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Eine packende Reise in die frühen Jahre der USA. Hals über Kopf verlässt der junge Gregor Schoenheit im frühen 19. Jahrhundert seine Heimat im Schwarzwald und besteigt ein Schiff in die Neue Welt. Dort hofft er, wie so viele andere auch, sein Glück zu machen. Er wird Assistent eines Berufsspielers, Büchsenmacher in St. Louis, Wagenschmied in Bent's Fort, Treckführer auf dem Santa‑Fe-Trail, heiratet eine Cheyenne und gerät als Captain der US-Kavallerie in die blutige Hölle der Schlacht von Shiloh, bevor er endlich seine Bestimmung findet.
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Seitenzahl: 709
Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden, wenngleich sie in ein historisches Umfeld mit realen Ereignissen und Personen eingebettet ist. Die Handlungen und Gedanken dieser Personen, wie aller anderen in der Erzählung, sind Teil der Fiktion. Eine Erläuterung der Begriffe und Namen findet sich im Anhang.
© 2024 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung der Motive von arcangel.com/Carolyn Fox, Wikimedia-commons
Lektorat: Lothar Strüh
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-187-4
Originalausgabe
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»Does your hat ever blow off, Captain?«, Brookshire asked.
»Rarely«, Call said.
I
AUFBRUCH
1
Das erste Geräusch der Welt war das Ticken der Uhren. Die Uhren tickten von der Wand aus ihren Kästen und schwangen den ganzen Tag lang ihre Pendel, als täten sie etwas Bedeutsames, gleich lebenden Wesen, die ihren Platz nicht verließen. Gregor ging in verhaltener Andacht an ihnen vorbei, sie nicht zu stören bei ihrem unbewegten Fortschreiten, denn obgleich sie durcheinandertickten, hielt jede Strenge und Maß für sich, unabänderlich.
Er wuchs mit ihnen auf und wurde verständig. Hörte mit der Zeit vieles noch, aber die Stimmen der Uhren blieben, wie sie waren. Einander ähnlich und doch jede einzeln für sich. Einem Kind gaben sie nicht preis, was sie inwendig antrieb, die hölzernen Türchen an ihren Seiten mussten verschlossen bleiben. So ruhten sie an der Wand, während in ihrem Innern etwas voranwollte mit deutlichem Schreiten, ohne dass erkennbar war, wohin, als handle es sich um verborgene Wege und um geheime Absichten. Die Gewichte sanken tiefer Stunde um Stunde, und die Zeiger drehten sich im Kreis, nahmen Maß, Stunde für Stunde, und gaben nichts zurück.
Sie zeigen die Zeit, sagte die Mutter. So nahm das Kind dies als ihre Aufgabe und gewiss keine geringe, denn die Zeit, das verstand auch Gregor, war für alle da, und alle mussten ihr dienen. Bedeutsam, aber nicht zu greifen. Außer man schaute auf die Zeiger einer Uhr, welche sie einfingen und in eine kreisende Bewegung verwandelten, als komme die Zeit von irgendwoher zu den Uhren und treibe sie an, weil sie wollte, dass man sie sah. Vielleicht träumten die Uhren von der Zeit, und es war dies, wovon sie einander erzählten.
Weshalb ihr Wesen anders sein musste als das der Menschen, welche leicht aufbrausten, sich vergewissern wollten, klagten, forderten und selten miteinander eins waren. Oft befand sich eine Stimme darüber und eine darunter. Wenn der Herr Wehrle unten am Treppenabsatz stand und nach dem Geld fragte und die Mutter ihm darauf Antwort gab, zusehends leiser, der Herr Wehrle indessen lauter, so lange, bis die Mutter verstummte, obgleich sie doch oben stand und der Hausbesitzer unten. Zu Gregor sagte sie, nachdem sich die untere Tür geschlossen hatte, es sei gut. Aber Gregor wusste, es war nicht gut.
Die Stimmen der Uhren ließen sich nicht beirren. Weder voneinander noch von etwas, das um sie war, eine jede wisperte ihren Reim. Sie schwangen geruhsam ihre Pendel, und alle halbe Stunde hob in ihren Kästen ein Rasseln an, als fahre die Postkutsche über die Holzbrücke unten an der Aach, und die Hämmer schlugen – nicht auf Glocken, das hätte den Herrn Wehrle gestört, sie schlugen auf Filzpolster, bis sie fertig damit waren, die Stunden abzuzählen. Dann tickte es weiter, unbeirrt und jede für sich. Dafür liebte Gregor die Uhren.
So ähnlich ihr Wesen, so verschieden war ihre Erscheinung. Wieso die Schilder einmal gelb waren, dann wieder blau und rot? Weil sie in verschiedene Länder reisten, erfuhr Gregor von der Mutter, die am Tisch saß und mit feinem Pinsel rosafarbene Bauernrosen auf ein Schild malte. Sie reisten zu den Franzosen, den Spaniern und den Engländern und sogar nach Übersee. Damit erfuhr Gregor, dass es solche Länder gab. Länder, in welche Uhren reisten, nicht aber die Menschen. Die Einwohner von Tennenbach pflegten nicht zu reisen. Unter allen fernen Ländern erschien Gregor das Land Übersee am geheimnisvollsten. Er wagte nicht, danach zu fragen, da er die Mutter nicht in Verlegenheit bringen wollte, zumal er sicher war, dass selbst sie nichts darüber zu sagen wusste. Es genügte ihm, dass es ein solches Land Übersee geben mochte dort draußen in der Welt.
Indessen konnten die Uhren erst reisen, wenn ihre Schilder fertig gemalt, die goldglänzenden Zeiger darangesteckt, Gewichte und Pendel angebracht waren und wenn sie eine Weile getickt hatten, sie zu prüfen, ob sie richtig gingen. Um sie zu stellen, verschob man einfach die Pendellinse ein kleines Stück nach oben oder nach unten, dann gingen sie schneller oder langsamer. Das begriff auch ein Kind, und der Sechsjährige durfte diesen bedeutenden Vorgang mit eigener Hand ausführen. Dies getan, ging er, erfüllt von solcher Verrichtung, durch die Stube und betrachtete die neugeborenen Uhren mit Respekt, wie sie nebeneinanderhingen. Blieb auch einmal vor einer stehen, die ihr Pendel schwingen ließ, und sah zu ihr hoch.
»Du«, sagte Gregor, ihr gleichsam seinen persönlichen Segensspruch erteilend, »du gehst alsbald nach Spanien, denn du hast gelbe Blumen auf dem Schild. So geh mit Gott und gute Reise und zeige immer richtig die Zeit.«
Spanien musste ein Land sein, in dem alles gelb war. Gut, vielleicht nicht alles, aber doch zumindest die Kleider der Leute und die Häuser, die Kutschen ohnehin, gerade so gelb wie die Post. Auch das Rathaus in Tennenbach mit seiner Fassade aus Tannenschindeln war gelb gestrichen, also konnten die Spanier ihre Häuser auch gelb haben, wenn ihnen das gefiel. Die Franzosen hingegen trugen rosa Kleider und lebten in rosafarbenen Häusern, gemäß der Farbe, welche die Apfelrosen auf den Schildern der Uhren aufwiesen, welche nach Frankreich gingen.
Überhaupt malte die Mutter Apfelrosen am liebsten. Die gelangen ihr auch am besten, fand Gregor, der sie in der Natur kannte, denn sie wuchsen vor dem Haus über einem Spalier. Je zwei bauchige Apfelrosen zierten solch ein Uhrenschild inmitten eines Blumenstraußes, der in einem hübsch gemalten Spankörbchen steckte. Das Ganze umrahmt von einem Fries aus Streublumen, wie man sie an Sommertagen auf den Tisch legte, damit alles schön sei. Selbst die Löcher, in welche man den Schlüssel hineinsteckte, um die Gewichte aufzuziehen, verband eine zarte Girlande aus blauen Blumen: Veilchen, wusste Gregor. Er lernte viel.
Im Frühling ging es nach den Bergmännchen oder Feuersalamandern, welche man zu dieser Zeit in den Bächen finden konnte. Feuer konnte ihnen angeblich nichts anhaben, nachdem sie Kälte in sich trugen und das Feuer vor ihnen weichen musste. Dies war ein Geheimnis und nicht zu erklären, deshalb brachte es Unglück, einen Salamander zu töten. Aber jagen durfte man sie. Genau gesagt, ihre Quappen, welche im Wasser schwammen und bis zum Frühjahr tüchtig herangewachsen waren. Mit ihren gefleckten Drachenleibern machten sie mehr Eindruck als die kleinen Kaulquappen, aus denen später Frösche und Kröten wurden. Weshalb man die Salamanderquappen fing und sich in Gläsern hielt. Dabei zählte, wer die größte von ihnen fangen konnte. Auf solche Jagd ging Gregor mit seinem Freund Friedel Messner, dem Sohn des Postmeisters.
