Tears of Light - Ava Blum - E-Book
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Tears of Light E-Book

Ava Blum

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Beschreibung

Eine Liebe, die alle Grenzen überwindet

Aufgrund einer Lichtkrankheit lebt Lennox wie ein Eremit in der großen Wohnung seines Vaters, der ständig auf Geschäftsreisen ist. Bisher hat er jede Haushaltshilfe seines Vaters innerhalb weniger Tage durch seine schnoddrige Art in die Flucht geschlagen. Deshalb fordert ihn sein Vater zu einer Wette heraus: Wenn er es nicht schafft Suki, die neue Haushaltshilfe zu vergraulen, dann muss Lennox endlich sein Leben in den Griff kriegen. Obwohl Suki ein Geheimnis umgibt, ist er von ihr fasziniert, weil sie so ganz anders ist als alle anderen und dadurch wieder Licht in Lennox` Leben bringt.

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© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2020

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München)

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

 

 

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Die Welt da draußen kann mich mal

Der Junge ohne Zukunft

Top, die Wette gilt!

Begegnung der besonderen Art

Andere Länder, andere Sitten?

Belastungsprobe

Der Zauber des Augenblicks

Erkenntnis im Schnee

Sukis Erwachen

Von allem zu viel

Suki

Energielos

Lennox

Ausgetrickst

Lennox

Japanische Delikatessen

Lennox

Der Geschmack von Leben

Lennox

Winterzauber

Suki

Manchmal tut es weh, an morgen zu denken

Lennox

Nichts weiter als eine naive Vorstellung

Suki

Fehler im System

Lennox

Die Erfüllung allen Seins

Suki

Hals über Kopf

Lennox

Traurige Hundeaugen

Suki

Ein Unglück kommt selten allein

Lennox

Entscheidung aus dem Bauch heraus

Suki

In zwei Sekunden vom Himmel gestürzt

Lennox

Ein letztes Mal

Suki

Alles auf Anfang

Lennox

Achterbahn der Gefühle

Suki

Es kommt immer anders, als man denkt

Lennox

Zukunftsvisionen

Lennox

Das Leben in einem anderen Licht

Lennox

Wenn Seidenraupen Flügel wachsen

Lennox

Ein Traum wird wahr

Lennox

Danksagung

Die Welt da draußen kann mich mal

Verflucht! Die Mittagssonne knallt unbarmherzig durchs Fenster auf meine Haut, obwohl sie für heute eigentlich Regen angesagt haben. Vier Minuten werden zur Hölle. Ich stöhne auf, drücke hastig die selbstklebende Verdunklungsfolie wieder an die Scheibe und schließe mit einem schnellen Ratsch den Vorhang. Meine Lippen prickeln und allmählich setzt das Brennen ein, das sich im Gesicht ausbreitet – es fühlt sich an, als würde eine beißwütige Ameisenarmee unter meiner Haut ihr Gift versprühen. Ich lehne mich rücklings gegen die Wand, schließe die Augen und zähle von zehn abwärts, um den Schmerz besser zu ertragen.

Schon zum zweiten Mal diese Woche verpasse ich mir die volle Dröhnung Tageslicht. Warum tue ich mir das eigentlich immer wieder an? Um mich, dank des Schmerzes, der wie glühende Kohlen durch alle Schichten meiner Epidermis brennt, wenigstens ein paarmal im Monat lebendig zu fühlen? Um vom Treiben da draußen etwas mitzubekommen? Oder einfach nur, weil ich völlig durchgeknallt bin?

Ich befürchte, alles davon trifft zu. Wahrscheinlich werde ich auch langsam verrückt, weil ich ein Gefangener in meinen eigenen vier Wänden bin. Verdammt zu einem Leben in Finsternis friste ich mein Dasein wie ein Vampir, der die Wohnung nur nach Sonnenuntergang verlassen kann.

Ich drehe mich um, schlage mit der Faust gegen den Fensterrahmen und presse die Lippen aufeinander. Scheiße, tut das weh, an den brennenden Schmerz werde ich mich wohl nie gewöhnen. Als hielte mir jemand einen Flammenwerfer vors Gesicht. Ich rutsche an der Wand hinunter, bis ich den Boden unter meinem Hintern spüre. Tränen steigen mir in die Augen, ich könnte schreien, doch stattdessen wimmere ich leise vor mich hin.

Keine Ahnung, wie lange. Irgendwann verliere ich das Zeitgefühl.

Normale Jungs in meinem Alter haben schon seit einem Jahr ihr Abi in der Tasche, studieren oder reisen durch die Weltgeschichte. Ich hingegen kämpfe jeden Tag aufs Neue damit, mein Leben zu ertragen, so, wie es ist. Doch die Phase des Selbstmitleids habe ich längst hinter mir, mittlerweile durchlaufe ich eine viel destruktivere: Die Welt da draußen kann mich mal!

Ich lebe isoliert in der 150-Quadratmeter-Altbauwohnung meines Vaters in Berlin-Mitte, der so gut wie nie da ist. Vor anderthalb Jahren brach die Krankheit aus, man nimmt an, dass mein Leiden psychisch bedingt ist, weil es kurz vor Mamas Tod eintrat. Es wurde schon alles Mögliche vermutet, der Auslöser ist jedoch nach wie vor nicht bekannt. Meine Krankheit ist so gut wie unerforscht, deshalb musste ich jedes Mal Versuchskaninchen spielen. Bisher hat nichts wirklich über einen längeren Zeitraum geholfen. Anfangs wurden ständig Fehldiagnosen von verschiedenen Ärzten gestellt, manche glaubten mir die Schmerzen nicht mal, wollten mich zum Psychologen überweisen, wenn die Auswirkungen nicht stark genug waren, dass man mir etwas ansah.

Monatelang haben sie an mir rumgedoktert, von Akupunktur über Cortisonsalbe bis hin zur Hypnose haben sie schulmedizinische wie auch alternative Behandlungsmethoden ausprobiert. Ich habe dann irgendwann das Handtuch geschmissen und mich geweigert, weitere Untersuchungen über mich ergehen zu lassen.

Fuck! Ich rapple mich hoch und renne durch den dunklen Flur, der durch eine Lichtleiste am Fußboden beleuchtet wird. Im Bad drücke ich den Lichtschalter und der Sternenhimmel aus LED-Leuchten geht an der Decke auf. Superromantisch, könnte man meinen. Von wegen! Sie wurden speziell für mich angebracht, um mir das Leben erträglicher zu machen. Bei mir herrscht den ganzen Tag über Dunkelheit, denn manchmal reagiert meine Haut sogar auf künstliches Licht empfindlich.

Ich öffne den Hahn und beuge mich übers Waschbecken. Unter lautem Stöhnen schaufle ich mir eiskaltes Wasser ins Gesicht. Während es meine Haut hinabperlt, hebe ich den Kopf und blicke mich im Spiegel an. Auf dem Jahrmarkt der Absonderlichkeiten könnte ich mir mit der Visage sicherlich noch ein paar Euro dazuverdienen. Mit dem blau getönten Haar und den fleckigen Rötungen im Gesicht sehe ich aus wie einer Freakshow entlaufen, das ganze Ausmaß der Aktion wird jedoch erst in einigen Stunden sichtbar sein.

Als ich sieben war, habe ich mir mit einem Freund die Arme mit Brennnesseln abgerieben. Einfach so, um das Gefühl auszukosten, wenn der Schmerz nachlässt. Genauso fühlt es sich heute an, zwölf Jahre später. Nur dass das Brennen nicht abnimmt, sondern sich in höllische Qualen verwandelt, die erst nach einigen Stunden nachlassen. Die äußerlichen Auswirkungen verschwinden jedoch erst Tage, manchmal sogar erst Wochen später.

»Lennox!« Eine vertraute Stimme zerschneidet die Stille, gefolgt von einem lauten Bellen.

