Alles auf Anfang, alles auf Glück - Anne Lux - E-Book

Alles auf Anfang, alles auf Glück E-Book

Anne Lux

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Beschreibung

+++ Die Fortsetzung des Erfolgsromans „Mitten im Sommer, mitten ins Herz"! +++ Kein Job, keine Wohnung, kein Geld ˗ und mit über dreißig wieder im Kinderzimmer bei den Eltern: Das Leben von Stefanie steckt nach einer mehrmonatigen Auszeit in Australien in der Sackgasse. Da trifft sie ihre Schulfreundin Lola wieder, die sich ebenfalls in einer Sinnkrise befindet. Für einen Neubeginn ziehen sie überstürzt nach München, aber ihre Vergangenheit holt sie schnell ein: Eines Tages steht Surflehrer Gylfi vor der Tür, mit dem Stefanie in Australien nicht nur beim Wellenreiten auf Tuchfühlung gegangen ist. Und auch Rolo, für den sie im letzten Sommer ihren Freund Peter verlassen hat, steht wieder auf der Matte. Die Jobsuche ist frustrierend, das Konto leert sich rasend schnell, Lolas verschmähter Ehemann macht Ärger und ihre illegale WG droht permanent aufzufliegen. Als das Chaos zu groß wird, schlägt Gylfi den beiden jungen Frauen eine Reise in seine isländische Heimat vor. Die Zeit auf der Insel aus Feuer und Eis wird für alle drei zu einem entscheidenden Wendepunkt …

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Epilog

Weitere Titel von Anne Lux

Über die Autorin

Anne Lux

Alles auf Anfang,

alles auf Glück

Roman

November 2016

© 2016 by Anne Lux, München

Impressum

Anne Lux

Franziskanerstraße 43

81669 München

Umschlaggestaltung:

Michaela Huml, büro aha!, München

Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder Reproduktion (auch auszugsweise) in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder anderes Verfahren) sowie die Einspeicherung, Verarbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung mithilfe elektronischer Systeme jeglicher Art, gesamt oder auszugsweise, ist ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Autorin untersagt. Alle Übersetzungsrechte vorbehalten. Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die bisherigen Romane von Anne Lux in chronologischer Reihenfolge:

Liebestrilogie

Mitten im Sommer, mitten ins Herz (Bd. 1)

Alles auf Anfang, alles auf Glück (Bd. 2)

Sehnsucht nach Insel & Mehr (Bd. 3)

Cornwall-Trilogie

Tausche Alltag gegen Insel (Bd. 1)

Tausche Alltag gegen Glück (Bd. 2)

Tausche Alltag gegen Horizont (Bd. 3)

Island-Roman

Glück ist wie das Meer (Roman)

Sammelbände

Alles auf Liebe (Liebestrilogie Bd. 1–3)

Tausche Alltag gegen Cornwall (Cornwall 1 und 2)

Über das Buch

Der Traum vom eigenen Café, der zu platzen droht. Eine Beziehung, die nicht ideal läuft. Eine Stieftochter, die engagiert pubertiert, und eine Schwiegermutter, die spontan einzieht. Zwei Jahre nach dem turbulentesten Sommer ihres Lebens steht Stefanie erneut vor großen Herausforderungen! Um den Anstrengungen für eine Weile zu entfliehen, entscheidet sie sich für einen Kurzurlaub in Island – die wunderschöne, raue Insel aus Feuer und Eis hat schließlich schon einmal zu einem Happy End für sie beigetragen. Doch dieses Mal kochen nicht nur die Emotionen hoch. Ein Vulkanausbruch sorgt für Chaos und hat Folgen, die Stefanie und alle anderen Reiseteilnehmer noch eine ganze Weile beschäftigten …

Kapitel 1

Als die Reifen des Flugzeugs aufsetzten, war Stefanie Mertens quasi taub. Dieser Umstand hätte, wenn es nach ihr gegangen wäre, gerne schon ein paar Stunden früher eintreten können, aber ihre Ohren hatten erst beim Landeanflug zu knacken und zu schmerzen begonnen und schließlich die Geräusche um sie herum gedämpft. Zuvor hatte sie seit dem Start in Abu Dhabi unfreiwillig den angeregten Gesprächen einer fünfköpfigen, rein männlichen australischen Reisegruppe lauschen müssen, deren Mitglieder neben und vor ihr saßen. Ohrenstöpsel und Kopfhörer, selbst gleichzeitig eingesetzt, waren nicht in der Lage, die Lautstärke der Unterhaltungen wesentlich zu mildern.

Stefanie streckte ihr linkes Bein in den Flur, bewegte leicht den Kopf hin und her und warf dann über ihre zwei Nachbarn hinweg einen vorsichtigen Blick aus dem Fenster.

Der Himmel sattblau, kleine Wolken wie Wattebäuschchen darauf verteilt.

München.

Sie war wieder hier. Nach über neun Monaten.

„Bitte bleiben Sie noch angeschnallt, bis wir unsere endgültige Parkposition eingenommen haben.“

Sofort klickten neben und vor ihr gleichzeitig die Sicherheitsgurte. Sie spürte den eindringlichen Blick des Mannes neben ihr, beschloss aber, ihn zu ignorieren. Erst als sich ein Finger sanft in ihren Oberarm bohrte, wandte sie den Kopf.

„Would you mind letting me out so I can catch my suitcase?“

Stefanie seufzte innerlich, erhob sich aber. Es war nicht die Zeit, andere Leute darüber zu belehren, dass das Flugzeug seine Türen keine Minute eher öffnen würde, wenn sie sofort aufsprangen wie von der australischen Tarantel gestochen.

Sie stand eine Viertelstunde zwischen einem Schulterpaar mit beeindruckendem Sonnenbrand und einem korallrot geschminkten Mund, der beständig in ein Handy sprach und Stefanie dabei föhnwarme Luft in den Nacken blies. Was die Dame sagte, verstand sie nicht, ihre Ohren waren immer noch fast zu. Sie suchte kurz ihr eigenes Handy in der Tasche, ließ es dann aber sein. Das Gerät hatte sie in den ersten Wochen in Australien noch öfter angehabt, mit der Zeit jedoch immer weniger, am Ende gar nicht mehr.

