Tausche Alltag gegen Horizont - Anne Lux - E-Book
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Tausche Alltag gegen Horizont E-Book

Anne Lux

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Beschreibung

++ Postkartenidyll ist nicht automatisch Paradies: Der finale Band der Cornwall-Trilogie von Bestseller-Autorin Anne Lux ist eine mitreißende Geschichte über die verschlungenen Wege zum Glück +++

Ein Cottage mit Meerblick und eine eigene Galerie machen noch kein perfektes Leben. Das hatte Vivian auch nicht erwartet, als sie vor zwei Jahren von München auf die idyllische Insel St. Mary’s vor der Küste Cornwalls gezogen war. Als Fotografin zufrieden und mit Paddy glücklich sein, mehr wollte sie nicht. Doch ihre beruflichen und privaten Pläne werden durch eine Verkettung unglücklicher Umstände jäh durchkreuzt. Vivian muss rasch handeln, damit nicht alles auseinanderbricht, was sie sich auf St. Mary’s aufgebaut hat. Ein lukrativer Auftrag führt sie nach New York, doch dort wird alles noch viel komplizierter. Denn Vivian wird völlig unerwartet mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert – und trifft eine fragwürdige Entscheidung.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Epilog

Weitere Titel von Anne Lux

Über die Autorin

Anne Lux

Tausche

Alltag

gegen

Horizont

Roman

März 2021

© 2021 by Anne Lux

Franziskanerstraße 43

81669 München

Umschlaggestaltung: Michaela Huml, büro aha!, München, unter Verwendung eines Fotos von Szabo Viktor, Unsplash

Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder Reproduktion (auch auszugsweise) in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder anderes Verfahren) sowie die Einspeicherung, Verarbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung mithilfe elektronischer Systeme jeglicher Art, gesamt oder auszugsweise, sind ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Autorin untersagt. Alle Übersetzungsrechte vorbehalten. Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die bisherigen Romane von Anne Lux in chronologischer Reihenfolge:

Liebestrilogie

Mitten im Sommer, mitten ins Herz (Bd. 1)

Alles auf Anfang, alles auf Glück (Bd. 2)

Sehnsucht nach Insel & Mehr (Bd. 3)

Alles auf Liebe (Sammelband, Bd. 1–3)

Cornwall-Trilogie

Tausche Alltag gegen Insel (Bd. 1)

Tausche Alltag gegen Glück (Bd. 2)

Tausche Alltag gegen Horizont (Bd. 3)

Tausche Alltag gegen Cornwall (Sammelband, Bd. 1+2)

Island-Roman

Glück ist wie das Meer (Roman)

Über das Buch

Ein Cottage mit Meerblick und eine eigene Galerie machen noch kein perfektes Leben. Das hatte Vivian auch nicht erwartet, als sie vor zwei Jahren von München auf die idyllische Insel St. Mary’s vor der Küste Cornwalls gezogen war. Als Fotografin zufrieden und mit Paddy glücklich sein, mehr wollte sie nicht. Doch ihre beruflichen und privaten Pläne werden durch eine Verkettung unglücklicher Umstände jäh durchkreuzt. Vivian muss rasch handeln, damit nicht alles auseinanderbricht, was sie sich auf St. Mary’s aufgebaut hat. Ein lukrativer Auftrag führt sie nach New York, doch dort wird alles noch viel komplizierter. Denn Vivian wird völlig unerwartet mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert – und trifft eine fragwürdige Entscheidung.

It’s better to feel pain, than nothing at all The opposite of love’s indifference

The Lumineers, Stubborn Love

Kapitel 1

Als Kind hatte Vivian Steiner eine Schneekugel besessen, in der es, wenn sie sie kräftig schüttelte, in dichten Flocken auf München herunterschneite. Oder auf das, was nach Ansicht des Schneekugelherstellers die bayerische Landeshauptstadt auf den wenigen Quadratzentimetern unter dem Kunststoffhimmel am prägnantesten repräsentierte: Rathaus, Frauenkirche, Olympiaturm, Chinesischer Turm und ein Dackel, der neben einem winzigen Busch sein noch winzigeres linkes Hinterbein hob. Die kleine Plastik-Anordnung hatte Vivian zu Übernachtungsbesuchen bei Freundinnen oder an Wochenenden bei Oma und Opa begleitet, war beim ersten Aufenthalt im Landschulheim und beim ersten Skilager in der siebten Klasse dabei gewesen, beim zweiten ein Jahr später jedoch nicht mehr. Die Kugel, die den Ort ihrer Herkunft auf vier Gebäude und einen Hund reduziert und viele Jahre auf ihrem Nachttisch gestanden hatte, wanderte irgendwann in dieser Zeit in eine Schublade und von da in eine Kiste für den Flohmarkt, wo sie schließlich in fremde Hände gelangte.

Neulich hatte Vivian plötzlich an ihr Mini-München gedacht und sich erst darüber gewundert. Dann hatte sie sich die Erinnerung mit dem Ort erklärt, an dem sie mittlerweile lebte. Natürlich, St. Mary’s war keine Schneekugel, sondern eine vom Golfstrom umgebene Insel, aber eben auch eine komprimierte Angelegenheit, ein Königreich im Kleinformat. Es gab hier vieles von dem, was den meisten Menschen beim ersten Gedanken an Großbritannien eingefallen wäre – aber eben alles in überschaubarer Menge. Ein paar Mauern, die einige wenige enge Straßen säumten, ein paar Wiesen mit Kühen, drei Pubs, eine Fußballliga. Mit zwei Mannschaften, den »Garrison Gunners« und den »Woolpack Wanderers«, die den Insulanern pro Saison 18 sonntägliche Spiele boten. England in der Nussschale auf 6,3 Quadratkilometern Insel, die man bequem in wenigen Stunden umrundet hatte.

»Viv? Viviii! Nicht schon wieder träumen! Ich will heim. Ich bin so krass müde!«

Vivian blieb stehen. Sie blieb oft stehen, wenn sie geistig davonpreschte, weil sie festgestellt hatte, dass ihre Gedanken dann auch haltmachten und wieder verschwanden, wie abgelassenes Wasser, das sich gurgelnd in den Abfluss windet.

Polly war schon zehn Meter vor ihr. Sie hatte sich umgewandt und tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Ihre linke Hand umfasste das Stativ, das auf ihrer Schulter lag, in der rechten hielt sie ihr Handy. Es war noch nicht lange her, da wäre es undenkbar gewesen, dass Polly mehr trug als ihr Mobiltelefon. Einmal, weil sie überhaupt kein Interesse daran hatte, etwas zu tragen und anderen damit zu helfen, und zum anderen, weil sie einfach so dünn gewesen war, dass auch niemand gewollt hätte, dass sie sich etwas auflud, was mehr wog als ein halbes Kilo.

