Fliegende Fische - Meinrad Braun - E-Book

Fliegende Fische E-Book

Meinrad Braun

4,9

Beschreibung

Richie Salewski hat Konzentrationsprobleme. Erst unter Stress funktioniert sein Verstand richtig. Als er in einem Unfallwagen zwei Stinger-Raketen findet, hat er genügend Adrenalin zur Verfügung, um sich an ein ganz großes Spiel zu wagen. Zu den Mitspielern zählen ein japanischer Koi, ein türkischer Spediteur, eine russische Kassiererin, ein abgehalfterter Tankstellenbesitzer und ein professioneller Hundefreund. Aber bald spielen ungebetene Gäste mit und bringen Richie an den nächtlichen Main zu einem letzten Fischzug.

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Meinrad Braun, geboren 1953, ist Psychotherapeut und lebt in Mannheim. 2005 erschien seine illustrierte Erzählung »Casa dei Nani«, 2006 der Roman »Winterreise« im Axel Dielmann Verlag, Frankfurt, und 2008 die Erzählung »Die künstliche Demoiselle« im Llux-Verlag, Ludwigshafen am Rhein. Im Emons Verlag erschienen bisher die Kriminalromane »Das Schwedengrab« (2006) und »Fürchten lernen« (2007) mit der Figur des Psychiaters Sebastian Sailer.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig. Ich danke Madeleine Reckmann für die freundliche und kenntnisreiche Einführung in Rüsselsheimer Details.

© 2014 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-676-8 Rhein-Main Krimi Originalausgabe

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Für Sebastian

May the road rise to meet you,

may the wind be always at your back.

May the sun shine warm upon your face,

the rains fall soft upon your fields.

May the sun make your days bright,

may the stars illuminate your nights.

May the flowers bloom along your path,

your house stand firm against the storm.

And until we meet again may God

hold you in the palm of his hand.

Segen aus Irland

EINS

Irgendwo muss das Ganze angefangen haben. An einem ganz bestimmten Punkt fängt schließlich alles an. Es geht ja nicht einfach immer weiter, eins, zwei, drei bis unendlich. Etwas passiert, das fängt irgendwo an und hört irgendwann auf. Vielleicht hat auch der Koi das Ganze eingefädelt, keine Ahnung. Später habe ich es mir folgendermaßen vorgestellt, und damit bin ich vermutlich ziemlich nahe dran: Es war ein Reh.

Das Reh bewegt sich Richtung Waldrand. Rotbraunes Fell mit etwas Grau. Bei den letzten Bäumen bleibt es stehen, streckt den Hals vor, stellt die Ohren auf. Nur die Geräusche der Nacht, in der Ferne das Rauschen der Stadt, zwischen drei und vier Uhr morgens. Auf seinen langen Beinen stakst das Reh durchs Laub, ab und zu raschelt es. Wenig hier, was man fressen könnte. Es berührt die dürren Blätter ab und zu mit der Schnauze, zieht ein bisschen Luft ein. Dann hebt es den Kopf und wittert. Frisches Gras, nicht weit von hier. Vorsichtig steigt es über die Leitplanke. Weicht mit einem seitlichen Hüpfer einer Coladose aus, über der eine Wolke aus unangenehmem Geruch schwebt.

Ein Stück weiter hinten fliegt eine Eule durch die Schneise zwischen den jungen Buchen, flattert eilig durch die rote Mondscheibe. In den schwarzen Himmel hinein gestochen ganz fein die Sterne. Auf der Autobahn glänzen polierte Splitsteinchen im Asphalt, der noch immer warm ist. Insekten krabbeln darauf herum, unhörbar und unsichtbar. Das Reh überquert die Straße. Mit leisem Klacken über die beiden Spuren. Die Grillen machen eine kurze Pause, feilen wieder weiter, setzen eine Kerbe neben die andere. Ein paar Kilometer entfernt kommt ein Flugzeug herunter: fliegender Teppich, zieht breit vorbei, verschwindet hinter dem Wald, aufgesaugt von der Stille.

Jetzt steht das Reh auf dem Grünstreifen, da wächst das frische Gras, das es gerochen hat. Es senkt den Kopf und fängt an zu fressen. Weiter hinten am Brückenpfeiler jagen sich die Mäuse, pfeifen leise. Ab und zu der Schrei einer Eule, die hinter ihnen her ist. Millionen Spannerraupen raspeln an den grünen Buchenblättern. Dazu das leise Rupfen im Gras.

So bleibt es. Noch dreißig Sekunden.

Ein Käuzchen schreit. Das Reh blickt auf. Ein Licht– kommt näher. Das Reh duckt sich, dreht den Kopf in die Richtung, aus der das Licht herankommt, so schnell kommt, dass das Tier erstarrt. Die Angst staut sich im Rücken, in den Beinen, seine Muskeln werden aufgezogen wie eine Feder. Vor ihm die doppelte Leitplanke, zu breit, um drüber weg auf die dunkle Gegenspur zu springen. Alles ganz hell. Ein Brummen, sehr laut jetzt. Die Scheinwerfer packen zu. Seine Augen füllen sich mit Licht, leuchten rot auf.

Der Mann am Steuer des Toyota versucht seit Stunden wach zu bleiben. Zwischen seinen Oberschenkeln klemmt eine leere Thermoskanne, vermutlich mit Kaffee drin. Eben noch hat er auf die Uhr am Armaturenbrett gesehen, eine Drei darauf, die beiden anderen Ziffern kann man nicht erkennen. Die Straße ist frei, so gut wie kein Verkehr. Er fährt schnell, um wach zu bleiben und um endlich anzukommen. Die Autobahntrasse hat Unebenheiten, der Wagen schwingt auf und ab, die Reifen knallen auf den Stößen der Betonnähte, kleine gummiweiche Schüsse, die den Mann am Dösen hindern. Die Musik hat er schon lange abgedreht. Das Fenster steht offen. In den Wagen strömt der warme Nachtwind, bläst ihm ins Gesicht und lässt seine kurz geschnittenen schwarzen Locken zittern.

