergspitze des Huayna Picchu, dahinter verlief eine dicht begrünte Bergkette, die von einer tief hängenden Wolkendecke zur Hälfte verborgen wurde. Unter ihnen, im fahlen Licht, erstreckte sich die terrassenförmige Inkastadt, zwischen deren grauen Mauern sich bunte Punkte (Touristen in farbenfrohen Outdoorjacken) tummelten.
Maria atmete tief durch, als könnte sie damit das schneidende Gefühl aus ihrem Körper verscheuchen, das sich dort plötzlich überall ausbreitete.
»Sie kommt ja wieder«, sagt Franziska und legte ihre warme Hand auf Marias Oberarm. »Nur ein paar Monate, dann ist sie wieder hier.«
Maria nickte stumm. Sie kommt wieder, dachte sie. Aber wird dann erneut weggehen, um zu studieren.
»Glaub mir, es hat Vorteile, mit Anfang zwanzig Mutter zu werden«, sagte Franziska und stieg weiter die Treppe hinauf. »Deine Tochter reist selbstständig durch die Welt, meldet sich regelmäßig bei euch mit freundlichen Nachrichten. Ihr seid angekommen, auf der anderen Seite, wo sich Kinder benehmen und ihren Eltern mit Liebe und Respekt begegnen.« Sie blieb schnaufend stehen: »Lage bei mir dagegen: Lilly hat schon wieder Läuse, Lenny leidet unter Fortnite-Sucht und muss demnächst in den Entzug und Leon verständigt sich nur noch einsilbig mit Martin und mir. Jupp. Jepp. Jo. Nee. An schlechten Tagen werden nicht einmal Vokale mitgeliefert: Hmpf. Grmpf. Brmpf.«
Maria wandte sich von dem Bild ab. »Arme Franzi.«
»Ich hätte es wie du machen und nach dem ersten aufhören sollen.«
»Arme, arme Franzi«, wiederholte Maria. Ich habe nicht aufgehört, dachte sie, aber sie war geübt darin, den Gedanken an diese Zeit wegzuschieben. Es hat einfach aufgehört zu funktionieren, aber Franzi war Jahre danach in ihr Leben getreten, sie wusste das alles nicht.
»Hätte ich nur ein Kind, wäre für unseren Trip viel weniger Organisation angefallen.« Franziska schüttelte den Kopf. »Beide Omas und meine Schwester müssen jetzt antanzen.«
Martin hätte auch einfach Urlaub nehmen können, dachte Maria, aber sie hatten darüber schon zu oft diskutiert.
»Vergiss das jetzt mal alles, Franzi«, sagte sie deshalb schnell. »Konzentrieren wir uns auf das, was vor uns liegt. Wir, drei Wochen in einem der angesagtesten Länder der Erde, wo …«
»Wo ich mit meiner Körperhitze die Jahresdurchschnittstemperatur um zehn Grad steigern werde. Sehe schon die Schlagzeile: Deutsche in Menopause löst endgültigKlimawandel in Island aus.«
Sie passierten das Bild, auf dem ein Mann auf einem Gipfel stand, das Kinn nach oben und den Daumen in die Kamera reckend. Ich reise, also bin ich stand in blauen Lettern auf seinem weißen T-Shirt.
»Pff«, machte Franziska, während sie den stolzen Wanderer schwer atmend hinter sich ließ. »Und ich schwitze, also rinn ich.«
Es hätte eigentlich nicht Island im Sommer werden sollen, sondern Südfrankreich im Frühling. Aber die vierzehntägigen Creative-Writing-Kurse von Jakob Gattlinger, die er weltweit gab, waren begehrt und schnell ausgebucht, auch wenn sie mehr kosteten als ein ebenso langer Wellness-Urlaub in einem gehobenen Hotel. Für den Workshop in Roussillon waren Maria und Franziska zu spät dran gewesen, sodass sie nun nicht in einem mit Rosenranken bewachsenen Steinhäuschen inmitten der Gebirgskette des Luberon an ihren Werken feilen würde, sondern in Island. In der Einsamkeit der Westfjorde, eine halbe Stunde vom nächsten – winzigen – Ort entfernt, dessen Namen Maria weder aussprechen noch lange im Gedächtnis behalten konnte. Irgendetwas mit Patrek- am Anfang, danach war es kompliziert geworden. Die anfängliche Enttäuschung über das neue Reiseziel – auch Cornwall im August, Südtirol im Oktober und die Kapverdischen Inseln im November waren ausgebucht gewesen – war jedoch schnell einer wachsenden Vorfreude gewichen. Denn eigentlich war nicht wichtig, wohin sie fahren würden, entscheidend war, dass sie es endlich taten.