Ich wirble herum, Wassertropfen laufen über mein Gesicht, nässen mein stinkendes Shirt, das ich seit mindestens einer Woche nicht gewechselt habe.

Grandma schnappt nach Luft und schlägt die Hände vor den Mund. Natürlich weiß sie wieder mal sofort, was Sache ist. Doch ihr vorwurfsvoller Blick prallt an mir ab wie Graupelkörner an der Frontscheibe eines Autos. Es ist mein Leben – ich kann es versauen, wie ich will.

Ich hasse es, wenn sie ohne Ankündigung einfach so hier auftaucht. Am liebsten würde ich ihr den Schlüssel abnehmen, ihr Eindringen ist ein Eingriff in meine Intimsphäre.

»Warum tust du mir das an, Junge?«, fragt sie, während Checker mir hingebungsvoll die Hand abschleckt. Ich habe ihn vermisst.

»Was machst du hier?«, antworte ich mit einer Gegenfrage, während ich das Handtuch aus der Halterung ziehe und mir damit Hals und Kinn abtupfe. Das Gesicht abzurubbeln würde jetzt an blanke Folter grenzen. »Ich komme gut allein zurecht.« Meine Stimme klingt rau und angriffslustig. Dabei hat Grandma das nicht verdient. Sie ist die Einzige, die gelegentlich nach mir schaut und sich um meinen Bobtail kümmert. Doch ich kann einfach nicht aus meiner Haut. Ich brauche niemanden.

»Ja, das ist nicht zu übersehen.« Sie eilt zum Spiegelschrank und greift nach der Cortisoncreme. »Was soll das? Was willst du damit bewirken?«

Ich ignoriere ihre Frage, wehre stattdessen ihre Hand ab, die mir die Salbe entgegenhält. »Lass es, ich nehme sie nicht mehr, meine Haut wird abhängig davon.«

Ein Seufzen ertönt, dann höre ich, wie sie die Tube zurück in den Schrank legt und die Tür schließt.

Checker nimmt hechelnd vor mir Platz, sein Schwanz peitscht aufgeregt von einer Seite zur anderen. Sieht aus, als hätte er mich auch vermisst. Ich streiche ihm den verzottelten Pony zurück und tätschle seinen Kopf. Sein Fell ist ein wenig feucht, anscheinend regnet es mittlerweile draußen.

Grandma fasst meine Schulter und dreht mich zu sich. »Schau mich an.«

Ich spüre einen kleinen Stich im Herzen, als ich sehe, wie sich ihre Augen mit Tränen füllen, doch sie blinzelt sie rasch weg. Sie zeigt niemals Schwäche, musste schon immer für alle anderen stark sein.

»Ich kann eben nicht ständig hier sein, ich würde es ja gern, aber …«

Ich höre Pfoten über die Fliesen tapsen, Checker verlässt den Raum. Er hat ein Gespür dafür, wann es besser ist, den Rückzug anzutreten.

»Granny, ich weiß, ist schon gut …« Ich senke den Blick und will mich abwenden, doch sie hält mich zurück.

»Nein, Lennox, nichts ist gut! Sieh dich doch an.«

Dem ist nichts entgegenzusetzen. Ich unterdrücke ein Stöhnen, während ich Grandmas orangebraun geschminkte Lippen in Augenschein nehme, um die sich Fältchen kräuseln, wenn sie spricht. Sie wirkt erschöpft, als hätte sie wenig geschlafen. Darüber vermag auch das perfekt aufgetragene Make-up nicht hinwegzutäuschen. Als sie sich zu mir hinüberbeugt, steigt der aufdringliche Geruch von Haarspray aus ihren tadellos sitzenden rotblonden Locken in meine Nase. Granny sah noch nie aus wie eine Großmutter, sie hat schon immer auf ihr Äußeres geachtet. Gegen die Falten der Verbitterung, die sich um ihre Mundwinkel eingegraben haben, ist sie allerdings machtlos. Wen wundert es, ihre einzige Tochter starb an Krebs, Grandpa sitzt seit Jahren als Pflegefall im Rollstuhl, und um die ganze gequirlte Scheiße komplett zu machen: Ihrem Enkel ist nicht mehr zu helfen.

Ich fühle mich unwohl unter ihrem eindringlichen Blick und senke den Kopf. Wie ich mich manchmal selbst verachte.

Sie streicht mir durchs Haar, das zerwühlt ist, weil ich mir ständig hindurchfahre. Diese kurze Geste fühlt sich fremd an, ich merke, wie ich mich innerlich versteife. Ich bin kein kleiner Junge mehr, außerdem überrage ich sie um mindestens einen Kopf. Hastig drehe ich mich zur Seite, jede Art von Berührung ist mir zuwider.

Ein resigniertes Seufzen erklingt. Auch sie wird mich irgendwann abschreiben und nicht mehr nach mir schauen.

Gut so.

Der Schmerz hat gerade seinen höchsten Punkt erreicht, er wühlt sich unter meiner Haut hindurch wie ein lebendiges Wesen, das mich von innen allmählich auffrisst. Andere würden heulen, ich hingegen spüre Trotz in mir aufsteigen, der sich mit Selbsthass und einer gehörigen Portion Zynismus vermischt – meine Waffe gegen alles und jeden, vor allem gegen mich selbst. Was gäbe ich darum, mich wie eine Schlange häuten zu können, um Platz zu machen für gesunde Haut, die darunter wächst. Ich stelle mir bildlich vor, dass ich sie wie eine Maske abziehe und eine neue zum Vorschein kommt.

»Was ist mit der Frau, die dir im Haushalt helfen sollte?«, fragt Granny und katapultiert mich damit in die knallharte Realität zurück.

Ich schnaube. »Sprichst du von Mrs. Doubtfire, die ständig um mich rumgeschlichen ist und mich nicht aus den Augen gelassen hat? Eins muss man ihr lassen: Sie hatte mindestens genauso viel Bartwuchs wie Robin Williams.«

Granny legt ihre Hände an die Schläfen, als hätte sie Migräne.

»Sie hat sich aufgespielt wie mein Kindermädchen, dabei sollte sie mir lediglich Essen kochen und aufräumen«, verteidige ich mich. »Wer hat ihr gesagt, dass sie mir Ratschläge geben soll? Ich habe sie nicht darum gebeten.«

»Du hast sie rausgeekelt, hab ich recht?« Grandma presst die Lippen aufeinander, als müsste sie ihren Ärger niederkämpfen. »Sie erschien mir höchst anständig bei unserem Vorgespräch. Du hättest ihr wenigstens eine Chance geben können.«

Gleichgültig zucke ich die Achseln. Ich gebe niemandem eine Chance, denn ich habe beschlossen, sie alle zu hassen. Keine hat es bisher länger als zwei Tage mit mir ausgehalten. »Ich sagte doch schon, ich brauch hier keine Gouvernante, die mich ausspioniert und mich auf Schritt und Tritt verfolgt.« Rasch wende ich mich um, will das Bad verlassen, doch Grannys resoluter Griff um mein Handgelenk hält mich zurück.

»So? Dann komm mal mit.«

Widerwillig folge ich ihr in die Küche, während die Dielen unter meinen Füßen knarzen.

Durch die Lamellen der heruntergelassenen Jalousie dringen nur winzige Punkte Tageslicht hindurch, dennoch kann man flirrende Staubpartikel in der Luft erkennen.

Granny schaltet die Unterschrankleuchten ein.

Edelstahl und Hochglanzweiß dominieren den Raum, der wohl der hellste der ganzen Wohnung ist. Er besitzt eine separate Kochinsel, um die Stehhocker gruppiert sind. Mit den modernsten technischen Geräten ausgestattet, würde sie jeden Sternekoch vor Neid erblassen lassen. Vater kann es gar nicht Hightech genug sein, obwohl keiner von uns die Apparate benutzt. Was moderne Ausstattung betrifft, schmeißt er gern mit Geld um sich, für ihn zählt sowieso mehr Schein als Sein. Aber was soll’s, er kann es sich leisten.