Er sieht links über dem Grünstreifen die Augen: leuchten rot auf. Im gleichen Moment springt das Reh auf die Straße und versucht in langen Sätzen vor seinem Wagen vorbeizukommen, scheinbar ganz langsam, extreme Zeitlupe. Aber der Film, in dem der Mann sich befindet, läuft schneller, viel zu schnell. Er reißt das Lenkrad nach links, weg von dem hell angestrahlten Tier. Die Reifen quietschen, das Auto kippt, ein roter Funkenregen sprüht auf den rauen Asphalt, der Wagen pflügt durch den Grünstreifen, knallt gegen die Leitplanke, wird herumgerissen, tritt den Flug an, Richtung Betonpfeiler.

Der Mann, ans Lenkrad gekrallt – sein Film läuft auf einmal sehr langsam–, der Mann sieht vielleicht noch immer das Bild von dem Reh im hellen Scheinwerferlicht, das der Kühler um eine Handbreit verfehlt hat, ein Standbild jetzt, und vielleicht stellt er sich, noch immer in derselben Sekunde, eine Frage. Für die Bearbeitung hat sein Gehirn aber trotz des unglaublich abgebremsten Films keine Zeit mehr, denn der Wagen hat gerade fünf Meter durch die Luft zurückgelegt und prallt jetzt, Dach voran, mit hundert Sachen gegen den Pfeiler der Autobahnbrücke, an der ein großes blaues Schild hängt, auf dem man lesen kann, dass es noch zwei Kilometer zum Frankfurter Kreuz sind.

Das Reh hetzt über die Leitplanke zum Waldrand, hinter ihm ein dumpfer Krach: Glas splittert, Blech staucht sich, Kunststoff bricht, dazu der leidende Ton, den der Betonpfeiler von sich gibt. In diesem Geräusch geht die platzende Thermoskanne unter und das, was der Fahrer vielleicht noch von sich gegeben hat, bevor er starb.

ZWEI

Das Blaulicht kann man schon aus drei Kilometern Entfernung sehen, es pulsiert gegen die Autobahnbrücke, die belagerte Festung. Davor Polizei, Krankenwagen, Feuerwehr. Das ganze Aufgebot. Ich trete aufs Gaspedal. Der schwere Diesel grollt, gibt dem leeren Abschleppwagen einen Stoß, lässt ihn vibrieren wie eine Bassgeige. Den Funk einschalten. Durch das Rauschen drehe ich auf die Frequenz der Polizei und drücke den Knopf für das gelbe Blinklicht auf dem Kabinendach. Adrenalin. Macht mich immer fit, wenn was los ist. Ich kann so ziemlich alles ab in dieser Hinsicht, rege mich nicht groß auf, wenn was passiert. Nur Langeweile kann ich nicht ertragen, die macht mich fertig. Während die Autos auf der linken Spur an mir vorbeiflitzen, suche ich weiter nach dem Polizeifunk, es quiekt und rauscht, aber ich kriege ihn diesmal nicht rein. Gewohnheit. Ohnehin immer dasselbe, was da geredet wird, paar Witzchen dazwischen. Also abschalten, auch gut. Bulle sein– überlege ich mir für einen Moment. Mit meiner Veranlagung hätte das vielleicht was werden können: Klare Vorschriften, straffe Führung. Hieß immer, dass mir das guttun würde. Man verdient zwar kaum was, ist dafür aber dauerversorgt: bewegliches Staatseigentum.

Die Frühpendler sammeln sich am Frankfurter Kreuz. Die tägliche Blechkarawane drängelt im Morgengrauen zusammen. Alles enorm hässliche Autos, tonnenschwer, fette Raumwunder mit gefährlich glotzenden Fressen, genau wie die gestressten Spießer, die darin sitzen. Ein Dach nach dem anderen rutscht unter mir durch, schert ein, überholt noch mal schnell für den besten Platz im Stau da vorn.

»Hallo, Richie, kannst du gleich raus?« Ötün. Hatte es ziemlich eilig vorhin. »Muss schnell gehen. Vollsperrung am Kreuz, machst du das?«

Ötün liegt im Bett mit seiner Neuen.

Kann sich auf mich verlassen. Ein Anruf um diese Zeit, das geht bei mir immer, solange die Karte noch funktioniert. War überhaupt meine Erlösung, die Erfindung des Handys. Dauernd habe ich Sachen liegen gelassen früher, Verabredungen vergessen.

Heute Nacht hat mich das Klingeln noch nicht mal geweckt. Ich wollte die neue Festplatte ausprobieren, war deshalb in meiner Wohnung, wenn man das so nennen kann. Drei Stunden lang, meine Augen haben sich angefühlt wie eingelegt in Aspik, obwohl es blöde ist, offline spielen zu müssen. Trotzdem, der Rechner hatte endlich ein bisschen Hubraum. Die Extraprämie für den Fischzug heute Nacht reicht vielleicht, um das Ding vollends zu bezahlen. Ötün ist großzügig, wenn er nachts keine Lust hat. Seitdem Nesche da ist.

Den Fuß vom Gas. Die Bremslichter leuchten nacheinander auf, als wären sie hintereinander geschaltet, aufgeregte Warnblinker gehen an. Hilfe! Fahr mir bloß nicht hintendrauf!

Vor mir, über den Bergen, wird es heller. Gute Zeit, die letzte Stunde vor Tagesanbruch, wenn man nachts fitter ist als am Tag und einen Biorhythmus hat wie ein Colaautomat.