»So.« Franziska blieb am Absatz der Treppe stehen und begann erneut, sich mit den zwei Flyern Luft zuzufächeln. »Was brauchen wir alles?«
Maria holte die Liste hervor, die sie heute Morgen, nach dem gewissenhaften Studium eines Reiseblogs über Island, erstellt hatte.
»Wind- und wasserdichte Hardshelljacke, Mütze, leichte Fleecehandschuhe.«
Franziska fächelte stärker.
»Trekkinghose, Regenhose, Wollunterhemd …«
»Himmel, hör auf Maria, ich schwitze ohnehin schon wie …«
»Ah, und Badesachen«, fügte Maria schnell hinzu.
Franziska hielt inne. »Badesachen? Wieso Badesachen?«
»Weil wir in heißen Quellen baden werden.«
»Auf keinen Fall.«
»Wieso?«
»Jakob Gattlinger wird mich definitiv nicht im Badeanzug sehen.« Franziska steckte die Flyer in ihre Handtasche, zog ihren knielangen Rock eine Handbreit nach oben – sie trug nahezu immer Rock – und sah Maria auffordernd an. »Na?«
»Ich sehe gute Beine.«
»Du siehst Säulen der Antike.«
»Quatsch, ich …«
»Massive Säulen der Antike. Gattlinger wird sie nicht sehen, sonst trifft ihn der Schlag und seine Schreibblockade dauert weitere drei Jahrzehnte.«
»Der ist doch da vermutlich gar nicht dabei, wenn wir Freizeit haben.«
»Doch, das ist er vermutlich immer. Was glaubst du, warum das Ganze so viel kostet.« Zielstrebig ging Franziska in Richtung eines Kleiderständers, an dem laut Schild darüber »Softshellkapuzenjacken mit Windstopper« hingen. »Er zeigt uns sein Island. Persönlich.«
»Ich glaube, das ist PR-Quark.«
»Sagt die PR-Frau.«
»Er kann ja nicht jedes Land, in dem er Kurse gibt, wie seine Westentasche kennen.«
»Mir ist eigentlich einerlei, was er alles mit uns macht.« Franziska zog eine froschgrüne Jacke heraus und betrachtete sie mit zur Seite geneigtem Kopf. »Aber im Badeanzug wird er mich auf jeden Fall nicht sehen.«
Seit Jahren wünschte sich Franziska die Teilnahme an einem Kurs von Jakob Gattlinger, der vor knapp drei Jahrzehnten, mit Anfang zwanzig, einen sensationellen Bestseller gelandet und damit fast ein Jahr unter den Top 10 der deutschen Bestseller gestanden hatte. Stromschnell hatte sein Fünfhundert-Seiten-Werk über eine Wolfratshausener Flößerfamilie geheißen, die er literarisch vom 17. bis in das 20. Jahrhundert begleitet hatte. Am Ende war die einst stolze Flößer-Zunft längst dem Niedergang anheimgefallen und transportierte statt Südfrüchten, Gewürzen, Baumwolle, Samt und Seide nur noch besoffene Touristengruppen über Loisach und Isar, und nahezu sämtliche Familienmitglieder, längst in anderen Berufssparten tätig, verfielen ebenfalls dem Alkohol. Niemand, am wenigstens wohl Jakob Gattlinger selbst, hätte mit dem durchschlagenden Erfolg des Buches gerechnet. Mit diesem Plot, der sich so grundsätzlich von den Geschichten seiner Altersgenossen unterschied, die über die Liebe in Zeiten der Kohl-Ära, Alkohol- und Drogen-Exzesse oder das Ende des Sommers nach dem Abitur schrieben.
Gattlingers Verlag und seine Fans hofften auf eine Fortsetzung, auf eine Art »Stromschneller«, doch der junge Gattlinger, rasch zum Millionär geworden, begann unter einer Schreibkrise zu leiden, die bis heute anhielt. Trotz regelmäßiger öffentlicher Beteuerungen, kurz vor dem kreativen Durchbruch zu stehen, war bis heute, drei Jahrzehnte nach seinem Durchbruch, kein zweiter Roman von ihm erschienen.