Als Mama noch lebte, herrschte hier immer kreatives Chaos, das im Widerspruch zu der kühlen Eleganz der Einrichtung stand. Mit ihrem italienischen Temperament schaffte sie es stets, Vater in seiner Perfektion und seinem Ordnungswahn zu mäßigen.

Gerade befinde ich mich im Stadium, in dem heiße Nadeln meine Haut durchstechen. Ich brauche dringend eine Abkühlung.

Den Kopf auf seinen ausgestreckten Vorderpfoten abgelegt, liegt Checker auf dem Parkett neben dem Kühlschrank und bewacht den Fressnapf.

Grandma fährt mit der flachen Hand über den hellen Granitstein der Kochinsel, reibt die Fingerspitzen aneinander und zieht eine ihrer perfekt geschwungenen Augenbrauen in die Höhe. Dann wandert ihr Blick zur gegenüberliegenden Seite.

Schmutzige Teller, fettverkrustete Pfannen und halb leere Gläser belagern die Arbeitsfläche neben dem Spülbecken.

Sie schnalzt mit der Zunge und geht zum Kühlschrank, der leise vor sich hin brummt. Als sie ihn öffnet, flutet grelles Licht den Raum.

Mit gekrümmtem Zeigefinger winkt sie mich heran.

Checker fiept und deckt mit einer Pfote beide Augen zu. Was will er mir damit sagen?

Seufzend trete ich neben Granny und stecke meinen Kopf in den Kühlschrank, um mir vorübergehend Erleichterung zu verschaffen, was eigentlich kontraproduktiv ist – die Kälte lindert den Schmerz, das künstliche Licht wiederum begünstigt ihn.

Ich entdecke eine Dose Sprite im Seitenfach, greife hastig danach und presse mir das kühle Blech an die Wange. Erleichtert atme ich auf. Die Kühlung macht das Gefühl von heißen Nadeln binnen Sekunden erträglich. Mein Blick gleitet durch das Innere des Kühlschranks. Salat welkt träge vor sich hin. Ein dunkelbraunes Etwas in Bananenform gähnt mir entgegen und träumt von besseren Zeiten.

Ein Grinsen huscht über mein Gesicht, als Granny mir das aufgeschraubte Kichererbsenglas vor die Nase hält, in dem eindrucksvolle haarige Gestalten wuchern. Nicht meine Schuld, schließlich habe ich den ganzen Kram nicht gekauft. Vater steht auf so gesundes Zeug, nicht ich.

Granny hat Orangenmarmelade im Seitenfach entdeckt. Natürlich lässt sie es sich auch diesmal nicht nehmen, mir diese mit vorwurfsvoller Miene zu präsentieren.

»Ich schätze, den flauschigen Pelz hat sie gebildet, um der Kälte zu trotzen.« Den Sparwitz konnte ich mir einfach nicht verkneifen.

»Ich weiß wirklich nicht, was es da zu grinsen gibt, Lennox. Warum kaufe ich überhaupt noch für dich ein?« Granny stemmt ihre Fäuste in die Hüften. »Was hast du die letzten Tage gegessen?«

In einer unbestimmten Geste verziehe ich den Mund und halte mir kurz die Sprite-Dose an die Stirn, ehe ich sie wieder zurückstelle. Was soll ich auch darauf antworten. Dass der Pizzamann der Mensch ist, der mich definitiv am häufigsten zu sehen bekommt? Dass ich mir bei meinen nächtlichen Skate-Touren jedes Mal Chips und Schokolade kaufe, ist sicherlich auch nicht das, was sie hören will, also behalte ich es für mich.

Granny knallt die Kühlschranktür zu und zerrt mich am Stoff meines T-Shirts weiter ins Wohnzimmer.

Ein muffig-süßlicher Geruch hängt im Raum, die Vorhänge sind wie immer zugezogen.

Sie schaltet das Licht an und dämpft es sogleich mit dem Dimmer. »Guck, wie es hier aussieht.« Grandma verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mich abwartend an. »Du haust wie ein Messi. So kann es nicht weitergehen. Du brauchst Hilfe!«

Ich habe das Wohnzimmer seit Tagen nicht mehr betreten, und ich schere mich einen Teufel darum, wie es hier aussieht. Nur Granny zuliebe lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen.

Ich habe mir Mühe gegeben, aber mit dem exzessiven Schlachtfeld mancher Rockstars kann ich bedauerlicherweise nicht mithalten. Statt gefüllter Aschenbecher, Kokslines, leerer Champagnerflaschen und zerschlagenem Mobiliar schimmeln nur Pizzareste im Karton auf dem niedrigen grauen Sofa vor sich hin. Zerquetschte Cola-Büchsen, Bananenschalen und schmutzige T-Shirts liegen auf dem jadeschimmernden Teppich verteilt und tun ihr Übriges.

Na und? Wen kümmert’s schon? Die meiste Zeit verbringe ich sowieso vor dem Computer.

Ich fahre mir über den Nacken und puste ein paar Haarsträhnen aus meiner Stirn. Hier drinnen ist es verdammt heiß, so heiß, dass ich meine, innerlich zu verbrennen. Kaum zum Aushalten. Obwohl die Heizung auf Hochtouren läuft, stelle ich die Klimaanlage auf die höchste Stufe.

Granny verengt die Augen zu Schlitzen, verkneift sich jedoch eine Bemerkung. Sie weiß, dass ich das selbst zu verantworten habe. Hätte ich mich nicht dem Licht ausgesetzt, würde ich mich jetzt auch nicht so fühlen.

»Hier muss dringend gelüftet werden. Und wer soll in Zukunft deine Einkäufe erledigen? Hast du dir darüber Gedanken gemacht?«

»Hab ich«, antworte ich gereizt. »Ich selbst.«

Stirnrunzelnd sieht sie mich an.

»Hier gibt es genügend Spätis in der Umgebung.«

»Spätis?«

»Spätkauf.«

Sie verzieht das Gesicht. »Gibt es dort auch Obst, Gemüse, frisches Brot und Milch?«

Ich stoße ein bitteres Schnauben aus. »Schau mich an, meinst du, Vitamine würden mich irgendwie weiterbringen?«

Ich halte Grannys Blick stand. Warum soll ich mir auch ständig ihre Vorhaltungen anhören. Es geht sie nichts an, wie ich lebe.

»Du glaubst, es geht mich nichts an.«

Habe ich das etwa laut gesagt? Nein, sicher nicht.

»Dann hör mal zu, mein Junge.«

Ich fixiere ihren Zeigefinger, der sich auf und nieder bewegt.

»Du hast keine Lust, dich weiteren Untersuchungen zu unterziehen …«

»Was soll das schon bringen?«, unterbreche ich sie. »Kommt sowieso nichts bei raus.« Vielleicht schon, doch die Wahrheit ist, dass ich noch nicht bereit bin, meine Trauer hinter mir zu lassen und dem Leben eine neue Chance zu geben.

Sie ignoriert meinen Einspruch und fährt fort. »Hilfe in jeglicher Form lehnst du strikt ab. Ich habe den Eindruck, du hast dich längst aufgegeben.« Ihr eindringlicher Blick verharrt noch einen Moment auf mir, dann dreht sie sich um, hält sich die Nase zu und beginnt mit den Fingerspitzen, meine Kleidungsstücke aufzuklauben. »Deine Mutter war nicht so, sie hat bis zum Schluss gegen den Krebs gekämpft …«

Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen, wie immer, wenn die Sprache auf Mama kommt. Wie kann Granny nur so taktlos sein?

