Limonenküsse - Herzklopfen auf Italienisch - Ava Blum - E-Book
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Limonenküsse - Herzklopfen auf Italienisch E-Book

Ava Blum

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Beschreibung

Liebe ist nichts für Angsthasen: ein humorvoller Sommerroman mit ganz viel Dolce Vita und dem großen (Liebes-)Glück auf Ischia

Die 23-jährige Bella hatte noch nie einen Freund, aber dafür haben sämtliche Phobien bei ihr ein Zuhause gefunden. Nur mit ihrer Sandkasten-Freundin Jazz kann sie so sein, wie sie wirklich ist. Als die beiden zusammen in den Urlaub nach Ischia fliegen, lernt Bella Davide kennen und Amors Pfeil trifft sie völlig unvorbereitet. Doch der junge Mann ist genau das Gegenteil von Bella, denn er lebt jeden Tag als gäbe es keinen Morgen mehr. Jazz sieht die Gelegenheit, ihre Freundin mit Davides Hilfe von ihren Ängsten zu befreien. Der Plan scheint aufzugehen, denn Davide zuliebe sagt Bella ihnen den Kampf an. Doch dann geschieht etwas Unvorhergesehenes …

»Hach, war das schön! Spannend, amüsant und emotional! Ein absolutes Wohlfühlbuch! Wer eine Auszeit braucht und dem Alltag entfliehen möchte, ist hier genau richtig! Die Geschichte ist total süß, frisch und so real! Es ist perfekt für warme Sommertage. Das Setting ist einfach traumhaft wunderschön und man bekommt sofort Lust auf Reisen.« ((travelbooksandcoffee, Leserstimme auf Netgalley))

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© Piper Verlag GmbH, München 2020Redaktion: Julia FeldbaumCovergestaltung: Annika HankeCovermotiv: Shutterstock.com; Pexels

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Kapitel 1 – So müsste es immer sein

Kapitel 2 – Ein vielversprechender Urlaubsbeginn

Kapitel 3 – La vita è bella

Kapitel 4 – Irgendetwas mit Limoni

Kapitel 5 – Wo ist Jazz?

Kapitel 6 – Romantisch ist anders

Kapitel 7 – Schlimmer geht’s immer

Kapitel 8 – Schattenspringen ist gar nicht so einfach

Kapitel 9 – Die Planschkuh und das Biest

Kapitel 10 – Wie im Resozialisierungscamp

Kapitel 11 – Erhöhte Herzfrequenz

Kapitel 12 – Anspruchslos glücklich

Kapitel 13 – Geisterstunde

Kapitel 14 – Weder Tod noch Teufel fürchten

Kapitel 15 – Untergetaucht

Kapitel 16 – Bing! Bang! Bong!

Kapitel 17 – Wie eine rollige Katze

Kapitel 18 – Die emanzipierte Frau von heute

Kapitel 19 – Talentfrei, aber furchtlos

Kapitel 20 – Pipi in der Hose

Kapitel 21 – Ein Meer aus Riesentränen

Kapitel 22 – Komödie und Tragödie gleichermaßen

Kapitel 23 – Das Monster im Schatten

Kapitel 24 – Zeit, um Klartext zu reden

Kapitel 25 – Limoncello e amore

Ein Jahr später

Bellas Limoncello-Cupcakes

Lemoncurd

Topping

Teig

Danksagung

Kapitel 1 – So müsste es immer sein

Jetzt können sie mich alle mal. Ich fühle mich so herrlich entspannt, als hätte man mich in Watte gebettet und mir Puderzucker ins Hirn geblasen. Meinetwegen kann der Flug noch eine Weile dauern. Ich merke, wie ich im Schneckentempo meinen Kopf nach rechts drehe und aus dem Fenster schaue. Was würde ich jetzt darum geben, mich in die Wolken zu fläzen. Andererseits … Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, jemals wieder aus diesem Sitz aufzustehen. Meine grauen Zellen vollführen wahre Gehirnakrobatik, als ich mich frage, was ich eigentlich hier zu suchen habe.

Ah, jetzt fällt es mir wieder ein: Das ist der erste Flug meines Lebens – mit meinen 23 Jahren schon eine beachtliche Leistung, wie ich finde. Im Nachhinein kann ich mich schwer entscheiden, ob ich Jazz verfluchen oder ihr bis in alle Ewigkeit dankbar sein soll, dass sie mir einen Cocktail aus diversen Tranquilizern verabreicht hat. Zuerst wollte sie mir einen Spacecake aufschwatzen, doch das konnte ich ihr noch rechtzeitig ausreden. Ihrer Meinung nach schaden ein bisschen Drogen nichts, denn sie wurden für solch hoffnungsvolle Fälle wie mich erfunden, senken die Hemmschwelle und bringen wenigstens ein paar rosarote Wolken in den trüben Alltag.

»Bist du okay?« Jazz’ Stimme schwebt gedämpft von der Seite an mich heran, bahnt sich zaghaft einen Weg durch meinen Gehörgang. »Wir sind im Landeanflug, in spätestens zehn Minuten musst du deinen süßen Hintern aus dem Sitz bewegen. Kriegst du das hin?«

Niemals! Nichtsdestotrotz werfe ich einen selbstsicheren Blick in ihre Richtung – sie soll bloß nicht denken, dass ich nichts abkann. Bedauerlicherweise spielen meine Augen da irgendwie nicht mit, sie verselbstständigen sich und driften zur Seite – außerdem bekomme ich irgendwie keinen Ton heraus. Es kommt mir vor, als läge meine Zunge im Koma.

»Verdammte Scheiße!«, zischt Jazz. »Was mach ich bloß mit dir? Du bist ja noch völlig zugedröhnt!« Sie fährt sich durch ihre dunkelbraune Mähne und mustert mich mit gequältem Gesichtsausdruck.

Selbst in meinem momentanen Zustand frage ich mich, warum unsere im Sandkasten entstandene Freundschaft eigentlich immer noch besteht, so grundverschieden wie wir sind. Jazz, die Lebenslustige, die nie etwas anbrennen lässt, und ich, die In-sich-Gekehrte, die in Gegenwart anderer das Temperament eines scheintoten Karnickels aufweist. Auf unerklärlich kranke Weise liebt sie mich trotzdem. Und ich sie.

Sie kennt mich halt, wie ich wirklich bin. Ich kann richtig witzig sein. Ja, ich verfüge sogar über eine gesunde Portion Selbstironie. Nur leider weiß das niemand. Abgesehen von meiner Freundin … Ich könnte »besten Freundin« sagen, doch Jazz ist die einzige, die ich habe. Sonst lasse ich keinen an mich heran, geschweige denn, dass ich jemandem auch nur den kleinsten Grund liefere, mit mir befreundet sein zu wollen.

Ein harter Schlag von unten, dann ein lautes Dröhnen, Applaus brandet um mich herum auf.

Wir sind gelandet. Normalerweise würde ich zittern wie Espenlaub und um mein Leben bangen, doch jetzt legt sich ein Lächeln auf meine Lippen, ich fühle weiter nichts als wohlige Entspannung. Ich sollte diese Pillen öfters nehmen, denn ich möchte es so ausdrücken: Mein Leben kommt mir normalerweise vor wie ein Thriller in Dauerschleife. Oft betrachte ich mich von außen und erkenne die Situationskomik. Und dann muss ich über mich selbst lachen. Ich habe so gut wie vor allem und jedem Angst – ja, manchmal fürchte ich mich sogar vor mir selbst. Uah! Sämtliche Phobien, die man sich vorstellen kann, haben bei mir ein Zuhause gefunden. Doch die soziale steht bei mir an erster Stelle, weshalb ich U-Bahn-, Bus- und Bahnfahrten, so gut es geht, meide. Geschlossene Räume ebenso. Menschenmassen aber auch. Ich habe Angst vor Spinnen, vor Höhen und vor Plätzen. Ich habe ständig Angst, falsche Entscheidungen zu treffen, mich zu blamieren und zu scheitern.