Mittlerweile trug Polly, wenn sie Vivian bei Jobs assistierte, alles, von Ausrüstung bis Verantwortung. Sie hatte an Gewicht und die Erkenntnis gewonnen, dass sie ihr Leben nicht ausschließlich mit Partys, Drogen und Dagegensein verbringen wollte. Es war keine in Stein gemeißelte Erkenntnis, aber zumindest hatte sie, so versicherte sie, seit über einem Jahr keine künstlichen Substanzen mehr zu sich genommen. Wenn man von den »Honey Monster Wheat Puffs« einmal absähe, die derzeit ihre bevorzugten Frühstückscerealien darstellten.

»Du träumst ja schon wieder«, wiederholte sie, als Vivian zu ihr aufgeschlossen hatte.

»Tja, wer würde nicht träumen nach einem Fest wie diesem.« Vivian bugsierte ihren Fotorucksack von einer Schulter zur anderen.

»Das stimmt. Wer würde nicht schwelgerisch werden nach diesem wunderbaren Tag.« Polly hielt sich das Handy wie ein Mikrofon vor das Gesicht. »Das Kleid, ein Traum aus Zuckerwatte. Die Frisur, ein Triumph der Haarspray-Gilde.«

»Ja, die Haare waren wirklich unglaublich«, murmelte Vivian. »Wie blonder Beton.«

»Der Bräutigam, ein Gollum im Großformat, die wässrigen kleinen Augen und den grauen, verwitterten Kopf nicht eine Sekunde abwendend von seinem Schaaatz, der fünfzig Jahre jüngeren Maid, der er einen güldenen Ring an den zarten Finger gesteckt hat, um sie von nun an für immer zu knechten und ewig an sich zu binden.«

»Zweiunddreißig.«

»Was?«

»Er ist lediglich zweiunddreißig Jahre älter als sie. Nicht fünfzig.«

»Ach so. Dann steht ja einer jahrzehntelangen, glücklichen Ehe nichts mehr im Weg.«

Schweigend stiegen sie eine Weile den gepflasterten Weg vom Hotel hinunter, der von den wenigen Laternen nur unzureichend beleuchtet wurde. Mehr Licht spendete in dieser Nacht der Mond, der wie eine bleiche, ungeprägte Münze am Himmel hing. Die Luft war von einer frischen Samtheit, die erahnen ließ, dass der Frühling bald in den Sommer übergehen würde. Wenn der Wind günstig war, konnte man von hier oben das Glucksen der kleinen Wellen im Hafenbecken hören und das Knarren der aneinanderstoßenden Boote.

»Das war Kategorie 5«, sagte Polly und gähnte. »Krasse, fette Kategorie 5. Kategorie Eheschließungen, wie sie elender nicht beginnen können.«

Vivian wiegte den Kopf. »Wir müssen uns überlegen, ob wir nicht eine Kategorie 6 einführen sollten. Für Fälle wie diesen.«

»Bitte versprecht mir, dass du und Paddy niemals so etwas aufführen werdet.«

»Da kannst du ganz sicher sein. Ginge nicht mal, wenn wir es wollten. Allein die Miete für den Saal im Star Castle … Dafür müssten wir noch einen Kredit aufnehmen und mir reicht schon einer.«

»Wann müssen wir morgen antreten?«

»Erst zum Abendessen. Ist eine kleinere Feier. Polly, wenn du weiter so gähnst, renkst du dir noch den Kiefer aus.«

»Sorry. Gibt es ein Motto morgen?«

»Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Oh bitte, dann lass es dieses Mal Kategorie 1 sein. Ich brauche dringend wieder mal ein Fest, wo ich danach nicht das Gefühl habe, wochenlang in einem Irrenhaus eingesperrt gewesen zu sein.«

»Ich auch, Polly. Ich auch. Was macht deine Migräne? Ist es besser?«

»Bin völlig entspannt. Eine der Bridemaids hat mir Tabletten gegeben. Richtig schönes amerikanisches Zeug aus dem Drugstore, das es bei uns nur auf Rezept gibt.«

»Hm.«

»Es waren einfach Schmerztabletten, Viv. Kein Speed.«

»Ich hab nichts gesagt.«

»Du hast ge-hm-t.«

»Ich freu mich einfach, dass es deinem Kopf wieder gut geht.«

»Wir sollten unser Augenmerk auch eher darauf lenken, was sie uns ins Gesicht geschmiert haben – ich bin nicht sicher, ob wir uns da nicht juristisch beraten lassen sollten. Wegen Körperverletzung.«

»Frag doch deinen Vater«, schlug Vivian vor.

»Jaja.« Polly gähnte erneut. »Krass, ich bin so fertig.«

Sie trennten sich vor Mabels Haus in Sally Port, wo Polly immer unterkam, wenn sie Vivian bei Hochzeiten assistierte.

Vivian ging die Straße weiter, bis sie endete, lief etwa fünfzig Meter über einen ausgetretenen Pfad Richtung Osten, bis sie auf einen Zaun stieß, der erst seit wenigen Wochen die Südseite ihres Grundstücks abschloss. Sie öffnete das Gartentor, sah die Umrisse des Cottage und atmete auf. Endlich zu Hause.

Kapitel 2

Im Haus war es dunkel und still. Vivian stellte ihren Rucksack neben der Tür ab, streifte die Schuhe von den Füßen und blieb eine Weile einfach stehen, wiegte den Kopf hin und her und massierte den Übergang vom Hals zu ihrer rechten Schulter, wo der Muskel sich hart und heiß anfühlte. Tesco kam aus dem Wohnbereich angeschlichen, schnüffelte pflichtschuldig an ihren Beinen und tapste gähnend wieder davon. Vivian wusste, dass der Hund sie ganz okay fand, aber minutenlange Freudentänze, bei denen sein Schwanz sich hin und her bewegte wie ein Metronom auf Speed, waren Paddy vorbehalten.

In der Küche trank sie zwei Gläser Wasser und stieg dann im üblichen Zickzack die Treppe nach oben, um die Stellen auszusparen, die am lautesten knarzten.