An diesem Morgen lagerten sie von der Jagd erhitzt auf einem Moosplacken. Kleine Rinnsale umflossen den sonnenbeschienenen Rastplatz, sie strömten als silberne Adern vom Berg herunter durch den Wald. Ab und zu bildete eines dieser Rinnsale einen Gumpen, eine Armlänge tief, dessen Grund nur sichtbar wurde, wenn man den Kopf schräg ins Moos drückte. Dann verwandelte sich der Wasserspiegel in ein Fenster und ließ einen die Salamander sehen, wie sie auf den modernden Blättern hockten, mit denen die Gumpen ausgekleidet waren.
Etliche schwammen bereits in den Gläsern der Buben. Die Quappen stießen mit ihren Mäulern gegen das Glas, glotzten mit lidlosen Augen heraus und ließen sich mit gespreizten Beinen hinuntersinken, als gäbe es in dem Glase, welches sie der Willkür der Buben auslieferte, einen eigenen Plan für sie. Sie begriffen nicht, dass sie sich in Gefangenschaft befanden, und behielten ihre ganze Wildheit, weshalb es sich ganz köstlich anfühlte, sie zu haben.
Friedel schmollte. Er behauptete, Gregor habe ihm den größten Molch weggeschnappt, welchen er schon als seine sichere Beute ausgemacht hatte. Und fing auch sogleich wieder davon an, wie sie auf dem Moos saßen, aus welchem eine wohltuende Kühle heraufstieg, während die Strahlen der Sonne durch die Tannenzweige mit heißen Nadeln auf ihre Gesichter stachen.
»Es war meiner. Ich hab ihn zuerst gesehen.«
»Aber ich hab ihn gefangen«, sagte Gregor.
So war Friedel. Aufbrausend, er konnte nicht beigeben. Man musste einfach warten, dann beruhigte er sich. Aber Friedel beruhigte sich nicht.
Er starrte eine Weile auf Gregors Glas, dann schubste er es mit einer plötzlichen Bewegung um, und das Wasser floss ins Moos. Gregor gelang es gerade noch, die Molche, die so schnell nicht gewahr wurden, dass ihnen die Chance auf Freiheit zuteilwurde, daran zu hindern, sich davonzumachen. Zappelnd rutschten sie ins Glas zurück, und Gregor stand auf, um es nachzufüllen.
»Tu das nicht noch einmal«, sagte er, als er zurück war und das Glas wieder im Moos abstellte, außerhalb von Friedels Reichweite.
»Tu das nicht noch einmal«, äffte Friedel ihn nach. »Und wenn doch?«
Gregor antwortete nicht.
Friedel machte ein schnaubendes Geräusch mit dem Mund.
»Du«, zischte er und schnaubte noch einmal, diesmal durch die Nase. »Du überhaupt!«
»Was ich? Und überhaupt?«
»Deine Mutter!«, stieß Friedel hervor.
»Was ist mit meiner Mutter?«
Gregor spürte, wie ihm kalt wurde unter dem Haardach. Dort schienen Eiskristalle zu wachsen, und seine Schultern wurden zu gleicher Zeit seltsam steif.
»Deine Mutter«, sagte Friedel noch einmal, ihn von unten herauf anschauend.
Gregor spürte eine Welle der Empörung vom Bauch herauf, sie ging ans Herz und in die Arme, so schnell, dass er selbst davon überrascht war. Er musste Friedel hart am Kragen packen.
»Was ist mit meiner Mutter?«, schrie er. Und bekam Angst vor dem fremden Ton in seiner eigenen Stimme, und Friedel, als sei mit diesem schrillen Ton das Ungeheuerliche herbeigerufen, gab, Gregors Hände von seinem Hals zerrend, in derselben Tonlage zurück.
»Die hat es doch mit dem Wehrle!«
Ohne dass Gregor begriff, welchen Inhalts diese Aussage sein könne, schlug er Friedel ins Gesicht, die innere Welle endete in seiner Faust. Mit der Linken hielt er Friedels Kragen umklammert, und mit der Rechten schlug er in einer harten und überlegten Bewegung noch einmal zu. Unter dem Knöchel spürte er Friedels weiche Bubenwange, er schaute sich selbst zu, als sei nicht alles von ihm beteiligt bei dem, was hier geschah.
Friedel stieß sich von ihm weg, ließ sich ins Moos fallen und heulte laut auf.
Gregor fühlte sich kalt und wach. Er war außer sich und bereit, Friedel noch einmal zu schlagen, wenn es sich als nötig erweisen sollte. Die Salamander glotzten aus ihren Gläsern heraus und hielten ihre schwarzen Beine steif. Erst als der Freund sich zusammenkauerte und anfing zu schluchzen, fand Gregor zurück in seine Haut. Er rutschte zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. Versprach ihm den großen Molch, den er nicht bekommen hatte, und wollte nichts anderes mehr, als dass Friedel wieder gut und alles nicht geschehen sein sollte.
Aber es hatte sich etwas geändert zwischen ihnen.
Die frühere Unbefangenheit, dass sie alles füreinander sein konnten, war vorüber. Von nun an war Gregor der Anführer. Er nahm Friedels Fügsamkeit an und wusste nicht, ob ihm dies angenehm war, aber Friedel ließ ihm keine Wahl, als wäre seine Unterwerfung die Rache für den Schlag ins Gesicht.
Was oder wer eigentlich ein Leviathan sei, wollte Gregor später von der Mutter wissen, als er zurück war und das Glas mit dem großen Salamander ans Küchenfenster gestellt hatte. Das sei, antwortete die Mutter mit einem strafenden Blick auf das Glas, ein Meeresungeheuer, von welchem in der Bibel erzählt werde. Gott habe es zum Anbeginn der Zeiten geformt, um mit ihm zu spielen, jedoch erst, nachdem er die Welt an jedem der sieben Tage geordnet und genährt habe, und so stehe der Leviathan außerhalb der Dinge als ein Unwesen der Schöpfung. Das heiße aber nicht, fuhr die Mutter fort, dass das Glas hier am Küchenfenster bleiben könne. Der Salamander gehöre so bald als möglich zurück in den Bach.
An diesem Abend stand Gregor vor dem Herd, in welchem noch rote Glut war. Drüben in der Stube malte die Mutter Uhrenschilder. Über das, was mit dem Friedel geschehen, wusste sie nichts, auch nicht, was der über sie gesagt. Gregor ging zum Küchenfenster und brachte sein Gesicht an das Glas. Das Antlitz des Salamanders im Schein der Lampe war uralt und gleichgültig gegen alles. Er glotzte Gregor unverwandt an, und seine Krallen tasteten gegen die gläserne Wand, dazu rührte er den gezackten Schweif. All dies schien eine lauernde Absicht zu enthalten, eine abgründige Bosheit. Und Gregors Groll, welchen er gegen Friedel empfunden, richtete sich nun gegen das Tier, welches für alles Anlass gewesen war. Dass die Unschuld aus dem Spiel der Knaben verschwunden war und auch aus allem anderen. Als wäre dies der Fluch des Salamanders dafür, dass man ihn herausgeholt aus seinem Versteck.
Wart nur, dachte Gregor. Er öffnete die Ofenklappe, hob den Deckel vom Glas, griff hinein und warf das zappelnde Tier in die Glut. Es zischte, und der schwarze Umriss des Salamanders stand für einen Moment wie ein Weichbild in den Flammen. Für einen Herzschlag meinte Gregor, starr vor Angst, das Feuer müsse nun erlöschen und etwas Schlimmes werde eintreten. Aber das Feuer brannte weiter, und die Uhren an der Wand tickten weiter. Sie weilten als Gäste in der Welt der Menschen und waren nicht zuständig für das, was diese umtrieb.
2
Als er zehn Jahre alt war und der Schnee schmolz, der die Wege unpassierbar machte, durfte Gregor mit dem Beha gehen, von welchem die Mutter die frisch gehobelten Uhrenschilder erhielt, die sie bemalte. Der Uhrenträger brachte Draht und Blech hinauf zu den Bauern und holte die fertigen Uhrengestelle wieder ab, welche daraus gemacht wurden. In Tennenbach war er eine Erscheinung, der Beha. Ein Mann, der durch den Wald wanderte, einer, der viel herumkam. Im Wirtshaus wusste er zu berichten, dort erzählte man ihm wieder das Neueste. Dinge von Belang, worüber man sich austauschte in dieser Zeit, als die Franzosen fortgejagt waren und alles die neue Ordnung fürchtete, von der keiner wusste, ob sie besser würde als die alte.
Am Morgen hatte der Beha vor dem Haus unter dem Apfelrosenspalier gestanden, die Kiepe auf den Boden gestellt, und seinen Blick über Gregor wandern lassen, welcher neben der Mutter stand. Hatte seine Pfeife vom rechten in den linken Mundwinkel geschoben und gefragt, ob der Bub ihm wohl helfen könne. »Willst du?«, hatte die Mutter gefragt. Und Gregor hatte genickt.