Franziska konnte sich damit gut identifizieren. Sie arbeitete selbst seit annähernd zwanzig Jahren an einem Psychothriller – zuerst als Studentin, dann als junge Berufstätige, dann als Mutter eines Jungen, schließlich als Dreifachmutter mit Teilzeitstelle in der Giesinger Stadtteilbibliothek. Der Titel ihres Werkes wechselte im Quartalsrhythmus, und Franziska hatte längst zugegeben, sich rettungslos verrannt zu haben. In einem der Schreibkurse von Jakob Gattlinger, die er seit etwa fünf Jahren anbot (sein Geld war nicht komplett weg, aber es war an der Zeit für ihn, neue Erwerbsquellen aufzutun) sah sie die Möglichkeit, aus der Endlosschleife von Überarbeitungen herauszufinden. Maria hatte da so ihre Bedenken. Auf seiner Homepage nannte Gattlinger sich ironisch (oder nicht so ironisch?) The Great Gattly, dazu prangte auf der Startseite ein riesiger roter Button, in dem »The Bestseller-Maker« stand und der immer stärker flimmerte, bis er explodierte und in tausend Teile zersprang, nur, um sich kurz danach wieder in seine ursprüngliche Form zusammenzufügen.
»Albern«, hatte Maria gesagt, als sie vor einigen Monaten gemeinsam die Homepage angesehen hatten.
»Berechtigt«, hatte Franziska korrigiert. »Ein Autor, der an seinem Kurs teilgenommen hat, ist mit seinem Debütroman tatsächlich auf der SPIEGEL-Bestseller-Liste gelandet.«
»Aha.«
»Letzter Platz, nur eine Woche, aber immerhin.«
»Vielleicht wäre ihm das auch ohne die Kursteilnahme gelungen?«
»Wie auch immer, der Autor hätte schon längst geklagt, wenn Gattlinger ihn als Beispiel dafür nennt, dass seine Kurse funktionieren.«
»Vielleicht ist der Autor auch einfach ein Freund von The Great Gattly.«
»Hast du ‚Stromschnell‘ gelesen?«
»Nein.«
»Solltest du aber tun. Wenn jemand, der so etwas schreibt, bereit ist, sein Können weiterzugeben, muss ich die Chance nutzen.«
»Naja, du könntest aber auch …«
»Wie lange hast du nicht mehr an dem Roman gearbeitet, von dem du mir mal erzählt hast?«
»Hmm, seit dem Mutterschutz? Mir war langweilig, Franzi, ich hab einfach zwei Wochen rumgekritzelt an irgendeiner Geschichte über ein junges Paar und seitdem keinen einzigen Satz mehr daran geschrieben. Ich bin nicht so ambitioniert wie du.«
»Du meinst ausdauernd.«
»Ausdauernd und ambitioniert.«
»Du könntest dein Buch … dein Fragment mit Gattlingers Hilfe fortsetzen. Zu Ende bringen.«
»Franzi, wenn du nicht alleine fahren willst, dann sag das doch …«
»Okay. Ich möchte nicht allein fahren. Aber fahren muss ich. Ich muss, Maria. Ich muss diesen Thriller zu Ende schreiben, ich muss einfach. Ich muss ihn fertigschreiben, bevor … bevor …«
»Bevor dein Bergwerk der Begabungen vielleicht einstürzt?«
»Bevor Leon sein Abitur macht. Ich will nicht alles auf Wenn die Kinder aus dem Haus sind verschieben. Ich glaube auch nicht, dass das meinem Psycho-Thriller guttut. Die schwärzesten, fiesesten, dunkelsten Gedanken habe ich, wenn wir es endlich geschafft haben, zu fünft am Esszimmertisch zu sitzen, ich die in Präzisionsarbeit geschabten Käsespätzle serviere und Lilly dann verkündet, sie müsse unverzüglich kacken. Da entwerfe ich wirklich Szenen in meinem Kopf, da könnte Stephen King einpacken, Maria. Das sind Thriller-Szenen aus Gold! Noch mal viel besser als nach Tagen, an denen sich zehn Muttis innerhalb einer Stunde darüber beschwerten, dass wir den neuen Harry Potter nicht da hatten und ich ihnen erklären musste, dass wir nur eine kleine Stadtteilbibliothek seien und gerade unsere Kinderbuchabteilung ausgedünnt ist und … Was schaust du so?«
»Hab nur grad überlegt, wann der letzte Harry Potter rauskam.«
»Ewig her. Das war nur ein Beispiel, Maria.«
»Ob J.K. auch eine Schaffenskrise hat? Wie der Große Gattly?«
»Nein, sie hat seit Potter einiges geschrieben. Mach dich nicht lustig, Maria, komm einfach mit zum Kurs.«
»Ich weiß nicht, ich …«
»Bitte, Maria. Bitte.« Franziska legte den Kopf schief und klimperte mit den Wimpern. »Bitteeeeeee.«
Maria hatte gelacht und den Great-Gattly-Button beobachtet, der in viele Teile explodierte und sich dann wieder zusammenfügte. »Okay. Ich kläre mal mit Florian und Emilia, wann ich fahren könnte.«
Ihr Mann und ihre Tochter gaben noch am Tag, an dem dieses Gespräch stattgefunden hatte, grünes Licht. Maria könne fahren, wann immer sie wolle. Doch erst drei Jahre und über hundert Überarbeitungsrunden (von Franziska) später würden sie nun tatsächlich zu zweit aufbrechen.