Doch ich komm klar. Ja, wirklich, irgendwie komme ich klar.

Jazz meinte vor drei Wochen, ein mentaler Frühjahrsputz wäre fällig, und hat mich deshalb zu dieser Italienreise überredet. »Es ist höchste Eisenbahn zu entrümpeln, entstauben und loszulassen«, waren ihre Worte. »Die Wurzel deiner Angst liegt nur in deinem mangelnden Selbstvertrauen. Das müssen wir endlich ändern. Du darfst dich nicht weiter von deinen Ängsten bestimmen lassen und mit angezogener Handbremse durchs Leben gehen. Es wird Zeit, ein wenig Spaß zu haben!«

Und dann hat sie einfach zwei Flüge nach Neapel sowie eine Unterkunft auf Ischia gebucht. Jazz hat schon viele Urlaube in Italien verbracht und will jetzt unbedingt die größte Insel im Golf von Neapel kennenlernen.

Von links kommt eine Hand, die erbarmungslos an meiner Schulter rüttelt. »Bee, es ist so weit, du musst jetzt aufstehen.« Eigentlich heiße ich Bella, und ich hasse diesen Namen. Jazz ist die Einzige, die mich Bee nennt, seit ich zwölf bin, um genau zu sein. Ihrer Meinung nach sollte es etwas Englisches sein, das cool klingt. Da ich mit Nachnamen Bienert heiße, war Bee für Jazz das Naheliegendste.

Ich brauche einen kurzen Moment – ich schätze, auf einer Skala von null bis zehn tendiert meine Reaktionsfähigkeit gegen minus acht – bis ich gehorsam nicke und den Befehl an mein Gehirn weitergebe.

Es tut sich nichts.

Jazz kommt so nah an mich heran, dass ich ihre Gesichtscreme riechen kann, sie duftet irgendwie nach Kokosöl. Hat sie sich etwa schon Sonnencreme ins Gesicht geschmiert?

Als ich noch immer zu keiner Reaktion fähig bin, rollt sie ihre schokobraunen Augen. »Ich sollte dir wohl besser ein Under construction-Schild an die Stirn pappen, damit keiner auf die Idee kommt, dich anzusprechen. Das wäre nämlich fatal.«

»Wie meinst du das?«, bringe ich piepsend hervor und erschrecke selbst über meine plötzlich gelöste Zunge. Mit einem Mal bin ich wieder bei klarem Verstand, ich kann förmlich spüren, wie meine Gehirnzellen in Aufruhr geraten, und sehe bildlich vor mir, wie zwei Carabinieri uns wegen Drogenkonsums festnehmen und dann für Jahre in eine stinkige drei Quadratmeter große Zelle mit zehn Schwerverbrechern einbuchten.

»… wenn die denken, ich habe eine verbotene Substanz zu mir genommen …«

Jazz bricht in ein unterdrücktes Kichern aus, dann zieht sie ein ernstes Gesicht und stöhnt. »Mann, Bee, entspann dich, wir sind nicht in Singapur! Auf Drogen steht in Italien keine Todesstrafe, schon gar nicht auf ein bisschen Beruhigungsmittel. Aber wenigstens bist du jetzt wieder Herr deiner Sinne. Ich wusste, dass ich dich durch ein bisschen Panikmache wieder auf Trab bringe.« Sie schenkt mir ein einnehmendes Lächeln. »Jetzt genehmigen wir uns erst mal einen Caffè freddo, bevor wir ein Taxi zum Hafen nehmen. Einverstanden?«

»Sie müssten jetzt bitte das Flugzeug verlassen«, tönt die Stimme der Flugbegleiterin über uns.

Ich blicke mich um. Die Maschine ist leer, alle Passagiere sind bereits ausgestiegen.

»Wir sind schon so gut wie weg«, meint Jazz und zieht unser Handgepäck aus dem Kofferfach über uns.

Wider Erwarten gelingt es mir jetzt, mich zu erheben. Nach kurzem Schwanken finde ich die Balance und atme tief durch. Meine Beine fühlen sich im ersten Moment an, als würde ich mit Bleigewichten ausgestopfte Stützstrumpfhosen tragen, doch so langsam, gute fünf Stunden nach der Tabletteneinnahme, verflüchtigt sich der Nebel in meinem Hirn. Wirklich gut getimt. Jazz drückt mir meinen Rucksack in die rechte Hand, fasst nach meiner linken und zieht mich mit sich den Gang entlang. Auf dem Treppenabsatz, kurz vor dem Abstieg, bleibt sie stehen und atmet mit geschlossenen Augen tief ein. Ich tue es meiner Freundin gleich und halte einen Moment inne. Eine warme Brise streicht über mein Gesicht, spielt mit meinem schulterlangen blonden Haar. Herrlich.

»Ciao, Italia«, sagt sie mit einem Lächeln auf den Lippen, als sie die Lider wieder öffnet. »Jetzt kann der Urlaub beginnen.« Ihre Augen blitzen mir freudig entgegen. »Bist du bereit für sole, pizza e amore?«

Ich grinse schief, weil ich nicht weiß, was ich darauf antworten soll. Ich bin nie bereit für etwas Neues, aber Jazz hat sich angewöhnt, meine Ängste, so gut es geht, zu ignorieren. Das sollte ich auch tun.

»Du wirst sehen, die Italiener werden dich lieben. Dein süßes Gesicht, das blonde Haar, die weiblichen Rundungen …«

Ich lache auf. »Weibliche Rundungen ist eine nette Formulierung für meine Fettpölsterchen!«

»Du hast tolle Brüste und einen knackigen Hintern, das Fett sitzt bei dir an genau den richtigen Stellen, und mit deinen 1,65 hast du die perfekte Größe, um bei den Männern den Beschützerinstinkt zu wecken.«

»Ich habe momentan fünf Kilo zu viel auf den Hüften«, gebe ich verdrießlich zu bedenken, während wir die Treppen hinuntersteigen. »Und wenn das Essen hier so gut ist, wie du sagst, werden es sicherlich noch mehr werden.«

»Wen interessieren schon deine gierigen Fettzellen … Wenn du nur ein bisschen mehr aus dir rausgehen würdest, würden die Männer sich um dich scharen wie Fliegen um einen Kackhaufen.«

Jazz weiß, mich in den unmöglichsten Situationen aufzubauen.

Beim Einstieg in den vollen Bus weht uns stickige Luft und ein Schwall schlechter Laune entgegen. »Das wird aber auch langsam Zeit, hättet ruhig mal einen Schritt zulegen können«, empört sich ein Familienvater und straft uns mit einem Dementor-Blick, der es in sich hat. Er hält sich an der über ihm baumelnden Halteschlaufe fest und der Schweißfleck unter seiner Achsel nimmt schlagartig meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Das Grauen greift nach mir, ich kann spüren, wie mein Magen sich verkrampft. Mir wir übel und gleichzeitig schwindelig. Die beruhigende Wirkung des Mittels ist so gut wie verflogen. Ich kann mich unmöglich in den vollen Bus quetschen. Ausgeschlossen! Ich werfe Jazz einen Hilfe suchenden Blick zu.

