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+++ Die Fortsetzung des Bestsellers "Tausche Alltag gegen Insel +++ Vivian Steiner hat es getan: Sie hat ihren Job als Lehrerin gekündigt, um ihr Leben neu zu gestalten. Nicht im heimatlichen München, sondern auf St. Maryʼs, einer kleinen Insel vor der Küste Cornwalls. Hier, in der »Südsee Englands«, will sie die Galerie ihres verstorbenen Vaters weiterführen und als freie Fotografin ihr Glück versuchen. Doch es ist nicht alles eitel Sonnenschein im Insel-Paradies, im Gegenteil. Zwar muss sie keine Schüler mehr bändigen und Lehrpläne befolgen, aber eine verrückte Praktikantin, eine verheerende Vernissage, fehlende Sicherheit und eine Fernbeziehung machen ihr den Alltag nicht gerade leicht. War sie zu naiv? Ehe Vivian sich versieht, ist sie auch in St. Maryʼs gefangen in Problemen – und der Traum vom Neubeginn droht zu platzen …
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Weitere Titel von Anne Lux
Über die Autorin
Anne Lux
Tausche
Alltag
gegen
Glück
Insel-Roman
(Cornwall-Band 2)
Juli 2018
© 2018 by Anne Lux
Franziskanerstraße 43
81669 München
Umschlaggestaltung: Michaela Huml, [email protected]
Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder Reproduktion (auch auszugsweise) in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder anderes Verfahren) sowie die Einspeicherung, Verarbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung mithilfe elektronischer Systeme jeglicher Art, gesamt oder auszugsweise, sind ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Autorin untersagt. Alle Übersetzungsrechte vorbehalten. Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die bisherigen Romane von Anne Lux in chronologischer Reihenfolge:
Liebestrilogie
Mitten im Sommer, mitten ins Herz (Bd. 1)
Alles auf Anfang, alles auf Glück (Bd. 2)
Sehnsucht nach Insel & Mehr (Bd. 3)
Alles auf Liebe (Sammelband, Bd. 1–3)
Cornwall-Trilogie
Tausche Alltag gegen Insel (Bd. 1)
Tausche Alltag gegen Glück (Bd. 2)
Tausche Alltag gegen Horizont (Bd. 3)
Tausche Alltag gegen Cornwall (Sammelband, B. 1 +2)
Island-Roman
Glück ist wie das Meer (Roman)
Über das Buch
Vivian Steiner hat es getan: Sie hat ihren Job als Lehrerin gekündigt, um ihr Leben neu zu gestalten. Nicht im heimatlichen München, sondern auf St. Maryʼs, einer kleinen Insel vor der Küste Cornwalls. Hier, in der »Südsee Englands«, will sie die Galerie ihres verstorbenen leiblichen Vaters weiterführen und als freie Fotografin ihr Glück versuchen. Doch es ist nicht alles eitel Sonnenschein im Insel-Paradies, im Gegenteil. Zwar muss sie keine Schüler mehr bändigen und Lehrpläne befolgen, aber eine verrückte Praktikantin, eine verheerende Vernissage, fehlende Sicherheit und eine Fernbeziehung machen ihr den Alltag nicht gerade leicht. War sie zu naiv? Ehe Vivian sich versieht, ist sie auch in St. Maryʼs gefangen in Problemen – und der Traum vom Neubeginn droht zu platzen …
Ein Foto wird meistens nur angeschaut –
selten schaut man in es hinein.
Ansel Adams
No man is an island,
Entire of itself,
Every man is a piece of the continent,
A part of the main.
John Donne
Der Händedruck fühlte sich klebrig und warm an, es schien mindestens eine nervöse Person mit schwitzenden Fingern im Spiel zu sein. Vivian seufzte innerlich. Sie wusste, dass sie diese Person war, denn Direktorin Marion Gabelsberg war wie immer die Ruhe selbst, freundlich, aufgeräumt und so unerschütterlich und klar wie das Fach Mathematik, das sie seit fast drei Jahrzehnten unterrichtete.
»Frau Steiner, ich wünsche Ihnen alles Gute für die nächsten … Monate … das nächste Jahr, wie lange es auch immer sein wird«, sagte sie und drückte ihre trockenen, kühlen Finger noch einmal auf Vivians feuchte. »Und ich würde mich freuen, wenn wir Sie eines Tages wieder zum Kollegium des Charlotten-Gymnasiums zählen könnten.«
Vivian wollte etwas erwidern, entschied sich dann jedoch nur für ein Lächeln, von dem sie hoffte, dass es selbstbewusst wirkte. Geredet hatte sie mit Frau Gabelsberg schon genug in den letzten Wochen. Ganz ohne Weiteres hatte die Direktorin sie nicht gehen lassen wollen, die »beste Kunstlehrerin der Schule«. Es gibt ja auch nur zwei, hätte Vivian fast geantwortet. Und bei der einen, die nicht ich bin, weinen die Unterstufler manchmal, nachdem sie die Bilder verbessert hat. In den Augen der Lehrkraft verbessert. Verschlimmbessert aus Sicht der Kinder, mit harten Schraffierungen und abstrakten Linien. Gefällt den Kleinen nicht. Gesagt hatte Vivian das natürlich nicht. Sie hatte sich darauf konzentriert, den betörenden Lobgesängen der Direktorin nicht zu erliegen, damit sie nicht doch wieder abkam von ihren Plänen. Von den Plänen, die ja nicht nur Frau Gabelsberg infrage stellte. Ihren Eltern war ebenfalls unbehaglich bei der Vorstellung, dass ihre zweiunddreißigjährige Tochter den sicheren Schuldienst quittierte (vorübergehend, wie sie hofften), um auf eine Inselgruppe vor der Küste Cornwalls zu ziehen. Wo sie als Fotografin arbeiten wollte, Hochzeiten und andere Familienfeste ablichten und Postkarten produzieren würde, um eine klitzekleine Galerie namens View Point am Laufen zu halten, die ihr verstorbener leiblicher Vater aufgebaut hatte. Dass Vivian auf lange Sicht plante, ausschließlich auf Reise- und Reportagefotografie zu setzen, was deutlich spannender und dementsprechend schwieriger war, hatte sie ihren Eltern gar nicht erst erzählt.