Das Lächeln der Flugbegleiterin wirkte wie eingefroren, dennoch verlangsamte Stefanie ihren Schritt, als sie an ihr vorbeikam. Sie sah die geöffnete Tür und die Passagierbrücke, an deren Ende die Vergangenheit wartete, die sie hatte hinter sich lassen wollen. Zumindest für neun Monate. Und jetzt zumindest noch ein bisschen, ein paar Momente, ein paar Sekunden …

„Thank you for the … the nice flight … it was really …“

„Excuse me, please.“ Die Korallenmundfrau drängte sich an ihr vorbei.

„No need to push“, murmelte Stefanie und sah noch einmal rasch auf die Flugbegleiterin, die sich längst von ihr abgewandt hatte.

Der Gang durch die Brücke, eine Rolltreppe hinauf, fünfzig Meter gehen, eine Rolltreppe hinunter. Vor der automatischen Drehtür traf Stefanie wieder auf die Korallenfrau, die mit der Hand heftig gegen das Glas trommelte und zischende Laute ausstieß.

„It says Don’t push“, sagte Stefanie und wies auf das Schild. „It stopped because you pushed the door.“

Die Frau bedachte sie mit einem eisigen Blick und kräuselte die roten Lippen.

Die Schlange vor der Passkontrolle, der Schmerz in den Ohren, die Erschöpfung, die sich allmählich bemerkbar machte, der lange, misstrauische Blick des Beamten, dessen Augen immer wieder zwischen ihr und dem biometrischen Passbild hin- und her wanderten.

„I am more tanned now but still the same“, sagte Stefanie und hörte ihre eigene Stimme nur gedämpft.

„Und augenscheinlich geistig noch woanders“, sagte der Polizist und reichte ihr das Dokument.

Leider nur geistig, dachte Stefanie.

„Hier können’S deutsch reden.“

Depp, dachte Stefanie.

Warten, bis das Gepäckförderband zu ruckeln begann, immer wieder gähnen, um die Ohren freizubekommen, den riesigen Rucksack vom Förderband zerren und auf den Rücken wuchten, vorbei am Zollbeamten und seinem Schäferhund und jeden Blickkontakt vermeiden, weil Backpacker bevorzugt herausgezogen wurden, durch die automatische Schiebtür nach draußen gehen und das Niemandsland zwischen Rollfeld und Ankunftsbereich endgültig hinter sich lassen.

Stefanie sah sich unter den Wartenden um. Vanessa war nicht zu sehen. Stefanie verspürte leichte Enttäuschung. Sie hatte nicht erwartet, dass ihre beste Freundin sie mit Schild und Blumen empfangen würde, aber … hm … doch … genau das hatte sie erwartet. Sie setzte den Rucksack ab und holte ihr Handy aus der Tasche. Vielleicht war Vanessa im Berufsverkehr stecken geblieben. Und noch unterwegs. Mit Schild und Blumen.

Das Telefon vibrierte.

Steff! Es tut mir so leid, aber ich kann nicht kommen. Notfall sozusagen. Kai hat sich das Handgelenk verstaucht und musste in die Notaufnahme und ich musste natürlich mit. Hüpf ihn ein Taxi und komm so schnell wie möglich, wir freuen uns riiiiiesiiig! LG, Vanessa

Stefanie runzelte die Stirn und durchforstete ihr Gehirn nach dem Namen Kai. Hatte Vanessa von ihm geschrieben? Vielleicht. Aber da waren auch ein Stefan gewesen und ein Sebastian. Für die mehrwöchige Dauer eines Deutschkurses sogar ein François.

Wir freuen uns riiiiiesiiig.

Wir.

Stefanie seufzte. Als sie den Rucksack wieder hochheben wollte, versagte ihr Arm den Dienst. Einen Moment war ihr schwarz vor Augen, Schweiß trat ihr auf die Stirn und sie musste kurz in die Hocke gehen. Okay. Die Sache war entschieden. Sie würde wirklich ein Taxi und nicht die S-Bahn nehmen, auch wenn sich Letztere viel besser mit ihrem desolaten Kontostand vertragen würde.

„Und Sie nehmen wirklich keine EC-Karte?“, fragte Stefanie und schielte auf den Taxometer. Sie hatte vor ihrer Abreise ihre restlichen Euro wieder hervorgekramt, aber richtig viele waren es nicht gewesen.

Der Fahrer wandte ihr sein hageres Gesicht zu. „Wie viel haben Sie denn dabei?“

„Um die fünfzig Euro.“

Er wiegte den Kopf hin und her. „Wird knapp.“

„Fahren Sie mich einfach so nah an den Gärtnerplatz, wie es eben geht.“ Stefanie lehnte sich in dem Sitz zurück, schloss die Augen und seufzte. Es war angenehm kühl im Auto und sie freute sich auf eine Dusche bei Vanessa.

„Lange Reise gehabt?“

„Kann man so sagen. Australien.“

„Urlaub?“

„Jein. Auszeit. Ein paar Monate.“

„Studieren Sie noch?“

Stefanie öffnete ein Auge. „Sie sind ein Charmeur.“

Der Fahrer lachte.

„Ich arbeite schon einige Jahre“, sagte Stefanie und sah nach draußen. Rapsfelder, wogender Weizen, Bäume, die im Licht des Nachmittags lange Schatten warfen.

„Und das erlaubt der Chef, dass Sie so lange wegbleiben?“

Stefanie schwieg. Erinnerungsfetzen stiegen in ihr hoch. Retos ungläubiger Blick, als sie ihm mitteilte, fristlos kündigen zu wollen, seine schrille Stimme, als er ihr nachschrie, sie brauche sich hier nicht mehr blicken lassen. Wie sie es irgendwie schaffte, mit erhobenem Haupt aus der Agentur zu kommen, die erschrockenen Gesichter ihrer Eltern, als sie ihnen davon erzählte, das Wort „Hartz 4“, das ihr Vater irgendwann fallen ließ.

„Ach, das geht heutzutage alles“, sagte sie leichthin.