Ein schwarzer Mercedes. Kommt mit einem Affenzahn auf der Überholspur angebraust, bremst zackig ab, um nicht auf die anderen aufzufahren, die da bereits aufgereiht stehen, schert so dicht vor mir ein, dass ich tatsächlich auf die Bremse tippen muss. Arschloch. Zweimal aufs Horn drücken. Meine Truckposaune. Reicht für ein Linienschiff. Kann leider nicht sehen, wie es den Typen im Benz zusammenreißt. Rechts rüber auf den Standstreifen jetzt, ich brumme am Stau vorbei. Gehe auf dreißig herunter, um nicht einen von den Idioten umzufahren, die bei so was gern aussteigen, um bessere Sicht auf den Unfall zu haben.

Fehlen nur ein paar träge Monster da oben an der Brüstung, die hätten auf der Autobahnbrücke jetzt ganz natürlich gewirkt. Die Baumkronen pulsieren in Blau, darüber der orangefarbene Mond. Sieht aus wie ein Fehler in der Grafik. Feuerwehr und Notarztwagen stehen hintereinander auf der linken Spur. Die Polizei winkt mit Kellen rum, rote Glühwürmchen drin, beide Spuren sind blockiert. Der Notarztwagen hat als Einziger sein Blaulicht nicht an. Rampe zu, Innenbeleuchtung aus. Tot also. Nur noch aufräumen.

Ein Polizist, orange gestreifte Kutte, winkt mich mit der Kelle ran. Das Fenster runterkurbeln, beuge mich ein Stück raus.

»Firma Yilmaz? Sind Sie das?«

Der Grüne sieht gleich wieder auf die Straße zur Schlange rüber, Verantwortungsträger. Gesichter stieren weiß aus den Autofenstern, pumpen mit den Mündern.

»Bin ich.«

Werde weiter gewunken.

Ich ziehe an meiner Zigarette und blase einen Rauchschwaden zum Fenster raus, ehe ich es wieder hochdrehe, brumme langsam vor bis zum Ende der Schlange. Direkt beim Unfallwagen winkt noch ein Grüner. Halt, eine Frau. Tatsächlich. Immer mehr Frauen gehen zu den Bullen. Stoppen, Handbremse ziehen.

Da liegt der Wagen. Ziemlich platt. Ein Cabriolet. Nein: Das Dach ist ab. Die Feuerwehr hat es mit der Rettungsschere abgetrennt, herausgesägt eher, der Wagen ist bis auf die Sitze runter flach gequetscht. Am Brückenpfeiler eine frische, drei Meter lange Prellmarke. Wohl kein Selbstmörder diesmal, die gehen die Sache immer frontal an. Der Anblick erinnert an eine Sardinendose, auf die einer mit einer großen Schuhnummer draufgetreten ist. Ich springe vom Trittbrett. Lasse den Motor weiternageln.

»Sie nehmen den Wagen mit?«

Die Polizistin hat blaue Augen und Sommersprossen. Ein paar lange blonde Fransen hängen unter ihrer Dienstmütze raus.

»Wenn Sie nichts dagegen haben.«

Mein Grinsen und der Blick auf die obere weibliche Etage, bloß so als Reflex – sie hat ja ohnehin die Leuchtkutte über–, macht ihr Gesicht noch um ein paar Grad unfreundlicher.

»Wir brauchen Ihren Ausweis. Gehen Sie zu dem Polizeifahrzeug.« Schubst mich mit dem Kopf, ein-, zweimal rüber zu dem grünen VW-Bus auf dem Standstreifen. »Und stellen Sie den Motor so lange ab, ja?« Schaltet den Blickkontakt aus, dreht sich weg.

Na schön. Wieder hoch aufs Trittbrett, Schlüssel rausziehen. Dann trotte ich zu dem Bus hinüber, gucke durch die offene Schiebetür: Zwei Beamte hocken drin, schreiben.

»Der Abschleppwagen«, melde ich mich an. Tippe »Zu Diensten« an meine Baseballkappe.

»Wurde Zeit«, müffelt der Ältere mit dem Seehundschnauzer – ein Markenzeichen für Polizisten finde ich, genau wie Klobrille bei Lehrern–, prüft meine Erscheinung, kurzer Blick. Der andere nimmt Ausweis und Führerschein in Empfang, die ich ihm hinstrecke, langsam und konzentriert wie die fehlenden Buben für einen Grand Hand. Legt die Plastikkarten auf das Klapptischchen vor sich, ohne dabei aufzublicken. Dann fängt er wieder an zu schreiben. Im Hintergrund quäkt der Polizeifunk. Eine Streifenwagenbesatzung erzählt umständlich und aufgekratzt, wo sie gerade langfahren.

»Der muss in die Autobahnmeisterei«, sagt der Seehund. »Hinter dem Kreuz. An Langen Mörfelden vorbei, bei der Raststätte Erzhausen.« Ob ich wisse, wo das sei?

»Sicher.«

»Die wissen Bescheid dort. Hier ist Ihr Ausweis wieder und der Auftrag. Wenn Sie draußen Hilfe brauchen, sprechen Sie uns an oder die Feuerwehr. Gute Fahrt.«

Einen Finger dienstlich an die Kappe, und ich drehe ab. Wie ich um den Bus herum bin, werfen zwei Feuerwehrleute gerade die Reste des Wagendachs auf das Wrack: Bang! Gucken mich nicht an dabei. Ich mache eine Runde um den plattgedrückten Wagen, inspiziere. Die Räder sind alle noch dran.

Autos abschleppen kann man auch mit – wie heißt das noch?– erheblichen Konzentrations- und Gedächtnisproblemen. Die paar Papiere mitnehmen, das geht schon klar, und natürlich die Karre selbst. Es gibt vieles, wofür man sein Gedächtnis kaum braucht, kann auch störend sein, ganz nebenbei.