»Melden Sie sich jederzeit, wenn Sie uns vermissen und wiederkommen wollen, Frau Steiner, Sie sind hier immer willkommen.«
Vivians Lächeln vertiefte sich, als ihre schweißnassen Finger aus der Hand der Direktorin glitten. Ich muss hier weg, dachte sie. Bevor sie mich noch komplett einlullt. Hastig erzählte sie etwas von Schlüssel- und Wohnungsübergabe, bevor sie nach Jacke und Tasche griff und sich verabschiedete.
Inzwischen war es Nachmittag und der Flur der Schule lag verlassen vor ihr. Vivian berührte sanft einen Wasserfleck an der Wand, während sie Richtung Ausgang ging. Nach mehreren Jahren am Charlotten-Gymnasium waren ihr nicht nur viele der Schülerinnen und Schüler ans Herz gewachsen, sondern auch das im späten 19. Jahrhundert entstandene Gebäude, das ab Mai kernsaniert werden sollte. Der Schulbetrieb würde dann ausgelagert werden, was Vivians Entschluss noch einen gewissen Auftrieb gegeben hatte. Unterrichtsmief in einer Containerburg oder täglich der frische Duft nach Insel und Meer – eigentlich war die Entscheidung doch ganz einfach.
Eigentlich.
Sie blieb vor einem Bild stehen, das sie eigenhändig aufgehängt hatte, ließ ihren Blick entlang der Wand schweifen und seufzte erneut, diesmal laut. Das Projekt Selbstporträts. Die Köpfe ihrer Elftklässler aus dem vergangenen Schuljahr. Simon Winkelmann hatte nur Ziffern auf das A3-Papier gemalt, darunter einige mehrfach. Eine Art Malen nach Zahlen, aber was sich ergab, wenn man die Ziffern miteinander verband, wusste keiner. Vivian hatte damit gerechnet, dass spätestens nach zwei Tagen Mitschüler mit Edding über die Acrylglasscheibe fahren würden, um es herauszufinden, aber es war bis heute nicht passiert.
Vivian lächelte. Simon war immer einer ihrer Lieblingsschüler gewesen, auch wenn sie ihm das niemals sagen würde. Er hatte auch ohne Komplimente von ihr schon einmal mehr für sie empfunden, als für sie beide gut gewesen war. Wie lange das schon wieder alles her war. Inzwischen war Simon bereits seit knapp einem halben Jahr mit einem Mädchen aus seiner Parallelklasse zusammen.
Ein Räuspern hinter ihr riss Vivian aus ihren Gedanken, ließ sie herumfahren und dann grinsen. Wenn sie in jüngster Zeit unvermittelt auf ihren Kollegen Otto Hörmann traf, konnten ihre Mundwinkel gar nicht anders, als nach oben wandern. Bis vor Kurzem hatte Hörmann, der Geschichte, Erdkunde und Sport unterrichtete, nahezu täglich einen schmal geschnittenen Trainingsanzug getragen, der unbestätigten, aber hartnäckigen Gerüchten zufolge aus der Zeit der Olympischen Spiele stammte. Der Olympischen Spiele 1972 in München, wohlgemerkt. Aber seit einigen Wochen trug er bevorzugt eng anliegende, dunkelblaue Jeans und taillierte Hemden, gerne so weit geöffnet, dass ein Teil seines grauen Brusthaares sichtbar wurde.
»Nicht viele Männer Ende fünfzig können das tragen«, raunte Frau Siebert, Latein-Deutsch, wann immer sie ihn im Lehrerzimmer sah. »Dafür braucht man eine schlanke Taille.«
»Da ist eine Frau im Spiel«, pflegte Lilly zu antworten, Französischlehrerin und Vivians beste Freundin.
Vivian war es nicht wichtig, warum Otto Hörmann, genannt Ottomane, neue Outfits und seine früher nach hinten gegelten Haare jetzt modisch geschnitten trug. Sie freute sich einfach für ihn und über seine gute Laune. Er war für viele ein seltsamer Kauz, er schien seine Augen und Ohren überall zu haben, alles zu wissen, mischte sich in Situationen ein, die ihn nichts angingen, aber Vivian wusste, dass er ein gutes Herz hatte. Sie mochte Ottomane.
»Ein letzter Blick auf die Schönheitengalerie?«, fragte er.