In der Badewanne stand das Wasser noch, eine unbewegte, blasslila Flüssigkeit, die interessant harmonierte mit den neuen blauen Kacheln, die sie eigenhändig verlegt hatten. Vivian schnupperte. Paddy schien in Lavishly Lavender eine ausgiebige »kleine Auszeit vom Alltag« genommen zu haben, wie es der Slogan auf der Flasche aus abbaubarem Material versprach, die jetzt halbvoll auf dem Wannenrand stand. Der Badezusatz war in einer Goodie Bag gewesen, die allen Gästen einer Hochzeit mitgegeben worden war, die Vivian vor vier Wochen fotografiert hatte. »Lavendel-Lust« hatte das Motto der zwei Tage gelautet, weil sich die Großeltern der Braut (oder des Bräutigams?) im letzten (oder vorletzten?) Jahrhundert auf einer Lavendel-Farm in Vivian-wusste-es-nicht-mehr kennengelernt hatten, sechsundsiebzig Jahre verheiratet gewesen und immer wieder an den Ort ihres ersten Treffens gefahren waren.

Alles hatte nach Lavendel gerochen auf dieser Hochzeit. Die Seifen in den Toiletten, die Menükarten, die Servietten, die Kerzen. Sämtliche Sträuße – die an den Tischen in blasslilafarbenen Vasen sowie die in den Händen der Braut und ihrer natürlich lavendelfarbene Kleider tragenden Maids – hatten Lavendel enthalten. Als Vivian und Polly nach Hause gegangen waren, hatten sie geduftet wie jene kleinen Kissen, die man sich zwischen die Wäsche steckt, damit sie frisch bleibt.

Der gleiche Duft empfing Vivian jetzt, als sie in das Schlafzimmer trat und im Dunkeln auf das Bett zuging. Vorsichtig schob sie ihre nackten Zehen nach vorne, damit sie nicht über Kleidungsstücke stolperte, die Paddy gerne großzügig über den Boden verteilte, wenn er müde war. Und er musste sehr müde gewesen sein, denn er hatte nicht nur vergessen, das Badewasser abzulassen, sondern auch den Prozess der Dentalpflege unterbrochen. Seine blaue Zahnbürste hatte auf dem Rand des Waschbeckens gelegen, üppig mit rot-weiß gestreifter Paste belegt, die eindeutig unbenutzt war.

Vivians großer Zeh stieß an etwas Kühles, das leise klirrte, vermutlich eine Gürtelschnalle. Das Bettzeug begann zu rascheln, es raschelte noch richtig laut, weil Vivian es gestern erst gewechselt hatte.

»Viv?«, krächzte Paddy.

»Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken.«

»Macht nichts. Komm rein.«

»Du hörst dich noch schlimmer an als heute Morgen.« Vivian schlüpfte unter die Decke, blieb aber in ihrer Betthälfte liegen und tastete im Dunkeln nach Paddys Stirn. »Hast du mal Fieber gemessen?«

»Ich hab kein Fieber, ich hab einfach eine Erkältung. Morgen geht es wieder.«

»Ich finde, du solltest morgen einfach im Bett bleiben.«

»Und wer macht dann meine Flüge?«

»Lenny? Wie ausgemacht, wenn du nicht kannst?«

»Das geht nicht.«

»Wieso nicht? Er hat gesagt, dass er dir in Notfällen aushilft.«

»Es ist kein Notfall, Viv, es ist eine Erkältung.« Er hustete ausgiebig, bevor er weitersprach. »Ich habe einen ausgebuchten Abendflug morgen, die erste richtige Buchung über meine Homepage.« Das Wort »meine« kam kieksend aus seinem Mund, wie bei einem Stimmbrüchigen. »Die kann ich nicht gleich wieder an die Konkurrenz geben. Wir brauchen das Geld!«

»Ihr habt doch aber ausgemacht, dass …«

»Viv, bitte, ich …« Ein erneuter Hustenanfall unterbrach Paddy, und Vivian legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Ich nehm morgen früh einen Hustenblocker und dann geht es schon.«

»Okay«, sagte sie, als er wieder schwer atmend neben ihr lag. »Wichtig ist, dass du jetzt weiterschläfst. Manchmal geht es einem nach einer guten Nacht …«

»Ich brauch ein Taschentuch, sorry.«

Vivian blieb liegen, während Paddy sich aufrichtete, die Nachttischlampe einschaltete, geräuschvoll schnäuzte, einige Schlucke aus dem Wasserglas nahm und sich dann stöhnend zurücklegte.

»Oje, Paddy«, sagte Vivian leise, legte einen Finger unter sein Kinn und drehte seinen Kopf zu ihr. »Du siehst ganz zerwühlt aus.«

Paddys Augen, verquollen wie sonst am Morgen nach einer langen Nacht im Mermaid Inn, wanderten über ihr Gesicht.

»Immer noch besser als du«, sagte er dann. »Hast du dir wehgetan oder Himbeereis aus Dessertschüsseln geschleckt?«

»Was? Ach so.« Vivian griff an ihre Nase. »Ist es nicht weg?«

»Nein … und warte mal …« Er stützte sich auf seinen Ellenbogen und starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Rund um den Mund ist auch noch was. Du siehst ein bisschen aus wie der Joker in Batman.«

»Sollte ein Clown sein. Ich war jetzt einfach zu faul, um länger zu schrubben, und meine Schulter tut immer noch ziemlich weh. Ist Theaterschminke oder so etwas.«

»Hast du beim Kinderschminken mitgemacht?«

»Nein. Das Paar wollte nicht, dass Polly und ich die Einzigen sind, die normal rumlaufen. Das Motto war … nun ja, interessant, ich hatte dir doch davon erzählt.«

Paddy ließ sich auf den Rücken fallen und bedeckte seine Augen mit dem Unterarm. »Ich habe es vergessen und glaube, ich will nicht daran erinnert werden.«

»Oh doch, das willst du, Patrick Mitchell.«

»Dann lass hören«, murmelte er. »Waren das wieder Amis?«

»Ja, Upstate New York. Und das Motto lautete, Achtung, tschingderassa-bumm-bumm: Circus, Clowns and Circumstance.«

Paddy brummte etwas Unverständliches.

»Wer nicht schon von vornherein mit Zirkusanleihen an seiner Kleidung kam, kam, wurde angemalt.«

»Hm.«

»Glitzer, Schmetterlinge, Blumen.«

»Puh.«

»Die meisten bekamen aber rote Clown-Nasen.«

Paddy stöhnte leise und schaltete das Licht aus.

»Wobei ich dir nicht mit Sicherheit sagen kann, ob alle roten Nasen aufgemalt waren. Bei einigen Herren könnte es auch von … naja, du weißt schon … gluckgluck kommen.«

»Hmm«, brummte Paddy. »Gluckgluck.«

»Der Bräutigam hatte so eine Art Zirkusdirektoranzug an. In Silber. Und die Haare der Braut waren …« Vivian zeichnete mit beiden Händen einen großen Kreis in die Dunkelheit und ächzte auf, als ein scharfer Schmerz durch ihre Schulter fuhr.