Drüben auf der anderen Seite der Autobahn der Stau der Gaffer. Sauber aufgereihte bunte Glasbehälter mit aktiven weißen Gesichtsquallen drin, die Münder gehen im Frühlicht hinter den Scheiben auf und zu, als würden sie gerade gefüttert. Im Aquarium, wo ich jeden Winter Stammgast bin, dort wird nämlich zuverlässig geheizt, man kann sich auf den Bänken den ganzen Tag vertreiben, also dort haben sie keine Quallen, sind schwer zu halten, habe ich mal gelesen, gehen schnell ein, wenn man nicht alles richtig macht.

Wie ich oben auf der Ladefläche stehe, die Schlepptrosse klarmache, öffnet sich drüben die Heckklappe am Notarztwagen. Die Innenbeleuchtung geht an, fällt auf zwei Sanitäter, die hieven eine Trage raus, was Längliches ist drauf, in schwarze Plastikfolie eingewickelt. Sie legen die Trage auf den Standstreifen neben den Polizeiwagen, dicht an die Leitplanke. Na eben. Hab ich mir schon gedacht.

Einsteigen, den Motor starten. Ehe ich zurückstoße, um die Rampe an das Wrack ranzubringen, lasse ich den Notarztwagen passieren, der biegt auf die leere Autobahn Richtung Frankfurter Kreuz ein.

Das Auto kommt erst mal an die Winde, und dann hoch damit auf die Rampe. Geht alles glatt, die Vorderräder blockieren, aber die hinteren drehen sich noch. Das abgetrennte Dach strippe ich mit einem Seil oben auf dem Wagen fest. Ein einziges Chaos dort drin. Zersplitterter Kunststoff und verbogenes Blech, der zerdellte Reif vom Lenkrad. Auf dem Fahrersitz dunkle Flecke. Ein zweites Mal sehe ich nicht rein. Ich springe von der Rampe, steige ins Führerhaus. Niemand kümmert sich um mich außer vielleicht die Gaffer, aber um die kümmere ich mich nicht. Die Feuerwehrleute trinken noch Kaffee, stehen mit den Tassen in der Hand neben ihrem Fahrzeug, lassen sich von der Polizei zur Eile antreiben. Jemand lacht fortwährend, immer die gleiche Stimme. Tür zugeknallt und los, an den Feuerwehrleuten vorbei. Am Rand meines Blickfelds sehe ich noch, wie einer von ihnen eine Coladose auf den Standstreifen wirft, ehe er einsteigt.

Dann bin ich weg, auf Tour. Der Motor hämmert ans Bodenblech unter meinen Füßen, bringt es zum Singen. Ich drücke mein Knie gegen die Blechhutze: Will es spüren, so gehen die Vibrationen hoch bis in meinen Bauch, lassen die Neurotransmitter in mein Hirn einströmen, das Zeug, von dem ich angeblich nicht genug habe. Sprudelt aber umso heftiger, wenn was los ist.

Schulversager. Der Junge ist hyperaktiv, Frau Salewski, der kann nix dafür! Der ist nicht bloß verträumt, der ist krank! Das macht es auch nicht besser, Herr Doktor, traute sich Frau Salewski zu antworten, trotzig in ihrem Unglück und mutig vom ersten Fläschchen Jägermeister des Tages. Ich kann Mama da nur recht geben. Rückblickend, sozusagen. Immerhin: eine schlechte Mittlere Reife nach drei Ehrenrunden. Habe ich ausschließlich meinen aufgehellten Stunden in schulischen Krisenzeiten zu verdanken. Wenn es richtig eng wurde, fing ich nämlich an durchzublicken und gab eindrucksvolle Zeugnisse meiner Intelligenz von mir: ein Gehirn wie ein Rennmotor, zieht erst bei hohen Drehzahlen richtig durch. Und den Pädagogen verdanke ich viel– man muss dem Jungen doch 'ne Chance geben, der ist intelligent!–, besonders Herrn Assmann. Lies das, Richard, ich weiß, dass du was auf dem Kasten hast. Gute Bücher sind durch nichts zu ersetzen! Ja. Ich hab's ihm schlecht gedankt, ich weiß. Obwohl einige davon wirklich nicht übel waren, hab leider vergessen, welche das gewesen sind.

Motoren bringen mich immer zum Singen. Das Blech schwirrt an meiner rechten Kniescheibe, das Schwirren wird in den Schädel weiter geleitet, dort wird es weicher, musikalischer, wie der Streicherteppich in solchen altmodischen Filmen. Dazu passt was von Robbie Williams, so ein alter Sinatra-Song aus den Fünfzigern oder weißgottvonwann, aber gut: »Iknow Istand in line until you think you have the time to spend an ev'nin' with me…« Ist eigentlich zweistimmig, glaube ich, oder? Ich halte den Schlepper mit seinem Dreihundert-PS-Orchester per Gaspedal in der richtigen Tonlage. »…Then afterwards we drop into a quiet little place and have a drink or two…« Jedes Wort weiß ich noch, na bitte.

Die Sonne. Trennt die Autobahn vom grauen Dunst, dort drin hingen vor Kurzem noch ein paar Sterne. Sehr heiß und rot kommt sie rauf, ein himmlischer Schneidbrenner, sticht durch nach Westen in die Ebene. In der Luft hängt schon eine Ahnung von blauem Himmel.

Mir geht beim Singen nun doch der Text aus, der Diesel prasselt allein weiter. Schalte das Radio an. Wildes Technogewummer quillt raus. Drücke die Wahltasten nacheinander durch, beim dritten Sender mit Ötüns lamentierender Türkenmusik gebe ich es auf, sehe auf die Uhr. Viertel nach fünf. Keine Lust, nach was anderem zu suchen, und Senderfrequenzen kann ich mir nicht merken, das ist bei mir nicht drin.