Vivian wandte sich wieder den Porträts an der Wand zu. »Wer weiß, ob ich sie jemals wiedersehen werde.«
»Jetzt mal nicht so dramatisch. Wenn Sie die Schüler vermissen, dann …«
»Dann kann ich jederzeit wiederkommen. Ja, ich weiß.«
»Oder Sie laden Ihre ehemalige Elfte zu sich ein.« Er zwinkerte. »Ich wette, keiner von ihnen war je auf den Scilly-Inseln oder wird ohne Sie jemals dort hinkommen. Vielleicht ein kleines Englisch-Camp vor dem Abitur?«
Vivian lachte. »So weit geht die Liebe nicht. Aber Sie sind natürlich immer herzlich willkommen, Herr Hörmann. Allein oder … in Begleitung.«
Seine Lippen kräuselten sich leicht. »Passen Sie auf, Frau Steiner, sonst komme ich noch darauf zurück.«
»Nur nicht im Sommer, da könnte es schwierig werden mit einer Unterkunft.«
»Wann geht es los, Frau Steiner?«
»Morgen Abend.«
»Ostersonntag also schon auf der Insel.«
Vivian nickte. Sie wollte etwas sagen, aber ein dicker Kloß hatte sich urplötzlich in ihrem Hals gebildet und hinderte sie daran.
Otto Hörmann musterte sie aufmerksam. »Es gibt kaum etwas Schwierigeres als wache, wahre, kompromisslose Selbstverwirklichung, Frau Steiner«, sagte er dann leise. »Weil kaum etwas mehr Mut erfordert.«
Sie nickte stumm.
»Und eine gewisse Portion Egozentrik. Ich bin aber überzeugt davon, dass es sich lohnt«, fügte Hörmann noch leiser hinzu.
Vivian schluckte, um den Kloß zurückzudrängen, und drückte zum Abschied fest die Hand ihres Kollegen, die ebenfalls deutlich kühler war als ihre eigene.
In der kleinen Küche neben dem Lehrerzimmer platzierte sie die übrig gebliebenen Kuchenstücke auf einen Teller und stellte ihn in den Kühlschrank, dann räumte sie die Spülmaschine ein und wischte die Arbeitsfläche und den Tisch. Als sie begann, die Topfpflanzen auf dem Fensterbrett zu gießen, obwohl die Erde in den Töpfen noch feucht war, vibrierte ihr Handy.
Verlasse jetzt die Schule, Viv. JETZT. Du hast reichlich zu tun vor deiner Abreise. Das Charlotten-Gymnasium gibt es seit über hundert Jahren, es wird auch nach deiner Abreise ein Weilchen weiterexistieren. Es wird noch stehen, wenn/falls du zurückkommst, dann besteht noch genügend Gelegenheit, das Lehrerzimmer zu streichen.
Vivian straffte die Schultern und stellte die Gießkanne ab. Lilly kannte sie wirklich gut. Und sie hatte ja recht, sie musste noch so viel erledigen. Fertig packen, letzte persönliche Gegenstände in den Keller räumen, saugen, einmal durchwischen. Für ein Jahr hatte sie die Wohnung möbliert untervermietet, was danach passierte, wusste sie nicht. Oder davor, wenn sie früher zurückkehren würde.
Sie verließ die Küche, ging zu ihrem Platz im Lehrerzimmer, packte die Karte mit den Unterschriften in ihre Tasche, nahm den Blumenstrauß und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzusehen.
Er wartete bei den Fahrrädern, wie er es so oft tat. Sein Lächeln wirkte bemüht, und Vivian wusste, dass es nur ihren eigenen Gesichtsausdruck widerspiegelte. Das Fröhlichste an ihr waren im Moment die roten, gelben und violetten Tulpen in ihrem Arm.
»Alles gut?«, fragte er trotzdem.
Sie nickte. »Alles gut. Nichts wie weg hier.«
»Okay. Auf geht’s.«
Als er ihre freie Hand nahm, merkte sie, dass seine Finger so warm und feucht waren wie ihre, und sie wusste, dass dies nicht den ungewöhnlich milden Temperaturen geschuldet war.
Jonas war aufgeregt. Er war genauso aufgeregt wie sie, weil sie ihn wieder verließ, nachdem sie sich endlich gefunden hatten.
Selbstverwirklichung war nicht nur schwierig, wie Herr Hörmann gesagt hatte, sondern gelegentlich auch verdammt nervig. Mit einem leisen Fluch zerrte Vivian ihren Koffer wieder von der Waage und zog ihn an den wartenden Menschen hinter ihr vorbei und zu einer Bank. Sie hatte keine Lust, dass die anderen Reisenden ihr dabei zusahen, wie sie ihr Gepäck öffnete. Dann lieber noch einmal anstellen, wenn sie sich um die paar hundert Gramm Übergewicht gekümmert hatte, die der Mitarbeiter der Fluggesellschaft nicht zu ignorieren bereit war.
Sie hob ihre sorgfältig übereinandergeschichteten Pullover an und zog ihre Outdoorjacke heraus, packte noch zwei Paar dicke Socken in ihre Handgepäckstasche und schloss den Koffer wieder. Als sie sich aufrichtete, stieß sie mit dem Rücken gegen eine andere Person und entschuldigte sich sofort. Doch der ältere Herr mit dem leicht abstehenden silbergrauen Haar lächelte sie nur milde an und wandte sich wieder der kleinen Menschenansammlung neben ihm zu, die sich gebildet hatte, als Vivian neben ihrem Koffer gekniet hatte.
Ihr Blick glitt rasch über die Luftballons, die über den Köpfen schwebten, das Schild mit der Aufschrift Gute Reise, das in die Luft gehalten wurde, die halb leeren Sektgläser in den Händen. Vivian sah die Frau, die etwa in ihrem Alter war und gerade umarmt wurde, und wandte sich rasch ab.