»Mmm?«, machte Paddy noch, dann waren nur noch seine regelmäßigen Atemzüge zu hören.

»Ich erzähle es dir morgen.« Vivian drehte sich vorsichtig auf ihre linke Seite, legte die Hand unter die Wange und sah aus dem Fenster, das ein mit Sternen gefülltes Rechteck in die Wand schnitt. Die Wetteraussichten für die nächsten Tage waren sehr gut, also würde nach Sonnenaufgang helles Licht in den Raum fluten. In ihrer ersten Zeit im Cottage hatte die Helligkeit am Morgen sie noch gestört, weil sie in München am liebsten in absoluter Dunkelheit geschlafen und die Rollläden immer komplett geschlossen hatte, sodass weder Straßenlampen noch die Scheinwerfer von Autos ihre Nachtruhe stören konnten. Hier am Cottage gab es nur Fensterläden, die laut klapperten, wenn der Wind blies, aber fast nie für ihren eigentlich Zweck eingesetzt wurden, denn Paddy liebte den Blick aus den Fenstern. Bei Tag und bei Nacht. Weil Vivians Beschwerden aber am Anfang nicht abgeklungen waren, hatte er ihr eines Tages eine Schlafmaske mitgebracht, die ihm eine wohlhabende Französin geschenkt hatte, die mit ihm von Newquay nach St. Mary’s geflogen war.

»Hier, mein Lieber«, hatte sie gesagt. »Originalverpackt, unbenutzt. Bringen Sie das Ihrer Liebsten mit, ich habe meine eigene von Gucci.«

Vivian war in schallendes Lachen ausgebrochen, als sie die Maske aus dem nachtblauen Etui gezogen hatte. »Mit Klunkern? Dann kannst du nachts aber nicht mehr schlafen, weil ich so funkle, Paddy!«

Später hatte sie nach der Schlafmaske gegoogelt und nicht mehr gelacht. Das schillernde Accessoire war von einer bekannten Kristall-Firma exklusiv für die allerbesten First-Class-Kunden einer Airline hergestellt worden und einige tausend Euro wert. Vivian hatte das teure Stück sorgfältig in ein weiches Halstuch gewickelt, es, in gehörigem Abstand zu den anderen Dingen, in einer Schublade verstaut – und ein halbes Jahr später auf Ebay verkauft. Natürlich hätten der Zaun und das Bad warten können, aber sie waren es leid, dass fast täglich Touristen, die am Strand unterwegs gewesen waren, auf ihrem Grundstück auftauchten. Und sie hatten genug davon, dass ihnen in der Wanne ständig Mauerstücke in das Badewasser fielen. Also wurde das Schlafmaskengeld in Holz für den Zaun (sie hatte keine Ahnung gehabt, wie teuer Holz war) und kobaltblaue Kacheln investiert. Auch ein neues Sofa war noch möglich gewesen. Und eine Rate für Paddys Riesenanschaffung aus dem letzten Frühjahr, sein eigenes Flugzeug. Vielleicht war dadurch ein Vorderrad getilgt worden …

Vivian seufzte. Am Himmel war ein winziger Lichtpunkt zu sehen, der wieder erlosch, bevor er erneut aufblinkte und dann hinter dem Fensterrahmen verschwand. Wohin das Flugzeug wohl flog? In die USA vermutlich, New York, Washington, Los Angeles oder San Francisco. Vielleicht nach Kanada. Über den Atlantik jedenfalls. Vivian seufzte noch tiefer und schloss die Augen, um die Sterne nicht mehr zu sehen, die ihr so weit weg erschienen wie das Ende des ersten Kredits, den sie in ihrem Leben jemals aufgenommen hatte.

Hinter ihr raschelte es, dann spürte sie Paddys Hand auf ihrem Rücken. »Ich wollte dich vorhin nicht küssen wegen der Bazillen und deiner roten Nase«, sagte er leise. »Aber ich liebe dich sehr, Vivian Steiner.« Seine Finger glitten wieder von ihr ab. »Und es freut mich, dass dir deine verrückte Arbeit so gefällt«, murmelte er.

Vivian öffnete die Augen. Die Sterne funkelten kalt, und in ihrem Magen breitete sich ein heißes Kribbeln aus.

»Gute Nacht, Paddy«, sagte sie so sanft, wie es ihr möglich war. »Ich liebe dich auch.«

Paddy atmete schwer im Schlaf und warf sich ununterbrochen von einer Seite auf die andere. Regelmäßig schob Vivian seinen Arm von ihrem Gesicht, bis sie um drei Uhr beschloss, das Quartier zu wechseln. Ganz ohne Schlaf wollte sie den neuen Tag nicht beginnen, und sie fand ohnehin keine Position mehr, in der ihre Schulter nicht schmerzte.

Als sie nach unten ging, hörte sie es im Wohnbereich rascheln und blieb kurz stehen, um Tesco genug Zeit zu geben, in seinen Korb zurückzukehren. Vor wenigen Wochen war das neue Sofa geliefert worden, ein schlichter, felsengrauer Dreisitzer mit gebeizten Holzbeinen. Damit war der Ruhestand eingeleitet worden für die alte, teilweise zerschlissene Ledercouch, auf der sich Paddy und Tesco fast täglich am Abend getroffen hatten, um gemeinsam fernzusehen. Vivian hatte die Männerabende auf dem Möbelstück stillschweigend akzeptiert, denn schließlich war sie als Letzte in das Cottage gezogen, zu einer Zeit, als der Bund zwischen Paddy und seinem Golden Doodle schon längst unzerstörbar eng gewesen war. Aber nun, mit dem neuen Sofa, war es Tesco streng verboten, einen anderen Schlafplatz einzunehmen als seinen mit Lammfell ausgelegten Korb.

Vivian wusste, dass Tesco das Verbot jede Nacht missachtete – die Haare auf der Couch und an den Kissen würden ihn in einem Indizienprozess zweifelsfrei überführen –, aber sie war nicht ohne Grund von ihren früheren Kolleginnen und Kollegen häufig als »zu sanfte« Lehrerin bezeichnet worden.

»Braver Junge«, flüsterte sie also, als sie von der Treppe zur Küchentheke schlich. Immerhin hatte Tesco seinen Fehler sofort erkannt und durch Eigeninitiative eine Änderung der Situation herbeigeführt. Vivian hoffte, dass sein schlechtes Gewissen ihn plagen und beim nächsten Mal davon abhalten würde, sich wieder zwischen die Kissen auf der Couch zu schmiegen. Paddy lachte jedes Mal, wenn sie von ihrer pädagogischen Taktik berichtete.