„Sabbatical und so, nicht wahr? Wird ’ne Umstellung sein, wieder einzusteigen, oder?“

Stefanie schwieg erneut. Sie war keine zwei Stunden zurück und wurde mit Themen konfrontiert, die sie davor monatelang erfolgreich ausgeblendet hatte. Als ihr Handy brummte, griff sie dankbar danach.

„Ja? Vanessa?“

„Sie ist es! Hey, ich freu mich so! Wo bist du?“

Als sie Vanessas Stimme hörte, stiegen ihr fast die Tränen in die Augen.

„Im Taxi. Auf der Autobahn. Ich bin in einer … guten halben Stunde da?“ Sie sah den Fahrer an, der bestätigend nickte.

„Super. Ich hoffe, du hast Hunger. Kai hat zwei seiner Spezialitäten gemacht, es gibt …“

„Vanessa?“

„… erst Gazpacho und dann eine leckere …“

„Vanessa?“

„… Gemüselasagne. Ja?“

„Wer ist Kai?“

Einen Moment war es still in der Leitung. „Hatte ich dir das nicht geschrieben?“

„Doch, ich glaube schon … ja. Aber warum … warum kocht er bei dir?“

Vanessa lachte auf und es hörte sich eine Spur gereizt an. „Wieso soll mein Freund nicht bei mir kochen?“

Weil du zwei Dinge hasst wie die Pest, dachte Stefanie. Wenn Männer bei dir übernachten und wenn sie typische Pärchenaktivitäten mit dir zelebrieren wollen. Kochen zum Beispiel.

„Okay“, sagte sie. „Toll. Wie gesagt, ich bin in etwa dreißig Minuten da.“

„Prima“, sagte Vanessa. „Wir können morgen ja überlegen, ob wir brunchen oder …“

„Übernachtet Kai auch bei dir?“, fragte Stefanie eine Spur zu hastig.

Wieder kurz Stille in der Leitung. „Ja, klar. Er kann mit seinem Handgelenk ja nicht Autofahren.“

Aber kochen, dachte Stefanie, sagte aber nichts.

„Alles klar, bis gleich, ich freu mich!“

„Ich mich auch, Steff. Bis gleich.“

Stefanie legte auf. „Ich fass es nicht“, murmelte sie.

„Alles gut?“

Sie sah erschrocken auf. „Wie bitte?“

„Was fassen Sie nicht?“ Der Taxifahrer sah konzentriert nach vorne.

„Sie sind charmant und neugierig.“

Er zuckte mit den Schultern.

Stefanie atmete tief durch. „Es ist kompliziert. Vanessa war immer … wie soll ich das sagen … immer sehr auf der Suche, was Männer angeht. Und jetzt“, sie sah auf das Handy in ihrer Hand, „jetzt kocht sie. Mit Kai.“

„Hardcore.“

„Und ich war immer in langen Beziehungen und bin jetzt Single. Während sie Männer betüddelt.“

„Statt Sie zu betüddeln.“

„Na, zumindest heute. Nach neun Monaten zum ersten Mal!“

„Pervers.“

„Aber echt.“

„Unanständig.“

„Sie machen sich lustig.“

„Fahre ich Sie jetzt eigentlich zu dieser treulosen Tomate?“

„Das ist die Frage“, murmelte Stefanie. „Meine Lust, mit Kai kalte Gemüsesuppe zu schlürfen, hält sich in Grenzen.“ Sie überlegte. „Warten Sie kurz, ich rufe noch bei Sandra und Martin an.“

„Wenn es genehm ist, warte ich nicht, sondern fahre hier auf der rechten Spur gleichmäßig weiter. Wo wohnen Sandra und Martin?“

„Aubing“, sagte Stefanie und ignorierte seine hochgezogenen Augenbrauen. Sie lauschte dem Klingeln und hoffte plötzlich doch, dass keiner rangehen würde. Was sollte sie Sandra und Martin sagen? Huhu, ich bin’s. Ich weiß, ich habe mich seit Monaten kaum gemeldet, aber könnte ich trotzdem spontan bei euch unterkommen, bis ich Wohnung und Job und mein Leben wieder im Griff habe?

Sie atmete erleichtert auf, als der Anrufbeantworter anging und ihr verriet: „Sie sind verbunden mit dem Lebensmittelpunkt von Sandra, Martin und Leonie.“ Wie auf Kommando quäkte kurz ein Kleinkind im Hintergrund. „Bis zum 15. Juli sind wir auf Reisen, danach wieder hier zu erreichen.“

Stefanie legte schnell auf. „Nicht da. Noch einen ganzen Monat.“

„Dann doch Gärtnerplatz?“

„Nein“, sie schüttelte energisch den Kopf. „Neubiberg.“ Sie schrieb eine SMS an Vanessa und schaltete dann ihr Handy aus.

Der Taxifahrer scherte aus, um einen Lkw zu überholen. „Das wird dann aber richtig teuer“, sagte er.

„An der Hauptstraße in Neubiberg gibt es einen Bankautomat. Da halten wir kurz.“

Es war ein Notfallplan, aber er erschien ihr im Moment als erlösende Alternative zum Pärchenabend mit Vanessa und Kai. Ihre Eltern waren im jährlichen Kroatienurlaub, aber sie hatte einen Hausschlüssel. Sie könnte noch über eine Woche allein sein, in Ruhe die Fühler nach Freunden ausstrecken, sich langsam Gedanken machen über die Zukunft. Sie roch unauffällig an ihrer linken Achsel. Und in aller Ruhe duschen.

Sie hatte dem Taxifahrer nicht gesagt, dass der Bankautomat ihr nur zwanzig Euro ausgespuckt hatte. Sie hoffte einfach, dass es das Einmachglas mit Bargeld in der Küche noch gab, das auf dem Fensterbrett stand, seit sie denken konnte. Dutzende Sternsinger und Halloween-Kinder waren daraus bezahlt, unzählige Kartenabende damit bestritten worden. Zur Not müsste sie Frau Stammberger von nebenan fragen, die immer die Blumen goss, wenn ihre Eltern nicht da waren. Sie würde sich später mit ihrem deutschen Girokonto befassen. Wie mit allem. Später. Frühestens nach der Dusche.