»Lass uns mal was zusammensuchen und uns in fünfzehn Minuten bei den Umkleiden treffen«, sagte Franziska jetzt und versuchte, eine Haarsträhne aus der Stirn zu pusten, die jedoch kleben blieb. »Ich muss kurz ausdampfen.« Sie ging seufzend in Richtung einer Gruppe von Schaufensterpuppen, die etwas erhöht auf einem Podest standen und aussahen, als wollten sie sich auf die Suche nach dem Yeti begeben.
»Entschuldigung«, hörte Maria sie zu dem jungen Angestellten sagen, der gerade die Galoschen am Bein einer Puppe richtete. »Ich glaube, ich bräuchte auch exakt so eine Hose.«
»Fahren Sie ins Hochgebirge?«
»Wohin?«
»Zum Beispiel in den Himalaya?«
»Ja, so etwa. Es geht nach Island.«
»Und dort wollen Sie ins Hochland?«
Franziska wandte sich mit fragender Miene um zu Maria, die nähergekommen war und den Kopf schüttelte. »Wenn, dann nur kurz. Wir sind vor allem in den Westfjorden. Ab übernächste Woche.« Sie hielt dem jungen Mann ihr Handy entgegen. »Das brauchen wir angeblich alles an Kleidung. Wir sind zwei Wochen fest in Patrek- … irgendwo in den Westfjorden und dann noch eine Woche im Land unterwegs, wo genau, wissen wir noch nicht.«
»Hm.« Der junge Mann fuhr mit dem Finger über das Display und betrachtete die Liste eine Weile stirnrunzelnd. Dann nickte er bedächtig und sah auf. »Kriegen wir hin. Wollen wir mit den Badeanzügen anfangen? Da haben wir grad ganz neue reinbekommen.«
Als sie an der Kasse anstanden, legte Franziska ihren Kopf auf Marias Schulter.
»Wenn du wüsstest, wie dankbar ich dir bin, dass du mit mir diese Reise machst.«
»Musst du nicht sein, ich …«
»Und mit mir zweihundert Badeanzüge anprobierst.«
»Mir geht es gut. Um den jungen Mann mache ich mir eher Sorgen. Den haben wir ganz schön beansprucht.«
»Naja, er kann nicht die tolle Regenkammer und die grandiose Kältekammer anpreisen und uns dann nicht reinlassen.«
»Nein, das kann er nicht.«
»Wirklich nicht.« Franziskas Wange sank noch schwerer auf Marias Schulter. »Und du freust dich wirklich?«
»Ich freue mich wirklich«, bekräftigte Maria. Es war die Wahrheit. Als sie in der Kältekammer gestanden hatte, eingepackt in Regenhose, Softshelljacke, Mütze und Handschuhe, hatte sie sich die Bilder der isländischen Landschaft in Erinnerung gerufen, die sie seit Wochen immer wieder im Internet bewunderte, und so tief durchgeatmet wie lange nicht mehr.
»Ich freue mich sehr«, wiederholte sie mit Nachdruck.
»Auch wenn du und Florian gerade sturmfrei habt und endlich machen könnt, was ihr wollt? Kochen und essen, was ihr wollt? Kommen und gehen, wann ihr wollt? Keine Rücksicht mehr auf ein Kind nehmen müsst?«
»Emilia ist schon so lange kein Kind mehr.«
»Sex haben, wo, wann und in welcher Lautstärke ihr wollt?«
Maria lachte kurz auf und zuckte mit den Schultern, worauf Franziska ihren Kopf hob und sie fragend ansah.
»Was soll dieses fiebrige Kichern? Dass ihr es überall treibt, seitdem eure Tochter auf Weltreise ist? Auf dem Küchentresen? In der Dusche?«
Der Mann vor ihnen in der Reihe wandte sich halb um.
»Auf Florians massivem Eichenschreibtisch?«, fragte Maria eine Spur leiser. »Den er von seinem Großvater geerbt hat?«
Maria sah, wie sich die Schultern des Mannes strafften.
»Oder im Auto?«, raunte Franziska. »Oder in der …« Ihr Handy begann zu klingeln. Die Musik zur Duschszene aus Hitchcocks »Psycho«, Geigen, die klangen, als würden Vögel panische Schreie ausstoßen. Die Tüte des Mannes vor ihnen knisterte panisch, als er sich erschreckt umblickte.