Die weiß sofort, was Sache ist. »Tut mir wirklich leid, aber meiner Freundin ist speiübel«, richtet sie ihr Wort an die genervten Urlauber. »Machen Sie bitte Platz!« Das Gemurmel verstummt, und der Pulk schiebt sich ein Stück von uns weg – doch nicht weit genug. Nach Luft schnappend wende ich mich um, sodass ich die vielen Menschen um uns herum nicht sehe. Die Türen schlagen zu und ich starre dabei aus dem Fenster. Hitze steigt in mir hoch. Ich lehne meine Stirn an die kühle Scheibe, doch das reicht nicht, um mich zu beruhigen. Etwas Kiloschweres drückt auf meine Brust, und mein Mund wird ganz trocken. Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen. Ich weiß, ich muss jetzt durchhalten. Reiß dich zusammen, Bella, wir sind gleich da!

Ich spüre Jazz’ mitleidigen Blick auf mir. »Am besten, du wirfst noch eine Pille nach, ehe wir auf die Fähre gehen.«

»Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, da kriegen mich sonst keine zehn Pferde drauf.« Ich atme zittrig die Luft ein, als die Türen sich öffnen, gleichzeitig fällt alle Anspannung von mir ab.

»Okay, den Caffè freddo gibt es erst auf Ischia, wir schnappen unser Gepäck und nehmen ein Taxi zum Hafen.«

Jazz schleust mich zügig durch zur Gepäckausgabe.

 

Die nächste halbe Stunde verläuft reibungslos. Unsere Koffer rollen als eine der ersten auf dem Band ein, und wir steigen vor dem Flughafengebäude in ein Taxi.

Am Hafen angekommen, müssen wir jedoch eine geschlagene Stunde für die Tickets anstehen – oder besser gesagt Jazz, denn ich warte lieber etwas abseits der Menschenmassen. Bevor wir schließlich die Fähre besteigen, schlucke ich noch eine der rosa Pillen.

»Gewöhn dich nur nicht an das Zeug, das sind keine Drops, davon kann man abhängig werden«, gibt mir Jazz altklug mit auf den Weg.

Schon nach kurzer Zeit geht mir wieder alles am Arsch vorbei. Die Fähre ist proppenvoll. Um nicht stehen zu müssen, drängeln wir uns auf einem der unteren Decks in eine Fünferreihe. Jazz’ Sitznachbar ist ein alter Mann, der garantiert in den nächsten zwei Minuten seiner Müdigkeit erliegen wird – gut, dass wir vorher noch mal die Toiletten aufgesucht haben. Rechts von mir sitzt ein etwa achtjähriger Junge, der stetig mit den Füßen gegen den Vordersitz tritt.

Die Wirkung der Tablette ist diesmal anders. Ich nehme alles um mich herum genau wahr, bin dabei aber unglaublich entspannt. Hach, so müsste es immer sein!

Eine kurze Ansage, dann setzt sich das Schiff auch schon in Bewegung. Offenbar ist das Meer heute etwas unruhig, ich spüre den Seegang, empfinde jedoch nur ein angenehmes Schaukeln, das mich müde macht. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie wir am Strand liegen.

Genüsslich lecke ich an meinem Erdbeereis und zwinkere einem vorbeilaufenden Italiener zu, der seinen Blick nicht von mir lassen kann und prompt gegen einen entgegenkommenden Spaziergänger läuft. Ich kichere und winke ihn mit einem gekonnten Augenaufschlag zu mir heran. Breite Schultern, eine durchtrainierte Brust, auf der sich ein paar dunkle Haare kräuseln, die in einer schmalen Linie hinunterführen, um sich dann im Bund seiner Bermudashorts zu verlieren … So männlich … und dann dieses umwerfende Lächeln … Er kommt näher, gleich wird er sich zu mir aufs Handtuch setzen …

Etwas Warmes breitet sich in meinem Schoß aus. Erschrocken reiße ich die Augen auf und schaue an mir herab.

Der Junge sitzt über mich gebeugt und gibt eigenartige Würglaute von sich. Nur langsam wird mir bewusst, was gerade geschieht. Sein Oberkörper richtet sich auf, er röchelt und sein Gesicht sieht aus wie ein roter Luftballon kurz vor dem Platzen.

Zu keiner Reaktion fähig, blicke ich gebannt auf das Erbrochene auf meiner Hose. Ein beißend-saurer Geruch kriecht in meine Nase, während ich mir überlege, was die roten Stücke außer Paprika noch sein könnten. Zumindest kann ich erkennen, dass es gekochten Schinken gab. Vielleicht hat er ein Gemüse-Omelette zum Frühstück gegessen …

Ein schriller Aufschrei lässt mich kurz zusammenzucken.

»Igitt, das ist ja widerlich!« Neben mir springt Jazz von ihrem Sitz auf, um mich herum gerät alles in Bewegung.

»Scusi, scusi, Signorina!«, ruft mir die Mutter des Jungen entgegen, während sie geistesgegenwärtig eine Kotztüte auseinanderfaltet. Doch der Drops ist gelutscht, wenn ich mir den Jungen so anschaue. Seine Gesichtszüge haben sich bereits entspannt und …

»Steh sofort auf, Bee, wir müssen dich aus der Hose rauskriegen. Du stinkst erbärmlich!« Nur mit Mühe gelingt es Jazz, mich aus meinem Sessel zu hieven. Da der Alte wie befürchtet schläft, stehen Mutter und Sohn mit plötzlicher Behändigkeit auf, um uns den Weg frei zu machen. Kotzbrocken lösen sich von meiner Hose und tropfen zäh auf den Boden. Ich habe keine Bedenken, später unseren Platz wiederzufinden.

Wie ein aufgescheuchter Schwarm Hühner flattern gleich drei Frauen in blauer Uniform auf mich zu und pressen mir kaum saugfähige Servietten auf die Oberschenkel, während sie auf Italienisch auf mich einreden. Ich denke, es geht ihnen mehr um die rote Auslegware als um meine Hose. Mir ist das schnurzpiepegal, ich stehe da wie festgewachsen und tue so, als ob mich das alles nichts angeht.

Kaum in der Toilette angekommen, knallt Jazz die Tür hinter mir zu und zerrt mit gerümpfter Nase an meiner Hose. Mein T-Shirt hat zum Glück nichts abbekommen.

Wie ein unbeholfenes Kind lasse ich alles über mich ergehen. Erst als mir klar wird, was sie mit meiner heiß geliebten Schlabberhose vorhat, stoße ich einen theatralischen Seufzer aus. Doch Jazz kennt kein Erbarmen. Bedrückt schaue ich zu, wie sie das vollgekotzte Stück Stoff im Mülleimer entsorgt.

Mir fällt es schwer, mich von Sachen zu trennen, doch in Anbetracht der Situation mache ich besser kein Aufhebens darum.

»Es wurde sowieso Zeit, dieses alte Ding wegzuwerfen«, sagt Jazz mitleidlos und hält mir ein Stück Seife hin. »Hier, wasch dich.«

»Meinst du, es kommt gut, wenn ich in Unterhose von Bord gehe?«, werfe ich ein, während ich tue, was von mir verlangt wird, und meine Oberschenkel einschäume.

»Ich kann dir etwas aus deinem Koffer holen«, antwortet sie und reicht mir ein paar Lagen Papiertücher.

»Ja, das wäre wohl nicht schlecht«, erwidere ich träge und reibe mir die Beine trocken.

Jazz’ Gesicht erhellt sich. »Ich habe eine andere Idee! Hastig löst sie das Batiktuch von ihrem Hals, schlingt es mir um die Hüften und bindet vorn einen lockeren Knoten. »Das verleiht deinem Aussehen gleich einen frischen Anstrich. Ein Pareo solltest du immer tragen!«

So knapp unter dem Po endend, erscheint mir das bunte Tuch doch etwas kurz, aber wenn sie meint. »Danke«, erwidere ich einsilbig und lasse mich zu einem zurückhaltenden Lächeln hinreißen.