Eine Mischung aus Selbstmitleid, Wut und Trotz drohte sich über ihr zu ergießen wie ein Gewitter nach einem langen, schwül-heißen Sommertag. Als sie wieder in der Warteschlange anstand, versuchte sie sich zu beruhigen: Es war ihre Entscheidung gewesen, allein zum Flughafen zu fahren. Sowohl Jonas als auch ihre Eltern und Lilly mit ihrer Familie – alle hatten unzählige Male nachgefragt, ob sie wirklich sicher sei, nicht begleitet werden zu wollen. Und Vivian war sicher gewesen. Die Abschiedsparty mit Familie und Freunden, die letzte Nacht mit Jonas, das sollten die letzten Bilder aus München sein, die sie mitnahm. Sie wollte nicht, dass ein weinendes Abschiedskomitee die Erinnerung daran trübte.
Sie sah erneut zu der blonden Frau, die sich jetzt ebenfalls in der Schlange eingereiht hatte und der winkenden Gruppe immer wieder Handküsse zuwarf. An den Griff ihres Koffers hatte sie einen pinkfarbenen Ballon gebunden, der jedes Mal fröhlich hin und her sprang, wenn sie sich ein paar Schritte nach vorne bewegte.
»Was für eine kitschige, alberne Farbe«, sagte Vivian zu sich selbst und erntete verwunderte und mitfühlende Blicke des älteren Ehepaars, das vor ihr stand.
Der Schatten des Flugzeugs glitt noch eine Weile unter ihnen mit, flog im fahlen Sonnenlicht über die dunkelgrünen und braunen Felder, über das weiße Dach einer Fabrikanlage und wieder über Felder, bis er schließlich nicht mehr zu sehen war.
Vivian wandte den Blick verstohlen nach links. Die junge Frau saß auf der anderen Seite des Mittelganges. Sie hatte den Luftballon lautstark zum Platzen gebracht, bevor sie durch das Metalldetektor-Tor geschritten war, hatte das erschlaffte Stück Rosa mittlerweile in das Netz am Vordersitz gesteckt und öffnete seit dem Start einen Umschlag nach dem anderen, lächelte und schniefte abwechselnd und wischte sich ständig über die Augen.
Vivian unterdrückte den Impuls, wieder einen Kommentar abzugeben, lehnte sich zurück und betrachtete den dunklen Haarschopf des Mannes im Sitz vor ihr. Er hatte ungefragt geholfen, ihre Tasche im Gepäckfach zu verstauen, und die Art, wie ihm eine Haarsträhne in die Stirn fiel und er sie wegstrich, hatte sie an Jonas erinnert.
Vielleicht ist das alles eine Schnapsidee, dachte sie, und als sie erneut einen irritierten Blick auffing, dieses Mal von dem Mann im Anzug neben ihr, merkte sie, dass sie es laut ausgesprochen hatte. Sie lächelte wieder entschuldigend und sah rasch aus dem Fenster. Es stimmte ja, vielleicht war es eine Schnapsidee, eine Beziehung in eine Fernbeziehung zu verwandeln, gerade als sie nach all den Turbulenzen wieder auf die Beine gekommen war. Wackelige Beine zwar, aber immerhin.
Im November vorletzten Jahres hatte alles begonnen zwischen Jonas und ihr. Langsam und tastend hatten sie sich einander angenähert, bevor Jonas wieder davongestoben war, aus Angst, verletzt zu werden. Im selben Jahr war Vivians leiblicher Vater gestorben, zu dem sie viele Jahre keine Verbindung mehr gehabt hatte. Sie war auf St. Mary’s gereist, die größte der Scilly-Inseln vor der Küste Cornwalls, um an seiner Beerdigung teilzunehmen, und dann später noch einmal, weil es in München zu diesem Zeitpunkt nichts gab, was sie hielt. Bei diesem zweiten Besuch in Südengland hatte sie erst erfahren, dass ihr Vater auf der Insel, dem Ort seiner Kindheit und Jugend, seit vielen Jahren eine erfolgreiche kleine Fotogalerie geführt hatte. Die sie, seine Tochter, nun weiterführen würde. Sie, die seit ihrer Jugend Fotografin hatte werden wollen und diesen Wunsch nur aus Angst zugunsten einer sicheren Laufbahn als Kunstlehrerin aufgegeben hatte. Es war ein Geschenk, dass sie nun auf St. Mary’s, diesem bezaubernden Fleckchen Erde, ihren Traum verwirklichen könnte.
Eigentlich.
Vivian ächzte leise.
»Alles in Ordnung bei Ihnen?« In den besorgten Blick des Anzugträgers hatte sich eine gute Portion Irritation gemischt. »Wollen Sie vielleicht etwas trinken? Wasser oder …«, er wies mit dem Kopf in die Richtung der zwei Flugbegleiterinnen, die sich im Mittelgang mit dem Service-Wagen näherten, »etwas Richtiges, Wein oder Bier?«
»Nein, danke, alles gut.«
»Wirklich? Sie wirken etwas … angegriffen?«
»Okay, vielleicht einen Rotwein«, sagte Vivian und fügte schnell hinzu: »Damit ich ein bisschen dösen kann.« Bloß jetzt nicht weiter Konversation führen müssen, dachte sie.
Sie bestellte einen Wein und trank den Plastikbecher in wenigen Schlucken leer. Dann zog sie den Reißverschluss ihres Kapuzenpullis hoch, lehnte den Kopf an die Seitenwand und sah aus dem Fenster, unter dem sich inzwischen ein Wolkenteppich in verschiedenen Grauschattierungen ausgebreitet hatte.