So kam es, dass Gregor mit seinem Rucksack nun hinter dem großen Mann bergan wanderte, den Blick auf die schwere Trage gerichtet, von deren Besitzer bloß die Beine zu sehen waren mit den Hafteln an der Kniehose und den kräftigen Waden in Wollstrümpfen. Ein Zylinder ragte über die Kiepe, verschossen von Wind und Wetter, würziger Tabakrauch hing in der Luft und folgte dem Beha nach, bis die Pfeife nach zwei Stunden kalt war und nicht mehr dampfte. Das Gestell mit Hut und zwei Beinen indessen wanderte weiter und stand nicht still, bis man selber seine Beine kaum mehr spüren konnte. Lichtstäbe lehnten an den Tannen, geschaffen vom Dunst, dem Rauch aus des Uhrenträgers Pfeife zum Verwechseln ähnlich, und man musste gleich daran denken, dass die Wichtel im Wald ihre Pfeifen rauchten oder Hexen in der Nacht einen Hexentrank gekocht hatten. Aber wo man mit Erwachsenen zugange war, sollten einen solcherlei Gedanken nicht behelligen. Schon gar nicht am Tage, und bei Nacht ging ohnehin kein Christenmensch in den Wald, also musste man nicht darüber nachdenken, wie es hier nachts zugehe. Wie um dies zu bestätigen, erklang die schmetternde Strophe des Buchfinken und das Klopfen eines Schwarzspechts, von fern meldete sich ein Kuckuck, der so viele Male rief, wie man noch Jahre zu leben hatte, falls man sich traute, ihn danach zu fragen.
Schließlich kamen sie auf einen Sattel heraus, nahe am Waldrand. Der Beha setzte sich mit dem Traggestell auf den Boden und löste die Riemen. Breitete sein Sacktuch aus und öffnete seinen Beutel, aus welchem er einen Brocken Rauchfleisch klaubte und einen Kanten Brot. Auch Gregor packte seine Brotzeit aus. Aber was waren zwei Butterbrote gegen den duftenden Streifen Selchfleisch, welchen der Beha mit dem Sackmesser in feine Streifen schnitt, die er sich nacheinander in den Mund steckte.
»Das ist noch nichts für dich«, sagte er, holte die Schnapsflasche aus dem Zwerchsack und zog mit den Zähnen den Kork. Während er mit spitzen Lippen den Schnaps verkostete, gingen seine Augen über den neben ihm hockenden Buben. Der wusste, der Mann redete nicht vom Schnaps allein, sondern von allem, was zur Brotzeit eines rechten Mannsbilds gehörte, wofür man noch zu klein war. Man musste fürchten, dass über die Brotzeit hinaus manches in solch ein Urteil eingeschlossen sein konnte. So aß Gregor still sein Brot und versuchte, keinen Anlass für weitere Beurteilungen zu geben. Der Uhrenträger setzte die Flasche ab und fuhr mit dem Handballen über die Öffnung, ehe er den Korken zurücksteckte.
»Du weißt schon, dass du ein Jud bist, gelt?«
Der grobe Mann verzog den Mund zu einem Lächeln, welches die Enden seines Schnauzbartes nach oben zwang und dennoch keine Freundlichkeit vermittelte.
»Oder hat man dir’s noch nicht gesagt? Gehst ja mit den anderen in die Kirche.«
Gregor, der eine Unruhe in sich spürte, welche auf Tränen hinauslaufen konnte, was er auf keinen Fall zulassen durfte, schüttelte den Kopf.
»Ist ein Jud und weiß es nicht«, stellte der Uhrenträger fest.
Er probierte die Schärfe vom Messer mit dem Daumen und schnitt noch einen Streifen Rauchfleisch ab. Nachdem er ihn in den Mund gesteckt hatte, schob er das Speckstück in den Sack zurück, holte, noch kauend, sein Feuerzeug aus der Tasche und klopfte seine Pfeife aus. Stopfte neu und schlug Funken in den Zunder, sie anzuzünden.
»Dein Vater und deine Mutter«, fing er wieder an, als die Pfeife brannte, »haben einen Laden gehabt in Tennenbach. Noch bevor du auf der Welt warst. Da sind die Juden ein und aus gegangen. Höker vom Rhein sind heraufgekommen, haben Zeug gebracht. Als dein Vater im Krieg geblieben ist, hat deine Mutter ihn aufgeben müssen, den Laden.«
Der Uhrenträger räusperte etwas herauf.
»Sonst wärst du jetzt vielleicht ein kleiner Krämer.«
Er wandte den Kopf zur Seite und spuckte ins Gras.
»Ist besser so für dich. Wär nichts daraus geworden. Frag deine Mutter.«
Gregor saß still. Er musste lernen, und lernen hieß zuhören. Vielleicht hatte er dankbar zu sein für des Mannes Meinung über ihn. Die Rauchschwaden, welche der Beha ausstieß, trieben als Wölkchen zwischen die Tannen am Waldrand, dort wurden sie von der warmen Frühlingsluft aufgesogen. Wo sie verschwunden waren, standen graublau die Berge, die sich in der Ferne hintereinander staffelten, auf den Hochtälern leuchtete der letzte Schnee.
»Deine Mutter hat dich taufen lassen vom Pfarrer«, nahm der Beha den Faden wieder auf. »Aber dein Vater war ein Jud, also bist du auch einer. Wie der Herr, so ’s Gescherr.«
Gregor schluckte die Tränen herunter und mit den Tränen alles, was man vielleicht dazu hätte sagen können, wenn man kein Bub gewesen wäre.
Ihm geschah mit dieser Urteilsverkündung etwas aus der Welt dort draußen, worüber die Leute Bescheid wussten und er selbst noch nicht. Solches musste man ertragen. Und dass der grobe Mensch über seine Mutter redete, ohne dass sie dabei war und etwas sagen konnte.
Aber so redete man in Geschäften, unter Männern. Gregor beschloss, die traurigen Gefühle, die ihn erfüllten, für Scham zu nehmen. Man konnte leicht an etwas schuld sein, was man selbst nicht begriff. Die Welt draußen enthielt anderes, als er zu Hause gewohnt war. Es war nötig, sich darauf einzustellen.
»Was ist ein Jud, Mutter?«
Die grüne Pinselspitze, die gerade ein spitzes Blatt am Stiel einer Hyazinthe hatte hervorwachsen lassen, verharrte über dem Uhrenschild. In das Schweigen hinein tickten die Uhren, die immer etwas zu sagen hatten.
»Woher hast du das?«
»Der Beha hat’s gesagt. Gestern.«
Die Mutter nickte. Sie schob ein paar Haare in ihre Haube zurück, die herausgeglitten waren.
»Dein Großvater und dein Vater waren Juden. Und die Tante Agat ist auch Jüdin.« Sie legte den Pinsel auf einen Teller. »Aber ich nicht und du auch nicht. Dein Vater wollte, dass du getauft wirst, weil es hier im Ort keine Juden gibt. Er wollte nicht …«
Gregor wartete auf das, was der Vater nicht gewollt hatte, aber es kam nichts, die Mutter schwieg. Dafür war das Gefühl wieder da, dass er sich für etwas schämen müsse und an etwas schuld sei. Vielleicht schämte sich die Mutter auch, weil doch der Vater ein Jude gewesen war.
»Wieso haben wir keinen Laden mehr?«
Die Mutter erhob sich und kam um den Tisch. Sie setzte die Haube ab, nahm Gregors Kopf zwischen ihre weichen Hände und küsste ihn, dabei streiften ihn ihre schwarzen Locken, was er liebte. Dann lächelte sie ihn an, ehe sie sprach.
»Der Laden hat sich nicht rentiert in Tennenbach. Die Leute haben nicht genug gekauft. Es waren schlechte Zeiten. Zuerst der Krieg, dann die schlechten Ernten. Ich allein hätt ihn nicht weiterführen können ohne deinen Vater, Gott hab ihn selig.«
Gregor schaute in den Herrgottswinkel hinüber zum Bild des Vaters, das die Mutter selbst gemalt hatte. Eine gerahmte Zeichnung, ausgeführt mit Silberstift. Sie zeigte einen jungen Mann ohne Hut, Kragen und Halsbinde bloß angedeutet. Der Porträtierte trug sein Haar lose in einen Zopf gebunden. Der fremde junge Mann, der sein Vater war, schaute von der Seite mit einem Lächeln aus dem Bild heraus, als amüsiere es ihn, gemalt zu werden. Gregor versuchte, die Worte des Beha und die der Mutter mit dem Bild des unbekümmerten jungen Mannes in Verbindung zu bringen. Dass also der Vater ein Jud gewesen und dass der Laden sich nicht rentiert habe. Es passte nicht recht zusammen. Aber er entschied, dass das Urteil der Welt dort draußen eines war, welches von der Mutter nicht kommen konnte, denn sie gehörte zur Welt drinnen. Selbst der grobe und unmanierliche Uhrenträger war in der Lage, für die äußere Welt zu sprechen. Er besaß eine Stimme, das konnte man nicht leugnen.
Ohnehin schien die Mutter dem Vater nichts übel zu nehmen. Weder dass er ein Jude gewesen noch dass der Laden sich nicht rentiert hatte. Sie tat es vielleicht nicht, dachte Gregor, weil der Vater tot war, und nicht einmal das nahm sie ihm übel. Dann hörte er auf, in diese Richtung zu denken wie immer an der Stelle, wo er sich den Vater tot hätte vorstellen müssen und nicht so lebendig und glücklich, wie er auf der Zeichnung aussah. Das Thema wurde nicht wieder angeschnitten. Aber die Welt war größer geworden.