Vom Nordosten Australiens nach Neubiberg innerhalb von achtundvierzig Stunden. Wenn sie die Augen schloss, stiegen Bilder in ihr hoch, von der anrollenden Brandung, dem weiten blauen Himmel, der sich am Horizont mit dem Meer vereinigte.

„Jetzt bräuchte ich noch mal Ihre Hilfe.“

Sie schreckte hoch. „Was? Ach so. Die nächste links und dann Nummer 11.“

Die Straße ihrer Kindheit und Jugend war unverändert. Zwei Grundstücke mit dichten Thuja-Hecken, einmal freier Einblick, noch einmal Hecke, die Buschformation am Zaun der Stammbergers, dann das Haus ihrer Eltern.

„Shit!“, rief sie.

Der Taxifahrer trat das Bremspedal durch. Mit quietschenden Reifen kam das Auto zum Stehen. „Was?“, brüllte er.

„Sie sind da!“

„Was zur Hölle …“

„Meine Eltern sind da.“

Der Taxifahrer schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad. „Sind Sie eigentlich durchgeknallt? Ich dachte, ich überfahre grad ein Schulkind!“

„Ich bin einfach nur … ich war mir sicher, dass sie …“ Stefanie brach ab. Der Vorhang am Küchenfenster hatte sich bewegt. „Ich war einfach nicht darauf vorbereitet, dass sie …“

Die Haustür wurde schwungvoll aufgerissen. Och nö, dachte Stefanie. Was macht denn Max hier?

„Die Weltenbummlerin ist zurück! Ich hab doch gesagt, dass es heute noch knallt!“ Der untersetzte Mann mit der glatt polierten Glatze wandte sich um. „Hab ich ned gsagt, dass es heute noch knallt?“

Eine zierliche Frau schob sich an ihm vorbei. „Du hast das Wetter gemeint, Max.“ Sie schob die Brille hoch in das hellrote Haar. „Ja Steffi! Du bist es ja wirklich!“ Jetzt drehte sie sich in den Flur zurück. „Bernhard, Jutta! Kommt’s mal.“

„Eure verlorene Tochter ist wieder da!“, rief Max. „Direkt mit dem Taxi aus Australien gekommen!“

Der Blick des Fahrers ruhte auf Stefanie, die schwach nach draußen winkte.

„Sollen wir schnell weiterfahren?“

„Zu spät“, sagte Stefanie, ohne ihr verkrampftes Lächeln aufzugeben. Sie winkte weiter. Mittlerweile waren ihre Eltern ebenfalls in der Tür erschienen. „Hier ist erst einmal Endstation.“

DIE Frage kam noch schneller, als Stefanie erwartet hatte. Ihre Eltern hatten den Schafkopfabend mit ihren besten Freunden Max und Rosalie sofort unterbrochen, ihr Bier, Brot, Käse und Wurst serviert, saßen nun am Tisch und beobachteten fast ehrfürchtig, wie der unangekündigte Besuch kaute. Stefanie hatte das Gefühl, dass sie allmählich vor sich hinmüffelte und sich dieser Umstand nur wegen der noch stärkeren Bierfahne von Max nicht bemerkbar machte.

„Ich dachte, ihr seid im Urlaub“, sagte sie schließlich.

„Wir fahren nächste Woche.“

„Hm, dann habe ich das verwechselt.“

„Schätzchen, wieso hast du dich denn nicht angekündigt?“, fragte ihre Mutter. „Wir hatten ja keine Ahnung, wann du genau wiederkommst, du hast immer gesagt, im Herbst.“

Stefanie kaute schweigend. „Planänderung“, sagt sie zwischen zwei Bissen.

„Apropos Pläne“, sagte Max und Stefanie wusste, dass es jetzt so weit war. DIE Frage würde kommen. Sie spürte die Blicke aller auf sich.

„Was hast du denn jetzt vor?“

„Hier ist natürlich überhaupt nicht aufgeräumt“, sagte ihre Mutter, als sie die Tür öffnete. „Warte, zumindest den Wäscheständer räum ich auf. Und frische Bettwäsche hole ich auch gleich. Bin sofort wieder da.“

Stefanie ließ sich auf das Bett sinken, löste den Handtuchturban und ließ den Kopf in ihre Hände sinken, die langen Haare hingen wie ein nasser, dunkler Vorhang um sie. Wie lange war sie jetzt unterwegs? In Australien war es jetzt mitten in der Nacht und sie würde längst schlafen.

Regen begann leise gegen die Fensterscheibe zu klopfen. Sie hob den Kopf und ließ den Blick durch ihr ehemaliges Kinderzimmer schweifen.

„Soderla, frisch duftende Bettwäsche.“ Ihre Mutter kam wieder herein.

„Wieso hängt hier immer noch das Lenny-Kravitz-Poster?“, fragte Stefanie. „Ich bin absolut sicher, dass ich das vor etlichen Jahren abgehängt habe.“

Ihre Mutter schüttelte das Laken aus. „Der schaut doch gut aus. Hab ich im Keller entdeckt und mir gedacht, so ein Anblick beim Wäscheaufhängen oder bügeln ist nicht verkehrt.“ Sie lachte. „Der Papa ist immer schon ganz eifersüchtig, wenn ich zu lang bügle hier drin.“

„Ach Mama …“ Stefanie stand auf und streckte die Hand aus, doch ihre Mutter blieb reglos stehen und starrte auf das Laken. „Mama, ich weiß, ich hätte mich melden sollen. Ich wollte es auch. Aber der Plan war, mich bei Vanessa erst ein bisschen zu akklimatisieren, bevor ich …“

„Es ist schon gut, Schätzchen.“ Ihre Mutter schüttelte das Laken heftig und hielt dann inne. „Wir hätten uns halt gewünscht, dass du dich generell öfter mal meldest. Die ganze Abreise … das davor … das war alles so überstürzt und wir waren einfach …“

„Ihr wart enttäuscht.“

„Nein, Stefanie, das stimmt nicht.“

„Ihr wart enttäuscht, weil ich den Traumschwiegersohn Peter mit einem psychisch labilen Witwer betrogen und ihn dann verlassen, den Traumjob gekündigt und mein Erspartes in Australien in den Sand gesetzt habe. Im wahrsten Sinne des Wortes.“

„Steffi …“

„Kann ich verstehen.“

Ihre Mutter schwieg. „Na, jetzt bist du ja da“, sagte sie dann mit gepresster Stimme. „Und es wird sich schon alles finden.“

Ja, dachte Stefanie. Aber bitte, bitte lasst mich in Ruhe suchen.