Ein triumphierender Ausdruck zeigt sich auf Jazz’ Gesicht. »Jetzt steht unserem Urlaub nichts mehr im Wege.«

Kapitel 2 – Ein vielversprechender Urlaubsbeginn

Jazz hat es eilig, von Bord zu gehen, ich komme kaum hinterher. Mit unseren Rollkoffern lotst sie mich durch die Menschenmassen, bis wir endlich auf der Straße stehen.

Das ist also Ischia. Ich sehe mich um, die Sonne blendet, deshalb beschirme ich meine Augen mit der rechten Hand.

Auf den ersten Blick sieht der Ort ziemlich verschlafen aus, aber vielleicht liegt es auch daran, dass es Mittagszeit ist und die Einheimischen Siesta halten.

Unsere Unterkunft soll vom Hafen aus gut erreichbar sein, allerdings ist es zu Fuß zu weit. Wir haben uns vorgenommen, ein Auto zu mieten, damit ich meiner sozialen Phobie keinen Nährboden für neue Ängste gebe, wenn ich mich in einen engen Bus quetschen muss. Aber jetzt wollen wir erst mal so schnell wie möglich zu unserer Unterkunft, deshalb hält Jazz eins der schnuckeligen Taxis mit drei Rädern an, die für die Insel typisch sind.

Unser Taxifahrer – hinter vorgehaltener Hand nennen wir ihn den Einzahnigen, weil man, wenn er in holprigem Deutsch spricht, nicht mehr als einen braunen Stumpen in seiner oberen Zahnreihe ausmachen kann – tritt ordentlich aufs Gaspedal, nachdem Jazz ihm ihr Handy mit der Adresse unter die Nase gehalten hat. Mit temperamentvoller Gestik und italienischen Ausrufen, die ich nicht verstehe, ist seine Konzentration mehr auf uns als auf das Verkehrsgeschehen vor ihm gerichtet. Ich bete im Stillen, wir mögen die Fahrt überleben.

Nach einer kurvenreichen Strecke hält das Taxi schließlich an einer steil ansteigenden Gasse an. Ich atme tief durch. Auch das ist überstanden, und wir leben noch.

»Hier muss es sein«, flötet Jazz und springt aus dem Gefährt. Ich kaue auf meiner Unterlippe und blicke mit gerunzelter Stirn die Stufen hinauf. Seufzend drücke ich dem Fahrer einen zerknüllten Zehneuroschein in die Hand und steige aus.

Mit der Wendigkeit eines Ikea-Einbauschranks hievt der Einzahnige unsere Koffer von der Rückbank und knurrt etwas, das sich nach »Ich hoffe, man trifft sich kein zweites Mal« anhört. Offenbar hat er mit mehr Trinkgeld gerechnet.

Während ich – von meinem schlechten Gewissen und meiner guten Kinderstube ermahnt – noch darüber sinniere, ob ich ein wenig mehr Kleingeld zusammenkratzen sollte, marschiert Jazz bereits an Oleanderbüschen und ausladenden Bougainvilleas entlang den Berg hinauf, ihr Koffer ruckelt über die Stufen hinterher.

Sieht anstrengend aus. Ich frage mich, woher Jazz nach dieser nervenaufreibenden Anreise diesen widerlichen Elan holt. Körperertüchtigung, bei der ich ins Schwitzen gerate, ist für mich in etwa gleichzusetzen damit, zwischen fremden Menschen in einer finnischen Sauna eingezwängt zu sein. Ich ziehe scharf die Luft ein und sehe ihr eine Weile dabei zu, dann beginne ich ebenfalls den Aufstieg. Stufe um Stufe, jede einzelne für sich eine Qual. Meine Kehle ist trocken, ich habe schrecklichen Durst und mir ist schummerig. Müdigkeit kommt mit einem Mal über mich, ich könnte im Laufen einschlafen. Der Pfad schlängelt sich um die Ecke, sodass ich Jazz aus den Augen verliere. Verflucht! Wäre ja auch zu viel verlangt, auf mich zu warten. Ich stapfe weiter, lasse den Koffer, als könne er etwas für die Plackerei, jedes Mal bis an den Bordstein knallen und zerre ihn dann ruckartig die Stufe hoch. Eine streunende Katze passiert den Weg und wirft mir einen geringschätzigen Blick zu. Na toll, nicht mal die Mieze hat Mitleid mit mir.

Als Jazz wieder in mein Sichtfeld gerät, besteige ich die 89. Stufe und breche auf der 90. nach Luft japsend zusammen.

Meine Freundin dreht sich nach mir um und rollt mit den Augen. »Stell dich nicht so an, gleich müssen wir da sein.«

Sie hat gut reden. Mein Akku ist leer, das rosa Duracell-Häschen hat soeben seinen Geist aufgegeben. Ich will einfach nur noch schlafen.

Jazz beugt sich vor und schiebt ihre Sonnenbrille ein Stück den Nasenrücken hinab, um das Namensschild an dem weiß gestrichenen Tor näher in Augenschein zu nehmen. »Hier ist es«, sagt sie freudestrahlend.

Ein letztes Mal mobilisiere ich meine Kraftreserven und rappele mich nach Atem ringend auf.

 

Obwohl Jazz der Vermieterin schon, kurz bevor wir von Bord gingen, eine Nachricht geschickt hatte, warten wir bei brennender Mittagshitze bereits eine geschlagene dreiviertel Stunde auf sie. Ich schwanke zwischen Nervenzusammenbruch und vorübergehender Bewusstlosigkeit, während Jazz die Gelegenheit nutzt, um einem ihrer vielen Laster zu frönen – ich habe mittlerweile aufgehört zu zählen, mit wie vielen Zigaretten sie die angenehme mediterrane Brise bereits verpestet hat. Anstatt den Rauch lasziv auszuströmen, ist sie dazu übergegangen, mit aufgeblasenen Backen wie eine Dampflock in kurzen Stößen ihrem Ärger Luft zu machen.

Ich höre Schritte und Schlüssel klappern. Habe ich eben noch in meiner halb liegenden Wartehaltung auf dem Fußabtreter eher einen jämmerlichen Eindruck abgegeben, bin ich von jetzt auf gleich wieder hellwach und fahre ruckartig hoch. Auch Jazz schnippt ihre angerauchte Kippe auf den Boden und tritt sie hektisch mit dem Fuß aus.

Eine Frau mittleren Alters biegt schnaufend um die Ecke.

Endlich! Wir tauschen einen erleichterten Blick.

Offenbar kommt die Signora nur schwerlich voran, was mich nicht verwundert, wenn ich mir das knöchellange Tuch so ansehe, das sie eng um ihren Körper gewunden hat und das ihre mollige Figur noch zusätzlich unterstreicht. Ihrer verdrießlichen Miene nach zu urteilen, beruht unsere Freude über ihre Anwesenheit nicht auf Gegenseitigkeit. An irgendjemanden erinnert sie mich …

»Isch abe gewartet unten bei Auffahrt.« Mit einer energischen Handbewegung streicht sie ihr kurzes Haar zurück. »Sie nischt gelesen meine messaggio?«

Gebannt beobachte ich den Schweißtropfen, der ihr vom Kinn den Hals hinabrinnt und sich dann in ihrem üppigen Dekolleté verfängt.

»Äh … nö.« Jazz zuckt die Schultern und tut so, als hätte ihr die Warterei nichts ausgemacht. Typisch für sie.

Ich schicke ihr einen vernichtenden Blick. Darauf hätte sie wirklich kommen können. Sie glotzt doch sonst die ganze Zeit aufs Handy, in der Hoffnung, ihr Exfreund könnte sie anflehen, zu ihm zurückzukommen. Warum nicht heute?

»Sie hätten mich anrufen können«, gibt Jazz völlig unbefangen zu bedenken.