Seit zwei Jahren wanderte Gregor nun mit dem Beha als sein Gehilfe durch den Wald zu den armen Häuslern, denn die Häusler und ihre Kinder bauten die Uhren. Ihre Höfe standen meist am Fuß der Halde im Schatten, der Ungnade des Wassers ausgeliefert. Winters wurden sie von Schneemassen erdrückt, welche wie eine weiße Flut die Wiese herabkamen und sich über das Haus hinwegschoben, dass es unter ihnen nahezu verschwand. Ein schmaler Trampelpfad führte durch das glitzernde Weiß zum Hofe hin, das breite Schindeldach hielt eine Gasse frei, worin die Menschen herumgehen konnten wie die Mäuse unter dem Schnee. Und das Haus, grob aus Balken gehauen, war drinnen verrußt vom Herdfeuer und weiß bepudert von Schimmel. Immer hörte man jemanden husten, wenn man solch ein Haus betrat. Gearbeitet wurde an dem einzigen Tisch, der in der Stube stand. Hier brannte eine Lampe oder wenigstens eine Kerze, welche Licht brachte in die allfällige Finsternis, denn auch am Tage wich das Dunkel in den Häusern nicht aus den Ecken. Die Decken niedrig, die Fenster bloß schmale Scharten im Krieg gegen die Kälte, verklebt mit Papier, da man Glas sich nicht leisten konnte. Im Stubenwinkel hing ein Kruzifix mit einem Strauß aus Tannenzweigen daran. Um den Arbeitstisch hockten die Hofleute, verstifteten Uhrengestelle, bohrten Spindeln, steckten Drähte, bogen Bleche und feilten Anker. Ein Stapel Tannenholz, sorgsam mit Klötzchen unterlegt, lag beim Ofen an der Wand zum Trocknen.
Die Kinder, welche man in solchen Stuben antraf, waren stets auf dem Sprung wie junge Geißen, mit dünnen Armen und großen Augen. Die älteren Buben hielten den Blick mit Gregor und maßen ihn auf eine Art, an der die Unterlippe beteiligt war. Zu reden hatten der Uhrenmann und der Bauer. Die Frauen schwiegen, die Hände unter dem Tisch, die Kinder schlichen herein und reihten sich an der Wand auf. Kam er in die Stube, blieb der Beha stehen, bis etwas auf den Tisch gestellt wurde, dann schob er sich auf die Bank und füllte den Raum mit seiner Stimme, welche er laut und dröhnend machte. Wurde Schnaps ausgeschenkt, nickte er zufrieden, und das Gespräch setzte sich auf eine mildere Weise fort. Gab es nichts, ließ er ein Schweigen eintreten wie beim Jüngsten Gericht, ehe er das Wort wieder aufnahm. Die Hauptrolle bei seinem Auftritt aber spielte das Geld. Er warf die kupfernen Kreuzer auf den Tisch, dass sie klimperten, oder zählte sie klackend mit dem Daumen einzeln auf die Platte, es musste einen Klang geben, das Geld, es sollte angeschaut werden.
Bezahlt wurde für ein fertiges Gestell mit Rädern, Wellen und Zapfen, Anker und Gabel. Beim Beha gab es Zeug und Tand, meistens kauften die Bauern auf Kredit. Salz, Zucker, Knöpfe, Halstücher, Messer, Scheren, Nähnadeln, bunte Bänder, Schuh- und Gürtelschnallen aus Neusilber für den Sonntagsstaat. Das waren die Sachen, welche Gregor dem Uhrenträger im Rucksack hinterhertragen musste, von Hof zu Hof. Da an Zeug immer Bedarf war, standen die meisten Häusler beim Beha in der Kreide. Trotzdem legte er auch bei ihnen ein paar Münzen auf den Tisch, um zu zeigen, dass man mit Fleiß am Ende solche erwerben könne, war man erst aus dem Kredit heraus. Für Geld konnte man alles kaufen, und das überall. Geld war das Höchste. Die unfertigen Uhrengestelle hatten noch keine Stimmen, sie konnten nicht ticken, sie mussten noch warten. Erst ihre Rümpfe waren vorhanden als stille, leblose Dinge.
Zuweilen las der Beha aus seinem schwarzen Büchlein vor. Dass man bereits mit fünf Uhren zurück sei und Zeug und Tand gekauft habe bei ihm für fünf weitere. Und dass die zehn Uhren erst einmal hermüssten. Man solle nicht glauben, dass Mangel an Arbeitern herrsche. Es gebe genug, die sich die Finger danach leckten, von ihm beliefert zu werden. Er habe ja Geduld mit den Leuten, aber sie sollten sich gefälligst tummeln. Am Ende sei er es, auf dem der ganze Ärger sitzen bleibe, wenn die Uhren nicht zeitig zur Post gingen, beim Kreuze Christi.
Während solcher Ansprache schauten die Häusler auf den Tisch. Die Kinder an der Wand aber schauten Gregor an, welcher auf der Bank hockte, den Rucksack zwischen den Knien, voll mit Kostbarkeiten. Gregor wich ihren Blicken aus und prüfte in seinem Innern, ob die Regung, welche solche Auftritte bei ihm auslösten, eine gute oder eine schlechte sei. Er kam zu keinem endgültigen Schluss. Die Regung, welche ihn in den Bauernstuben ankam, ähnelte dem zwiespältigen Gefühl, welches Friedels Unterwürfigkeit bei ihm ausgelöst hatte. Sie bestand im Wesentlichen aus der Erleichterung, nicht arm zu sein. Das fühlte sich am Ende nicht schlecht an.
Schwer zu fassende Empfindungen gehörten vermutlich zur größer gewordenen Welt.
An einem Tag trafen sie im Wald eine Herde Ziegen an. Bei ihnen befand sich ein Hirte, welcher mit einem einräderigen Wägelchen ging, das von einer Ziege gezogen wurde, darin saß, allerliebst anzusehen, als Fahrgast ein Zicklein. Das Zicklein hatte eine Damenhaube umgebunden und ein Kittelschürzchen. »Prinzessin Aurora« stand in blauen Lettern auf dem Wägelchen, ein Kranz mit Blumen war daran gesteckt. Die Ziegen, welche streng nach Käse rochen, standen im Wald und wandten den Ankömmlingen ihre gehörnten Köpfe zu. Mit seltsam viereckigen Pupillen maßen ihre Blicke den Uhrenträger und den Jungen mit dem Rucksack.
»Das ist der Zacharias«, sagte der Beha.
Er winkte dem Hirten und setzte seine Kiepe ab. Der Zacharias war ein kleines Männlein mit einem schäbigen Zylinder auf dem Kopf, einen halben Kopf kleiner als Gregor. Er trug ein wollenes Wams und eine altmodische Kniehose, die aussah, als wäre sie aus Ziegenfell gemacht. Er kam heran, verbeugte sich tief und zog den Zylinder vom kahlen Kopf.
»Euer Diener, die Herren«, sagte er mit schnarrender Stimme. »Und ein untertänigstes ›Grüß Gott‹ Euer Liebden!«
Daraufhin meckerte er genau wie eine Ziege, worauf einige seiner Zöglinge ihm sogleich antworteten. Der Hirte zwinkerte mit einem Auge, trat nahe an Gregor heran und hielt sich ein Brillengestell vor die Augen, seine andere Hand nestelte mit Spinnenfingern an den Westenknöpfen.
»Ein Trunk Milch? Süße, liebliche Milch für den schönen Knaben?«, sagte der Zacharias mit seiner Fistelstimme, die klang, als reibe etwas darin.
Die Augen des Zacharias gingen an Gregor hinauf und hinunter, hell wie die eines Habichts. Aber der Beha wedelte mit seiner groben Hand vor dem Gesicht des Hirten, als wolle er ein Insekt verscheuchen.
»Du gehst schon einmal vor«, sagte er zu Gregor. »Geh weiter bis zum oberen Weg, wo das Kreuz steht. Dort wart’st, bis ich komm.«
Gregor ging auf dem Pfad weiter zwischen den Ziegen hindurch. Einige musste er vom Weg herunterschieben, damit sie ihm Platz machten. Während er ging, spürte er den Blick des Männleins auf seinem Rücken und roch den strengen Geruch der Tiere, der den Wald füllte. An der Wegbiegung drehte er sich um und sah, wie der Beha mit dem Zacharias redete. Er bemerkte, dass der Uhrenträger dem Männlein etwas in die Hand drückte. Darauf erklangen das gezierte Meckern des Zacharias und die Antwort der Ziegen ringsum. Dann war Gregor um die Biegung und befand sich in der Stille des Waldes.
Oben am Kreuz wartete er auf den Beha. Er dachte nicht darüber nach, was der wohl mit dem Hirten zu schaffen gehabt hatte, er dachte darüber nach, weshalb eine Ziege im Wagen fahren durfte und »Prinzessin Aurora« genannt wurde. Ihm schien, als wäre das Ganze aus einem der Märchen entsprungen, welche er von der Mutter gehört. Da brummte auf einmal ein Hirschkäfer vorbei. Mit seinem taumelnd aufrechten Flug malte er eine Schleife über den Weg, als wäre auch er eine Figur aus dem Märchenland und gekommen, sich eben einmal umzusehen, um dann wieder zurückzufliegen.