»Keine Angst, Junge«, murmelte Franziska, während sie in ihrer Tasche nach dem Telefon wühlte, das immer lautere Töne von sich gab. »Ich bin ganz harmlos … und … jetzt komm schon raus, du dummes Teil … Wieso geht das denn … ja? Melanie? Was gibt’s?« Sie sah zu Maria, rollte die Augen und formte mit den Lippen lautlos die Worte: Meine Schwester.
Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Ihre Augen verengten sich, die Lippen wurden schmal. Sie wandte sich ab und ging einige Meter Richtung Ausgang, blieb stehen, wandte sich um, die eine Hand vor den Mund gepresst, die andere, die das Telefon hielt, sackte nach unten. Sie ging wieder auf Maria zu, aschfahl im Gesicht, wies mit dem Telefon auf die beiden Körbe, die sie auf dem Boden abgestellt hatte, und sagte tonlos: »Das muss ich jetzt sofort zurückbringen.«
»Und du hast deine Sachen mitgenommen?« Florian warf einen kurzen Blick auf die zwei großen Tüten neben der Tür, bevor er sich wieder dem Bildschirm zuwandte. »Das heißt, du fährst auch alleine.«
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Maria ließ sich auf den Stuhl vor Florians Schreibtisch fallen. »Das weiß ich noch nicht. Ohne Franziska kann ich es mir eigentlich nicht vorstellen.«
»Ich würde sagen, du fährst auf jeden Fall.«
Das war nun mehr Befehl als Feststellung.
»Florian, Franzis Mutter hatte einen Schlaganfall. Das ist jetzt entscheidend. Franziska wird auf keinen Fall nach Island fahren. Und ob ich fahre oder nicht, ist doch jetzt völlig unerheblich.«
»Ich finde es nicht unerheblich. Du hast dich so darauf gefreut.«
»Ich habe mich darauf gefreut, mit Franziska zu fahren, nicht ohne sie.« Sie betrachtete ihren Mann, der vom Computer hypnotisiert zu werden schien. »Florian?«, sagte sie, und als er nicht reagierte, fügte sie sanfter hinzu: »Flo?«
Langsam, als hielte eine unsichtbare Kraft seine Augen auf den Bildschirm gerichtet, wandte er Maria seinen Blick zu. Seine Mundwinkel wanderten zögerlich nach oben, als würde er seine Frau jetzt erst wirklich wahrnehmen.
»Du bist gestresst, Schatz«, sagte Maria leise.
Er betrachtete sie für Sekunden schweigend, dann legte er stöhnend den Kopf zurück und verschränkte die Hände in seinem Nacken. »Entschuldige bitte. Ja. Ich bin gestresst. Und das mit dem Rücken wird irgendwie auch nicht besser und …«
»Komm her.«
»Und ehrlich gesagt, bin ich es auch leid, dass ich in diesem Laden immer allein für alles …«
»Komm her.«
»Was?«
»Komm zu mir.«
Florian verharrte einen Moment in seiner Position, dann beugte er sich nach vorne, schaltete den Bildschirm aus und schob die Maus so zurecht, dass sie im Abstand von fünf Zentimetern zur Tastatur lag, ihr unteres Ende parallel zur unteren Kante der Plus-Taste. Das machte er so, seitdem Maria ihn kannte.
Sie wartete, bis er langsam um seinen Schreibtisch gekommen war und vor ihr stand, umarmte ihn und schloss die Augen. An ihrer Wange spürte sie das kühle Metall seiner Gürtelschnalle, ihre Hände legten sich auf seine Pobacken.
»Maria, es kann jeden Moment jemand …«
»Ich weiß«, murmelte sie. »Nur einen Moment.«
Er schwieg. Maria spürte, dass er sich aufrichtete, denn die Gürtelschnalle schob sich merklich nach oben. Als sie zu ihm aufblickte, sah sie, dass er seine Arme vor der Brust verschränkt hatte.