Im Internet gibt's Chatrooms für hyperaktive Erwachsene: Leiden auch Sie am ADS-Syndrom? Waren Sie ein hyperaktives Kind? Sind Sie zerstreut? Nennen sich Adies. Nehmen das Ganze äußerst positiv, trösten sich gegenseitig wegen ihrer Macke: mit Mozart, Einstein, Churchill und Bill Clinton. Die waren alle ADS-krank und wussten's nicht. Vielleicht ist deshalb aus ihnen was geworden. Aus mir leider nicht, abgesehen davon, dass ich zu diesem exklusiven Club gehöre.

Vor mir kommt ein Airbus über der Autobahn herunter. Steuert gelassen auf das Rollfeld zu, voller Leute, die gerade aufwachen, Kaffee vor sich stehen haben, wer weiß woher kommen: Schnell schwimmender Riesenrochen, sperrig steht ihm das Fahrwerk aus dem Bauch, die Landeklappen sind unten. Es zischt wütend auf, fließt breit über mir auseinander, die Schleppe zieht über den Zaun vor dem Flugfeld, dort reißt sie ab.

Meine Blase drückt. Am Parkplatz bei Langen Mörfelden fädle ich mich raus. Rolle direkt vor die Toilette. Sonderfahrzeug, oder? Wie ich zurückkomme, stehen schon ein paar Leute um den Wagen rum, gucken sich das Wrack an.

»Das ist doch der vom Frankfurter Kreuz vorhin, Vollsperrung, oder?« Ein Sechzigjähriger mit Elbschiffermütze, raucht eine Zigarette mit schwarzer Spitze. Nickt sich selber wichtig zu, sucht meinen Blick, guckt sich um, ob noch einer zuhört.

»Satt erwischt, würd ich sagen«, mischt sich schon der Nächste ein. Heisere Stimme, kecke Glatzenrasur. Bomberjacke und verzottelte Jeans, nervös oder geil im Wiegeschritt in seinen offenen Turnschuhen. Die Frau, auf dem Arm ein schlafendes Kind, zwei Schritte daneben, lächelt ergeben. Im Hintergrund zögern schon ein paar andere, lauern in den offenen Wagentüren, Fuß auf den Boden gestellt. Piranhas: Blut im Wasser.

»Kann sein«, räume ich ein, ohne jemanden anzusehen. In solchen Situationen gebe ich mich nicht mit Dilettanten ab. Turne elegant hoch auf die Rampe. Mal eben nachprüfen, ob das zerknautschte Dach noch fest dranhängt. Als ich ein paarmal an den Strippen gezogen habe, dazu stelle ich mich auf die hintere Stoßstange von dem Wrack, bleibe ich mit der Stiefelspitze irgendwo hängen. Ich trage meine Cowboystiefel, die ziehe ich am liebsten an, wenn es auf Tour geht. Nun hat sich die Stiefelspitze wo verhakt.

In die Knie gehen, über die Stoßstange spähen. Ein breiter Riss, wo eigentlich der Wagenboden sein müsste, und dahinter ist was. Ein Ding, das ich noch nie gesehen habe. Ausgesprochen interessant.

Die Schiffermütze unten verkündet wieder was Kluges, der in der Lederjacke kichert nach, Lautstärke erhöht, natürlich für mich, den Fachmann oben auf dem Abschleppwagen. Der Glatzentyp wiehert noch ein paarmal, der Alte hustet bestätigend, mischt etwas fette Lache rein. Ich richte mich auf und springe von der Rampe runter. Tippe für die beiden Experten zum Abschied an meine Baseballkappe, schwinge mich auf der anderen Seite aufs Trittbrett, rein ins Führerhaus, Motor an. Den Abschleppwagen erst mal wegfahren. Bis ans Ende vom Parkplatz, außer Sicht von den Typen dort vor dem Klo, dicht hinter einen der Laster, in denen die Fahrer noch schlafen. In meinem Kopf geht es zu wie in einer Waschmaschine, Schleudergang.

Das Brecheisen und die Taschenlampe holen, wieder rauf auf die Rampe. Als ich den Riss über der Stoßstange ein Stück aufgebogen habe, leuchte ich mit der Lampe rein. Eine ganze Minute lang. Dann setze ich mich neben das Wrack und zünde mir eine Zigarette an. Schaue meinen Fingern zu, wie sie zittern. Während ich rauche, versuche ich mir Schritt für Schritt klarzumachen, was ich da eben gesehen habe, obwohl ich das ganz sicher nicht wieder vergessen werde. Eine flache Kammer unter dem Wagenboden, fünfzehn Zentimeter hoch. War vermutlich zugeschweißt und ist aufgeplatzt, als sich durch den Unfall die Karosserie verdreht hat. Und die zwei merkwürdigen Dinger da drin. Ich habe eine Ahnung, um was es sich dabei handelt, und das vor allem ist der Grund, weshalb ich jetzt nachdenken muss.

Hätte jemand den Parkplatz beobachtet, von der Toilette aus zum Beispiel, der hätte fünfzehn Minuten später bloß gesehen, wie der gelbe Abschleppwagen zwischen zwei Lastwagen rauskommt, auf die Autobahn einbiegt und Richtung Darmstadt weiterfährt. Niemand hätte sich dabei irgendwelche Gedanken gemacht, da bin ich sicher.