Ihre Müdigkeit war durch die wenigen Schritte wie verflogen, ihr Kreislauf angeregt. Sie schaltete den Fernseher ein und wieder aus, öffnete den Kühlschrank und schloss ihn wieder, schaute auf ihr Handy und legte es wieder weg. Schließlich zog sie Paddys schwarzen Kapuzenpulli an, der über der Lehne eines Küchenstuhls hing, und trat vor das Haus. Tesco, der beim Öffnen der Tür sofort aufgesprungen war, glitt an ihr vorbei ins Freie.

»Aber mach nicht zu wild«, flüsterte Vivian. »Wir werden morgen wieder den gesamten Strand kontrollieren, keine Sorge.«

Sie setzte sich auf die Holzbank neben dem Eingang, schloss die Augen und lauschte. Das Meer schien sich im Schutz der Nacht näher an das Cottage heranzuwagen, seine Wellen bis an den Rand des Grundstücks gleiten zu lassen. Zumindest hörte es sich so an, aber Vivian wusste, dass es eine akustische Täuschung war. Würde sie aufstehen und über den leicht abschüssigen Rasen gehen, träfe sie nach etwa hundert Metern nicht auf forsche Wellen, die ihren angestammten Bereich verlassen hatten, sondern auf das neue Gartentor im neuen Zaun. Dahinter begann der sanft ansteigende Dünenstreifen. Bis zu den Knien würde sie beim Hochsteigen im Sand einsinken, der in einer Mainacht wie dieser samtig-kühl wäre. Auf der anderen Seite würde sie hinunterstolpern, würde bald festeren Sand unter ihren Füßen spüren, der feuchter wurde mit jedem Meter, den sie in Richtung des Rauschens ginge. Und dann erst, nach weiteren Schritten, würden ihre Füße umspült werden von den kalten Wellen des Atlantiks, der unermüdlich Algen, Schlick, Steine und Muscheln an Land legte und in anderer Zusammensetzung wieder mit sich nahm.

Als Vivian die Augen wieder aufschlug, fror sie und in ihrer rechten Schulter pochte ein dumpfer Schmerz. Sie blieb eine Weile unbewegt sitzen und atmete ruhig und konzentriert, bevor sie vorsichtig den Kopf bewegte und dann stöhnend aufstand. Ihr Oberkörper war steif wie ein Brett, und das hier war keine gute Idee gewesen. Sie hätte auch in Lavishly Lavender entspannen sollen, anstatt nachts Stunden auf einer harten Holzbank zu verbringen.

Langsam ging sie ein paar Schritte Richtung Meer. Der Morgen kündigte sich mit einer leichten Blaufärbung des Himmels an, und die scheuen Wellen hatten sich längst wieder auf ihre Tageslautstärke eingependelt.

Von Tesco war nichts zu sehen. Vermutlich war er wieder ins Haus geschlüpft oder lag an der Rückseite des Cottage, wo der Wind weniger zu spüren war und sich eines von seinen insgesamt vier Deckenlagern auf dem Grundstück befand.

Vivian wendete in einem großen Bogen, weil ihre Verspannungen kein normales Umdrehen zuließen, und ging zurück Richtung Cottage, als es hinter ihr plötzlich kurz klapperte. Tesco lief an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und blieb vor der Haustür stehen, engagiert wedelnd und wohl in der Hoffnung, dass sie ihn gleich hereinlassen und nicht die lose Zaunlatte bemerken würde, die immer noch hin und her baumelte.

»Ausbüxen ist streng verboten – und du weißt es!«, rief Vivian.

Tesco schnüffelte übereifrig an der Fußmatte, als habe er dort Spuren gefunden, die zu einer großen Entdeckung führen würden, die für die Menschheit bedeutsamer sein würde als die von Machu Picchu und dem Grab von Tutanchamun zusammen. Seine Ohren, die aussahen wie kleine karamellfarbene Waschlappen, wackelten aufgeregt.

»Absolut streng verboten!«, rief Vivian.

Der neue Zaun hatte nicht nur Spaziergänger davon abgehalten, über ihr Grundstück zu laufen. Er hatte auch dafür gesorgt, dass Tesco seine eigenmächtigen Patrouillen über die Insel nicht mehr durchführen konnte. Das war lange kein Problem gewesen, doch dann hatte sich vor einigen Wochen der Labrador eines Touristen frühmorgens aus dem gemieteten Cottage davongeschlichen und mehrere Hühner von Joe Hammett, einem alteingesessenen Inselbewohner, gerissen. Dieser war in den Tagen darauf jedes Mal vor die Tür getreten, wenn Wanderer mit Hunden sein Haus passierten, und hatte sie gebeten, gut auf ihre Tiere aufzupassen, damit keine schwächeren Lebewesen durch sie zu Schaden kämen.

Das war jedoch nur seine Version der Ereignisse gewesen. Nach übereinstimmenden Berichten der Wanderer hatte er sich mit einer Schrotflinte vor ihnen aufgebaut und gedroht, die »Köter abzuknallen«.

Der Council of the Isles of Scilly, der sich um die Angelegenheit kümmern musste, glaubte den Darstellungen der Touristen und beschloss bei der nächsten Gemeinderatssitzung, dass Hunde nicht mehr unbeaufsichtigt auf der Insel herumlaufen dürften. Nein, auch die Hunde der Eingeborenen nicht, nein, auch nicht der knopfäugige Golden Doodle von Patrick Mitchell, dessen Familie hier seit Generationen lebte.

Vivian war fast am Haus angelangt, als sich die Tür öffnete. Tesco verschwand in Windeseile und machte Platz für Paddy, der wie ein Gespenst ins Freie trat, mit bleichem Gesicht und eingehüllt in die weiße Bettdecke.

Vivian blieb stehen. »Um Gottes Willen … du siehst furchtbar aus!«

»Ich fühl mich auch nicht auf der Höhe meiner Kraft.«

»Du kannst heute unmöglich fliegen.«

»Ich weiß, Viv.« Paddys Stimme war kaum wiederzuerkennen. »Ich rufe gleich Lenny an.«

»Ja bitt, Paddy, tu das.«

»Morgen werde ich aber auf jeden Fall …«

»Paddy!«

»Bitte, Viv. Ich muss fliegen.«

»Jetzt schauen wir mal.« Vivian führte Paddy zurück in den Eingangsbereich.