Als der Beha erschien, zeigte er schlechte Laune. Sein Gesicht war finster. Vor dem Weitergehen wandte er sich um und fuhr Gregor an, was denn los sei in drei Teufels Namen.
»Nichts«, sagte Gregor. »Gar nichts.«
3
Früh hatte die Mutter Gregor das Lesen gelehrt. Nicht lange, bis er aus den Kalenderblättern vorlesen konnte. Schreiben konnte er auch schon, in schönen Kursivlettern, welche er mit dem Gänsekiel auf Holzschindeln und Papierresten übte. Er las auch in der Bibel und in den alten Zeitungen, welche man vom Herrn Wehrle erhielt. Das meiste, was darin stand, war ihm fremd. Indessen nahm er alles auf wie ein Tischler, der an günstiges Holz kommt und es einlagert, bis er etwas daraus machen kann, und Gregors Gedächtnis war in der Lage, vieles zu speichern. Die Mutter lachte, wenn er zuweilen etwas wiedergab, was er noch gar nicht verstanden hatte, und nannte ihn ihren kleinen Gelehrten.
Der Zwölfjährige versuchte sich schließlich an einem Buch, in welchem die Mutter zuweilen las und das sie vergessen hatte in der Schublade einzuschließen. Beim Lesen entdeckt, wurde er ausgescholten. Das Buch sei nichts für ihn, weil gefährlich. Darum sei es recht, dass er den Inhalt nicht verstehe. Den Titel immerhin hatte Gregor verstanden. Er lautete: »Die Leiden des jungen Werther«. In den inneren Deckel hatte jemand mit Bleistift »Pour mon amour« geschrieben. Diese französischen Worte buchstabierte Gregor immer wieder und versuchte sich an ihrem fremden Klang, der ihm wie eine köstliche Speise war. Seltsamerweise hatte das nun unerreichbare Buch aus lauter Briefen bestanden, deren schwärmerische Sprache fremd und seltsam klang. Einen Satz daraus hatte Gregor behalten. »Wie froh bin ich, dass ich weg bin!«, hatte dort gestanden, und Gregor sann darüber nach, weshalb der Schreiber der Briefe gerade hierüber sich froh sah, nachdem die Bekenntnisse, welche danach kamen, nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen waren und sie ihm auch nicht vorkamen wie die eines Menschen, welcher sich als froh bezeichnete. Indessen blieb das Buch in der verschlossenen Schublade und geriet samt seinem gefährlichen Inhalt vorerst aus Gregors Blickfeld.
Lesen können war nicht genug für einen Zwölfjährigen, wenn es Gregor auch gereicht hätte, denn was brauchte man mehr als Lesen und Schreiben? An einem Tag stellte die Mutter die Teller zusammen und verharrte am Esstisch. Sie schaute eine Weile mit vor der Schürze zusammengelegten Händen zum Fenster hinaus, wo die Heckenrosen hereinlugten.
»Du sollst in die Weberei gehen, Gregor«, sagte sie. »Nach Sankt Blasien.«
An der Wand tickten die Uhren und wussten es besser. Aber sie gaben keine Antwort, die musste Gregor selbst geben.
»Ich will nicht in die Weberei«, sagte er. »Da müsst ich fortgehen.«
Die Mutter, welche auf Gregors Einwand nicht einging, gab ihm zu wissen, dass in der Weberei die Gehilfen im Kontor ihre eigene Wohnung hatten und Kostgeld dazu. Ein anstelliger Junge könne sich Hoffnung machen.
»Der Handel und die Fabriken, das ist die Zukunft, Gregor«, sagte sie, die Hände von der Schürze nehmend. »Dort kann einer was verdienen und sein Glück machen. Dein Vater hätte es gewollt. Und du kannst nicht immer hier im Dorf bleiben.«
Damit war es gesagt, und die Mutter schickte Gregor zum Pfarrer mit einem Brief.
Im Pfarrhaus roch es nach Mäusen und nach alten Leuten. In Kniehosen und mit seiner Mütze in der Hand, angetan mit dem guten Anzug, der an der Brust zu eng geworden war, stand Gregor im Flur vor dem Pfarrer und dienerte, dabei kniff ihn die Weste an den Achseln, und er musste an die Mäusenester im Keller denken, von wo man das Feuerholz heraufholte im Winter.
»So, der Gregor Schoenheit«, sagte der Pfarrer, als man schließlich zusammen am Tisch saß.
Und nickte dazu, als sei dies eine Sache, welche der Bestätigung bedurfte, dabei schaute er in den Brief, welchen die Mutter geschrieben hatte. Die Hauserin brachte ein Glas Milch herein und stellte es wortlos neben das Kaffeegedeck des Pfarrers.
Gregor beschlich das unangenehme Gefühl, dass wieder eine Bewertung seiner Person anstand wie bereits bei dem Beha und dass es womöglich wieder darum gehen würde, dass er ein Jude sei. Über die Juden wusste er noch immer nicht viel, vor allem nicht, wofür man sich schämen müsse, wenn man einer war, aber er wappnete sein Herz. Die schwere Standuhr in der Pfarrstube tickte ihren Beitrag auf eine hinterhältige Art. Langsam und schwer, als koste sie das Ticken Mühe und als müsse sie sich jeden Laut erst einmal überlegen.
»Dein Vater war ein wackerer Mann«, sagte der Pfarrer, nachdem er den Brief gelesen hatte. »Auf dem Schlachtfeld ist er geblieben wegen des schlimmen Bonaparte. Das war im vierzehner Jahr in der großen Völkerschlacht. Aber das weißt du ja sicher.«
Zu diesen Worten faltete der Pfarrer, dessen Händen ein grobes Zittern anhaftete, den Brief der Mutter zusammen und legte ihn auf den Tisch. Gregor schaute auf die geblümte Kaffeetasse und auf das Schälchen mit braunem Zucker. Auf das Glas Milch, das für ihn sein sollte. Er wusste nichts von einer Völkerschlacht und kannte auch keinen schlimmen Bonaparte, er wusste bloß, dass der Vater im Krieg geblieben war und darüber nicht geredet werden sollte.
»Du möchtest etwas lernen«, fuhr der Pfarrer fort, »und ich soll dich unterstützen, darum bittet mich deine Frau Mutter.«
Auf einmal gab die Standuhr ein überraschend menschliches Seufzen von sich und entschloss sich danach zu drei schweren klangvollen Schlägen, welche die Stube für eine Weile vollkommen ausfüllten, auch wenn das kein Beitrag zu irgendeiner Frage gewesen war.
»Ich will Uhrmacher werden«, sagte Gregor, nachdem der letzte Schlag verhallt war.
Der Pfarrer zog die Luft durch die Nase ein. »Uhrmacher! Soso.« Er schaute Gregor zweifelnd an, dann griff er in die Westentasche und nahm seine Uhr heraus. Er wog das silberne Stück in seiner Hand, löste das Chatelaine und gab sie Gregor. »Schau sie dir einmal an.«
Gregor nahm die dicke Uhr vorsichtig entgegen und hielt sie ans Ohr. Hurtig wisperte es vor sich hin in dem silbernen Gehäuse, und Gregor stellte sich die blinkenden Räder vor, die dort drinnen liefen, langsam und immer schneller, bis dorthin, wo sie die Unruh schwingen ließen. Er wusste, wie es in einer Uhr aussah. Zu Hause hatten sie die Uhr des Vaters, und Gregor durfte sie in die Hand nehmen und manchmal sogar öffnen, das wunderbare Werk anzusehen.
Er gab dem Pfarrer seine Uhr zurück.
»Diese Uhr hat man in England gemacht«, sagte der Pfarrer. »In der Stadt London. Man macht dort die besten Uhren.«
Nachdem sie wieder an der Kette hing, schob er die Uhr zurück in seine Westentasche, dabei musste er den Bauch einziehen, damit es leichter ging.
»Einen Uhrmacher«, sagte der Pfarrer, »der so etwas machen könnte, haben wir hier nicht. Mag sein, in Karlsruhe oder in Freiburg ist einer. Bei uns macht man Holzuhren.« Er fasste Gregor ins Auge. »Für die malt deine Mutter die Schilder, wie du ja weißt.«
Gregor schwieg. Er hatte keine Vorstellung davon, wo Karlsruhe oder Freiburg lagen, und nahm an, dass die meisten Leute, die hier oben lebten, noch nie dort gewesen waren. Mit der Post konnte man wohl hinunterfahren in solche Städte, aber das mochte Tage dauern. Aber wenn er schon fortgehen musste, wollte er lieber dorthin und Uhrmacher werden als in die Weberei.
»Lesen und schreiben kannst du, schreibt deine Mutter hier, das ist gut und etwas Besonderes. Die meisten Buben in deinem Alter können es nicht. Selbst die Großbauern können nicht lesen, sie setzen auch wenig daran. Gerad, dass die besseren Leute den Kalender und die Bibel zu lesen verstehen, und dazu brauchen sie noch den Finger zu Hilf, dass sie die Zeile behalten.«
Der Pfarrer seufzte und griff nach der Tasse, stellte sie aber wieder ab, als er merkte, dass sie leer war. »Trink, Gregor«, sagte er und wies auf die Milch.