Ich fahre langsam weiter, vielleicht sechzig oder siebzig, lasse das Gelblicht blinken, sehe mir konzentriert die Gegend auf der rechten Autobahnseite an. Wald, ziemlich dicht, keine Häuser, kein Feldweg. Nichts. An der nächsten Notrufsäule stoppe ich auf dem Standstreifen, dicht an der Leitplanke. Gehe auf der Beifahrerseite raus und hoch auf die Rampe. Schiebe ein großes Bündel, eingewickelt in die graue Decke aus dem Führerhaus, an die Kante der Ladefläche. Springe runter und nehme das Bündel auf die Schulter. Verdammt schwer ist es. Klettere damit vorsichtig über die Leitplanke. Nach zwanzig Metern schon beginnt der Wald. Ich suche mir eine Stelle mit viel Laub, scharre mit den Stiefeln eine flache Mulde aus und lege das Bündel rein. Decke es mit Blättern zu, mit Zweigen– was ich gerade finde. Dann zurück, über die Leitplanke und für die vorbeifahrenden Autos zur Tarnung ein bisschen am Hosenladen gefingert, ehe ich wieder einsteige: Pinkelpause gemacht, muss auch mal sein.

Ich knalle die Tür hinter mir zu. Mein Herz hämmert. Sogar Ötüns Türkenmusik schalte ich ein, um wieder einigermaßen runterzukommen, während ich mich wieder reinfädle, über die Autobahn brause, wo der Verkehr inzwischen zugenommen hat. Ich fahre viel zu schnell. Gas weg, keinen Ärger jetzt. Obwohl ich am liebsten hundertvierzig gefahren wäre, nur um mein Hirn ein bisschen ruhiger zu kriegen. Die Sonne, schon über den Horizont geklettert, lässt ihre Strahlen explodieren, die Müllberge zur Linken leuchten in frischem Grün wie das Gelobte Land. Nächste Stationstaste drücken. Joe Cocker wird freigelassen, röhrt ein paar Takte, so laut er kann, wird trotzdem runtergeregelt von einem aufgeregten Moderator, der seinen Hörern den besten Oldiemix und die neuesten Nachrichten der Region verspricht, und er möchte ihnen, als wenn das nicht reichen würde, dazu noch alle Blitzer in Darmstadt verraten.

Zehn Minuten später biege ich an der Raststätte Erzhausen ab, fahre zur Autobahnmeisterei raus. Vor der Baracke hupe ich zweimal. Ein Typ im Blaumann kommt raus, wirft einen Blick auf den Auftrag, den halte ich kurz aus dem Fenster, ihm vor die Nase. Nickt und zeigt mit ausgestrecktem Arm, wo ich das Wrack abladen soll. Dann geht er wieder in den Container zurück, wo er vermutlich gerade beim Frühstück sitzt.

Als ich das Wrack von der Rampe runterlasse, stoppe ich kurz ab und sehe mir den Riss unter der Stoßstange noch mal genau an. Habe ihn mit dem stumpfen Ende der Brechstange vorsichtig wieder zugeklopft. Nichts dran, was auffallen könnte. Wenn der Wagen später aus der Schrottpresse kommt, wird man nicht mal mehr die Automarke feststellen können.

DREI

An der Raststätte. Erst mal richtig frühstücken. Ich gebe fast das ganze Geld aus, das ich in der Tasche habe, obwohl es dämlich ist, für einen großen Kaffee drei Euro zu bezahlen. Und dazu noch zwei belegte Brötchen zu kaufen und einen Fleischsalat und noch eine Apfelschorle aus dem Automaten.

Weil seit einer Stunde die Welt nicht mehr geradeaus auf ihrer Bahn durchs Weltall läuft, sondern eine deutliche Kursänderung vorgenommen hat. Deshalb wahrscheinlich. Ich muss zusehen, dass ich da mithalten kann. Die fünfzehn Euro, die ich auf das Tablett an der Kasse lege, sind das Eintrittsgeld für die Sonderfahrt, die eben begonnen hat. Ich hätte auch fünfzig hingelegt, wenn ich die gehabt hätte.

Nach dem Frühstück rauche ich. Ziehe das Nikotin rein, langsam und feierlich. Es wirkt, zusammen mit dem Kaffee, macht mich ruhiger. Genau andersrum bei mir: Wenn ich rauche, genug Kaffee oder Cola trinke, werde ich ruhiger anstatt aufgekratzt.

Aus dem Fenster sehen. Der Verkehr schwimmt vorbei, auch heute strömt wieder alles Richtung Norden, da warten die Netze der Stadt. Werden bald gefangen, die bunten Fische, dann stehen sie still zwischen den Häusern und in den Parkbunkern, die Insassen wechseln die Dose: vom Auto ins Büro.

Sitzen bleiben. Meinen Plan Konturen annehmen lassen. Ich weiß noch nicht mal genau, worum es sich handelt, jedenfalls ist es eine Sache, die sich in meinem Kopf ausbreitet wie eine Druckwelle, nachdem die Idee eingeschlagen hat. Ein Meteorit aus dem All. Aktive, neuartige Materie. Von ihr gehen gerade flinke Zellteilungen aus, organisches Wachstum, das Projekt wird größer und größer. Dafür muss ich nichts tun, brauche nur zu rauchen und die Bilder vor mir erscheinen lassen.

Auch eine Stimme ist auf einmal dazu gekommen, die überlegt laut, murmelt irgendwas. Spricht nicht direkt mit mir, aber ich habe das Gefühl, ich sollte zuhören. Die Stimme spricht in einem anderen Raum, etwas Hall dabei, ich kann nur den Klang hören, die Worte verstehe ich nicht. Aber den Raum kenne ich. Das leise Plätschern, das Summen der Aggregate in den Becken: das Aquarium. Ich fand schon immer, dass Fische einem eine Menge zu sagen hätten. Dass sie darauf verzichten, es laut zu tun, hat mich bisher noch nicht gestört. Das Gebrabbel im Kopf könnte einem allerdings auch Angst machen: Stimmen hören und so weiter, ich weiß, dass das nicht gesund ist. Aber egal. Ich bin sicher, ich brauche nur zu warten, bis ich verstehe, was sie sagt, die Stimme. Außerdem– die ganze Sache hat meine Nerven an die Steckdose angeschlossen. Als wäre mein Gehirn vorher entladen gewesen, Lichter schwach, Achtung, sichern Sie die Daten, wechseln Sie sofort die Batterie! Jetzt summt das System, und wenn diese Stimme dazu gehört, soll es mir recht sein.