Die Signora verzieht verächtlich die Mundwinkel. »Isch abe versucht mindestens zehn Mal …«

Sichtlich verwirrt holt Jazz ihr Handy aus ihrer Handtasche. Nach eingehender Betrachtung ihres Displays räuspert sie sich umständlich. »Oh, scusi, ich hatte es auf lautlos.«

Die Signora lässt Jazz’ Entschuldigung an sich abprallen wie der Airbag einen Crashtest-Dummy und steckt den Schlüssel in das Schloss.

Ein muffig-abgestandener Geruch schlägt uns entgegen, als ich hinter Jazz den düsteren Vorraum betrete. Ohne jegliche Erklärung stapft die Signora durch die kleine Küche, biegt links in das Schlafzimmer, reißt dort mit einem Ruck den Brokatvorhang zur Seite und belebt dadurch sämtliche Staubpartikel wieder, die sich hier zur Ruhe gesetzt haben. Ich schaue ihnen dabei zu, wie sie munter durch das einfallende Licht wirbeln, während Jazz einen übertrieben lauten Nieser ausstößt, auf den zehn weitere salvenartig folgen. Jazz ist gut darin, Fremde auf ihre Stauballergie aufmerksam zu machen, um sie dann in vollen Zügen auszuleben. Ich sehe ihr mit hochgezogenen Augenbrauen dabei zu, bis sie endlich fertig ist, während die Signora sie mit einem despektierlichen Blick straft.

»Madre mia«, brummelt sie, dreht sich um und rüttelt mit einer Vehemenz an der Balkontür, dass ich sie schon mit der Klinke in der Hand vor mir stehen sehe. Das hätte noch gefehlt, den Urlaub in dieser piefigen Bude ohne Balkon verbringen zu müssen. Begleitet von weiteren italienischen Flüchen, deren Bedeutung ich lieber nicht wissen möchte, gelingt es ihr schließlich, die Tür zu öffnen. Die Scharniere quietschen, das verzogene Holz schrammt über den Boden. Von herrlichem Urlaubsdomizil in traumhaft schöner Lage kann hier nicht die Rede sein. Ob eine Verwechslung vorliegt? So stelle ich mir eher die Wohnung eines Verstorbenen vor, die zwanzig Jahre lang nicht mehr betreten wurde. Mit stockendem Atem lasse ich meinen Blick durch den Raum wandern und bin erleichtert – um nicht zu sagen verwundert –, im Doppelbett keine sterblichen Überreste vorzufinden. Dunkles Holz dominiert den Raum. Rechts an der Wand buhlt ein wuchtiger Schrank um meine Aufmerksamkeit – ich tippe auf Nussbaum –, der vermutlich aus dem 19. Jahrhundert stammt und jedem Horrorstreifen alle Ehre machen würde. Die Wände weisen Risse auf, über dem Bett hängt ein riesiges Kreuz. Mich würde es nicht wundern, wenn man daran Blutreste fände, da es schon allein von seiner Größe her förmlich danach schreit, als Mordinstrument missbraucht zu werden. Okay, zugegeben, meine Fantasie ist mal eben mit mir durchgegangen. Neben besagtem Objekt hängt ein gerahmtes Bild mit einem Landschaftsmotiv – in farbenfrohem Braun und Grau gehalten – umringt von schmierigen Flecken zerquetschter Mücken, die der verblichenen Tapete noch den letzten Schliff geben.

Gänsehaut kriecht mir über das Rückgrat, als vor meinem inneren Auge jäh ein Leichnam erscheint. Aufgefächertes Haar, so weiß wie Pusteblumen, die Hände über der Bettdecke gefaltet, eingefallenes Gesicht … Zumindest ist das Schlafzimmer seinem Vorbesitzer treu geblieben und hat sich den morbiden Charme längst vergangener Zeit bewahrt … dem ich mich jedoch auf der Stelle entziehen möchte. Ich erwäge einen Moment lang, der heraufsteigenden Panikattacke freien Lauf zu lassen, reiße mich dann jedoch zusammen und eise meinen Blick los, um hinter Jazz die Terrasse zu betreten.

Das darf doch nicht … Meine Verwunderung raubt mir den Atem. Für einen Moment vergesse ich sogar, mich vor dem Schlafzimmer zu gruseln.

Rechts von uns, etwa fünf Meter entfernt, befindet sich eine Baustelle, auf der offenbar noch aktiv gearbeitet wird, denn ein Betonmischer dreht munter seine Runden. Ein Baugerüst ragt an der Fassade des Nachbargrundstücks bis unters Dach – nur keine Arbeiter in Sicht. Vor lauter Schrottplatz-Flair schmiert der Anblick aufs weit in der Ferne liegende Meer leider komplett ab.

Sogar Jazz hat es einen Moment die Sprache verschlagen. Sie öffnet den Mund und schließt ihn wieder, ehe ihr fragender Blick hinüber zur Vermieterin streicht.

»Loro non disturbano!«

Ich verstehe kein Wort. »Bitte?«, rutscht mir heraus, worauf die Signora entnervt mit der Zunge schnalzt.

Auf einmal tut sie so, als könne sie kein Wort Deutsch. Jazz verschränkt die Arme vor der Brust und wirft mir einen Blick zu, der einen breiten Spielraum an Interpretation zulässt. Wie ich sie kenne, bedeutet er so viel wie: Wollen wir sie übers Geländer schubsen und es wie einen Unfall aussehen lassen?

»Das geht ja mal gar nicht …«, setzt Jazz an, doch bevor sie weiteren Einspruch erheben kann, marschiert die Signora im Stechschritt und ohne ein weiteres Wort in Richtung Ausgang, ehe sie beim Vorbeigehen die Schlüssel auf die Küchenablage knallt. »Bella vacanza!«

»Schönen Urlaub« hat sie uns mit auf den Weg gegeben. Das habe sogar ich verstanden. Wenn das mal nicht ironisch gemeint war … Jetzt fällt mir auch ein, an wen sie mich erinnert.

Ich blicke ihr hinterher und versuche, die Kraftausdrücke, die Jazz von sich gibt, einfach zu ignorieren. Von plötzlicher Tapferkeit übermannt – die Tablette scheint noch zu wirken – puste ich mir mit vorgeschobener Unterlippe Luft ins Gesicht. »Nur nicht unterkriegen lassen – egal, was kommt.« Diesen Satz hat mir mein Therapeut vor der Abreise eingebläut. Wäre doch gelacht, wenn ich das nicht auch noch bewältigen würde. Also schleife ich meinen Koffer ins Schlafzimmer, in dem die abgestandene Luft endlich abgezogen ist und von frischer ersetzt wurde. Ich halte mich nicht damit auf, den Koffer auszupacken oder mit Jazz über den vielversprechenden Beginn unseres Urlaubs zu schwatzen, sondern lasse mich rückwärts in das Totenbett mit gelb verblichener Spitzenüberdecke plumpsen und falle nur Sekunden später in einen tiefen Schlaf.

 

Als ich aufwache, ist es beinah dunkel draußen. Eine Silhouette hebt sich vom letzten Licht des Tages vor der Balkontür ab. Augenblicklich bin ich hellwach und schieße mit wild pochendem Herzen hoch.

Ah, es ist nur Jazz. Erleichtert stoße ich den Atem aus. Sie telefoniert. Ihrem Augenrollen nach zu urteilen, kann es nur ihre Mutter sein. »Bee und ich stecken gerade in den Vorbereitungen unseres bevorstehenden Selbstmords, also störe uns bitte nicht.«

Ich kann mir ein Kichern nicht verkneifen. Wo Jazz manchmal ihre Sprüche herhat, ist mir schleierhaft. Ihren Vater kenne ich nicht – wie auch, wenn Jazz ihn schon nicht kennt! –, aber ihre Mutter ist so humorlos, wie man als verlassene Frau mit Kind nur sein kann. Aber wahrscheinlich ist genau das der Grund. Jazz wollte sich noch nie unterordnen, war schon im Kindergarten eine Rebellin und machte sich einen Spaß daraus, ihre staubtrockene Mutter immer wieder aus der Reserve zu locken. Oder besser gesagt: an den Rand des Wahnsinns zu treiben.