»Es ist gleich halb sieben. Lass uns gehen, Maria.«
»Flo, mir ist gerade so überhaupt nicht nach Smalltalk und Anstoßen und warmen Blubber-Worten. Können wir nicht einfach heimgehen?«
»Ich glaube, gerade dieses Jahr wäre das nicht so gut. Es ist sein letztes Mal als …«
»Ich weiß …« Maria seufzte. »Ich dachte nur …«
»Aber du kannst gerne nach Hause, wenn du dich nicht danach fühlst.«
»Das wäre das erste Mal, dass ich an Svens Geburtstag nicht dabei wäre«, sagte sie betont fröhlich. »Nein«, sagte sie, »ich komme natürlich mit.«
Zuerst hatte Maria ein schlechtes Gewissen, weil sie Lachshäppchen aß und Alkohol trank, während Franziska am Krankenbett ihrer Mutter wachte. Ab dem dritten Glas aber sorgte der Sekt für ein angenehm wattig-weiches Gefühl, an dem alle negativen Gedanken sanft abprallten. Sie könne jetzt ohnehin nichts für Franziska tun, hatte Florian gesagt. Außer ihr aufmunternde Nachrichten zu senden. Und überhaupt mache es keinen Unterschied, ob sie zu Hause auf der Couch an Franziska denke oder aus dem dritten Stock der Redaktion. Eine pragmatische Einschätzung der Lage. Florian war meistens pragmatisch, das war also nichts Neues. Aber etwas anderes war an diesem Abend anders als sonst.
Maria nahm einen Schluck Sekt und verfolgte ihren Mann mit den Augen. Kaum hatten sie das Konferenzzimmer betreten, in denen Feierlichkeiten dieser Art in der Regel stattfanden, war es, als hätte jemand eine Glühbirne in ihm eingeschaltet. Gut gelaunt begrüßte er hier jemanden, hielt dort ein rasches Schwätzchen, machte da einen Witz und lief so schnell von einer Gruppe zur nächsten, dass Maria irgendwann aufgab, ihm wie ein treuer Hund zu folgen. Früher oder später, das wusste sie, würde Florian das tun, was er immer auf Partys tat. Er würde sich mit einem einzigen Gesprächspartner in eine ruhige Ecke zurückziehen und sich von da an nicht mehr wegbewegen. Maria wollte sich ein weiteres Grissini einverleiben, doch ihre Hand griff ins Leere. Sie hatte das Glas auf dem Schreibtisch leergegessen, während sie ihren Mann beobachtete, der wie ein Partylöwe durch sein Kollegen-Rudel streifte, sich ständig mit den Händen durch seine Mähne fuhr und die Zähne fletschte.
»Er ist schon ganz der Chefredakteur«, sagte jemand neben Maria. »Für jeden ein freundliches Wort, niemanden vernachlässigen, alle motivieren.«
»Kommt mir eher vor wie jemand, der sich als mein Mann verkleidet hat«, murmelte Maria. »So ist er sonst nie.«
Barbara lachte. Sie war schon seit zwei Jahrzehnten Buchhalterin bei Wissenschaft morgen, also schon ebenso lang im Haus wie Florian.
»Schade, dass ich in absehbarer Zeit in Rente gehe und nicht mehr mitbekomme, wie dein Gatte das Blatt in neue Sphären führt.«
»Du hörst auf?« Maria sah sie überrascht an. »Wann?«
»Nächstes Jahr im Herbst.«
»Aber wieso denn?«
»Das letzte Kind ist mit dem Studium durch und wir haben genügend Rücklagen, um etwas früher … Ja, Kind, Maria, nicht Enkel, schau nicht so, ich sehe dir doch an, dass du gerade kopfrechnest. Fritz und ich haben eben später angefangen als du mit dem Kinderkriegen.«
Maria nahm einen Schluck Sekt. Hatte sie nicht mit Franziska vor ein paar Stunden ein ähnliches Thema gestreift?
»Bei euch geht es ja jetzt erst richtig los karrieretechnisch. Das Kind aus dem Haus, Florian Chefredakteur, du Partnerin in der Agentur …« Barbara gab einem jungen Mann mit Tablett ein Zeichen, dass er zu ihnen kommen solle. »Da beginnt jetzt eine aufregende Zeit für euch … Hmm, von den Kaviar-Teilen hatte ich noch gar keines.«
»Das ist kein echter Kaviar«, murmelte Maria und beobachtete Florian, der an einem Schreibtisch lehnte, die eine Hand ein Bier haltend, die andere in aufgeregten Zickzackbewegungen in der Luft unterwegs. »Das ist so ein Fake-Kaviar, den gab es bei uns früher immer an Silvester. Auf hart gekochten Eiern.« Was er wohl den beiden Kolleginnen erzählte? Er hatte die Ärmel seines weißen Hemds hochgekrempelt und die Unterarme freigelegt.
»Er ist in der Tat ganz schön lebhaft heute«, sagte Barbara und sah sich erneut nach dem Tablett-Mann um.
»Lebhaft, ja.« Maria trank ihr Glas in einem Zug aus, ohne den Blick von ihrem Mann zu nehmen. Und sehr süß, fügte sie in Gedanken hinzu.