»… und du gammelst hier vor dich hin. Man kann es ja nicht mehr mit ansehen, wie du dich gehen lässt.« Sie wendet sich um und fängt meinen Blick ein. »Was ist mit der Selbsthilfegruppe? Du hast mir vor Monaten versprochen, dich darum zu kümmern.«

»Gibt es nicht in Berlin.«

Sie nickt verstehend und blickt zur Seite, als würde sie überlegen. »Aber Foren gibt es doch bestimmt, wo sich Betroffene austauschen können?«

»Kein Interesse, nur Schwachmaten unterwegs.«

»Bei dir ist wirklich Hopfen und Malz verloren, Lennox.« Sie schüttelt den Kopf und schweigt eine Weile, während sie mit gerümpfter Nase den Pizzakarton aufhebt. »Heute Nacht kommt dein Vater zurück, bis dahin wird die Wohnung auf Vordermann gebracht.«

Shit, das habe ich völlig verdrängt. Ich hole Luft, um Einspruch zu erheben, doch Granny kommt mir zuvor.

»Ich helfe dir. Aber wir erledigen das sofort. Ich lüfte erst mal ordentlich und kümmere mich um Wohnzimmer sowie Küche. Du übernimmst dein Zimmer und das Bad.«

»Lohnt sich doch eh nicht«, rutscht mir heraus. »Er bleibt sowieso höchstens einen Tag.«

Granny geht nicht darauf ein, verlässt stattdessen mit energischen Schritten den Raum.

Vater und ich – unsere Beziehung ist ein Thema für sich. Am Anfang hat er mich ein paarmal bei meinen nächtlichen Streifzügen begleitet. Nach Mamas Tod wollte er nur noch weg. Die Distanz zwischen mir und unserer Vergangenheit kann ihm gar nicht groß genug sein. Er weiß nicht, wie er mit meiner Krankheit umgehen soll, ich spüre es. In meiner Gegenwart fühlt er sich isoliert und eingesperrt. Seine ständigen Reisen nach Asien, die er antreten muss, kommen ihm da sehr gelegen.

Ich folge Granny hinaus durch den langen Flur und biege dann rechts in mein Zimmer ab. Dieser Raum ist meine Bärenhöhle, hier drinnen fühle ich mich sicher und verbringe dort fast mein ganzes Dasein.

Schwarzlichtröhren, fluoreszierende Bilder und Stoffe geben dem Raum ein wenig Licht und hauchen der Dunkelheit Leben ein. Der erste Blick gilt meist den beiden Postern an der Wand, die durch ihre Farbigkeit hervorstechen. Auf dem einen leuchtet der rote Metallica-Schriftzug mit darunter berstendem Totenschädel, rechts daneben zieht der Kopf von Jimi Hendrix in schillernd bunten Farben die Aufmerksamkeit auf sich. Über dem Bett trägt ein Spinnennetz aus Lichterketten zur gemütlichen Atmosphäre bei. Natürlich ist es immer noch relativ dunkel, aber mehr kann ich in meinen eigenen vier Wänden nicht ertragen. Hauptsache, es reicht aus, um den angesammelten Müll zu entsorgen, bevor Granny wieder ihren Blick aufsetzt, in dem sämtliche Facetten zwischen tiefer Enttäuschung und Wut wabern. Zusätzlich schiebt sie dann immer ihren Kiefer von links nach rechts, das kommt einem nervösen Zucken gleich und bedeutet, ich muss auf der Hut sein. Mich mit ihr anzulegen ist wirklich das Letzte, was ich will.

Mit einem tiefen Seufzer trete ich hinter das hohe Bücherregal, das als Trennwand zwischen Bett und Schreibtisch dient. Zwei blaugrün fluoreszierende Lavalampen spenden gedämpftes Licht und helfen dabei, die Buchrücken zu entziffern. Von Herr der Ringe über Romane von Terry Pratchett bis hin zu englischen Schulbüchern ist alles vertreten. Aber besonders viel Platz nimmt die Computerliteratur ein.

Mein Arbeitsplatz braucht mittlerweile mehr Raum als der begehbare Schrank eines It-Girls. Ich kratze mich am Kopf und weiß nicht, wo ich anfangen soll. Vielleicht als Erstes das benutzte Geschirr in die Küche bringen. Ich klemme mir die Thermoskanne unter den Arm, greife nach den Henkeln der vier leeren Kaffeetassen und schnappe mir mit der linken Hand den mit Zitronenkuchen vollgebröselten Teller.

Als ich in die Küche komme, ist Granny voll in ihrem Element. Sie hantiert geräuschvoll mit schmutzigen Schalen und ordnet sie vorschriftsmäßig in den Geschirrspüler. Ihrer unwirschen Handbewegung entnehme ich, dass ich alles auf der Arbeitsfläche abstellen soll.

Bevor ich mich wieder vom Acker mache, wende ich mich zu ihr um. »Wie geht es Grandpa?« Ich wundere mich selbst über mein plötzliches Interesse für jemanden, der offenkundig nichts für mich übrig hat. Wahrscheinlich weil er seit seiner Querschnittslähmung genauso bemitleidenswert ist wie ich. Gefangen in seinem Körper. Und wer wird schon gern bemitleidet, ich jedenfalls kann darauf verzichten. Doch heute hat mir mein schlechtes Gewissen einen gehörigen Arschtritt verpasst. Schließlich verplempert Granny jetzt ihre Zeit hier, obwohl sie sicherlich anderes zu tun hätte. Ein Versuch, sie davon abzubringen, brächte allerdings genauso viel, wie einen Esel zum Rennen anzutreiben. Wenn sie sich einmal was in den Kopf gesetzt hat, dann kann nichts und niemand sie mehr davon abbringen.

Sie hebt den Blick und runzelt die Stirn, bevor sie antwortet. »Ich habe ihn vor dem Fernseher geparkt. Heute läuft Fußball, da gibt er wenigstens ein paar Stunden Ruhe.«

»Und wenn er auf die Toilette muss?«

Unbeirrt räumt sie das Besteck in den vorgesehenen Kasten. »Dafür gibt es Windeln.«

Ich schlucke trocken. Es muss grauenvoll sein, wenn man so hilfsbedürftig ist wie ein Kleinkind. Ohne ein weiteres Wort drehe ich mich auf dem Absatz um und gehe zurück in mein Zimmer.

Nachdem ich die Bettdecke ordentlich gefaltet und glatt gestrichen habe, mache ich mich daran, meinen Schreibtisch aufzuräumen. Ich starre einen Moment lang auf die reflektierende Tastatur und spiele mit dem Gedanken, ein wenig zu zocken, ehe ich richtig loslege. Doch dann verwerfe ich die Idee, ein Game würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen und Grandma stutzig werden lassen.

Etliche lose Blätter, geknickt und mit Kaffeeflecken versehen, sind mit unleserlichen Notizen bekritzelt, die ich selbst nicht mehr entziffern kann. Ich zerknülle sie und werfe das Papier auf den Boden. Anschließend sortiere ich die Stifte in die Behälter, klaube die verrotzten Taschentücher auf und entsorge sie im Papierkorb.

Als ich gerade die Schreibtischplatte mit Glasreiniger besprühe, poppt eine Nachricht auf dem Monitor auf.

Hey Digger, kann ich kurz vorbeikommen? Hab ’nen Auftrag für dich.

Ich stöhne. Cem hat ein Händchen dafür, sich immer dann anzukündigen, wenn es gerade ungelegen ist.

Ungünstig, mein Dad kommt heute Nacht. Muss die Bude in Schuss bringen. Morgen Nachmittag passt besser.

Tamam, bestätigt er auf Türkisch. Ich versuch’s. Hab grad viel um die Ohren.

Wir sehen uns.