»Ja, Mum, ist schon gut, war doch bloß ein Witz.« Jazz schaut in meine Richtung und rollt schon wieder mit den Augen. »Es ist wunderschön hier, nette Leute, tolles Essen, italienisches Flair …«

Hätte ich nicht gewusst, dass Jazz nur ihre Mutter beruhigen will, hätte ich spätestens jetzt an ihrem Geschmack gezweifelt. Na ja, der Urlaub beginnt erst, es kann ja noch werden. Ich will Italien mal noch eine Chance geben.

»Na, hast du deinen Tablettenrausch endlich ausgeschlafen?«, fragt Jazz, nachdem sie ihre Mutter gekonnt abgewürgt hat.

»Wie spät ist es eigentlich?«, halte ich dagegen.

»Kurz vor neun, du hast also satte fünf Stunden ein Nickerchen gehalten.« Jazz setzt sich zu mir auf die Bettkante und sieht mich abschätzend an. »Wie geht es dir?«

»Alles bestens, großes Indianerehrenwort. Was hast du denn die ganze Zeit gemacht?«

»Ich habe ein wenig die Gegend erkundet, uns ein Auto gemietet und war einkaufen.«

»Wow, ich bin beeindruckt. Dein organisatorisches Talent kommt auch im Urlaub voll zum Einsatz.«

Jazz strahlt selbstzufrieden. »Man tut, was man kann. Dafür machst du die besten Macarons und Biskuitrollen aller Zeiten … die mir schon zu einigen Pfunden verholfen haben.«

»Jetzt übertreib mal nicht. Du isst in einem Jahr so viel Süßes wie ich in einer Woche.«

»Ich stehe halt mehr auf Herzhaftes, weißt du doch.« Ein zweideutiges Grinsen legt sich auf ihr Gesicht, ehe sie fortfährt. »Trotzdem schmeckt alles, was du machst, einfach nur köstlich, selbst ich kann nicht widerstehen. Apropos Essen, ich hab mittlerweile einen Mordshunger, aber ich wollte auf dich warten. Zieh du dich in Ruhe um und mach es dir gemütlich, ich bereite derweilen das Abendessen zu«, sagt sie, springt auf und ist weg.

Kopfschüttelnd blicke ich Jazz hinterher, wie sie um die Ecke verschwindet. Unterschiedlicher als wir beide können Freundinnen wirklich nicht sein. Aber vielleicht macht das gerade unsere Freundschaft aus. Ihre offene, sympathische Art kommt ihr auch in ihrem Job als Guest Relation Manager zugute. Sie nimmt nie ein Blatt vor den Mund, aber die Leute mögen sie trotzdem – oder gerade deswegen. Ich dagegen arbeite im gleichen Fünf-Sterne-Hotel zurückgezogen in der Patisserie, wo mich nie ein Gast zu Gesicht bekommt, was auch gut so ist. Hätte Jazz vor zwei Jahren nicht ihren Chef bequatscht, mir einen Praktikumsplatz zu geben, würde ich wohl heute noch und bis ins Rentenalter in meinem Ausbildungsbetrieb versauern – einer kleinen Dorfkonditorei, in der ich hauptsächlich die verhassten Donauwellen und Schwarzwälder Kirschtorte herstellte. Mittlerweile bin ich fest im Hotel angestellt und nach Berlin gezogen, das Beste, was ich machen konnte – weit weg von meiner Mutter, hinein in die Anonymität der Großstadt und ganz in die Nähe von Jazz. Ich seufze leise und mein schlechtes Gewissen plagt mich, als ich an meine Kollegin Franzi denke, die den Laden jetzt allein schmeißen muss. Aber sie ist tough, sie wird es schon packen. Meist kommt sie erst richtig in Schwung, wenn viel los ist. Wir stehen uns nicht sonderlich nahe, weil ich abgesehen von Jazz niemanden an mich heranlasse, aber sie ist okay, weil sie das akzeptiert und mich in Ruhe lässt.

Ich schlüpfe in eine kurze Schlabberhose, ziehe mir ein Sweatshirt über und gehe dann zu Jazz in die Küche, die gerade dabei ist, einen Teller abwechselnd mit Tomaten- und Mozzarellascheiben zu belegen.

Es duftet köstlich, als ich die frischen Basilikumblätter fein hacke und über unsere Vorspeise verteile.

»Wie wär’s mit ein bisschen Musik?«, fragt Jazz, während sie ihr iPhone aus dem Rucksack herausfischt.

»Hervorragende Idee, dann geht uns das Arbeiten leichter von der Hand.« Ich zwinkere ihr zu, als »Je ne parle pas français« von Namika ertönt. Ich liebe dieses Lied, es klingt einfach nach Sommer.

Jazz schneidet das Ciabatta-Brot auf, und ich lege den italienischen Käse und die Salami auf den Teller, während wir zusammen lauthals mitgrölen.

»Eigentlich müssten wir den Song ja auf Italienisch singen«, sage ich kauend und schiebe noch ein Stück Mailänder hinterher. »Wenn ich nur wüsste, wie das heißt.«

»Ich suche dir einen süßen Italiener, der wird dir die Sprache schon beibringen.« Jazz zeigt mir ihr ausgekochtes Lächeln, das sie immer aufsetzt, wenn sich gerade eine Idee in ihrem Kopf verankert hat.

Ich schicke ihr einen warnenden Blick. »Untersteh dich! Wenn überhaupt, dann suche ich mir selbst einen!«

Jazz grinst verschlagen. »Ach ja? Seit wir uns kennen – und das sind genau neunzehn Jahre – hast du noch keinen einzigen Kerl angesprochen, der dir gefallen hat, geschweige denn geküsst. Das werden wir in diesem Urlaub ändern.«

»Erstens: Ich habe schon mal geküsst und zwar auf der ersten und letzten Party meines Lebens, zu der du mich mitgeschleppt, dann abgefüllt und neben einem Jungen mit etwa gleichem Alkoholpegel auf die Couch verfrachtet hast.«

Jazz lacht laut auf. »Ach ja, die Geschichte hatte ich fast verdrängt. Aber der hat dir doch nicht wirklich gefallen, oder? Ich meine, er hatte sein Haar mit Gel gescheitelt und trug zusätzliche noch eine Nerdbrille … «

»Halt die Klappe!« Ich kichere leise. Bei dem Gedanken an dessen träge, nasse Zunge dreht sich mir heute noch der Magen um. »Ich darf ja wohl noch selbst entscheiden, wer mir gefällt und wen ich anspreche.«

»Süße, da der letzte Punkt in diesem Leben nie eintreten wird, muss ich das für dich in die Hand nehmen. Wenn nicht ich, wer dann? Oder möchtest du ewig allein bleiben? Davon wirst du mich nicht abbringen, denn das steht in diesem Urlaub auf meiner To-do-Liste ganz oben.«

In Jazz-Manier rolle ich die Augen und stelle die Musik lauter. Soll sie doch planen, was sie will. Ich werde sicher nicht mehr auf einen ihrer Verkupplungsversuche eingehen. Auf dem Balkon lassen wir den bisherigen Ablauf unserer Reise Revue passieren und halten uns dabei vor Lachen die Bäuche. Solange man noch lachen kann, ist alles gut. Meine Ängste habe ich auf Eis gelegt, ich hoffe, dass sie morgen nicht gleich wieder auftauen. Meine einzige Befürchtung ist, dass ich die ganze Nacht hellwach liege, da ich ja nun schon vorgeschlafen habe. Jazz meint, nach zwei Flaschen Rotwein und etlichen Niederlagen gegen sie beim Backgammon werde ich schon ermüden.