»Nein, wirklich, Viv. Morgen muss ich wirklich. Bis dahin bin ich wieder …«, er hustete, »… fit.«

»Okay.«

»Wann musst du los?«

»Eigentlich bald. Ist das okay? Soll ich Mabel fragen, ob sie später mal vorbeikommt?«

»Nein, ich will lieber allein sein. Aber könntest du vorher noch mit Tesco ein bisschen gehen? Ich … ich will nur schlafen. Es tut mir leid, aber ich kann heute einfach nicht.«

Während sie Paddy Richtung Treppe schob, warf Vivian einen Blick auf Tesco, der sich, erschöpft von der unerlaubten Insel-Streife, gerade in seinem Korb zusammenrollte und definitiv keinen weiteren Spaziergang brauchte.

»Ich schaff das alles schon«, sagte sie und überschlug die Dinge, die heute anstanden. »Mach dir keine Sorgen, Paddy.«

Kapitel 3

Auf dem Weg zur Galerie addierte Vivian im Kopf Fotohonorare zusammen, die sie bald in Rechnung stellen konnte. Dann versuchte sie sich an die Summe zu erinnern, die Paddy für einen ausgebuchten Flug netto übrigblieb, und überschlug schließlich, wie viel Geld sie jeweils in den nächsten Monaten mindestens verdienen müssten, wenn sie im Herbst in den Urlaub fahren wollten, zum ersten Mal in den fast zwei Jahren, die sie jetzt hier auf St. Mary’s wohnte und arbeitete.

In ihrem früheren Leben waren Ferien und Finanzen zwei der wenigen Dinge gewesen, um die sie sich nicht ständig Gedanken gemacht hatte. Beides war zuverlässig gekommen, das eine an jedem Monatsende, das andere alle paar Wochen. Ihr Gehalt und die unterrichtsfreien Zeiten hatten den soliden Boden ihres Daseins gebildet, die verlässlichen Bretter der Bühne, auf denen sich die kleinen Dramen ihres Lebens abspielen konnten, ohne dass sie sich um das Materielle oder zu viel Stress Sorgen machen musste.

Inzwischen war Paddy wie sie freiberuflich und alles anders. Als er vor gut einem Jahr die gebrauchte Beechcraft mit den acht Passagiersitzen in einem Flugforum entdeckt hatte, war es um ihn geschehen gewesen. Die Aussicht auf ein eigenes Flugzeug und eine »eigene Fluggesellschaft« war zur verlockend, und er hatte sämtliche Vorteile einer Festanstellung weggeschleudert wie einen Apfelbutzen, den man bei einer Wanderung in hohem Bogen ins Gebüsch wirft.

»Damit kann ich dich auch mal am Wochenende nach Marrakesch fliegen, Liebste«, hatte Paddy gesagt, »nach Paris oder nach Helsinki!«

»Damit kannst du auch furchtbar auf die Nase fallen«, hatte Vivian geantwortet. Ihr war der Plan nicht geheuer gewesen, nicht nur wegen der Riesensumme, die das Flugzeug kostete. Denn mit Skybus gab es seit Jahrzehnten eine Airline, die Besucher vom Festland auf St. Mary’s flog, über zwanzig Flugzeuge besaß und mit Tourismusverbänden bestens vernetzt war. Wie sollte Paddy mit seiner Mini-Flotte da eine Chance haben?

»Meine Chance ist meine Flexibilität«, hatte er geantwortet. »Das war mein ganzes Leben schon so.«

Der erste Sommer lief gut, weil Paddy einsprang, wenn bei Skybus alle Flüge ausgebucht waren. Lenny rief ihn im Juli und August fast täglich an, weil es so viele Touristen gab, die St. Mary’s spontan einen kurzen Besuch abstatten und dafür nicht die Fähre nehmen wollten, die fast drei Stunden für die Überfahrt ab Penzance brauchte.

Paddy verdiente so gut, dass ihn und Vivian zunächst nicht störte, wie sehr sie von Skybus abhängig waren. Er nannte seine Airline Vivair und freute sich tagelang über ihre Freude. Er bat einen ehemaligen Klassenkameraden aus Irland um die Erstellung einer Website und war zunächst nicht betrübt, dass der erfreuliche Freundschaftspreis auch bedeutete, dass es immer wichtigere, weil lukrativere Aufträge gab und der Launch von vivair.uk Monat für Monat verschoben werden musste. Es lief ja auch so gut.

Doch dann verabschiedeten sich der Sommer und die Touristen. Zwischen September und November rief Lenny genau dreimal an. Die kalten Monate kamen und korrigierten den Wasserstand auf ihrem Gemeinschaftskonto noch einmal drastisch nach unten. Ebbe und Flut wechselten sich nicht ab, denn alles floss nur ab, es kam nichts mehr hinzu. Dauer-Ebbe quasi, denn auch die Galerie warf im Winter nicht viel ab. Das war auch im Jahr davor so gewesen, aber da hatte es noch nicht die Last einer sechsstelligen Kreditsumme gegeben, die sie die nächsten Jahre und Jahrzehnte gemeinsam abzahlen müssten.

Vivian ging jetzt durch die Jerusalem Terrace, wo sich die einstöckigen Steinhäuser aneinanderschmiegten und sämtliche hölzernen Eingangstüren in einer anderen leuchtenden Farbe gestrichen waren. Vivian hatte sie alle für die aktuelle Ausstellung in der Galerie fotografiert, aber heute keinen Sinn dafür, genauso wenig für den glänzenden Himmel und den Duft nach Meer und Zitrone. Erst als sie in die Hugh Street einbog, sah sie bewusst nach links zu dem ehemals blauen Haus, das in der Vormittagssonne so weiß und rein leuchtete wie Papier. Die Umbauarbeiten am früheren Hazel’s Heaven waren noch nicht abgeschlossen, und es war gut möglich, dass die Fassade noch einen anderen Anstrich bekam, aber eines war sicher: Das Café mit den köstlichen Scones und Croissants war Geschichte, seit Hazel, seine Besitzerin, die Insel kurz vor Weihnachten fluchtartig verlassen hatte. Keiner wusste, warum sie das getan hatte, nicht einmal Mabel, die seit vielen Jahren mit Hazel befreundet und über ihr Verschwinden tieftraurig war, zumal einige Monate zuvor schon ihre Bridgefreunde Theo und Janet zu ihrer Tochter nach Reading gezogen waren.

»Inselkoller«, raunten die einheimischen Frauen, wenn sie zusammen im einzigen Supermarkt von St. Mary’s an der Kasse standen und über Hazels Beweggründe mutmaßten. »Die einen trifft es nie, die anderen hart.«

»Da ist doch ein Herr im Spiel«, konstatierten die Männer am Tresen vom Mermaid Inn, weil ein anderer Grund für Hazels Fortgang außerhalb ihrer Vorstellungskraft lag. Sie kannten niemanden über fünfzig, der St. Mary’s oder eine der anderen Isles of Scilly freiwillig (also nicht tot oder krank) einmal dauerhaft verlassen hatte. Die Jungen, ja, die gingen nach der Schulzeit aufs Festland, um zu studieren oder eine Ausbildung zu machen, aber warum sollte man von hier als älterer Mensch weg, wenn man ein Auskommen hatte. Hazel’s Heaven war doch eins a gelaufen, hervorragende Lage am Hafen, unübersehbar für jeden Besucher, der von der Fähre kam.