Am Ende der Sommerferien war sie von ihrem zweiten Besuch auf St. Mary’s zurückgekehrt, mit so vielen Eindrücken und Erinnerungen und Fragen und Überlegungen, dass sie völlig geistesabwesend durch den Ankunftsbereich gestapft war und Jonas gar nicht bemerkt hatte, der dort auf sie wartete, verlegen die Haarsträhne aus der Stirn schob und Vivians Kopf noch mehr zum Schwirren brachte.
Jonas Berger, siebenunddreißig Jahre alt, einmal geschieden, aber dadurch dutzendfach verletzt, unterrichtete Deutsch und Sport, was ihn laut Lilly schon per se zu einer unfassbar guten Partie machte, denn nur wenige Männer hätten »Schiller im Kopf und ein Sixpack auf dem Bauch«. Aber das waren nicht die Gründe, warum Vivian sich im Jahr davor in ihn verliebt hatte. Zumindest nicht die einzigen.
Während sie noch überlegte, ob wohl ihre Mutter ihm ihre Flugdaten mitgeteilt hatte, war Jonas schon auf sie zugegangen und hatte sie wortlos umarmt und festgehalten. Minutenlang, was Vivian Zeit gegeben hatte, sich zu überlegen, wie sie es ihm erklären sollte. Warum sie seine Frage verneint hatte, die er ihr wenige Wochen zuvor gestellt hatte. Er hatte gefragt, ob er zu ihr auf die Insel kommen sollte, weil er nun doch sicher sei, dass er sie liebe.
Sie hatte nein gesagt. Nicht, weil sie überzeugt gewesen war, ihn nicht zu lieben, aber weil sie die Zeit gebraucht hatte, um über alles nachzudenken, was in den Monaten davor passiert war. Und was in den kommenden Monaten alles passieren, wie sie ihr kommendes Leben gestalten könnte.
Es gibt nichts Schwierigeres als Selbstverwirklichung.
»Noch einen Schluck?«, hörte sie den Mann neben sich fragen und wandte ihm langsam den Kopf zu. Als sie sah, dass er dieses Mal gar nicht sie, sondern die junge Frau mit den Karten und den Umschlägen und dem verschrumpelten Luftballon meinte, war sie fast enttäuscht. Vielleicht würde es ihr gut tun, mit jemandem zu plaudern, anstatt zu grübeln. Aber sie konnte den Mann verstehen. Die Frau wirkte glücklich, obwohl sie weinte, sie war offen und hielt ihm strahlend ihren leeren Pappbecher hin. Sie dagegen hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen und vermutlich einen Gesichtsausdruck, der einen sofort in schlechte Stimmung versetzte.
In der Ferne sauste ein anderes Flugzeug in entgegengesetzter Richtung über den Wolkenteppich. Vivian stellte sich vor, dass sie darin saß, zurück nach München flog, dass alle Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden in umgekehrter Reihenfolge noch einmal stattfanden und der Tag nicht mit dem Zubettgehen auf St. Mary’s in Cornwall enden würde, sondern mit Jonas, der sie sanft aus dem Schlaf küsste und sagte: »Wach auf, Vivi. Ab heute ändert sich alles, aber das Wichtigste nicht. Dass ich dich liebe.«
Vivian hatte seit Stunden nichts Ordentliches gegessen und spürte, wie der Alkohol rasch seine Wirkung entfaltete, sie beruhigte und schläfrig machte. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich auf die Erinnerung an die letzte Nacht, schlief schließlich ein und wachte erst wieder auf, als die Reifen des Flugzeugs hart auf der Landebahn aufsetzten und kurz danach eine knackende Stimme sie in London Heathrow willkommen hieß.
Vivian gähnte und streckte sich und strich im Geiste einen der vielen Reiseabschnitte, die sie von München nach St. Mary’s brachten. Vor ihr lagen noch die Fahrt zum Bahnhof Paddington, die Zugfahrt nach Penzance, wo sie eine Nacht in einem Bed & Breakfast verbringen würde, um am nächsten Morgen mit der ersten Fähre des Tages nach St. Mary’s überzusetzen, die größte der Scilly-Inseln, die etwa fünfundvierzig Kilometer vom englischen Festland entfernt im Atlantischen Ozean liegen.
»Das sind die Aufträge für die nächsten …?« Vivian schob die Liste ein wenig von sich weg und sah Mabel mit hochgezogenen Augenbrauen an. Monate?, dachte sie und spürte, wie Nervosität in ihr hochstieg. Das nächste halbe Jahr? Das würde finanziell nie im Leben reichen.
Mabel lächelte milde und schob ihre Lesebrille in das kurze graue Haar. Ihr genaues Alter kannte Vivian nicht, aber sie war eine gute Freundin von Violet Hunter gewesen, Vivians Großmutter väterlicherseits, also war sie vermutlich Anfang siebzig. Mabel Mallory, unverheiratet und kinderlos, war eigentlich Krankenschwester, arbeitete aber schon Jahrzehnte nicht mehr in ihrem Beruf und war seit ihrer Eröffnung fester Bestandteil der Galerie View Point: John Hunter hatte ihr eine Art Theke zimmern lassen, hinter der sie den Besuchern Kuchen, Scones, Croissants und vieles mehr anbot, alles selbst gebacken. Die Anzahl der Öffnungstage der Galerie und der Anwesenheitstage von Mabel war deckungsgleich, sie war nicht einmal krank gewesen, sie liebte ihren »Job«, wie sie es nannte, und war dankbar für das Zubrot, das er ihr einbrachte.