Gehorsam nahm Gregor das Glas und nippte daran. Der ranzige Geruch der Milch ließ ihn wieder an Mäusenester denken.
»Deine Mutter möchte, dass du in die Weberei gehst, nach Sankt Blasien oder nach Lörrach. Wenn du fleißig bist, kannst du dort im Kontor bei den Schreibern anfangen. Aber nur, so du auch zu rechnen verstehst. Das musst du zuerst lernen.«
Gregor sagte nichts. Es war auch keine Frage gewesen, die der Pfarrer gestellt hatte, und Gregor wusste, dass er dankbar sein musste. Alles, was er hätte sagen können, wäre leise und klein gewesen gegen die starke und ruhige Stimme des Pfarrers, welche das Predigen gewohnt war und Gottes Wort kannte. Welches er in der Kirche verkündete, wo Gregor und seine Mutter die Dörfler in ihren schönen Trachten während der Messe von hinten anschauten und keinen Blick von ihnen bekamen, wenn alle nach dem Segen durch den mittleren Gang hinausschritten. Eine strenge Prozession, getrennt nach Männern mit roten Westen und silbernen Knöpfen und Frauen mit gestickten Hauben und gelben Miedern. Die Standuhr des Pfarrers als Bestandteil dieser Ordnung tickte gemächlich weiter, und nach einer Weile merkte Gregor, dass es an der Zeit war, etwas zu sagen.
»Ich dank Euch, Herr Pfarrer, im Namen Gottes«, sagte er.
Der Pfarrer nickte und machte eine halb segnende Bewegung mit der Hand. Gregor bekreuzigte sich und stand auf. Sogleich kam die Hauserin herein, den Tisch abzuräumen. Sie roch nach Mottenkugeln und Mäusenestern und streifte den Jungen, der in der Tür stand, mit ihrem Bittstellerblick, der lästigen Besuchern vorbehalten war. Ging man nach diesem Blick, mangelte es im Haus des Pfarrers an solchen nicht.
»Ich lass euch mitteilen, wo du hingehen kannst, um zu lernen, Gregor. Nun geh mit Gott und grüße deine wackere Maman von mir.«
Gregor verließ das Pfarrhaus, im Ohr das ungewohnt fremdländische »Maman«, welches der Pfarrer gebraucht hatte. Mit jeder Stiegenstufe, die er hinuntersprang, schien ihm mehr Rätselhaftes in dem fremdartigen Wort enthalten, in welchem der »schlimme Bonaparte« ebenso nachklang wie das »du bist ein Jud« und »wie der Herr, so ’s Gescherr«.
Dass der Pfarrer die Mutter »Maman« genannt, konnte vieles bedeuten, Gutes und Schlechtes, in der größeren Welt.
Der Pfarrer hatte Gregor dem Vitus Jäcklein anempfohlen. Worüber sich Gregor wunderte, denn der Jäcklein war ein dorfbekannter Krüppel. Zuweilen hinkte er an seinen Krücken durch den Ort, und die Kinder riefen ihm aus sicherem Abstand Schimpfworte nach, ehe sie um die Ecke flohen. Die meiste Zeit aber verbrachte der Jäcklein in seiner Klause, welche zum Hof seines Bruders gehörte, wo er Schindeln spaltete, eine Arbeit, die er auch mit einem Bein verrichten konnte.
Indessen hatte die Mutter Gregor über seinen künftigen Lehrer mitgeteilt, dass die Wahl des Pfarrers in ihren Augen keine schlechte sei. Man habe auf den Vitus einmal große Stücke gehalten, und er sei auf seine Art in der Welt herumgekommen. Als Bursche habe er zwei Jahre am Stift des Württemberger Herzogs zugebracht. Dann habe er alles hingeworfen und sei zur Franzosenarmee gegangen, was niemand verstanden habe, da er zu den wenigen Bauernsöhnen gehörte, die im Stift angenommen wurden. Aber der Vitus habe sich nichts daraus gemacht. Er sei Soldat geblieben und habe in vielen Kampagnen gekämpft. In Russland sei er invalid geworden, dafür beziehe er eine Kriegerrente, die gebe er wohl dem Bruder, bei welchem er auf dem Winterhalder-Hof sitze. Wenn einer sein Bein verliert, sagte die Mutter, dann ist es nichts mehr mit ihm.
Gregor war neugierig auf den Vitus und auch ein wenig bang. Manche glaubten, er könne mit seinem Holzbein allerlei Schabernack ausrichten, wenn er es abschnalle und damit winke. Der Friedel behauptete gar, dass der Vitus in Neumondnächten in den Wald gehe und vom Teufel sein richtiges Bein zurückerhalte, damit er mit der wilden Horde reite als der Husar, welcher er einmal gewesen.
»Zwei Gulden im Jahr für mein Bein, Gregor«, sagte der Vitus, als sie zum ersten Mal zusammensaßen in des Jäcklein Klause, einem nach Holz und Rauch riechenden Gelass mit einem einzelnen Fenster, durch welches die warme Frühlingsluft hereindurfte. Ein Holzklotz, es zu schließen, baumelte an einer Schnur darunter. Eine ganze Wand nahm der Schindelspalter ein, gegenüber gab es ein Tischchen und in der Ecke die Bettstatt, so kurz geraten, dass Gregor sich fragte, ob der Jäcklein überhaupt darin schlafen konnte.
Wie sie beieinandersaßen, fühlte sich Gregor aufs Neue gemustert, diesmal von den grauen Augen des Jäcklein, die ihn ernst und ein wenig spöttisch ansahen, nur war es diesmal anders. Nicht ihm galt der Spott in Vitus’ Blick, sondern der besonderen Verabredung, welche sie zusammengeführt, auf Geheiß des Pfarrers. Wo Gregor für einen Schüler schon herhalten konnte, schien Vitus Jäcklein für einen Lehrer kaum zu passen. Dass ihn das selbst belustigte, zeigte Gregor, dass die größere Welt zuweilen gar nicht so wichtig war, wie sie allweil tat, und er fühlte sich gleich auf angenehme Weise frei mit dem Jäcklein. Er griff nach dem Glas Milch, das die Frau des Winterhalder-Bauern für ihn auf den Tisch gestellt hatte.
»Zwei Gulden sind hundertzwanzig Kreuzer«, nahm der Vitus den Faden wieder auf. »Dass wir gleich anheben zu rechnen.« Dazu gab es ein Lächeln. »Also zehn Kreuzer jeden Monat. Kennst du das kleine Einmaleins?«
Gregor nickte.
»Du musst es auswendig lernen. Alles andere geht dann leicht.«
Da Vitus nichts weiter sagte, entstand eine Pause.
In des Jäcklein Stube gab es keine Uhr, die tickte. Stattdessen hörte man die Pferde draußen prusten und das Klappern des Leders beim Abschirren. Dazu die Stimme des Winterhalder-Bauern und die seiner Frau, die sich stritten. Zwei Stimmen von ungleichem Rang, die der Frau schriller und stärker, des Mannes Stimme lauter, aber im Ganzen schwächer. Am Ende hörte die laute Stimme auf, während die schrille noch eine Weile weitertönte.
»Das Glück der Ehe, Gregor«, sagte Jäcklein, der Gregor beobachtet hatte, »ist mir versagt geblieben. Ich hätt’s schlechter treffen können.«
Er drehte sich auf dem Hocker herum mit einer seltsam krebsartigen Bewegung des Holzbeins, dessen blank geriebenes Lederfutteral bis unter seine Hüfte reichte. Dann langte er nach einem kleinen Gestell, welches am Boden stand, und hob es auf den Tisch. Es handelte sich um einen hölzernen Rahmen mit Kugeln darin. Sie sahen aus wie Murmeln, auf Drähte gezogen.
»Nun zur Kunst der Mathematik«, sagte er. »Ich zeig dir heute, wie man mit dem Abakus rechnet. Hast du den einmal verstanden, kannst du alles rechnen. Pass auf.«
Der Vitus verschob die Kugeln auf dem Gestell, er fing mit der untersten Reihe an.
»Du zählst die Kugeln zusammen. Für zehn untere verschiebst du immer eine obere, das sind die Zehner, danach kommen die Hunderter.«
Vitus ließ Gregor eine Weile die Kugeln auf dem Gestell hin- und herschieben. Dann hob er die Hände und streckte seine Finger aus.
»Das Ganze geht aber auch mit den Fingern«, sagte er.
Gregor rückte seinen Stuhl näher. Er empfand Neugier auf dieses neue Spiel, das so schwer nicht schien. Jäcklein drehte die Hände wieder um.
»Auf der Rückseite der Rest. Links geht’s von sechs bis zehn, rechts von sechzig bis hundert, verstanden?«
Gregor nickte.
»Das ist jetzt noch ganz einfach. Bist du darin geübt, funktioniert es aber auch mit komplizierteren Rechnungen. Dazu kommen wir noch.«
Jäcklein ließ Gregor für eine halbe Stunde einfache Subtraktionen und Additionen ausführen, danach fand er, dass es genug war.