»Vielleicht wollte sie noch einmal etwas ganz anderes machen, bevor es nicht mehr geht«, hatte Mabel zu Vivian gesagt. »In unserem Alter bleibt einem nicht mehr so viel Zeit.«

Paddy war nach Hazels Abschied unruhig und seltsam gewesen. Mehrere Tage schienen seine Zukunftsvisionen Achterbahn zu fahren. An manchen Morgen sprach er davon, dass er schon immer ein Gemüsebeet anlegen wollte, um abends zu verkünden, dass ihn nichts dazu bringe, jemals Gartenarbeit zu verrichten, er sprach hin und wieder davon, die verdammte Insel ebenfalls zu verlassen und für ein Jahr um die Welt zu reisen, und stand Stunden später vor ihrem Cottage und bezeichnete seine Heimat als schönsten Ort auf dem Planeten und die Idee mit dem eigenen Flugzeug als die beste, die er jemals gehabt hatte.

Vivians Gedanken und die Zahlenkolonnen in ihrem Kopf stoppten erst, als sie vor den zwei verwitterten Stufen stand, die zum Eingang der Galerie führten. Sie zupfte ein paar Blätter von den Ranken des Efeus, der sich von drei Seiten auf die türkisfarbene Tür zuschob, drehte sich dann um, ging zurück bis zu dem Holzschild am Wegrand und schob die Zweige des Ginsterbusches zur Seite, damit die Aufschrift zumindest nicht ganz verdeckt wurde. Founded by John Hunter, now run by his daughter Vivian Steiner. Jetzt erst einmal schön auf das Wesentliche konzentrieren, sagte sie sich und lehnte den Kopf weit nach links, damit das regelmäßige Trommeln in ihrer rechten Schulter nachließ. Kommt Zeit, kommt Rat, kommt Geld. Morgen ist ja auch noch ein Tag.

Kapitel 4

Wenn Vivian den Auftrag bekommen würde, Mabel in einer für sie typischen Position zu fotografieren, hätte sie in diesem Moment auf den Auslöser drücken müssen. Mabel stand hinter der Theke, die Augenbrauen weit hochgezogen, die Lesebrille auf der Nasenspitze, das Handy eine Armeslänge von sich weggestreckt. Sie murmelte etwas, der Mund dabei von den Fingern der freien Hand fast verdeckt.

»Hi Mabel«, rief Vivian und stellte ihren Rucksack neben der Treppe ab, die in den ersten Stock führte. »Na, wieder Selfie-Time?«

Mabel ließ das Telefon sinken und kicherte. Mabel kicherte stets in Reinform. Warm und fröhlich, glucksend wie ein Gebirgsbächlein. Ihr einst kurzes graues Haar war über den Winter gewachsen und hatte jetzt fast Schulterlänge erreicht, was dazu führte, dass sie mit dem Zeigefinger Haarsträhnen hinter die Ohren schob, wenn ihre Hände dafür Zeit hatten – was selten vorkam.

»Ich habe hier einige Rezepte für herzhafte Muffins gefunden«, erklärte sie, während Vivian die Wand zwischen zwei großformatigen Fotografien abtastete. »Mit Käse und Schinken, ganz rustikal also, aber auch à al Carbonara und … Moment, das war etwas ganz Besonderes … mit Rosmarin und …«

»Siehst du den Riss von dir aus?«

»Wie bitte?«

Vivian wandte sich um. »Der Riss hier wird immer größer, aber ich kann die Bilder nicht enger aneinanderhängen.«

Mabel schob ihre Brille nach oben. »Also, man muss schon sehr genau hinsehen, um …«

»Quatsch, das erkennt sogar ein Blinder, dass hier die gesamte Wand aufplatzt!«

»Tja, dann bin ich wohl blind. Im richtigen Alter dafür wäre ich ja allmählich.« Mabel legte ihr Telefon ab und begann, mit einem Lappen die Oberfläche des Tresens zu wischen. »Putzen kann man Gott sei Dank auch noch mit eingeschränkter Sehkraft.«

»Mabel, es tut mir leid.« Vivian schloss kurz die Augen und presste zwei Finger an die Nasenwurzel. »Ich habe es nicht so gemeint. Es ist nur so … Ich habe das Gefühl, dass hier alles allmählich auseinanderbricht und ich nicht hinterherkomme mit allem. Alles verwildert hier oder wächst zu oder springt auf oder blättert ab oder fällt runter. Oder sehe ich das zu kritisch?«

»Ach Liebes.« Mabel hatte den Lappen liegen lassen und war hinter dem Tresen hervorgekommen. »Jetzt mal ganz ruhig. Du siehst nicht besonders gut aus, ist alles in Ordnung?«

»Ich bin Mr. Chapman wahnsinnig dankbar, dass er die Miete so moderat hält.« Vivian presste ihre Hand auf den Riss, der sich wie ein Bleistiftstrich über die Wand zog. »Aber eigentlich wäre es am besten, wir müssten überhaupt keine Miete zahlen, damit wir hier endlich einmal gründlich renovieren könnten, die Wände, den Boden, das Dach! Und meine Ausrüstung bräuchte übrigens auch mal eine Kernsanierung und bei uns im Cottage ist längst auch noch nicht alles … Mr. Chapman braucht das Geld doch eigentlich gar nicht und … Ach, Mabel, sorry, ich wollte eigentlich gar nicht so viel jammern, aber …«

»Aber es ist okay«, sagte Mabel leise. »Komm mal her und lass dich …«

»Au, aber Vorsicht, Mabel, ich bin so verspannt hier überall, es tut wirklich richtig weh, wenn …«

»So? Geht es so?«

»Ja, so geht es.«

»Dann bleiben wir so eine Weile.«

»Okay.« Vivian legte ihr Kinn auf Mabels Kopf. »Es geht auch gleich wieder.« Sie sah durch das Panoramafenster auf das Meer, das gleichmütig Wellen Richtung Küste schob. Was für eine tolle Aussicht, sagten alle, die zum ersten Mal hier waren. Was für ein toller Arbeitsplatz. Sie arbeiten wirklich im Paradies, Frau Steiner.