Im Haus war es still. Das Gewitter war weitergezogen, der Regen verstummt. Durch das Fenster war ein Ausschnitt Himmel zu sehen, den Stefanie im Laufe der Jahre Hunderte Male betrachtet hatte. Bei Furcht vor einer anstehenden Klassenarbeit, bei Liebeskummer, bei Vorfreude.

Sie war rasch eingeschlafen, nachdem ihre Mutter ihr eine gute Nacht gewünscht hatte, aber kurze Zeit später wieder aufgewacht, mit trockenem Mund und dem starken Verlangen nach etwas Fruchtigem. Auf dem Weg nach unten hatte sie Stimmen aus der Küche gehört und war schließlich auf der Treppe stehen geblieben. Max und Rosalie waren noch da und unterhielten sich angeregt mit ihren Eltern, und es war Stefanie sofort klar, dass sie, die verlorene Tochter, das Thema war. Nach einigen Minuten machte sie kehrt und verkroch sich im Bett, wo sie seitdem mit klopfendem Herzen wach lag.

„So einfach ist das auch nicht, in ihrer Branche was zu finden.“

„Die Tochter vom Manfred, die ist auch in der Werbung, die hat zwei Jahre gesucht.“

„Wo zieht sie denn jetzt hin? Es ist ja fast unmöglich, in München eine bezahlbare Wohnung zu finden.“

„Meint’s ihr nicht, dass sie vielleicht wieder mit dem Peter zusammenfindet?“

„Jetzt lasst sie doch erst einmal ankommen, sie ist ein kluges Mädchen und wird ihren Weg schon finden.“ Ihr Papa. Stefanie traten fast die Tränen in die Augen, als sie an seine Worte dachte.

„Aber sie muss jetzt schon schauen, dass …“

„Sie ist ja jetzt auch schon vierunddreißig und in dem Alter …“

„Ich sag nur ticktackticktack …“

Stefanie schaute auf das Poster über ihr.

„Was soll ich denn jetzt machen, Lenny?“, flüsterte sie.

Lenny Kravitz schwieg und bot keine Lösung, aber seine Bauchmuskeln waren beeindruckend. Stefanie seufzte tief. Ein leises schleifendes Geräusch war zu hören. Die rechte Posterecke löste sich langsam, dann die linke, dann rollten Lenny und sein Sixpack nach unten in Richtung Bett.

„Na komm her“, flüsterte Steffi, griff nach dem Poster und legte es auf sich. „Wir nicht mehr Taufrischen müssen zusammenhalten.“

Erst als der Morgen dämmerte, fiel sie endlich in einen unruhigen Schlaf.

Kapitel 2

Am nächsten Tag klingelte der Wecker um halb acht und Stefanie zwang sich, aufzustehen und sich anzuziehen, auch wenn ihre Lider schwer wie Blei waren und ihr Körper sich steif anfühlte. Bei Vanessa hätte sie mit Sicherheit bis mittags ausgeschlafen, aber ihren Eltern gegenüber wollte sie partout nicht den Anschein erwecken, als würde sie hier gleich ihren „Urlaub“ fortsetzen.

Ihr Vater saß am Esstisch in der Küche und ließ die Zeitung sinken, als sie eintrat.

„Guten Morgen“, sagte er und schaute sie über seine Lesebrille an. „Wir hätten dich gar nicht so früh erwartet. Du bist ja sicher noch in der australischen Zeit.“

Stefanie holte sich eine Tasse aus dem Oberschrank und schenkte sich Kaffee ein. „Ich pass mich gleich wieder dem Rhythmus vor Ort an, damit geht der Jetlag bei mir immer am schnellsten weg. Außerdem“, sie setzte sich ihrem Vater gegenüber, „gibt es ja viel zu tun.“ Sie griff nach einem Teil der Zeitung und schlug ihn auf. „Damit kann man nicht früh genug anfangen.“

„Der Stellenmarkt ist erst samstags in der Süddeutschen“, sagte ihre Mutter, die in diesem Moment die Küche betrat. Sie goss sich ebenfalls einen Kaffee ein.

Stefanie spürte, wie Hitze in ihr aufstieg, und umklammerte die Seiten so fest, dass die Knöchel ihrer Hand weiß hervortraten.

„Geh, Jutta“, sagte ihr Vater. „Jetzt lass sie doch erst mal ankommen und ein bisschen ausruhen.“

Seine Frau wirbelte herum. „Ich hab doch nur gedacht, die Steffi schaut nach Stellenangeboten. Ich wollte nicht …“

„Ist schon gut, Mama“, sagte Stefanie. „Ich weiß, wie du es gemeint hast.“ Als sie den Blick ihres Vaters auffing, fügte sie betont fröhlich hinzu: „Und ich schau auch nicht erst ab Samstag nach Stellen, sondern habe das auch schon in Australien immer wieder gemacht.“ Sie hoffte, dass sie nicht rot wurde während dieser Lüge. „Ich habe keinerlei Bestrebungen, wieder ins Hotel Mama zu ziehen oder die Lücke in meinem Lebenslauf noch größer werden zu lassen.“ Sie klappte entschlossen die Zeitung zu. „Gibt’s eigentlich noch was von der Himbeermarmelade vom letzten Sommer? Auf die habe ich mich schon so gefreut.“

Nachdem ihre Eltern das Haus verlassen hatten, wartete Stefanie vorsichtshalber zwanzig Minuten, dann war sie sicher, dass beide an ihren Arbeitsplätzen – ihr Vater im Gemeindearchiv, ihre Mutter beim Bürgerbüro – angekommen waren. Sie leerte ihre volle Kaffeetasse in der Spüle aus, ging nach oben in ihr ehemaliges Zimmer, stellte den Handywecker auf sechzehn Uhr, streifte sich die Klamotten vom Körper, ließ den Rollladen herunter, legte sich ins Bett und schlief sofort ein. Als ihre Eltern am späten Nachmittag zurückkamen, saß sie auf der Terrasse scheinbar hochkonzentriert vor dem Laptop und tat, als sei sie dabei, irgendetwas Wichtiges zu erledigen.