Zähneknirschend schließe ich das Fenster. Cem ist der einzige Freund, der mir geblieben ist. Er hat noch nie versucht, mich zu irgendwas zu überreden. Lässt mich einfach so sein, wie ich bin. Das mag ich an ihm. Außerdem hilft er mir mit ein paar Jobs über die Langeweile hinweg.

Nachdem ich Staub gewischt habe, tausche ich die überquellende Mülltüte gegen eine neue und begebe mich ins Bad. Erneut benetze ich meine Haut mit eiskaltem Wasser. Das tut gut. Ich muss damit aufhören, mich immer wieder dieser Folter auszusetzen.

Irgendwann.

Scheiße, Mann! Ich halte es nicht mehr aus, brauche dringend eine Schmerztablette. Der Spiegelschrank bebt nach, als ich ihn aufreiße. Hastig drücke ich zwei Aspirin aus der Blisterpackung und spüle sie mit reichlich Wasser aus dem Hahn hinunter. Bei der Gelegenheit fällt mir ein, gleich die Psychopille hinterherzuschmeißen, wenn ich schon dabei bin, meinen Körper mit Chemie vollzupumpen. Ohne das Zeug fühle ich mich einfach nicht sicher. Habe Angst, in dieses tiefe Loch zu fallen, wie damals, als ich erfuhr, dass der Krebs Mama besiegt und sie nicht mehr lange zu leben hat.

Nachdem ich die Tablette geschluckt habe, schrubbe ich mit einem Schwamm Zahnpastaflecken aus dem Waschbecken und beschließe, mit meinem Longboard heute Nacht die Stadt unsicher zu machen. Ich brauche dringend frische Luft und Bewegung. Und Abstand zu Dad, der mir entweder Moralpredigten hält oder mir mit Ignoranz begegnet, was häufiger der Fall ist. Manchmal glaube ich, dass er noch weniger mit meiner Krankheit zurechtkommt als ich.

Gerade habe ich die Toilettenreinigung hinter mich gebracht, da dringt Checkers Fiepen zu mir herüber. Kurz darauf steckt Granny ihren Kopf durch den Türspalt. »Ich muss los, Küche und Wohnzimmer können sich wieder sehen lassen.« Ihr kritischer Blick schweift durch das mit grauen Fliesen ausgekleidete Badezimmer. »Ich nehme Checker mit, er muss dringend raus.« Sie winkt mich zu sich, ich weiß genau, was jetzt kommt.

Seufzend mache ich ein paar Schritte auf sie zu. Granny greift nach meiner Hand und steckt mir einen Geldschein zu. »Hol dir davon etwas Vernünftiges zu essen, die Supermärkte haben teilweise bis 22 Uhr geöffnet.«

»Okay, aber das Geld nimm wieder mit, dein Sohn hat genug davon.« Ich halte ihr den Fuffi hin, doch sie wehrt ihn ab. Kopfschüttelnd stopfe ich ihn in meine Hosentasche.

»Mach’s gut Lennox, ich melde mich Ende der Woche bei dir.«

Ich nicke nur, innerlich jedoch spüre ich nichts als Erleichterung.

Granny fasst mich an der Schulter und sieht mich eindringlich an. »Versprich mir, dass du nicht wieder auf so eine schwachsinnige Idee wie heute Mittag kommst.«

»Mach ich«, versichere ich ihr, nur damit sie zufrieden ist und sich aus dem Staub macht. Wenn sie wüsste, wie oft ich das durchziehe, dann würde sie mich vermutlich einweisen lassen.

Der Junge ohne Zukunft

Kaum ist sie weg, lasse ich alles stehen und liegen und verziehe mich an meinen Schreibtisch, denn es gibt einiges zu tun. Neuerdings habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, Accounts sozialer Netzwerke zu hacken. Seitdem die Leute nicht mehr auf Phishingmails reinfallen, ist es nicht mehr so einfach, sie auf eine gefälschte Log-in-Seite zu locken, die genauso aussieht wie die ursprüngliche. Aber zum Glück gibt es ja andere Möglichkeiten, über die man nicht von allen Medien informiert wird. Die Falle, die ich aufstelle, schnappt jedenfalls in 95 von 100 Fällen zuverlässig zu, sodass ich sicher sein kann, die Log-in-Daten, die mein Auftraggeber angefordert hat, zeitgerecht liefern zu können. Aber auch diese Methode ist mittlerweile nur noch eine Fingerübung für mich, ich habe schon ganz andere Dinge gehackt.

Man mag es nicht glauben, aber es gibt Leute, die mich dafür bezahlen. Sei es, um andere auszuspähen oder Falschmeldungen zu verbreiten, was ebenso begehrt ist. Ich weiß, dass es strafbar ist, aber das ist mir egal. Inzwischen könnte ich Dinge von viel größerem Ausmaß bewerkstelligen, allerdings habe ich kein Interesse daran, es ist lediglich eine Beschäftigung gegen die Langweile.

Ich bin drin! Gerade habe ich den Account einer Tussi aus der Oberstufe geknackt. Als ich ihre Nachrichten überfliege, wird klar, dass ihr Freund mit seinem Verdacht richtiglag.

Du bist so heiß, Baby! Ich will genau das noch einmal, was du vorhin mit mir gemacht hast.

Dahinter klemmen zwei eindeutige Emojis – eine Hand und eine Banane.

Oh Mann, was für ein beschissener Scheiß! Ich verdrehe die Augen und lehne mich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen zurück. Was für eine Bitch, sie treibt es mit einem seiner besten Kumpels und schickt sich sogar Sexnachrichten mit ihm. Irgendwie kann ich froh sein, dass ich mit dem ganzen Weiberkram nichts mehr zu tun habe.

Nachdem ich meinem Auftraggeber die Zugangsdaten geschickt habe, damit er sich selbst überzeugen kann, brauche ich dringend frische Luft. Außerdem empfinde ich das künstliche Licht des Monitors heute als besonders unangenehm, obwohl ich die Helligkeit fast auf null gestellt habe. Doch selbst darauf reagiert meine Haut an manchen Tagen. Es ist bereits 21 Uhr, aber es könnte genauso gut erst 17 Uhr sein, denn die Sonne geht jetzt schon früh unter, einer der Gründe, warum ich den Winter liebe.

Rasch ziehe ich mir einen dicken Pulli an, streife mir meine abgewetzte Lederjacke über, schlüpfe in die Sneakers und schnappe mir mein Skateboard. Das Longboard lasse ich heute besser da, wo es ist – in der Flurecke angelehnt an der Wand. Mir ist nach ein paar Sprüngen und Tricks, um mich abzureagieren. Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt noch längere Strecken zu Fuß zurücklegen kann, denn es ist zur Gewohnheit geworden, dass ich mit dem Board unterwegs bin.

Am Ausgang riskiere ich einen Blick in den Garderobenspiegel. Mein Gesicht ist inzwischen krebsrot und geschwollen, als hätte ich mit den Klitschko-Brüdern im Ring gestanden. Sogar einige offene Hautpartien leuchten mir entgegen. Hastig stülpe ich mir meine riesigen Kopfhörer über das Basecap, unter dem ich versuche, mein entstelltes Gesicht, so gut es geht, zu verstecken, und stelle das Smartphone auf volle Lautstärke. Busta Rhymes rappt in mein Ohr und beamt mich in eine bessere Welt. Hip-Hop ist für mich das Nonplusultra zum Skaten, aber Metal und Rock höre ich genauso gern.

Die Luft ist unerwartet mild, doch als ich aufs Board steige und ein paar Meter fahre, schlägt mir doch eisiger Wind entgegen, der an meiner Jacke zerrt. Rasch ziehe ich den Reißverschluss hoch und stecke die Hände in die Taschen, während der Bass mir ins Ohr wummert. Meinem Gesicht hingegen tut die Kälte gut, das Brennen lässt sich so besser ertragen. Im gedämpften Licht der Straßenlaternen fühle ich mich gut aufgehoben, keiner starrt mich an oder wirft mir verstohlene Blicke zu.