Sie ließen die Räder stehen und sich von einem Taxi in die Hochstraße fahren, wo ihr Häuschen auf sie wartete, zweistöckig und aus der Zeit gefallen mit den grünen Fensterläden und den niedrigen Räumen. Ein Glücksfall, den sie noch zwanzig Jahre abbezahlen würden.
Maria saß zu weit von Florian entfernt, um ihren Kopf auf seine Schultern zu legen, deshalb streckte sie ihren Arm aus und berührte mit den Fingerspitzen seinen Nacken.
»Du hattest Spaß heute, nicht wahr?«, fragte sie.
»Hmm«, machte Florian nur und sah weiter aus dem Fenster, hinter dem die Lichter des Kulturzentrums vorbeiflogen. Die Glühbirne in ihm war ausgegangen, sobald sie sich von den wenigen verbliebenen Gästen verabschiedet hatten. Seit sie losgefahren waren, hatte er kein Wort gesagt, und als Maria kurz vor der Hochstraße ihren Sicherheitsgurt löste, sich in die Mitte der Rückbank und ihre Hand auf seinen Oberschenkel schob, murmelte er nur: »Wir müssen gleich raus.«
»Ich weiß«, sagte sie und dachte an Franziska und ihre Frage am Nachmittag und den massiven Eichenschreibtisch, den Florian von seinem Großvater geerbt hatte. Hatten sie darauf jemals Sex gehabt? Ihr Erinnerungsvermögen gab ihr keine eindeutige Auskunft. Sie verstärkte ihren Druck auf Florians Schenkel. »Du warst heute wirklich sexy mit deinen hochgekrempelten Hemdärmeln«, sagte sie leise, damit der Fahrer sie nicht hören konnte. »Wie Robert Redford in Die Unbestechlichen.«
»Sie können hier rechts halten«, sagte Florian und beugte sich etwas nach vorne. Marias Hand rutschte von seinem Schenkel. Sie war angetrunken und immer noch so in Watte gepackt, dass sie die Ruckartigkeit seiner Bewegung nicht gespürt hatte. Und es war zu dunkel im Wagen, als dass sie seinen Blick gesehen hätte, den er ihr zuwarf und der in wenigen Sekunden so viele Emotionen ausdrückte, dass sie augenblicklich erkannt hätte, dass etwas im Begriff war, sich bald zu verändern.
So aber stieg sie aus dem Wagen, kicherte, weil ihre Handtasche irgendwo hängen blieb, und folgte Florian, der schon an der Haustür stand und versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Er wankte leicht. Maria lächelte. Auch der Partylöwe hatte einiges getrunken. Mehr, als er vertrug,
»Brauchst du Hilfe?«, fragte sie.
Die roten Rücklichter des Taxis bogen nach links ab und verschwanden. Es war ruhig, nur das Rascheln der Bäume von der anderen Straßenseite drang zu ihnen. Dahinter fiel das Isarhochufer nach unten zur Au ab.
»Brauchst du Hilfe?«, wiederholte sie und schlang ihre Arme von hinten um ihn, fühlte wieder die Gürtelschnalle, die so kühl war wie Florians Antwort.
»Ich brauche nur mein Bett, Maria.«
Sie lockerte ihren Griff nicht, als er durch den dunklen Flur ging, stapfte breitbeinig hinter ihm her, damit ihre Füße sich nicht mit seinen verhedderten, und ließ ihre Finger schließlich abwärts wandern.
»Dann lass uns hinlegen«, flüsterte sie.
»Maria, bitte, ich …« Er blieb stehen.
»Nein, nicht ins Schlafzimmer.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und fuhr mit der Zunge über seinen Nacken.
»In dein Arbeitszimmer«, flüsterte sie und verstärkte den Druck ihrer Finger. »Komm, Flo, du willst es doch auch, du kannst es nicht leugnen, ich spüre es ganz deutlich.«
»Maria, ich …«
»Komm, Herr Chefredakteur, wirf mich auf den Schreibtisch deines Großvaters und …«
Florian drehte sich abrupt zu ihr um. Sein Atem ging schneller und seine Hände drückten so fest in ihre Oberarme, dass es wehtat.
»Nicht so fest«, flüsterte Maria. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und strich mit den Daumen sanft über seine Wangen, die heiß waren und stoppelig, weil er sich zuletzt vor über achtundvierzig Stunden rasiert hatte. Das wusste Maria, weil sie ihm am Mittwoch gesagt hatte, wenn sie noch einmal seine Bartstoppeln aus dem Waschbecken spülen müsste, lasse sie in Zukunft ihre abgeschnittenen Zehennägel auf dem Badewannenrand liegen.