»Ich kann mir gut vorstellen, wie es gerade für dich ist«, sagte Mabel leise. »Wir haben mit der Galerie ein Plateau erreicht und wissen gerade noch nicht, wie wir die Umsätze noch steigern können mit unseren Mitteln. Und dann noch die Schulden.«

Vivian kniff die Augen zusammen. Schulden. Sie sprach vor sich selbst und anderen gegenüber immer von Kredit, das klang kühler und gelassener, weniger prekär.

»Aber ich sage dir jetzt mal was.« Mabel presste zwei Finger in Vivians Rücken, als wolle sie dort einen Doppelpunkt einstanzen, bevor sie weitersprach. »Was du hier aufgebaut hast, ist phänomenal. Erstens. Und wenn alle Stricke reißen …«

»Ja?«

»Dann verkauft ihr das Flugzeug einfach wieder, Paddy lässt sich wieder anstellen und alles ist wieder wie vorher.«

»Paddy will es nicht wie vorher, Mabel, das weißt du. Und ich finde das gut. Ich bin auch hierhergekommen, weil ich es nicht mehr so wie vorher haben möchte. Und das Flugzeug könnten wir ohnehin nur mit großem Verlust verkaufen, es ist ja schon ziemlich alt.«

»Ja, aber bevor ihr am Hungertuch nagt, verkauft ihr wieder, in Ordnung?«

»Natürlich, Mabel, ist doch klar. Das sind ja auch alles Luxusprobleme.« Vivian löste sich aus der Umarmung. »Es geht schon wieder, es war einfach eine kurze Nacht nach einer sehr langen Hochzeit. Ich fang dann mal mit der Bildbearbeitung an. Die Zirkusmenschen wollten ihre Bilder so schnell wie möglich.«

»Und ich mach dir einen schönen Espresso.«

»Danke. War Polly schon wach, als du gegangen bist?«

»Nicht nur wach. Sie ist sogar mit mir gekommen und arbeitet seit zwei Stunden oben.«

»Es geschehen noch Zeichen und Wunder.«

»Immer wieder, Vivi, immer wieder.«

»Bis später, Mabel.«

»Ähm, Vivi?«

»Ja?«

»Weil du vorher das Selfie erwähnt hast …«

»Doch nur aus Spaß.«

»Ich weiß.« Mabel war wieder hinter die Theke gegangen und hatte den Lappen zu einer länglichen Wurst gedreht. »Es ist so: Ich habe tatsächlich schon ein paarmal versucht, ein Selfie zu machen, aber die Ergebnisse haben mir nicht gefallen. Da gucke ich so angestrengt, habe ein Doppelkinn und irgendwie sind auch immer meine Oberarme zu sehen. Ich wollte dich fragen, ob du ein paar schöne Aufnahmen von mir machen könntest, weil …« Sie rollte die Lappen-Wurst einmal nach vorne und zurück und Vivian schwieg höflich, auch wenn sie wusste, worauf das Gespräch hinauslaufen würde.

»Weil ich mich entschlossen habe …« Mabel holte tief Luft. »Ich habe mich dazu entschlossen, ein Profil im Internet anzulegen. Beziehungsweise …« Auf ihren Wangen erschienen zwei Kreise, die sich rasch mit roter Farbe füllten. »Ich habe es bereits angelegt. Aber nur mit einem wirklich schrecklichen Selfie, auf dem eigentlich zu zwei Dritteln nur mein Arme zu sehen sind.«

»Auf der Plattform, die Paddy dir empfohlen hat?«

»Genau dort.« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Dort, wo Paddy die Frauen immer zu … nun, zu reif waren.«

»Das finde ich richtig gut, Mabel.«

»Naja, Hazel ist weg und ich möchte nicht als alte Schachtel hier einsam und allein versauern.«

»Du wirst niemals hier versauern, weil Paddy und ich immer für dich da sein werden. Immer.«

»Das weiß ich sehr zu schätzen, Vivi. Aber es ist …« Mabel rollte den Lappen wieder auf und legte ihre flache Hand darauf. »Es ist einfach nicht …«

»Nicht dasselbe, ich weiß.«

»Ich bräuchte also schöne Bilder von mir.«

»Das sollte nun wirklich in keinerlei Hinsicht ein Problem darstellen. Wollen wir das gleich morgen machen?«

»Nein, Vivian, es eilt wirklich nicht. Mach du erst einmal deine Arbeit und dann …«

»Morgen also.« Vivian nahm ihren Fotorucksack und stieg die Treppe hinauf. »Freu mich schon, Mabel«, rief sie noch und lächelte, als ein Kichern aus dem Erdgeschoss zu ihr drang.

»Ordner sind angelegt.« Polly sah nicht auf, während sie in schnellen Rhythmus etwas tippte. »Trauung, Empfang, Abend. Und die Erdbeeren sind für dich.«

Vivian nahm die braune Tüte von ihrer Tastatur und überprüfte rasch, ob sie noch sauber war. »Danke«, sagte sie.

»E-Mails sind fast alle beantwortet. Nur eine musst du noch einmal ansehen. Eve McIntire hat geschrieben.«

»Wer ist das?« Vivian stellte den Rucksack auf ihren Schreibtisch und begann die Kameras auszupacken. »Den Namen hab ich noch nie gehört.«

»Du hast ihn nur verdrängt, weil du nach der Zusammenarbeit mit ihr vier Wochen wie ein Lavendelkissen gestunken hast. Du kannst doch Eve nicht vergessen haben, die Hochzeitsplanerin, die sich anhört wie Siri und auch auf jede Frage und jedes Problem eine Antwort wusste.«

»Ach so, die war das. Was möchte sie denn? Mehr Bilder für ihre Klientin?«

»Sie möchte, dass du die Hochzeit der Cousine der Lavendel-Braut fotografierst, die da heißt … Rebecca Wallace.«

»Auf keinen Fall.«

»Warum denn nicht?«

»Auf keinen Fall, Polly.«

»Wäre aber in New York. Oder irgendwo in der Nähe von New York.«

Vivian ließ sich seufzend in ihren Stuhl fallen. »Wann wäre es denn?«

»Letztes Maiwochenende.«

»In der Woche danach ist der Workshop für Mr. Chapman und seine Freunde. Ausgebucht und gut bezahlt. Vergiss es. Dafür muss ich mich gut vorbereiten.« Vivian zog die Speicherkarte aus der ersten Kamera. »Ganz schön kurzfristige Anfrage.«

»Es gab wohl eine Terminkollision bei dem ursprünglich geplanten Fotografen und …«

»Sag ab, Polly. Es geht zeitlich nicht und wir machen nicht den Ersatz für jemanden. Sag ihr das.«

»Aber …«

»Sag bitte ab und sag ihr, dass wir für niemandem den Ersatz machen.

---ENDE DER LESEPROBE---