Ich skate in Richtung Hackescher Markt und mache bei meinem Lieblingsaraber halt. Hier steht ständig ein anderer hinter dem Tresen, deshalb ist es mir egal, mich so zu zeigen. Anonymität ist genau das, was ich brauche.

Als ich an der Reihe bin, nehme ich meine Kopfhörer ab, klemme sie mir um den Hals und bestelle einen Falafel-Döner mit extra viel Knoblauchsoße.

Nachdem ich bezahlt habe, setze ich mich draußen vor den Laden auf eine klapprige Holzbank und stopfe die Kichererbsenbällchen in mich rein. Ich will so schnell wie möglich hier weg.

Ständig habe ich das Gefühl, als würden mich alle anglotzen, deshalb schiebe ich mir mein Basecap tiefer ins Gesicht.

Ein helles Lachen ertönt neben mir, bis es plötzlich abrupt abbricht.

»Hey, Lennox!«

Ich halte im Kauen inne und linse hoch. Meine Brust verkrampft sich. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ein Mädchen aus meinem Jahrgang steht mit ihrer Freundin neben mir und lächelt mich erwartungsvoll an. Wie heißt sie noch gleich …? Ich habe ihren Namen vergessen. Aber sie galt immer als das hübscheste Mädchen der Schule, alle wollten ein Date mit ihr. Nur ich nicht, denn obwohl sie äußerlich mein Typ ist, fand ich sie zu aufgesetzt, zu künstlich.

»Wie geht es dir?« Sie beugt sich zu mir hinab, um mein Gesicht besser sehen zu können, und streicht sich dabei ihr langes kastanienbraunes Haar hinters Ohr.

»Hallo …« Meine Stimme versagt für einen Moment, ich spüre, wie Schamesröte in mir aufsteigt und Schweiß aus meinen Poren dringt. Ich kratze all die Verbitterung in mir zusammen, blicke zu ihr hoch, schiebe gleichzeitig das Basecap nach hinten und sehe ihr ins Gesicht. »Bestens. Und selbst?«

Ihr Mund klappt auf und wieder zu. Dann schluckt sie. Man merkt ihr an, dass sie auf meinen Anblick nicht gefasst war, die Situation scheint ihr unendlich unangenehm zu sein. Ihre Freundin guckt betreten zu Boden und tritt von einem Bein aufs andere.

Ihre Bestürzung verwundert mich doch ein bisschen, schließlich wusste damals jeder, warum ich die Schule kurz vor dem Abitur abgebrochen habe. Die Neuigkeit, dass ich unter einer seltenen Lichtkrankheit leide, hatte sich ausgebreitet wie ein Waldbrand. Sollte sie tatsächlich davon nichts mitbekommen haben, denkt sie jetzt sicherlich, ich bin ein Crystal-Meth-Junkie.

Herzlichen Glückwunsch, Lennox, diese Art von Erniedrigung ist genau das, was dir noch gefehlt hat.

Sie bringt ein verlegenes Lachen zustande. »Ich habe im Sommer mein Praktikum in einer Werbeagentur beendet und studiere seit einem Monat Kommunikationsdesign an der UdK.«

Man sieht ihr an, dass sie krampfhaft versucht, sich ihr Entsetzen nicht anmerken zu lassen. Bestimmt ekelt sie sich vor mir. Ich will einfach nur weg. »Klingt nach einer vielversprechenden Zukunft.« Meine Stimme klingt genauso desinteressiert, wie ich empfinde. Hastig würge ich das letzte Stück Falafel runter und knalle mein Brett auf das Pflaster. »Na dann … ich muss los, hab noch einen Termin.« Ich blicke nicht mehr hoch, sondern springe aufs Board und schaue, dass ich davonkomme.

Ich fahre weiter in Richtung Alex. Die Situation eben hat meiner eh schon miesen Laune den Rest gegeben. So sehr ich auch versuche, die Schmach nicht an mich ranzulassen, es gelingt mir nicht. Meine Scham und meine Wut verwandeln sich in Selbsthass. Ich bin der Junge, der es zu nichts gebracht hat. Dabei habe ich noch vor zwei Jahren eine rosige Zukunft vor mir gesehen. Meine Kumpels und ich träumten davon, entdeckt zu werden und allein vom Skaten leben zu können. Doch dann zerplatzte der Traum, und meine Freunde, die lange nicht so ambitioniert waren wie ich, konzentrierten sich nach dem Abitur auf neue Dinge: Sie begannen zu studieren, sammelten Auslandserfahrungen oder stiegen in die Firma ihrer Eltern ein. Nur ich habe keine Zukunft, meine Kumpels sind fort und ich lebe in die Nacht hinein.

Eine Weile kurve ich noch am Alex rum, doch es sind einfach noch zu viele Fußgänger unterwegs, deshalb entschließe ich mich, mit der U-Bahn bis Potsdamer Platz zu fahren. Ich muss mich irgendwie abreagieren, und das geht am besten auf der sogenannten Baustelle, dem Areal vor dem Kulturforum. Die angelegten Skaterparks waren noch nie mein Ding, die sind was für Anfänger und lange nicht so cool wie die Straße. Außerdem gibt es nur wenig beleuchtete Parks. Nachts bietet es sich an, Touristenspots anzufahren, weil dort die Gegend ausreichend hell ist.

Für mich war die Atmosphäre auf der Baustelle immer am besten. Dort versuchen sich alle mit ihren Sprüngen zu übertrumpfen, denn ab und zu lassen sich hier auch ein paar Talentscouts blicken.

Bei meiner Ankunft stelle ich erleichtert fest, dass mein Lieblingsplatz so gut wie leer ist. Um die Jahreszeit ist es den meisten abends zu kalt und die Skater verziehen sich schon früh. Kann mir nur recht sein.

Der glatt gepflasterte, leicht abfallende Platz, der nach rund fünfzig Metern in eine kompakte Treppe mit acht Stufen übergeht, ist wie zum Skaten gemacht. Das Double Set mit dem breiten Steingeländer lädt förmlich dazu ein, ein paar Stunts zu machen.

Ein einzelner Skater wirbelt während des Sprungs von der Treppe sein Board unter den Füßen herum. Er schenkt mir keine Beachtung, als ich an ihm vorbei die Stufen hochlaufe.

Oben angekommen, nehme ich Anlauf und springe aufs Board. Vor dem Absprung über die Treppe gehe ich in die Knie, um kurz darauf die Beine anzuziehen, fasse dann das Brett an der Spitze an und fliege über die Stufen.

Adrenalin flutet meine Adern. In der Luft drehe ich mich um die eigene Achse, habe das Board dabei fest im Griff. Der Sprung ist nur von kurzer Dauer, doch ich versuche, ihn in vollen Zügen zu genießen. Bevor ich lande, gehe ich wieder in die Knie.

Krachend, aber geschmeidig komme ich auf dem Pflaster auf. Ein Glücksgefühl durchströmt mich. Endlich gelingt es mir, den Knoten in meiner Brust zum Platzen zu bringen und wieder frei zu atmen. Ich wiederhole das Ganze noch etliche Male, bevor ich zum Schluss noch ein paar Slides auf dem Geländer übe.

Danach fühle ich mich besser. Es ist mir tatsächlich gelungen, meinen Kopf freizubekommen.

 

Es muss schon kurz vor Mitternacht sein, als ich den Schlüssel ins Schloss stecke.

Fuck! Als ich den Koffer am Eingang stehen sehe, versteife ich mich augenblicklich, und das beklemmende Gefühl legt sich wieder auf meine Brust. Ich hatte gehofft, vor seiner Ankunft zurück zu sein, um mich schlafend zu stellen.