Stefanie zählte die Tage, bis ihre Eltern endlich nach Kroatien abreisen würden. Sie sehnte sich danach, unbeobachtet zu sein. Die Situation war für beide Seiten unangenehm. Ihre Eltern fragten zwar nach Australien und hörten auch beflissen zu, wenn Stefanie erzählte, aber sie spürte, dass besonders ihrer Mutter Fragen und Anmerkungen zur ihrer Zukunft auf der Seele brannten. Ihr Vater schien entspannter zu sein, aber Stefanie wusste, dass er sich ebenfalls Sorgen machte. Sie selbst wiederum sprach nicht von allein darüber, was sie jetzt vorhatte. War nicht völlig klar, dass sie bald wieder einen Job und eine eigene Wohnung haben würde? Aber was genau sollte sie sagen, wenn sie selbst noch nicht genau wusste, was sie ab jetzt nun eigentlich machen wollte? Wie sollte sie sich auf Stellen bewerben, wenn ihr nicht klar war, was sie ab jetzt arbeiten wollte?

Sie ging jeden Tag früh ins Bett und lag dann lange wach, bis es im Haus ganz still war und nur noch Geräusche von draußen in ihr Zimmer drangen. Ein vorbeifahrendes Auto, das Scharren eines Astes, den der Wind an die Scheibe drückte, in einer sehr heißen Nacht das Summen der Grillen. Sie dachte an die vergangenen zwölf Monate und projizierte wie bei einem schlechten Diavortrag in wilder, unkoordinierter Abfolge Bilder an die dunkle Wand: Peter, wie er singend am Herd stand und in einem Topf rührte, in der Küche, die inzwischen nur mehr seine war, ein flauschiger Koalabär, den sie auf dem Arm hielt, Rolo, wie er ihr Gesicht in beide Hände nahm und sie küsste, den grandiosen Sonnenuntergang vom Leuchtturm auf Lady Elliott Island, die Tausende Seevögel, die dort überall brüteten und schnatterten, Peters Augen, als sie ihm sagte, dass sie sich in einen anderen Mann verliebt hatte, die großen Mantarochen, die majestätisch im Great Barrier Reef um sie kreisten, Rolos Augen, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, die Dünen von Fraser Island, das gleißende Weiß des Whitehaven Beach auf den Whitsundays. Ganz am Ende sah sie sich in ihrem ehemaligen Mädchenzimmer im Haus ihrer Eltern liegen: Stefanie Mertens, vierunddreißig Jahre alt, ein Meter dreiundsiebzig groß, sportlich-schlank, gletscherblaue Augen, dunkelbraune Haare, studierte Germanistin, erfahrene Texterin in einer Agentur. Sie hatte im letzten Sommer ihren langjährigen Freund Peter verlassen, sich in Rolo verliebt, wirklich verliebt, aber dann doch alles über Bord geworfen, hatte ihren guten Job in einer Werbeagentur fristlos gekündigt und war für zehn Monate nach Australien gegangen.

Eigentlich nicht schlimm. Eigentlich sogar doch ziemlich mutig und absolut richtig. Sie hatte sich entschlossen, endlich das zu tun, wovon sie seit Jahren geträumt hatte, und war ausgestiegen aus ihrem Alltag, der sie auslaugte, und aus den Beziehungen, die sich nicht hundertprozentig richtig anfühlten.

Was Stefanie aber erschreckte, war die Tatsache, dass die Glücksgefühle der letzten Monaten nicht länger vorhielten als ihre Sonnenbräune und Platz machten für alles, was sie in Australien nie verspürt hatte: Verunsicherung, Zweifel, Frust. Und Angst.

Am Samstagmorgen reisten ihre Eltern endlich ab. Stefanie sollte sich um den Garten und die Pflanzen im Haus kümmern und – „wenn es sich zeitlich ausgeht“ – ein paarmal nach Frau Stammberger von nebenan sehen, die nicht mehr gut zu Fuß sei und sich über Hilfe bei den Einkäufen freuen würde.

„Und wenn wir wiederkommen, sieht alles schon wieder ganz anders aus“, sagte ihre Mutter zum Abschied. Stefanie nickte, denn sie hoffte das auch. Von heute an, das war ihr Vorsatz, war es vorbei mit dem Schlafen am Tag und dem Grübeln in der Nacht. Ab heute würde sie ihre Zukunft angehen.

Kaum war das Auto ihrer Eltern nicht mehr zu hören, schlüpfte sie in ihre Sportklamotten und Laufschuhe, verließ das Haus und holte das Fahrrad ihrer Mutter aus der Garage. Sie fuhr langsam auf dem Bürgersteig an den Gärten entlang und beschleunigte das Tempo, als sie den Feldweg erreicht hatte, der zum nahegelegenen Perlacher Forst führte. An einem Baum stellte sie ihr Rad ab und lief los. Sie begann gemächlich, aber bald wurden ihre Schritte schneller, ihre Lungen füllten sich mit der frischen, nach Moos, Erde und Tannen duftenden Luft, sie schloss die Augen und spürte die zwischen den Ästen durchblitzende Sonne auf ihrem Gesicht. Irgendwann wendete sie und rannte den Weg zurück, so schnell sie konnte, bis sie schwer atmend und schweißüberströmt wieder an dem Baum angekommen war. Ihr Herz pochte energisch, ihre Wangen glühten. Ihre Haare waren verstrubbelt, aber ihre Gedanken geordnet.

Sie fuhr nach Hause, trank drei Gläser Wasser, duschte, aß eine große Schüssel Müsli und setzte sich schließlich vor den Laptop. Sie schrieb eine Mail an Vanessa, erklärte ihr, warum sie doch lieber zu ihren Eltern gefahren war, und schlug ein baldiges Treffen vor. Sie schrieb an Marie, ihre ehemalige Arbeitskollegin, von der sie wusste, dass sie sich selbstständig gemacht hatte, und kündigte an, dass sie sie bald in ihren Büroräumen besuchen würde. Sie schrieb einer Fotografin, die sie während eines Projekts vor einiger Zeit kennengelernt hatte, und bat um einen Termin für „schöne, unspießige Bewerbungsbilder, die auch für eine eigene Homepage verwendet werden könnten“. Schließlich verbrachte sie fast eine Stunde damit, eine zweiseitige To-do-Liste anzulegen, von der sie am Ende fast alle Punkte wieder strich und nur vier stehen ließ.