»Die erste Unterrichtsstunde ist zu Ende, Bub. Du bist gescheit und machst dich gut. Am besten hören wir für heute auf. Sonst kann ich dir bald nichts mehr beibringen, und das wär schlecht für meinen Verdienst.«
Vitus lachte.
»Trink deine Milch noch aus und leiste mir ein bisschen Gesellschaft. Ist kurzweiliger, als tagaus und tagein das dumme Holz hier zu spalten wie ein Kriegsherr Soldatenköpf.«
Gregor nahm einen Schluck von der Milch, die fettig und gut nach Kuhstall schmeckte.
Wieso eigentlich man den Bonaparte den »Schlimmen« nenne, traute er sich zu fragen, nachdem er das Glas auf den Tisch zurückgestellt hatte.
»Der schlimme Bonaparte?« Vitus klopfte auf das Lederfutteral mit dem hölzernen Stelzbein daran. »Nun, der hat mir mein Bein genommen. Wenn das nicht schlimm ist! Aber er war’s am Ende nicht allein. Es war der Krieg, Gregor, die Kälte, vielleicht sogar die eigenen Kameraden. Das weiß man nicht mehr so genau, wenn alles darunter- und darübergeht. Ich hab mein Bein getauscht gegen mein Leben. Bin fortan lahmer und um einiges leichter, aber ich bin noch da.«
Jäcklein langte nach seiner Pfeife, klopfte sie an der Tischkante aus und tat neuen Tabak hinein, welchen er aus der Westentasche fingerte.
»Sollst zwar rechnen lernen bei mir, Gregor, aber ich geb dir gratis einen guten Rat dazu, den besten, den ich geben kann. Zieh nie einen bunten Rock an, was immer für einen Unsinn du tun willst. Tu, was dir frommt, Soldat werde nie. Ich hab’s getan und hab es viele Male bitter bereut.«
Aber weshalb der Bonaparte, wollte Gregor wissen. Und wer das überhaupt gewesen. Weil doch der Vater im Krieg geblieben sei und er selbst nicht viel darüber wisse.
Jäcklein schlug Feuer in den Zunder, legte die glimmenden Fäden auf seine Pfeife und zog daran, bis sie rauchte.
»Nun also – der schlimme Bonaparte. Erst einmal hat er für unser Badener Land mehr zuwege gebracht als alle Könige und Fürsten zuvor. Anfangs fanden sie ihn auch gar nicht schlimm, im Gegenteil. L’Empereur haben sie ihn genannt. Das ist, was einmal der Kaiser von Rom war, der mächtigste Mann der Welt, und das wollte am Ende der Bonaparte auch sein. Wer kann es ihm verdenken, dass er übermütig geworden ist, wenn jeder geschrien hat: Er lebe hoch! Alle wollten mit ihm gehen, selbst gekrönte Häupter, und er war doch bloß Soldat gewesen.«
Jäcklein schaute den Rauchschwaden nach, die es zur Fensterluke hinzog, als wüssten sie den Weg hinaus.
»Uns junge Böcklein hat das Franzosentum rauschig gemacht. Wir glaubten, dass ein neues freies Leben angebrochen wär, und dafür wollten wir streiten, für die Republik. Haben nicht sehen wollen, dass wir eine Schafherd waren, die man durch die Bataillen getrieben hat, wie sie eine nach der anderen gekommen sind. Der Bonaparte wollte siegen, und immer mehr davon. Am End sind alle Übermütigen mit ihm nach Russland gezogen und dachten, es ginge auch diesmal gut hinaus. Auch eine badische Brigade unter dem Herrn von Hochberg und ich dabei. Schon der Hinweg war hart durch das weite Land bis in die Hauptstadt der Russen, welche Moskau heißt. Bei der Ankunft war von uns gerad noch die Hälfte übrig. Die Russen haben dem Bonaparte ihre Stadt ohne einen Schuss Pulver überlassen. Wie er eingeritten ist, war keiner da, ihm die Schlüssel zu übergeben. Keine Trompeten haben geblasen, keine Trommeln gewirbelt, und keine Jungfrauen haben ihm etwas vorgebetet. Aber am nächsten Tag hat Moskau an allen vier Ecken gebrannt, und damit war’s vorbei mit der Fortune des Bonaparte.«
In den Augen des Krüppels war etwas, das Gregor nicht recht fassen konnte, der Schalk war es nicht.
»Eine geschlagene Armee, Gregor, ist schlimmer als alles andere. Hat man gewonnen, fallen die Sieger über die Besiegten her, da kann man Freund und Feind noch unterscheiden. Die Geschlagenen aber fallen alle übereinander her. Wer gestern noch dein Kamerad gewesen ist, reißt dir heute den Mantel herunter oder nimmt dir das letzte Stück Brot. Kannst du die Hand noch heben, ihn um Mitleid zu bitten, so gibt’s eins mit dem Gewehrkolben oder einen Stich mit dem Bajonett. Solcherart Helden sind wir gewesen auf dem Rückzug durch Eis und Schnee. Keine Armee mehr, bloß ein Haufen Verzweifelter noch. Ich muss froh sein, Gregor. Ich kam zurück, nur mein Bein ist dort geblieben.«
Vitus klopfte auf sein Holzbein.
»Es möge ruhen in Frieden. Den schlimmen Bonaparte hab ich gerad ein einziges Mal gesehen. Einen Mann auf dem Pferd mit blauem Dreispitz und Mantel zusammen mit einem Dutzend Offizieren auf einem Hügel. Dort, hat’s geheißen, schaut, dort droben ist der Kaiser.«
Draußen hatte die Winterhalderin mit dem Schimpfen vollends aufgehört. Ein Hahn krähte und tat es kurz darauf ein zweites Mal.
»Ich will Uhrmacher werden«, sagte Gregor. »Oder Mechanikus.«
Jäcklein zog an seiner Pfeife, die kalt geworden war. »Ist kein schöner Plan, dem Gesicht nach, das du gerade machst.«
»Ich soll ja in die Weberei.«
Gregor schob zwei Glasperlen auf dem Abakus nach links.
»Dafür muss ich bei Euch rechnen lernen, damit ich ein Schreiber werd.«
Jäcklein holte aus seiner Westentasche drei Finger Tabak und stopfte ihn in den abgegriffenen Pfeifenkopf aus Porzellan, welchen eine blaue Windmühle zierte.
»Gib mir doch einmal das Feuerzeug.«
Gregor reichte ihm den Lederbeutel.
»Was magst du nicht an der Weberei?«
»Dass es langweilig ist. Den ganzen Tag klappern die Webstühle, und die Schreiber schreiben halt alles auf für das Kontor.« Gregor schob die Unterlippe vor und pustete die Luft gegen die Nase.
»Ach so«, sagte Jäcklein. »Ich versteh.«
Er paffte eine Rauchwolke heraus und versuchte sich an einem Ring. Der gelang ihm gar nicht übel. Der Rauchring schwebte durch die Stube, bis er das Licht der Sonne einfing und darin aufleuchtete.
»Was du langweilig nennst, ist für viele das große Glück«, sagte er dann. »Aber ich weiß schon, es kommt halt immer darauf an.«
»Wolle, Baumwolle, Tuche«, sagte Gregor. Er schnippte mit dem Zeigefinger einen Aschenbrocken vom Tisch. »Was ist das schon gegen ein Räderwerk, das glänzt und sich dreht. So was will klug ersonnen sein, und es wird am Ende eine treffliche Maschine daraus.«
»Da hast du recht«, sagte der Jäcklein. »Eine Maschine, das ist schon was.«
Er versuchte sich an einem neuen Ring, aber der gelang ihm nicht.
»Maschinen, das ist wohl die Zukunft«, sagte er. »Die essen nichts und murren nicht, aber laufen Tag und Nacht.« Dazu nickte der Vitus mit ernsthaftem Gesichtsausdruck vor sich hin.
»Sag aber nicht«, fuhr er fort, »dass Wolle langweilig wär. Weißt du überhaupt«, fuhr er fort und tippte Gregor mit dem Pfeifenstiel gegen die Weste, »dass die Webereien mit der Wolle am meisten Geld verdienen?«
Das glaube er nicht, sagte Gregor. Wolle ziehe man an, wenn es kalt sei. Man habe einen wollenen Rock, einen Mantel vielleicht noch, aber damit sei es auch genug.
»Nicht den Rock des braven Bürgers mein ich. Soldatenröcke und Soldatenhüte, Gregor.«
»Soldaten?«
»Allerdings. Man geht fein angezogen in die Schlacht. Es wird getrommelt und gepfiffen wie für ein Fest. Franzosen, Russen, Preußen, Bayern, Badener und wer noch dabei ist, tragen schöne blaue, grüne oder rote Röcke und Tschakos, alles aus bester Wolle.«
Gregor runzelte ungläubig die Stirn, während er die Perlen auf dem Abakus in Dreiergruppen sortierte.
»Der Bonaparte«, fuhr Vitus fort, »den du den schlimmen nennst, hat mit seinen Uniformen viele Weber reich gemacht. Weil halt jedes Jahr zehntausend arme Teufel auf dem Schlachtfeld geblieben sind. Da waren die schönen Röcke zerschossen, und es hat wieder neue gebraucht. Jetzt im Frieden klemmt es ein wenig, aber wer weiß, wie lang. Mag sein, es geht bald wieder los.«
Jäcklein versuchte einen neuen Rauchring. Der schwebte unversehrt bis zum Fenster.