Top, die Wette gilt!

Seufzend knalle ich den Schlüssel aufs Sideboard, als Vater mir aus der Küche entgegenkommt.

»Du bist schon da?« Ich habe es gut hingekriegt, meiner Stimme einen vorwurfsvollen Klang zu verleihen.

»Nach zwei Wochen Abwesenheit ist das eine Begrüßung, die einem das Herz erwärmt.« Vater bleibt zwei Armlängen vor mir stehen. Kurz blitzt Entsetzen in seinen Augen auf, als ich mein Basecap abziehe und ihm mein Gesicht schonungslos präsentiere.

»Was hast du erwartet? Kuchen und eine Willkommensgirlande?« Ich sehe ihn an und empfinde einfach nur Leere in mir. So, als stünde ich einem Fremden gegenüber. Seit Mutters Tod haben wir uns immer weiter voneinander entfernt.

Er zieht die Augenbrauen in die Höhe, sodass seine Stirn Falten schlägt, seufzt und senkt den Kopf. Granny hat ihn sicher bereits von meinem heutigen »autoaggressiven Ausfall«, wie er es immer nennt, unterrichtet. Nicht mal mehr eine Vorhaltung bin ich ihm wert. Er hat mich schon lange aufgegeben, spart sich seine Energie lieber für die nächste Millionenverhandlung auf.

Herausfordernd blicke ich ihn an.

Vater kratzt sich seinen kurzen, bereits ergrauten Bart, eine Angewohnheit, die immer zutage tritt, wenn er nicht weiß, wie er mit mir umgehen soll. Garantiert fragt er als Nächstes, wo das neue Hausmädchen ist.

»Wie hast du es diesmal geschafft, die neu eingestellte Hilfskraft zu vergraulen?«

Volltreffer. Hilfskraft, dieses Wort schon allein … als wäre ich auf Hilfe angewiesen. »Sie ist aus freiem Entschluss gegangen«, antworte ich wahrheitsgetreu und hänge meine Jacke an die Garderobe.

Vater lacht auf, es klingt gequält.

Ich verenge die Augen zu Schlitzen. »Du wirst nie jemanden finden, der es länger als zwei Tage mit mir aushält.«

Er nimmt eine nachdenkliche Pose ein und tippt den Zeigefinger mehrmals gegen die Lippen. Ein kurzes Blickduell später schiebt er die Augenbrauen nach oben, als wäre ihm gerade eine geniale Idee durch den Kopf geschossen. »Wetten, dass doch?«

Ich stoße ein abfälliges Schnauben aus und verschränke die Arme vor der Brust. »Du willst nicht wirklich eine Wette mit mir abschließen?« Du ziehst sowieso den Kürzeren …, beende ich den Satz in Gedanken.

»Warum eigentlich nicht?« Ein durchtriebenes Lächeln zuckt um Vaters Mundwinkel. »Sollte ich gewinnen, gehst du in das Sanatorium in der Schweiz und lässt dich noch mal durchchecken. Vielleicht kommt ja doch eine Toleranztherapie für dich infrage. Dann kannst du nächstes Jahr vielleicht sogar dein Abitur machen. Im unwahrscheinlichen Fall, dass du recht behältst, erlaube ich dir, noch ein weiteres Jahr auf meine Kosten hier herumzugammeln.«

Toleranztherapie. So eine verquirlte Scheiße. Das wird bei mir nie funktionieren, mein Körper wird sich auch in geringen Dosen nie an das Licht gewöhnen. Ein freudloses Lachen entkommt mir. »Scheinst dir ja deiner Sache sicher zu sein. Hast du schon jemanden im Auge?« Mit überlegener Miene streiche ich mir durchs Haar. »Ich muss dich leider enttäuschen, ich bin noch nicht bereit für irgendeine Art von Therapie.«

»Wenn es danach geht, wirst du nie so weit sein, Lennox.«

»Im Gegensatz zu dir hab ich Mamas sinnlosen Tod noch lange nicht verkraftet«, poltern die Worte aus meinem Mund, ehe ich sie zurückhalten kann. Zähneknirschend wende ich mich ab. Das war hart. Selbst für mich. Aber bei ihm kann ich nicht anders, als zurückzuschießen.

Ach, scheiß drauf! Er hat es nicht anders verdient. Ein Teil der Wahrheit ist aber auch, dass ich eine weitere Fehldiagnose nicht verkraften könnte. Verstohlen huscht mein Blick zu ihm zurück.

Vaters Kiefer mahlt, ich sehe, wie es in ihm arbeitet. Wie er mit sich ringt, etwas darauf zu entgegnen. Doch er schluckt es runter – wie immer. Lässt sich von mir nicht aus der Reserve locken. Mit einem tiefen Seufzer steckt er eine Hand in die Tasche seines schicken Jacketts. »Ich weiß, dass sich dein Bild von mir nicht ändern lässt.«

Du könntest es zumindest versuchen, denke ich.

»Trotzdem will ich nicht, dass du vor die Hunde gehst. So kann es nicht weitergehen. Und ich will nicht, dass die Wohnung völlig verwahrlost. Die nächste Hilfe, die ich dir vorsetze, bleibt. Verlass dich drauf!«

Ich zucke nur die Schultern und verziehe mich in mein Zimmer. Soll er sich doch meiner Niederlage gewiss sein. Er wird schon sehen, was er davon hat. Ich lasse mich nicht kontrollieren, vor allem nicht von fremden Menschen.

 

Eine Woche später kündigt Checker sich durch lautstarkes Kläffen am Eingang an. Er rennt durch den Flur geradewegs in mein Zimmer und wirft mich fast vom Sessel.

Lachend lasse ich mich von seiner rauen Zunge von oben bis unten abschlecken. Ich freue mich genauso, ihn zu sehen, doch gleichzeitig weiß ich auch, was das bedeutet: Vater macht ernst.

Granny schaut um die Ecke meines Zimmers und stützt die Hände in den Rücken. Checkers Hundeleine hängt ihr um den Hals, ihr rechter Mundwinkel hebt sich widerwillig. »Schweren Herzens überlasse ich dir deinen Hund.«

»Habt euch wohl doch aneinander gewöhnt?«, bemerke ich, während Checker meine Hand ableckt.

Granny brummt etwas Unverständliches. »Dein Vater hat darauf bestanden, dass ich ihn zurückbringe, sobald du Unterstützung bekommst. Von nun an bist du wieder für ihn verantwortlich. Du musst abends mit ihm Gassi gehen, wenn es dunkel ist, und am frühen Morgen. Die Haushaltskraft übernimmt das dann tagsüber.«

»Kriegen wir schon hin, nicht wahr, Checker?« Ich kraule ihn am Kopf. Als Mama vor sieben Jahren den wuscheligen Welpen mit nach Hause brachte, sind wir sofort ein Herz und eine Seele gewesen. Doch nach ihrem Tod war Granny der Ansicht, dass ich nicht in der Lage war, für ihn zu sorgen, da ich es ja noch nicht einmal schaffte, mich um mich selbst zu kümmern. Also nahm Granny ihn zu sich. Sie war alles andere als begeistert, noch zusätzlich für einen Hund die Verantwortung zu tragen. Doch Grandma hat zwar eine harte Schale, aber ihr Herz ist viel zu weich, um den Hund, den ihre Tochter angeschafft hatte, wegzugeben.

»Ich habe dir eine Ration Hundefutter und Leckerlis auf den Küchentisch gestellt. Sollte für eine Woche reichen.«

Ich nicke dankbar, zwinge mir ein Lächeln aufs Gesicht.

Grannys Blick streift durch den Raum und bleibt auf den schmutzigen Boxershorts vor dem Bett haften, während ihre Mundwinkel sich nach unten krümmen. »Wie ich sehe, hast du innerhalb einer Woche wieder zu deinen alten Verhaltensmustern zurückgefunden.«

»Ich habe nie behauptet, dass ich die so schnell aufgeben werde«, antworte ich bockig.