1 Finanzen checken (auch mit Mama und Papa diesbezüglich reden)

2 Wohnung suchen – und finden

3 Job suchen – und finden (aber keine Zwischenlösung, sondern etwas, was du WIRKLICH machen willst; Zeit dafür nehmen => deswegen wirklich sehr bald Finanzen klären, auch mit Mama und Papa)

4 Peter kontaktieren. Wegen meiner Sachen. Und auch so.

Stefanie betrachtete den letzten Punkt eine Weile, bevor sie beschloss, ihn gleich zu erledigen. Sie schrieb Peter eine Mail, in der sie von ihrer Rückkehr berichtete, und fragte, ob sie sich in naher Zukunft einmal zusammensetzen könnten. „Du willst sicher irgendwann meinen alten Kram loswerden und das können wir jetzt wirklich zeitnah erledigen.“ Stefanie kaute auf ihrer Unterlippe und überlegte. „Außerdem würde ich mich wirklich sehr freuen, dich zu treffen“, schrieb sie dann. „Ich habe oft an dich gedacht in letzter Zeit und an alles, was war, und ich fände es schön, wenn wir uns bald mal wieder sehen könnten.“ Sie hielt inne, markierte den letzten Satz, um ihn wieder zu löschen, ließ ihn dann aber stehen. Alles, was sie geschrieben hatte, entsprach der Wahrheit. Sie wollte nicht mehr lügen, weder sich selbst noch anderen gegenüber. Wenn ihr etwas klargeworden war in den letzten Monaten, dann das.

Sie drückte auf „Senden“ und klappte den Laptop zu. Sie war zufrieden mit dem produktiven Vormittag und beschloss, zum Wochenmarkt zu fahren und dort eine Leberkässemmel zu essen, denn schließlich konnte es nicht schaden, sich auch in kulinarischer Hinsicht wieder zu akklimatisieren.

Stefanie hatte fast vergessen, wie energisch sich in der Heimat Kindheit und Jugend vor einem aufbauen konnten. Wenn sie in den vergangenen Jahren ihre Eltern besucht hatte, dann waren sie in der Küche, im Wohnzimmer oder auf der Terrasse gewesen, hatten dort Kaffee getrunken und hätten sich dabei an jedem Ort der Welt befinden können. Nach einigen Stunden hatte sie sich verabschiedet und war nach München zurückgekehrt, ohne mit ihrer Vergangenheit konfrontiert zu werden.

An diesem Samstag war das anders. Sie hatte kaum ihr Fahrrad am Rand des Marktes abgestellt, da wurde sie auch schon von einer alten Frau angesprochen und begrüßt, und es dauerte ein paar Sekunden, bis Stefanie ihre ehemalige Grundschullehrerin erkannte.

„Frau Ferch, das gibt’s ja nicht!“, sagte sie. Dass Sie noch leben!, hätte sei beinahe noch gerufen, doch sie schluckte die Worte hinunter. Tatsächlich aber war ihr Frau Ferch schon vor fünfundzwanzig Jahren uralt vorgekommen, was nicht nur an Stefanies damaliger kindlicher Perspektive lag, sondern an dem Umstand, dass Frau Ferch bereits Ende der Achtzigerjahre kurz vor der Rente stand.

„Jaja, ich sag immer, der liebe Gott hat mich vergessen“, lachte sie jetzt, als hätte sie Stefanies Gedanken erraten. „Bist du zu Besuch bei den Eltern?“

„Sozusagen auf der Durchreise“, sagte Stefanie und musterte Frau Ferch. Ihr Haar war schlohweiß und ihr Gesicht von einem dichten Netz aus Falten überzogen, aber sie ging aufrecht, hatte einen wachen Blick und schien topfit zu sein.

„Was für eine Meise?“, fragte Frau Ferch und hielt sich eine Hand an ihr rechtes Ohr.

Okay, dachte Stefanie. Nicht ganz topfit.

„Auf der Durch-rei-se“, wiederholte sie etwas lauter. „Ich bin auf der Durch-rei-se.“

Frau Ferch nickte verhalten und Stefanie war nicht sicher, ob sie ihre Antwort verstanden hatte. „Ich bin zu Besuch, ja!“, sagte sie deshalb und merkte nicht, dass sie den Satz gerufen hatte.

Der Mann, der gerade an ihnen vorbeiging, blieb abrupt stehen.

„Die Frau Mertens!“, sagte er. „Hab ich mir doch gedacht, dass ich die Stimme kenne!“

Stefanie lächelte gequält. „Hi, Basti.“

Sebastian Höchstetter, der Sohn von Max und Rosmarie, den besten Freunden ihrer Eltern. Zwei Jahre jünger als Stefanie und vor zwanzig Jahren der bislang hartnäckigste Verehrer in ihrem Leben. Er war ein netter Junge gewesen, mit dichten blonden Haaren, kornblumenfarbenen Augen hinter einer gar nicht mal so schlimmen Brille und vielen Sommersprossen auf der Nase, aber Stefanie war es peinlich gewesen, dass ein Zwölfjähriger in sie verliebt war, sie war immerhin schon vierzehn und cool und trug Büstenhalter.

„Auch zum Sonntagsbesuch hier?“, fragte Stefanie.

„Naja“, sagte Basti. Seine Haare waren weniger geworden und Richtung Hinterkopf abgewandert, aber seine Sommersprossen waren geblieben und tanzten jetzt auf der Nase, während er lachte. Die Brille war entweder Kontaktlinsen oder einer Laserbehandlung gewichen. „Ziemlich langer Besuch. Alles genau wie bei dir.“

Stefanie runzelte die Stirn, aber dann fiel ihr wieder ein, was ihre Mutter vor ein paar Tagen erzählt hatte. Dass Basti wieder zu Hause wohnte nach der Trennung von seiner langjährigen Freundin. Dass er eine Auszeit wollte und erwog, ein paar Monate ins Ausland zu gehen. „Meld dich doch mal bei ihm“, hatte ihre Mutter gesagt, „vielleicht kannst du ihm Tipps geben.“ Stefanie hatte genickt, aber das Gespräch sofort wieder vergessen.