Dazu passt das Licht draußen, mit dem die Sonne die Autobahn überfällt – alle Leute haben inzwischen Sonnenbrillen auf–, und die Tatsache, dass ich damit rechnen kann, von Ötün nachher mindestens einen Fünfziger zu kassieren für die Fahrt heute Nacht. Und wenn es nur dreißig sind, mir auch egal.

Zwei Trucker setzen sich an den Nebentisch. Stoppelbärtig, verschwiemelte Bauerngesichter mit Augen, rot wie Stopplichter. Vierzehn Stunden Dauerfahrt vermutlich, nonstop aus Kattowitz. Rühren synchron in den Kaffeetassen, als wären ihre Arme durch ein Getriebe verbunden. Der Ältere fängt an, leise vor sich hin zu reden, auf Polnisch oder Russisch, ich kann das nicht auseinanderhalten, in einem jammernden Tonfall. Klingt, als würde er heimlich zu einem verbotenen Gott beten. Der andere guckt ihn nicht an, holt stattdessen ein Riesenpaket Stullen aus der Plastiktüte, die er unter dem Tisch zwischen die Knie geklemmt hält. Legt die Brote systematisch nebeneinander auf den Tisch, als müsste er sie der Größe nach ordnen, auf das leise Jammern von seinem Nachbarn achtet er nicht. Eine große Gurke kommt noch dazu, zwei Dauerwürste. Der Tisch sieht aus wie ein Flohmarktstand. Ich schiebe meinen Stuhl zurück und stehe auf, bevor er noch Preisschilder dranmacht.

Zurück nach Rüsselsheim, dorthin wo Ötün wohnt. Zu seinem Fuhrpark im Hasengrund mit den zwei alten Bretterschuppen und dem Einfamilienhaus. Dicht an der Autobahn, günstig für einen Abschlepper, der schnell vor Ort sein muss. Gilt auch für mich. Lange Wege kosten Sprit, sogar bei meinem kleinen Hondaroller. Der steht jetzt bei Ötün auf dem Hof und wartet auf mich. In die Wohnung in der Bunsenstraße gehe ich nur ab und an, weil da der PC steht. Mein Erstwohnsitz im Sommer ist Opas Schrebergartenhäuschen. Davon merkt in der Anlage keiner was, weil die Gesellschaft dort sich längst aufgelöst hat. Nur eine Frage der Zeit, wann die Gärtchen plattgemacht werden, vielleicht schon im Herbst, spätestens nächstes Frühjahr.

Ein Dreieck mit fünf Minuten langen Kanten: meine Sommerresidenz im Schrebergarten, die Bunsenstraße und Ötüns Firma. Übersichtlich, selbst für jemanden wie mich, der seine Schlüssel regelmäßig eine halbe Stunde lang suchen muss und deswegen eine viertelpfundschwere Schraubenmutter drangehängt hat. Alles andere regelt das Handy. Solange eine Karte drin ist und der Akku voll, läuft mein kleines Dienstleistungsunternehmen. Lass es daddeln, und ich bin sofort bei Fuß.

Auf dem Kies schwimme ich in Ötüns Hof rein, lasse es extra prasseln unter den Rädern, um ihn zu wecken, kriege dann auch gleich mein Geld. Das verrostete Eisentor steht noch immer offen, heute Nacht war keine Zeit mehr zum Schließen. Der Abschleppwagen rollt auf seinen Platz. Ich steige aus, werfe die Wagentür mit einem Knall zu. Bleibe eine Weile neben dem Auto stehen, aber an den oberen Fenstern mit den prachtvoll gerafften Schneewittchengardinen tut sich nichts. Vermutlich ist das Bett warm, und Ötüns Ohren sind gerade unempfindlich gegen Störungen. Ich stecke die Wagenschlüssel in die Tasche, Zweitschlüssel, ein Beweis für Ötüns Vertrauen. Habe ich im Frühjahr bekommen, seit ich regelmäßig für ihn unterwegs bin. Eine Minute kann ich noch warten.

Ich sollte wieder mehr machen. Zu riskant, sich nur auf Ötün zu verlassen, aber bequem. Außerdem ist die Lage flau, und vielleicht bin ich ja mit zweiunddreißig schon zu alt, nicht mehr so anstellig – also vom Eindruck her, meine ich– wie die Leute das gern haben für die schnellen Jobs.

Das wird nichts mehr. Ich gehe zu meinem Roller, der steht drüben neben dem Haus, schon in der Sonne. Setze mich drauf und fahre rüber zu den Schrebergärten.

Vor der Anlage. Den Roller an der üblichen Stelle aufbocken, vor dem Haupteingang. Niemand da. Noch zu früh, selbst für die paar Unentwegten, die die Gärten noch betreiben, auf verlorenem Posten, alle Mietverträge sind schon seit einem Jahr gekündigt. Den betonierten Mittelweg langschlendern, meine Stiefel klicken lassen. Der Garten, das war Familie. Mama war da und Opa, ich. Durfte helfen. Hatte sogar mein eigenes Beet, na ja.