»Das sind nicht die Aufträge für das nächste halbe Jahr, Liebes«, sagte sie jetzt. »Das sind die Aufträge für die nächsten drei Wochen.«
»Aber …«
»Drei Hochzeiten, dazu eine Gruppe älterer Damen, die unbedingt hochwertige Fotos von ihrer Wandertour will, und eben dieser Hobbyfotograf, der hier mit professioneller Begleitung die Insel fotografieren will.«
»Ich dachte nur, es handelt sich um einen längeren Zeitraum. Weil Frühling/Sommer über der Liste steht.«
»Naja«, sagte Mabel achselzuckend, »Winter haben wir nicht mehr. Auch wenn man das noch denken könnte.«
Vivian sah nach draußen, wo sich Himmel und Meer im grauen Partnerlook präsentierten. Es war so trüb, dass North Hill und South Hill, die beiden Hügel auf der gegenüberliegenden Insel Samson, nicht einmal zu erahnen waren. Wenn das Wetter schön war, strömte ab frühem Nachmittag warmes Licht durch das Panoramafenster in den Galerieraum und ließ die Bilder an den Wänden strahlen. Heute aber war es düster im Erdgeschoss des kleinen Steinhauses oberhalb von Porthmellon Beach. Vivian schien es fast, als drücke das Wetter auch den Menschen auf den Fotos aufs Gemüt. War das Grinsen von Jack Hunter, das seine schiefen Zähne präsentierte, nicht noch viel breiter, wenn die Sonne schien? No Man is an Island war der Name der aktuellen Ausstellung, für die Vivian während ihres letzten Besuchs innerhalb einer Woche zwei Dutzend »Ureinwohner« von St. Mary’s abgelichtet hatte. Die Abgelichteten hatten die Texte zu ihren Porträts selbst geliefert, hatten über Heimat, Wurzeln, Fernweh geschrieben, über Familie, Freundschaft und Zusammenhalt auf einer knapp vier Kilometer langen und drei Kilometer breiten Insel im Atlantischen Ozean.
»Auch noch einen Cappuccino?«, fragte Mabel.
»Ja, gerne. Ich zahl auch dafür.«
»Untersteh dich.«
Vivian lachte, aber es war nur halb im Scherz gemeint. Letzte Nacht hatte sie überschlagen, wie viele Tassen Kaffee sie verkaufen mussten, um die Kosten für die neu angeschaffte Maschine wieder hereinzubekommen. Die Zahl hatte dafür gesorgt, dass sie erst Stunden später einschlafen konnte. No Man is an Island würde noch über den Sommer laufen, aber sie verlangten, wie es seit Öffnung der Galerie üblich war, keinen Eintritt und waren somit auf den Kuchen- und Heißgetränkekonsum der Gäste, den Verkauf von Postkarten, Postern und gerahmten Bildern und natürlich die Hochzeiten und andere Gelegenheiten angewiesen, zu denen sich Menschen fotografieren lassen wollten.
»Es wird schon alles gut werden, Vivi.« Von der Tasse, die Mabel neben sie auf den Tisch stellte, troff der Milchschaum.
»Es muss«, seufzte Vivian und wandte sich wieder der Liste zu. »Dieser Hobbyfotograf mit seiner professionellen Begleitung … Was steht da noch, AA? Ist er … bei den Anonymen Alkoholikern? Und das Wort dahinter … Ich kann deine Schrift so schlecht lesen … Zo-ne-n-was?«
»Zonensystem«, sagte Mabel und schob die Lesebrille wieder auf ihre Nase. »Nach Ansel Adams.«
»Oh wow … Es will … Da kommt ein Hobbyfotograf auf St. Mary’s, um mit mir nach dem Zonensystem von Ansel Adams fotografieren?«
»Ich habe ihn gefragt, ob ihn das interessieren würde.«
»Aber …«
»Er ist hier demnächst zu Besuch, fotografiert gern, ist auf die Seite der Galerie gestoßen, aber nicht schlau aus unserem Angebot geworden. Da habe ich das Zonensystem erwähnt.«
»Kannte er das?«
»Nein.«
»Weiß er, dass er dafür analog fotografieren, Schwarzweißfilme mitbringen und sie dann in einer Dunkelkammer entwickeln muss?
»Das habe ich ihm natürlich gesagt.«
»Und woher …«
»Woher ich das alles weiß? Nun, Vivi, ich habe lange genug mit deinem Vater zusammengearbeitet.«
»Das Zonensystem ist natürlich …«
»Nicht mehr ganz aktuell, ich weiß, aber kennst du es?«
»Ja, wir haben im Studium … Aber ich müsste mich schon noch einmal einarbeiten.«
»Mach das, er zahlt dreihundert Pfund für den halben Tag.«
Vivian ließ die Kaffeetasse auf halbem Weg wieder sinken. »Oh wow, Mabel, das ist …«
»Nicht schlecht, oder?« Mabel legte Vivian eine Hand auf die Schultern. »Vivi, so schnell lassen wir uns doch nicht unterkriegen. Wir sind ein Spitzenteam.«
»Apropos Spitzenteam«, sagte Vivian. »Wo bleibt eigentlich Paddy? Er wollte doch auch um elf hier sein.«
»Sein Auto steht schon lange vor dem Haus.«
»Hä? Wieso kommt er denn nicht rein?«
Mabel zuckte mit den Achseln. »Wartet vermutlich wieder auf Antworten seiner Holden. Neuerdings ist er bei so einer … Institution, bei der nur die Frauen entscheiden, ob man sich wiedersieht.«
»Davon hab ich gehört. Bimble,Bomble … wie hieß es gleich?«
»Das darfst du mich nicht fragen, Vivian, von solchen Dingen habe ich keine Ahnung. Ich habe meinen Verlobten damals bei einem Tanztee kennengelernt.«
»Und es hat trotzdem nicht so unfassbar gut geklappt danach«, sagte eine Stimme aus Richtung der Tür.