Diese Hoffnung zerfällt umgehend zu Staub, als uns die ersten Mücken malträtieren.

»Verdammter Mist, damit hab ich nun gar nicht gerechnet«, jammert Jazz und kratzt sich die Beine. »Die werden uns lynchen, wir hatten den ganzen Abend die Balkontür offen und das Licht der Nachttischlampe an.«

»In der Bruchbude gibt es nicht mal eine Moskitotür«, nöle ich und erledige lässig einen Blutsauger, der gerade im Begriff war, mir seinen Rüssel in den Unterarm zu bohren. »Hätte die heimtückische Ursula uns ja auch vorwarnen können.«

»Wer bitte?« Jazz verzieht verwirrt das Gesicht.

»Findest du nicht, dass die Signora eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Meerhexe aus Arielle hat?«

Jazz kichert. »Jetzt, wo du es sagst. Wahrscheinlich war das ihre nachträgliche Rache, weil sie auf uns warten musste.« Ihre Augen weiten sich, als hätte sie gerade eine Wahnsinnsidee durchzuckt. »Ich habe eine Flasche Grappa im Küchenschrank gesehen, vielleicht kann die Abhilfe schaffen.«

Ich betrachte Jazz aus dem Augenwinkel und frage mich, ob sie während meines komatösen Nickerchens zu lange in der Sonne gelegen hat. »Was willst du denn damit? Denkst du, dein besoffener Zustand schreckt sie ab?«

Jazz stöhnt ostentativ und verdreht die Augen. »Nein, du Dummerchen, ich wollte mich mit dem Fusel nicht betrinken, sondern meine Haut einreiben, dann machen die Biester angeblich einen Bogen um einen.«

»Wenn das so ist, her damit.«

Nach kurzer Katzenwäsche und nachdem wir uns von oben bis unten mit dem Zeug eingeschmiert haben, schließen wir die Schlafzimmertür und inspizieren die Wände genau nach den kleinen Mistviechern.

Nichts zu sehen. Vielleicht haben wir Glück, und sie haben bereits Reißaus genommen.

Drei Sekunden, nachdem wir unsere Nachttischlampen ausgeknipst haben, ertönt ein leises Surren. Ich weiß jetzt schon, worauf das hinausläuft, ich kenne diese Taktik: Die Moskitos werden uns so lange an der Nase herumführen, bis wir erschöpft sind und uns willenlos von ihnen aussaugen lassen.

Schon nach kurzer Zeit stellt sich heraus, dass der Alkohol genau das Gegenteil von dem bewirkt, was wir uns erhofft haben. Die Mücken sind wild. Aufgestachelt. Und erbarmungslos. Sie sehen nur noch Rot, fliegen Amok und stechen ziellos auf uns ein.

Alle drei Minuten passiert folgendes: Licht an. Wilde Schimpftiraden. Genaues Untersuchen der Wände, das ergebnislos verläuft. Licht wieder aus.

 

Nach einer Stunde dreht Jazz durch. Sie knipst ihre Nachttischlampe an und schlägt brüllend mit zwei Kissen in den Händen wahllos um sich. Eins ist klar: Wer hier ein Zimmer ohne Moskitotür, geschweige denn Netz, geschweige denn Gitter, und mit dunklen Möbeln vermietet, führt nichts Gutes im Schilde. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass der perfide Plan dahintersteckt, arglosen Touristen den Urlaub zu vermiesen.

Mich würde es nicht wundern, wenn Ursula, die Heimtückische, eine Kamera installiert hätte und uns jetzt in unserer Not beobachtet.

O nein, bitte nicht! In einer plötzlich paranoiden Anwandlung blicke ich gehetzt um mich, untersuche jede der vier Ecken aufs Genaueste. Springe dann aus dem Bett und taste den Schrank nach dem vermeintlichen Guckloch ab. Meine Angstneurosen sind wirklich das Einzige, worauf ich mich verlassen kann.

»Was machst du da?«, fragt Jazz völlig außer Atem, nachdem sie wie wild auf der Matratze herumgehüpft ist und die Kissen wie Handgranaten durch den Raum gefeuert hat.

Dann breche ich in Tränen aus. Das ist zu viel des Guten. Hemmungslos schluchze ich drauflos, bis mich Jazz in den Arm nimmt und mir mit den Worten »Alles wird gut« beruhigend über den Rücken streicht.

Kapitel 3 – La vita è bella

Irgendwann muss ich dann wohl doch noch ein paar Stunden Schlaf gefunden haben, denn ich schrecke hoch, als ein Bohren mich jäh aus meinen Träumen reißt. Mir kommt es vor, als hätte ich ganze drei Minuten geschlummert. Ich blinzle auf meine Armbanduhr auf dem Nachtisch, die verrät, dass es erst kurz nach acht ist.

Was soll das? Was für eine verdammte Scheiße ist da draußen los? Jazz schläft neben mir den Schlaf der Gerechten. So schnell kann sie nichts aus der Ruhe bringen, da sie sich beim Zubettgehen immer Ohropax in ihr Hörorgan stöpselt und somit jegliche Konversation unterbindet, was mich irgendwie ärgert, weil sie damit alleinige Bestimmerin ist, bis wann ich sie an meinen Gedanken teilnehmen lassen darf. Wutentbrannt springe ich aus dem Bett und stampfe zur Balkontür. Mit Schwung öffne ich sie, was mir wider Erwarten besser gelingt als der heimtückischen Ursula.

Ich werde mit einem fröhlichen »Buongiorno« von drei Bauarbeitern begrüßt, die auf dem Gerüst des Nachbarhauses stehen und mich erwartungsvoll angrinsen. Einer von ihnen lässt seinen Blick an mir hinunterwandern, was mich veranlasst, ebenfalls an mir hinabzuschauen.

Ich trage ein rosafarbenes Snoopy-Unterhemd mit Spaghettiträgern, das einen Blick auf meinen Schlüpfer aus Feinripp zulässt, der meine rubensgleichen Oberschenkel besonders gut zur Geltung bringt. Mit weit aufgerissenen Augen wandert mein Blick wieder hinauf, ehe ich, begleitet von einem schrillen Schrei, zurück in die wohltuende Sicherheit des Gruselzimmers stürze.

Erwacht durch meinen hysterischen Anfall setzt Jazz sich auf und wischt sich benommen den Schlaf aus ihren Augen. »Welche deiner Phobien ist denn jetzt aus dem Ruder geraten?«, fragt Jazz gähnend, während sie sich die Stöpsel aus den Ohren pfriemelt.

»Die Bauarbeiter-liegen-auf-der-Lauer-Phobie«, antworte ich noch völlig außer Puste.

Jazz wirkt schlagartig hellwach. »Die bitte was? Sag bloß, die haben uns ins Visier genommen?«

»So könnte man es auch ausdrücken«, sage ich und fische eine Shorts aus meinem Koffer. »Die warten nur darauf, bis wir auf den Balkon treten, wo wir ihren lüsternen Blicken ausgeliefert sind.« Hastig ziehe ich den Reißverschluss meiner Hose hoch und schlüpfe in meine quietsch-rosafarbenen Plastikclogs.

Jazz starrt sekundenlang entgeistert auf meine Schuhe und presst dann die Lippen aufeinander, als hätte sie Mühe, ein Kichern zu unterdrücken. »Hattest du diese Latschen gerade auch an? Dann wundert mich nicht, dass sie dich angestarrt haben.«

»Wieso, gefallen sie dir etwa nicht?«, frage ich in leicht beleidigtem Tonfall.