Vitus Jäcklein ging bald dazu über, mit Gregor das Abakusrechnen alleine mit den Fingern zu üben. Weil, so der Jäcklein, man nicht immer und überall einen Abakus verfügbar habe. Nach seinen Anweisungen konnte sich Gregor das einfache Gestell mit den Kugeln nach einer Weile so gut vorstellen, dass ihm die Finger für alle Rechnungen ausreichten.
Wo er selbst das gelernt habe, fragte er den Vitus.
Von einem Kameraden. Der habe ihn diese Kunst gelehrt.
Jäcklein bewegte flink die Finger und ließ eine Zahl von rechts nach links gehen. »Siebentausenddreihundertzehn mal vierundsechzig«, sagte er. »Macht vierhundertsiebenundsechzigtausendachthundertvierzig.«
»Wenn man gerad nicht Krieg führt«, fuhr er fort, »ist’s einem halt langweilig.«
Er lächelte auf seine eigene Art, dass man merkte, es steckte noch manches dahinter, was er nicht sagte.
»Die einen spielen Karten, die anderen lesen, wir haben halt gerechnet.«
»Nicht gelesen?«
Schon beim vorigen Besuch hatte Gregor die Bücher erspäht, welche auf einem Brett über Jäckleins Bettstatt standen.
»Doch, gelesen auch. Hol einmal die alten Schwarten herunter. Wir wollen sehen, was darin steht. Hast zwar keinen Leseunterricht bei mir, aber schaden kann’s nicht, was meinst du?«
Gregor sagte, dass es nicht schaden könne. Er lese zu Hause ja auch. In der Bibel lese er, im Kalender, und sogar in einem Roman habe er schon gelesen.
»In einem Roman?«
Es handle sich um lauter Briefe, die einer für ein Buch aufgeschrieben. Einer, der habe fortwollen und darüber froh gewesen sei. Die Mutter, fügte Gregor an, habe nicht gewollt, dass er weiter in dem Buch lese, weil es gefährlich sei.
»Aha«, lachte Jäcklein. »Das muss der Werther sein. Verfasst vom Herrn Goethe, nicht wahr?«
Das sei wohl das Buch, meinte Gregor. Und was daran gefährlich?
Vitus zuckte mit den Schultern.
»Es geht um einen, der sich aus lauter Liebe am Ende ums Leben bringt«, sagte er. »Weil er mit seiner Liebsten nicht kann zusammenkommen.«
Diesmal gab es kein hintersinniges Lächeln dazu.
»Vielleicht möchte deine Mutter nicht, dass es dir einmal so ergeht«, sagte Vitus. »Hast du denn eine Liebste?«
Die habe er gewiss nicht, sagte Gregor entrüstet.
Jäcklein nickte.
»Nun hol die Bücher«, sagte er.
Gregor holte die beiden Bücher herunter und legte sie auf den Tisch. Sie waren fleckig und zerlesen, eines davon mit Bindfaden geflickt, die Einbände zerrissen und mit Pappen überklebt, auf welche mit Handschrift die Titel geschrieben standen.
»Die haben es auch nicht leicht gehabt«, sagte Vitus. »Wir waren zusammen im Feld und sind alle miteinander ramponiert zurückgekommen. Lies einmal die Titel vor.«
»Friedrich Schiller«, las Gregor. »Die Räuber.«
»Das andere.«
»No-va-lis. Heinrich von … Of…« Die Schrift könne er nicht entziffern, meinte Gregor.
»Das nehmen wir.«
Jäcklein öffnete das Buch, dabei fielen ein paar Seiten heraus, nach denen Gregor sich bückte. Jäcklein hielt das Buch aufgeschlagen und räusperte sich, las vor.
»Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben,
Und in die Welt wird zurückbegeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die ew’gen Weltgeschichten,
Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.«
Gregor fand, dass dies seltsam klinge, beinahe wie ein Zauberspruch. Vitus meinte, das sei nicht schlecht aufgefasst, mancher verstehe es, mit Wörtern zu zaubern.
»Aber die Zahlen wollen wir dennoch nicht verachten«, fuhr er nach einem kleinen Schweigen fort. »Rechne mir doch einmal dreihundertvierundvierzig mal siebenundachtzig.«
Sein Schüler seufzte und streckte die Finger aus.
4
Groß werden hieß zur Arbeit gehen, teilhaben an der größeren Welt. Also führte Gregors Weg, wie die Mutter es gewollt, nach Sankt Blasien in die Maschinenweberei Manzinger. Zu dieser Zeit war er fünfzehn Jahre alt. Der Beha holte sich einen anderen Jungen, und Gregor, welcher dem Uhrenträger drei Jahre lang den schweren Rucksack hinterhergetragen hatte, trauerte ihm nicht nach. Die Bauernhöfe und die Kreuzer des Beha auf den Stubentischen reichten nicht mehr aus, die Welt zu verstehen, es gab eine größere. Am Ende war er mit der Mutter Plänen einverstanden und packte seine Reisekiste. Als er fertig war und es Zeit wurde, hinunter zur Brücke zu gehen, wo die Post hielt, reichte ihm die Mutter die Uhr des Vaters. Mit Tränen, ohne ein Wort. Das machte aus dem unerwarteten Geschenk eine Bürde.
In der Weberei kam Gregor in eine Stube mit drei anderen Schreibergehilfen, welche schon länger im Kontor lernten. Alle Schreiber waren dem Buchhalter Autenrieth unterstellt, der ihre Ausbildung und die Buchführung beaufsichtigte. Autenrieth, ein Gemütsmensch, war bürgerlichen Genüssen zugetan, wozu gutes Essen und Trinken in den Schenken am Domplatz gehörte. Dort verkehrte man abends an diversen Stammtischen, in Hinterzimmern wurde die Liebhaberei des Rauchens in Form von Rauchvereinen gepflegt. Abgesehen davon gab es im Ort einen Kriegerverein und einen Gesangverein sowie einen Kegelverein. An den Feiertagen trugen die Vereine ihre Fahnen durch die Straßen als ein stolzes Regiment biederer Geselligkeit.
Dienstlich waren Autenrieth Prinzipien zu eigen, welche er seinen Adepten beizubringen suchte. Gehorsam und schöne Schrift beispielsweise sah er untrennbar miteinander verbunden, eine leicht zu überprüfende Maßgabe für Eignung und Fortschritt seiner Zöglinge, die ihm keinen großen Aufwand abforderte.
Beim Gang durch das Kontor pflegte der Buchhalter ab und zu hinter einem der Schreiber stehen zu bleiben und beugte sich, die Hände am Rücken verschränkt, auf Zehen und Fersen wippend, über die Schulter seines Opfers, um in das Kontorbuch hineinzusehen. Dabei prüfte der Blick des Buchhalters nicht bloß die Akkuratesse des Geschriebenen, sondern auch, ob seine Anwesenheit den Duktus des Schreibens aus dem Gleis brachte. Ein Zeichen dafür, dass der Zögling sich aus gewissen Gründen nicht sicher fühlte, denen dann jeweils nachzugehen war. Der Jüngling wiederum, hinter welchem Autenrieth stehen blieb, spürte dessen Atem im Nacken und roch, was der Buchhalter zuvor gegessen hatte, zum Beispiel Schäufele mit Kartoffelsalat und Zwiebeln. Für Gregor stellte dies eine harte Prüfung dar. Er musste feststellen, dass es ihm schwerfiel, solch große Nähe zu einem Menschen zu ertragen. Indessen fiel er nicht unangenehm auf.
Bereits dieser Umstand stellte eine gute Beurteilung dar, denn Autenrieth lobte nicht. Er war der Ansicht, dass junge Menschen durch Lob verdürben, und setzte auf die Vermeidung von Tadel als Instrument seiner Ausbildung. So erlangte Gregor durch seine Tadellosigkeit nach einem halben Jahr unbezahlter Probezeit auf Zuspruch Autenrieths einen Vertrag mit der Weberei, der besagte, dass er als Schreibergehilfe eine feste Anstellung erhielt. Womit auch die Kosten seiner Mahlzeiten und der Schlafstube, welche bis dahin von der Mutter zu bezahlen gewesen waren, von der Weberei übernommen wurden. Sein erstes Gehalt, welches er von da an bezog, belief sich auf einen Viertelgulden im Monat, dazu kam ein Kostgeld von zwanzig Kreuzern wöchentlich. Kleidung war selbst beizubringen. So blieb erst einmal von Gregors Salär kaum etwas übrig.
Indessen meinte die Mutter, dass sich Lehrjahre erst im Nachhinein auszahlten. Sie sei froh, dass sie selbst nun nichts mehr beitragen müsse. Und dass Gregor jetzt für sich selbst stehe, beinahe schon wie der Mann, der aus ihm einmal werden würde. Sein Vater, fügte sie noch an, wäre stolz auf ihn. Lieber kein Lob, dachte Gregor bei sich, als das eines Toten.