Ihr demonstratives Stöhnen sagt mir, was sie davon hält. »Na gut, Lennox, wenn du dich in diesem Saustall wohlfühlst. Das arme Mädchen tut mir jetzt schon leid.«

Ich zucke die Schultern. »Noch einen Tag sturmfrei, die Zeit sollte ich doch nutzen und meine Freiheit genießen.«

»Wenn du dein Messi-Dasein als Freiheit empfindest, gebe ich dir recht.« Grandma stützt die linke Hand in die Taille, mit der anderen gestikuliert sie wild. »Junge, ich habe wirklich gehofft, dass du irgendwann zur Besinnung kommst. So kann es nicht weitergehen!«

»Weder horte ich Dinge noch sammle ich unnützes Zeug. Ich bin gefangen in einem Körper, der meine Eigenständigkeit erheblich einschränkt, deshalb stülpe ich mein inneres Chaos nach außen.« Ha! Im Kontern bin ich schon immer unangefochtener Meister gewesen.

Bei dem Versuch, einen großen Bogen um die Schmutzwäsche zu machen, stakst Granny kopfschüttelnd durch mein Zimmer und schiebt dabei ihren Unterkiefer von rechts nach links. »Soll ich dir mal sagen, was ich glaube: Das ist nichts weiter als eine Auflehnung gegen deinen Vater und mich. Du hast es dir zur Gewohnheit gemacht, uns zu provozieren.«

Wenn sie meint, mir doch egal. »Bullshit!«, stoße ich dennoch hervor.

Granny holt zischend Luft und fährt dann fort. »Du hast für alles eine Ausrede parat. Im Notfall kannst du immer deine Krankheit vorschieben, nicht wahr? Doch ich werde die Hoffnung nicht aufgeben, dass du irgendwann deine sarkastische Alles-egal-Haltung ablegst und zur Vernunft kommst. Denn du gehst mir nicht am Arsch vorbei!«

Verblüfft schaue ich sie an und habe Mühe, mir ein Grinsen zu verkneifen.

Einen Moment lang nagelt sie mich noch mit ihrem durchdringenden Blick fest, dann dreht sie sich auf dem Absatz um und verlässt mein Zimmer.

»Sitz!«, befehle ich Checker.

Der legt den Kopf schräg und sieht mich abwartend an.

Unnachgiebig drücke ich sein Hinterteil auf den Boden, doch auch das gelingt mir nicht. Nur für einen kurzen Augenblick berührt sein Hintern die dreckige Auslegware, dann kommt er sofort wieder hoch. Ich meine fast, ein hinterlistiges Lächeln auf seinem Hundegesicht zu erkennen.

Ich seufze. Hund passt zu Herrchen wie Arsch auf Eimer.

Begegnung der besonderen Art

Der Schlüssel dreht sich im Schloss, ein leises Klicken, dann öffnet sich die Tür und leise Stimmen dringen durch den Flur.

Stöhnend fahre ich mir übers Gesicht. Das muss Vater mit der neuen Haushälterin sein. Trotz der aufkommenden Neugierde entschließe ich mich dagegen aufzustehen und ihnen entgegenzulaufen. Das würde aussehen, als könnte ich ihre Ankunft kaum abwarten. Sollen sie doch kommen. Sie muss sich Mühe geben, schließlich wird sie an mir verdienen. Vater ist nicht geizig, das muss man ihm lassen, Geld war noch nie das Problem.

Checker bellt wie verrückt und kriegt sich gar nicht mehr ein. Das ist eigentlich gar nicht seine Art, irgendetwas muss ihn stören.

Nach einer Weile bricht das Kläffen ab. Ich nehme an, Vater hat ihn in die Küche gesperrt.

Als sich die Tür meines Zimmers öffnet, blicke ich mit ausdrucksloser Miene auf den Monitor meines Computers.

»Lennox!« Vaters Stimme klingt schon jetzt siegesgewiss.

In mir regt sich Unbehagen. Wie ich es verabscheue, ständig fremde Personen in meine Privatsphäre eindringen zu lassen.

»Lennox«, sagt er, diesmal nachdrücklicher. »Komm bitte her und begrüße die neue Haushaltshilfe!«

Ich verkneife mir ein weiteres Stöhnen, rolle mit dem Sessel bis zum Ende des Schreibtischs und linse um die Ecke des Bücherregals.

Ein asiatisch aussehendes Mädchen steht im Türrahmen. Selbst im schummrigen Licht kann ich ihre großen Augen erkennen.

Im Ernst? Na da hat sich Vater ja was Feines ausgedacht. Mal was ganz Neues.

Wie sie wohl reagiert, wenn sie die Verbrennungen in meinem Gesicht sieht, die von der letzten Attacke teilweise noch nicht abgeheilt sind? Ich sehe schon bildlich vor mir, wie sie um Haltung ringt, so wie all die anderen auch.

Das ist das erste Hausmädchen, das annähernd attraktiv ist, das muss ich zugeben. Und sie scheint nicht älter zu sein als ich. Aber wenn Vater glaubt, dass sie dadurch Pluspunkte bei mir sammelt, hat er sich geschnitten. Offenbar hat er sie aus Japan mitgebracht. Lächerlich! Als ob es hier nicht genug arbeitslose Hilfskräfte gäbe. Wenn die ganze Angelegenheit nicht so lästig wäre, würde ich laut auflachen.

»Lennox!«, reißt Vater mich herrisch aus meinen Überlegungen. »Zum letzten Mal: Steh auf und sag wenigstens Hallo!«

Widerwillig wuchte ich mich aus dem Schreibtischsessel und gehe mit ausdrucksloser Miene auf sie zu. Sie sieht mich an, als erwarte sie einen Willkommensgruß oder zumindest überhaupt eine Reaktion. Doch den Gefallen tue ich ihr nicht. Sie soll gleich checken, dass sie bei mir nicht willkommen ist.

Ihre Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. »Hallo. Du musst Lennox sein. Es freut mich, dich kennenzulernen!«

Bemerkenswerte Kombinationsgabe. O Mann, ihre Stimme klingt so stoisch wie eine Ansagerin am Bahnhof. Was haben sie der denn gegeben? Da fällt mir ein, Vater hat mal gesagt, Japaner gehören zu den diszipliniertesten und am besten angepassten Menschen, die er kennt. Sie scheint das Paradebeispiel dafür zu sein.

Das Mädchen reicht mir die Hand.

Ich starre darauf, dann zu Vater, der mir einen mahnenden Blick zuwirft. So leicht werde ich es ihm nicht machen. Jetzt wird mir auch klar, warum er glaubt, die Wette schon fast gewonnen zu haben.

Ich bemühe mich um einen kräftigen Händedruck, mal sehen, wie viel sie verträgt.

Ihre Hand fühlt sich unerwartet kühl an. Sie hält meinem Blick stand, und auch ihr Händedruck ist nicht von schlechten Eltern. Ihr Lächeln scheint eingefroren. Ist das so eine Art Kampfansage? Räuspernd entziehe ich ihr meine Hand. Scary!Ja, sie ist irgendwie unheimlich.

»Suki wird dich für einige Wochen im Haushalt unterstützen, solange ich in Hongkong unterwegs bin.«

Suki. »Hast du sie ernsthaft aus Japan mitgebracht?!«

»Ernsthaft«, bestätigt er und bedenkt mich mit einem eindringlichen Blick. »Ihr werdet klarkommen, da bin ich sicher.« Es klingt wie eine Warnung. »Und jetzt zeig bitte Suki ihr Zimmer und den Rest der Wohnung.«

»Dein Wort ist mir Befehl«, murmele ich und drücke mich an ihm vorbei.

Ende der Leseprobe