Zuerst kommen die großen Parzellen, die Prunkstücke. Wie diese hier mit einem Torbogen aus kunstvoll zusammengeschweißten Eisenrohren, dran hängt ein Holzschild mit Kuhhörnern, rechts und links zwei rostige Hufeisen. Vor Urzeiten mal mit dem Lötkolben eingebrannt: »Ponderosa« und zwei rauchende Colts, kann man gerade noch erkennen. Der nächste Garten, ähnliche Ausstattung, nennt sich »Shiloh Ranch«. Zwei Fernsehgenerationen vor mir, die Sachen. Dann kommen die ärmeren Viertel, wo keiner auf die Idee gekommen ist, seinem Gärtchen auch noch einen Namen zu geben. Höchstens ein verblichenes Hirschgeweih am Giebel vom Hüttchen oder ein Schwan aus einem zerschnittenen Autoreifen bei einem Romantiker, mit Silberbronze angestrichen. Die Reste der zerdepperten Gartenzwerge sind schon lange im hochgeschossenen Gras versunken, irgendwo steht ein abgebröckeltes Reh aus Gips. Wo, habe ich vergessen.

Am vitalsten sind die Brennnesseln und das Springkraut, das überwuchert die Komposthaufen und die Beete. Bloß ein paar Obstbäume schauen aus dem Dschungel raus. Das Unkraut bekommt vielleicht im nächsten Sommer noch mal eine Chance, wenn die Planierraupen da waren und nur noch Erdhaufen übrig sind, da kann es für ein paar Wochen drauf wuchern. Bis der Boden schließlich betoniert und versiegelt ist, dann müssen auch die Brennnesseln kapitulieren.

Opas Garten. Das Vorhängeschloss an der Zauntür aufsperren. Hat bloß einen Maschendrahtzaun, stellenweise ausgebessert mit Blumendraht. Man geht auf Waschbetonplatten durch vier kleine Gemüsebeete. Paar von den Beeten habe ich kultiviert, mein kleines Eden. Baue Salat an, Gurken und Karotten. Seitdem ich nicht mehr trinke, esse ich ab und zu Grünzeug, wollte ja mal gesünder leben. Verfolge das allerdings nicht konsequent, grabe die Beete im Frühjahr um und schütte die Samen in die Erde. Was gedeiht, schneide ich mir gelegentlich ab, wenn ich es nicht vergesse, aber das ist unwahrscheinlich, weil ich ja dauernd an dem Zeug vorbeimuss. Gießen– ja, da bin ich nicht sehr zuverlässig. Wenn es zu trocken wird, geht's meiner Plantage schlecht. Gerade sehe ich, bei den Karotten ist wieder einiges gewachsen. Die nehme ich gerne mit zum Angeln, knabbere sie ab, wenn ich für Stunden am Ufer sitze, rauche dann auch weniger.

Nach den Beeten kommt ein Stückchen Rasen, so groß etwa wie ein Wohnzimmerteppich, ein Zwetschgenbaum wächst drauf, dahinter steht dann das Häuschen, ein kleiner Schuppen hängt noch hinten dran. Hat Opa alles sauber aus Steinen gemauert, ein winziges Fenster ist drin, ein Dach mit aufgequollener Teerpappe, die müsste man mal reparieren, falls das Häuschen eine Zukunft hätte.

Ich gehe an der Hütte vorbei, fische die Schlüssel aus meiner Hosentasche und öffne das Schloss an der Schuppentür. Da steht neben einem Haufen Gartengerätschaften, einer Schubkarre und einem aufgerollten Schlauch mein Angelzeug in der grünen Segeltuchhülle. Ich mache die Hülle auf und hole das Angelzeug raus, lege alles auf den Boden. Als ich die Hülle ganz ausgeräumt habe – ist etwa einen Meter fünfzig lang–, stecke ich die Faust rein, ziehe den Reißverschluss ein Stück zu und spreize meine Finger auseinander. Reicht nicht, zu eng. Ich werde zweimal fahren müssen. Im Schuppen aufräumen. Die Hacken und Schaufeln alle auf die linke Seite rüberstellen. Sehe mir die frei gewordene Ecke eine Weile an. Könnte gehen.

Die Tasche für das Angelzeug rolle ich zusammen, klemme sie unter meinen Arm. Beim Absperren der Schuppentür pfeife ich leise vor mich hin. Dieser Williams-Song hat sich zu einem Ohrwurm entwickelt, passiert mir übrigens ständig. »And then Igo and spoil it all by sayin' somethin' stupid like Ilove you.« Da ist er ja wieder, der Text.

Im Schuppen also. Und bald, ich muss die Dinger bald holen. Das dumme Gefühl, bereits was Wichtiges vergessen zu haben, stellt sich ein, wie so oft. Ich werde alles aufschreiben müssen, darum komme ich nicht rum. Über mir fängt es an zu brodeln, als wäre die Luft flüssig geworden. Der Riesenfisch. Verdunkelt den Himmel, schwebt so langsam über die Schrebergartenanlage weg, dass man nicht versteht, wie so ein Ding sich eigentlich in der Luft halten kann. Hinterlässt das Getöse zerrissener Luft, einen aus den Fugen geratenen Himmel, der sich erst wieder beruhigt, nachdem das Flugzeug längst außer Sicht ist.

Nachdem ich von Ötün – der kam schließlich doch noch aus den Federn– vierzig Euro gekriegt habe, was in Ordnung ist, fahre ich in die Innenstadt. Erst mal eine neue Karte fürs Handy besorgen, dann zum Internetcafé. Dort hocken immer ein paar Leute, die ich flüchtig kenne. Meistens übersehe ich wen, der kommt dann schon mal rüber und tippt mir auf die Schulter, aber in der Regel lässt man sich hier in Ruhe. Besonders heute kann ich keine Zuschauer gebrauchen. Beim Reingehen zögere ich einen Augenblick, während ich einem fetten Typen zunicke, der auch schon mit mir zusammen gespielt hat. Kennt sich ganz gut aus übrigens. Ich überlege also, ob ich nicht woanders hingehen soll, aber die Rechner sind gut verteilt, und man müsste sich schon direkt davor stellen, um zu sehen, was einer da auf dem Bildschirm hat, und das würde hier keinem einfallen.