Sie wollte gerade erwidern, dass es bei ihr nicht genau wie bei ihm war, aber Basti rief Frau Ferch gerade etwas ins Ohr, schaute dann plötzlich auf und winkte.

„Hey, Lola!“ Er wandte sich an Stefanie. „Gibt’s ja nicht. Das halbe Gymnasium ist da!“

Genau genommen sind wir drei, dachte Stefanie und zog erneut mühsam die Mundwinkel nach oben. Lola Brückner. Nicht, dass sie Lola während der Schulzeit nicht gemocht hätte, nein. Das Problem war einfach, dass Lola nie Probleme zu haben schien. Sie hatte gute Noten, aber galt nicht als Streberin, spielte erfolgreich Tennis und trank keinen Alkohol, galt aber nicht als uncool, sie war lustig und unbekümmert, galt aber nicht als oberflächlich. Während der Sommerferien, in denen sich Stefanie irgendwann gepflegt langweilte und den Beginn der Schule herbeisehnte, hatte Lola seit der achten Klasse wochenlang gearbeitet, erst in der örtlichen Gärtnerei, dann in der Bäckerei und später in der Eisdiele am Marktplatz. Kaum war sie achtzehn, investierte sie das Geld in Reisen. Lola war der Inbegriff von Unabhängigkeit und Unkompliziertheit, und der Hauch des Besonderen umwehte sie auch deshalb, weil sie als Einzige in der Klasse getrennte Eltern hatte und „nur“ mit ihrer Mutter zusammenlebte. Es kam Stefanie absurd vor, dass dieser Umstand damals außergewöhnlich war, aber so war es. Sie war mit Lola niemals richtig befreundet gewesen, aber sie mochten sich. Zu Lolas zwölftem Geburtstag war sie zu ihrer Feier eingeladen worden, in das kleine Reihenhaus am Ende des Ortes, das hell und freundlich eingerichtet war. Lolas Mutter war ihr als warmherzig und witzig in Erinnerung, als energische, aber liebevolle Dompteurin einer Gruppe Elf- und Zwölfjähriger, die keinen klassischen Kindergeburtstag mehr feiern wollten, aber noch zu jung waren, um einfach unbeaufsichtigt „abzuhängen“.

Lola, die immer Klassensprecherin war und sich für die Belange ihrer Mitschüler einsetzte, würde, so die einhellige Meinung, nach der Schule erst einmal ein Jahr ins Ausland gehen und später Journalistin werden. Oder Politikerin. Oder bei der UNO arbeiten. Oder bei Amnesty international.

Es kam ganz anders. Kurz vor dem Abitur wurden Lola Lindner, wie sie ursprünglich hieß, und der zwei Jahre ältere Andi Brückner ein Paar. Lola ging nicht auf Reisen, sondern studierte sofort Innenarchitektur und heiratete mit vierundzwanzig Jahren Andi, der bald danach das Küchengeschäft seiner Eltern in Neubiberg übernahm. Stefanie hatte Lola zuletzt auf dem Jahrgangstreffen fünf Jahre nach dem Abitur getroffen und nur kurz mit ihr gesprochen.

„Hallo, Steffi“, sagte Lola jetzt. „Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen.“

„In der Tat“, sagte Steffi. „Hallo!“ Sie umarmte Lola flüchtig und überlegte dabei fieberhaft, wie sie ihre Überraschung verbergen sollte. Es war nicht so, dass Lola nicht mehr hübsch war. Aber es war, als wären die Farben aus ihr entwichen, als würde ein Filter über ihr liegen, der die Sättigung drosselte und alles graustichig machte. Lola wirkte wie eine schlechte Kopie ihrer selbst.

„Jetzt muss ich aber weiter“, sagte Frau Ferch in diesem Moment und nickte in die Runde. „Ich wünsch euch allen einen schönen Tag. Kommt’s nur oft heim und besucht’s eure Eltern.“

Basti bot an, sie noch über die Straße zu bringen, und Stefanie scharrte mit ihrer Sandale auf dem Boden. Lolas müde Augen ruhten auf ihr und das machte sie seltsam nervös.

„Du warst lange in Australien, nicht wahr?“

Stefanie sah auf. „Ja, über zehn Monate.“

„Toll.“ Lola schwieg eine Weile. „Wirklich toll. Basti hat es mir erzählt, er ist ja seit einiger Zeit wieder hier und mir öfter über den Weg gelaufen.“

„Ja, es war … es war eine grandiose Zeit. Die leider jetzt vorbei ist.“

„Und jetzt … also … Was hast du jetzt vor? Du hast deinen Job gekündigt vorher, oder?“

Stefanie runzelte die Stirn.

„Das weiß ich auch von Basti.“ Lola lachte entschuldigend. „Seine und deine Eltern sind ja …“

„Ich weiß“, sagte Stefanie schnell und fragte sich, ob ganz Neubiberg von ihren momentanen Lebensumständen wusste. „Ja, ich hab gekündigt und such mir grad was Neues. Das wird schon.“

„Wieder in München?“

Stefanie zuckte mit den Schultern. „Genau. Ich hab da ja viele Kontakte. Die werde ich jetzt aktivieren und dann passt das schon.“

„Ja, man braucht vermutlich ein Netzwerk in der Branche.“

„Schon.“

„Hast du schon eine Wohnung? Es ist doch wahnsinnig schwer, in München überhaupt etwas Bezahlbares zu finden?“

Herrgott, was ist das denn für ein Verhör, dachte Steffi, und sah sich nach Basti um, der sich bei Frau Ferch untergehakt hatte und ihr jetzt auf den Gehsteig der gegenüberliegenden Straßenseite half.

„Ach, das wird sich auch ergeben“, sagte sie gedehnt.

---ENDE DER LESEPROBE---