Sie zog Florians Gesicht zu sich herunter, küsste ihn und drückte ihr Becken gegen seines. Er regierte nicht, blieb starr und stumm, ein sedierter Partylöwe, doch als Maria erneut ihren Mund auf seinen legte, öffneten sich seine Lippen leicht. Allerdings nicht zum Küssen.
»Maria, wir müssen …«
»Nein, wir müssen jetzt gar nichts.«
»Ich kann nicht einfach so …«
Sie nahm die Hände von seinen Wangen, löste seine Finger von ihren Oberarmen und legte sie auf ihre Brust.
»Was kannst du nicht?«
Sein Atem ging jetzt schwer und langsam.
»Auf dem Schreibtisch«, sagte er gepresst, und nur Augenblicke später zog er sie in einer ruckartigen Bewegung an sich, stöhnte kurz auf, als er sie hochhob (Maria wusste nicht, ob wegen Erregung oder seines Ischias) und trug sie in das Arbeitszimmer.
Maria war aus dem Bett gestiegen und ins Bad gegangen, ihr Mund trocken, auf ihrem linken Oberarm eine Schramme und ihr Haar verwildert von der Nacht. Als das warme Wasser über ihren Körper lief, schloss sie die Augen und dachte an Florians Finger, die gestern überall gewesen waren, an ihrem Hals, ihren Brüsten, dem Bauch, den Innenseiten ihrer Schenkel. Florian hatte sie mit einer Hand um die Taille gehalten, während er mit Schwung alle Dinge vom Schreibtisch gefegt hatte, die ihren Körpern im Weg waren. Wie leidenschaftlich, hatte sie gestern vor dem Einschlafen noch gedacht. Jetzt unter der Dusche, mit der brennenden Schramme auf dem Oberarm und den stechenden Signalen eines Katers im Kopf, kam ihr der Akt auf dem Schreibtisch von Florians Großvater etwas nüchterner vor.
Maria legte den Kopf in den Nacken und hielt ihr Gesicht dem warmen Strahl entgegen.
Franziska hatte geschrieben, dass es ihrer Mutter den Umständen entsprechend gut gehe, sie selbst aber definitiv nicht nach Island fahren würde. Sie könne und wolle ihre Schwester nicht alles allein machen lassen. Aber Maria solle auf jeden Fall fahren. Die Gelegenheit, drei Wochen zu verreisen, käme so schnell nicht wieder, wenn sie erst einmal Partnerin in der Agentur sei. Und dazu noch Jakob Gattly Gattlinger! Sogar ihre Mutter habe gesagt, dass sich so eine Gelegenheit selten biete. (»Sie spricht noch etwas schwerfällig, aber das musste aus ihr raus!«) Und schade ums Geld wäre es allemal. Maria vermutete, dass Franziskas Mutter lediglich den letzten Satz geäußert hatte und sich mehr um die vielen Tausend Euro sorgte, die sowohl ihre Tochter als auch deren beste Freundin an den Schreibgott überwiesen hatten. Der künstlerische Aspekt und der Große Gattly waren der alten Dame dagegen mit Sicherheit gleichgültig. DU MUSST FAHREN. FÜR DICH!, schrieb Franziska am Ende ihrer Nachricht noch einmal.
Doch Maria würde nicht nach Island fahren. Nicht allein. Sie war in ihrem Leben noch nie nördlicher als bis nach Hamburg gekommen und sie konnte sich nicht vorstellen, diese Grenze ohne Begleitung zu überschreiten. Das Geld? Nun ja. Wie bei allen Kursen von Gattlinger gab es mit Sicherheit Wartelisten. Sie würde zwei Menschen finden, die statt Franziska und ihr mit dem coolen Gattly in heißen Quellen sitzen mochten.
Sie würde ihren dreiwöchigen Urlaub in München verbringen, frühmorgens mit Florian an der Isar laufen gehen und danach noch in ihr baden, erfrischt zurückkehren und zu Hause mit ihrem Mann testen, ob der Schreibtisch seines Großvaters immer noch problemlos zwei Menschen aushalten konnte. Wenn Florian in der Arbeit war, würde sie in einem Liegestuhl in ihrem winzigen Garten (eine zwei mal drei Meter große Rasenfläche, die fast immer im Schatten lag) ein Buch nach dem anderen lesen und somit den Stapel abbauen, der sich in den letzten Monaten auf ihrem Nachttisch aufgebaut hatte. Sie würde an den Markttagen zwischen den Ständen am Mariahilfplatz schlendern, frisches Gemüse kaufen und frische Schnittblumen und sie in hübschen Vasen im ganzen Haus verteilen. In der Küche, im Wohnzimmer und natürlich im Schlafzimmer, wo tagsüber die Rollos unten und die Fenster gekippt blieben, damit es spätabends angenehm kühl war.