Vivian sah alarmiert zu Mabel, aber die warf Paddy nur lächelnd einen Luftkuss zu. Sie selbst würde sich niemals trauen, einen Scherz über Mabels Hochzeit zu machen, die einen Tag vor der Feier abgesagt werden musste, aus Gründen, die Vivian nicht kannte und nach denen sie auch nicht fragen würde. Auch wenn das alles Jahrzehnte zurücklag. Jahrzehnte, in denen Mabel nie mehr einem Mann ihr Herz geschenkt hatte, das wusste sie von Paddy.
Sie betrachtete die beiden, die sich bei jedem Treffen umarmten, als hätten sie sich wochenlang nicht gesehen. Es gab eine so tiefe Übereinstimmung zwischen Mabel und Paddy, dass Vivian überzeugt war, dass sie das Paar des Jahrtausends bilden würden, wenn nicht mehrere Jahrzehnte sie voneinander trennen würden.
»Hmm, hast du abgenommen, Mabel?«, murmelte Paddy. Er drückte die deutlich kleinere Frau fest an sich und legte sein Kinn auf ihren Scheitel. »Sonst spüre ich deine üppigen Formen immer viel deutlicher.«
Mabel kicherte nur. Vivian spürte, wie eine große Freude sie durchströmte.
Paddy Mitchell. Sechsunddreißig, Insel-Urgestein, seine Familie lebte seit Generationen hier. Er war Pilot bei der kleinen Airline, die Touristen von Penzance, Newquay und Exeter zum Flughafen auf St. Mary’s und wieder zurück flog. Aber Paddy war viel mehr als das. Er hatte einen Angelschein und fischte leidenschaftlich gerne, er konnte so gut wie alles reparieren und er betätigte sich auf Anfrage auch als Schreiner. Die Theke, hinter der Mabel ihre Köstlichkeiten verkaufte, hatte der blutjunge Paddy gezimmert, der seitdem, trotz des Altersunterschiedes von fast zwanzig Jahren, sehr gut mit Vivians Vater John Hunter befreundet gewesen war. Vor allem aber war Paddy mit dem Suchen und Finden der Liebe beschäftigt, die er vor einigen Jahren verloren und nun wiederfinden wollte, mit vollem Einsatz auf sämtlichen Datingplattformen, die das Königreich England zu bieten hatte.
»Hi, Charmebolzen«, sagte Vivian. Sie stand auf und ging mit ausgestreckten Armen auf die beiden zu. »Darf ich auch noch meinen Busen dazudrücken?«
»Klar, Fräulein, komm nur her.« Eine rotblonde Haarsträhne fiel Paddy in die Stirn und er pustete sie energisch weg. Seine blauen Augen blitzen, zwinkerten ihr zu. An Paddy war immer alles wie elektrisch aufgeladen, er war, wie Mabel sagte, die »einzige Naturkatastrophe, die Positives bewirkt«. Trübe Gedanken schwemmte er mit mitreißender Zuversicht davon, Zweifel blies er mit orkanartigem Optimismus so weit weg, dass sie keine Rolle mehr spielten.
Vivian legte ihre Stirn an Paddys Schlüsselbein, roch das Meer an seinem T-Shirt und den Duft nach Lavendel, Zitronen und Kaffee, der von Mabel ausging.
»Spitzenteam«, sagte Mabel erneut, und Paddys Arm verstärkte seinen Druck auf Vivians Rücken.
»Wollen wir es ihr sagen?«, murmelte er.
»Was?«, fragte Vivian, ohne ihre Haltung zu verändern. »Dass du dir eine junge, schöne, kinderlose, reiche Witwe angebimbelt hast, die bald in deine Hütte zieht und ihr Erbe in unsere Galerie steckt?«
Mabel kicherte erneut.
»Mmm«, machte Paddy, »Jung, schön, kinderlos bist du doch schon, Viv, da muss ich mir nichts anderes mehr suchen.«
Mabel prustete leise.
»Und Erbin bist du auch.« Er richtete sich abrupt auf und nahm Vivians Hand. »Komm mit, Viv. Mabel und ich müssen dir etwas zeigen.«
Der Wind hatte aufgefrischt, die Azaleenbüsche vor dem Haus wiegten sich ruckartig hin und her. Die dichte Wolkendecke war an einigen Stellen aufgerissen und gab den Blick auf einen opalblauen Himmel frei, der sich laut Wetterbericht in den nächsten Tagen wieder in seiner ganzen Pracht zeigen sollte.
»Wo gehst du hin?«, rief Vivian Paddy nach, doch statt einer Antwort gab er ihr lediglich mit einem Handzeichen zu verstehen, ihm zu folgen. Er ging ein paar Meter auf dem Weg, der zum Haus führte, und wandte sich dann um. »Kommt schon«, rief er. »Bevor es wieder zu regnen anfängt.«
»Geh ruhig allein, Vivian«, sagte Mabel und zog ihren Cardigan fester um sich. »Ich müsste mir andere Schuhe anziehen, das dauert zu lange.«
Paddys Grinsen wurde mit jedem Schritt breiter, den Vivian auf ihn zukam. Als sie nahe genug bei ihm war, fasst er sie an der Hüfte und zog sie zu sich, doch bevor sie sich an der Taille berührten, drehte er sie schwungvoll herum, sodass Vivian wieder in Richtung Haus sah.
»Paddy, es muss nicht immer alles so dynamisch geschehen, ich kann mich auch selbst …«
»Nicht reden, Viv, schauen!«
»Ich schaue ja. Habt ihr den Efeu am Haus geschnitten, es sieht so …«
»Direkt hier, Viv! Bei den Büschen.«
»Habt ihr neue … Oh.« Vivian verstummte. Nur der Wind war einen Moment zu hören, der das Gras, die Ginsterbüsche und das Heidekraut streichelte.
Vivian hatte das weiße Holzschild zum ersten Mal während ihres zweiten Besuchs gesehen. Als Mabel ihr die Galerie gezeigt hatte. View Point hatte schlicht darauf gestanden, im gleichen Türkis, in dem auch Fensterrahmen, Tür und Dachrinne des Hauses gestrichen waren. Jemand hatte die Buchstaben mit frischer Farbe nachgezogen und einige Worte ergänzt. View Point stand noch immer auf dem Schild. Und darunter: Founded by John Hunter, now run by his daughter Vivian Steiner.
Vivian schluckte und fuhr sich über die Augen.
»Nur der Wind …«, sagte sie rasch, als Paddy ihr ein Taschentuch reichte, dann nahm sie es doch und schnäuzte so laut, dass sie beide lachen mussten.
»Gefällt es dir, Viv?«
Sie nickte, umarmte ihn rasch und warf Mabel, die von der Tür aus winkte, eine Kusshand zu.
Es wird schon alles gut werden, hatte Mabel gesagt, und in diesem Moment war auch Vivian zum ersten Mal hundertprozentig davon überzeugt, dass sie recht hatte. Sie würde View Point, die Galerie ihres verstorbenen leiblichen Vaters John Hunter, in seinem Sinne weiterführen.
Wie bei ihren vorangegangenen Besuchen zog Vivian wieder in Mabels Haus in der Straße namens Sally Port, hinter der sich die Mauern der ehemaligen Festung von Hugh Town, der Inselhauptstadt, erhoben. Solange sie noch kein eigenes Heim hatte, ein kleines Cottage vielleicht, in dem auch Jonas Platz finden würde, wenn er da war, würde sie hier bleiben, in dem gemütlichen Zimmer im ersten Stock.
Jeden Morgen nach dem Aufstehen lehnte sich Vivian aus dem Fenster, sah über die Dächer Hugh Towns und über die unzähligen Schornsteine, die hier deutlich weniger eingesetzt wurden als in vielen Teilen Englands, denn der Golfstrom sorgte ganzjährig für mildes Klima auf den Scilly-Inseln.
Wenn Vivian den Kopf nach rechts wandte, sah sie Porthcressa Beach, dahinter das Meer und den Himmel, die an manchen Tagen so nahtlos ineinander übergingen, dass Vivian nicht wusste, wo das Wasser endete und die Luft begann. Links waren der Hafen von Hugh Town und die vielen Segel-, Ruder- und Fischerboote zu sehen, ein farbenfrohes Durcheinander, das beschwingt auf den Wellen schaukelte.
Hatte Vivian sich versichert, dass der Anblick über Nacht unverändert geblieben war, dass es hier wirklich immer noch genauso schön aussah wie am Vortag, stieg sie unter die Dusche. Wenn sie nach unten kam, war das Erdgeschoss erfüllt vom Duft nach Kaffee und frischem Kuchen, die Mabel an jedem Öffnungstag der Galerie buk. Sie frühstückten zusammen, oft Rühreier mit Tomaten, Eggs Benedict oder Porridge mit Beeren, besprachen bei mehreren Tassen Cappuccino die Aufgaben des Tages, während Mabels Katzen Marks und Spencer um ihre Beine strichen.
Wenn Vivian später auf die ersten Wochen zurückblickte, konnte sie nicht umhin, als diese als perfekt zu bezeichnen. Sie hatte kein Wochenende frei und arbeitete an keinem Tag weniger als zehn Stunden, aber sie hatte sich nie wohler gefühlt, auch wenn es Hochzeiten waren, die sie fotografierte, und keine Reportagen von Getreide anbauenden Grönländern oder Kamelmilch melkenden Beduinen im Wadi Rum. Aber man konnte auch Hochzeiten ausgefallen, ohne Kitsch fotografieren und dennoch die Romantik und Freude dieses Tages einfangen und das Glück, das in diesen wenigen Stunden so verschwenderisch von allen Seiten stob wie Konfetti an Karneval.
Paddy gab bei allen drei Hochzeiten, die Vivian in den ersten Wochen fotografierte, einen tadellosen Assistenten. Anders als bei ihrem ersten gemeinsamen Einsatz im vergangenen Jahr verlor er nicht nach kurzer Zeit das Interesse an ihrem eigentlichen Auftrag, fokussierte sich nicht mehr auf hübsche, junge, weibliche Gäste, sondern ausschließlich darauf, dass Vivian stets das richtige Objektiv zum richtigen Zeitpunkt in der Hand hatte und bei Gruppenbildern alle im selben Moment auf seinen erhobenen Zeigefinger blickten.