»Sagen wir’s mal so: In der Altersgruppe von vier bis sechs wärst du mit den Tretern eine echte Stilikone.«

Ich unterdrücke den Impuls, laut loszuprusten, und boxe ihr stattdessen kräftig in den Oberarm, sodass sie kurz schwankt. »Kann ja nicht jeder so einen erlesenen Geschmack haben wie du.«

Jazz zuckt gespielt hochnäsig die Schultern, ehe sie sich abwendet. »Na, dann werde ich mal schauen, was da draußen los ist.«

Meine Freundin kennt da nichts. In ihrem schwarzen Babydoll aus Seide stapft sie barfuß durch die Tür auf den Balkon.

Ich luge um die Ecke. Das kann ich mir unmöglich entgehen lassen.

Die Bauarbeiter sind momentan alle beschäftigt und drehen uns den Rücken zu.

»Buongiorno«, trällert Jazz im höchsten Tremolo und lenkt so die Aufmerksamkeit auf sich.

Fast gleichzeitig drehen sich alle um. Einer von ihnen nimmt seinen Bauhelm ab und kratzt sich verlegen am Kopf, der neben ihm gibt einen anerkennenden Pfeiflaut von sich. »Buongiorno, Signorina, come stai? «

»Grazie, tutto bene«, antwortet sie.

Ich staune, wie locker ihr die Wörter über die Lippen gehen.

Ein Schwall an italienischen Sätzen dringt nun zu uns herüber, doch das war’s dann auch schon mit dem Small Talk, weil wir kein Wort verstehen. Jazz gibt nichts mehr von sich, wir lächeln nur und zucken die Schultern.

Irgendwann verlieren die Männer das Interesse und widmen sich wieder ihrer Arbeit.

»Siehst du, die sind wir los«, meint Jazz, als einer von ihnen den Presslufthammer zum Einsatz bringt.

»Ich kann mir nicht helfen«, brülle ich gegen die Hintergrunduntermalung an, »aber meine Begeisterung über die Baustelle hält sich dennoch in Grenzen.«

»So geht es definitiv nicht.« Jazz schüttelt den Kopf. »Hilft alles nichts, wir müssen uns eine neue Unterkunft suchen.«

Ich blicke ihr hinterher, als sie im Gruselzimmer verschwindet. »Was hast du vor?«

»Wart’s nur ab«, dringt ihre gedämpfte Stimme zu mir herüber, ehe ich mir die Ohren zuhalte. Dieser Baulärm ist wirklich unerträglich. Bisher war der Urlaub der reinste Horror. Eigentlich müsste ich es locker sehen, denn schlimmer als jetzt kann’s nicht mehr werden. Ich stoße einen tiefen Seufzer aus und lasse mich von Jazz in die Ecke des Balkons delegieren.

»Für Urlaubsbilder ist nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt«, sage ich griesgrämig in die plötzliche Stille des pausierenden Bohrers hinein und starre auf ihr Handy, das sie bereits in Position bringt.

Ich stöhne theatralisch und rolle mit den Augen. »Na gut, wenn’s sein muss, vielleicht können wir irgendwann sogar darüber lachen.« Ich hefte mir ein Lächeln ins Gesicht und bringe mich mit einem Ellbogen, auf die Balkonbrüstung gestützt, in Position.

»Nicht doch, Bee. Guck mal so niedergeschlagen, wie es geht, das kannst du doch sonst so gut.«

Ich runzele die Stirn. »Wieso das denn?«

»Manchmal bist du wirklich die Begriffsstutzigkeit in Person. Ich schicke dem Veranstalter Fotos von unserem Balkon, um die Unterkunft zu reklamieren. Dann müssen sie uns etwas anderes dafür anbieten. Das hier ist doch eine Zumutung, so möchte ich nicht mal gratis meinen Urlaub verbringen. Wenn du nun aber freudestrahlend in die Kamera blickst, glauben sie, dass wir hier Spaß haben, und fragen sich womöglich, wo denn nun eigentlich unser Problem liegt.«

Wo sie recht hat … Also lasse ich die Schultern hängen und setze das niedergeschlagenste Gesicht auf, das ich zu bieten habe. »So richtig?«

»Perfekt! Wenn sie jetzt kein Mitleid mit uns haben, dann weiß ich auch nicht …«

Wir beschließen, nicht länger in der Gruselwohnung abzuhängen. Nachdem wir unsere Strandtaschen gepackt und ein paar Panini mit Mortadella, Mozzarella und Rucola vorbereitet haben, machen wir uns auf zum nächstgelegenen Strand. Der ist Gott sei Dank nicht weit von unserer Unterkunft entfernt, und so laufen wir schon nach wenigen Minuten die Treppen zum Meer hinunter.

Der harzige Geruch von Pinien strömt uns entgegen. Ich atme tief ein. Die anliegenden Grundstücke liegen traumhaft, jedoch wirken sie vom Weg ausgesehen recht verwildert. Ein Maunzen ertönt, und wir werfen einen Blick über die von Bougainvillea überwucherte Mauer. Drei Katzenbabys wälzen sich dort auf der Wiese und zaubern uns ein »Och-sind-die-süß«-Lächeln ins Gesicht. Als wir uns schließlich von ihrem Anblick losreißen können und weiterlaufen, erblicken wir vor uns das Meer.

Ist das schön! Seufzend halte ich inne. Ein Traum! Das glasklare Wasser glitzert in der Sonne. Dieser Anblick ist zumindest eine kleine Entschädigung für die letzte Nacht. Mit aneinandergereihten Sonnenliegen bestückt führt ein langer Steg über den Kiesstrand zu einem kleinen Lokal.

Jazz schiebt ihre Sonnenbrille in ihr welliges Haar hinauf und schenkt mir ein Lächeln. »Heute lassen wir es erst mal gemütlich angehen.« Ihr Blick gleitet zurück aufs Meer. »Ist es hier nicht wundervoll?«

»Ja, das ist es«, seufze ich zufrieden. »Einfach herrlich!« Auf einmal bin ich verliebt. Verliebt in den Sommer, verliebt in das Meer, und am allermeisten bin ich verliebt in Italien.

Nachdem wir ein schönes Plätzchen unter einem Sonnenschirm ergattert haben, lehne ich mich zurück in den Liegestuhl und schließe die Augen. Die vom Salz durchzogene Brise streichelt meine Haut. Es ist einfach nur angenehm. Das Heranrauschen der Wellen ist wie Musik in meinen Ohren und beruhigt mich. »La vita è bella«, flüstere ich und nicke ein.

 

Iiiih, was ist denn das? Etwas Nasses hängt mir ins Gesicht und tropft mir auf die Nase. Blinzelnd öffne ich die Augen.

Jazz sitzt auf meiner Liege und beugt sich so tief zu mir hinab, dass mich ein paar ihrer feuchten Strähnen im Gesicht kitzeln.

»Hey, was soll das?«, murmle ich mit vom Schlaf angerauter Stimme.

»Es wird Zeit für eine kleine Erfrischung!«, ruft Jazz aufgekratzt. »Das Wasser ist herrlich, das solltest du dir nicht entgehen lassen.«

Missmutig blicke ich auf das türkisfarbene Meer vor mir. Eigentlich ist mir gar nicht danach zumute, dennoch quäle ich mich aus meiner Liege hoch und tapse die Treppe zum Strand hinunter.

Das Wasser ist frisch, doch wärmer als gedacht. Es umhüllt meine Knöchel und schwappt auffordernd gegen mein Schienbein. Ist ja gut, ich gehe ja schon. Todesmutig wage ich mich noch ein paar Schritte vorwärts, bis mir das Wasser zu den Hüften reicht, und lasse mich dann hineingleiten. Nach ein paar hektischen Schwimmzügen gewöhnt sich mein Körper an die Temperatur, und ich genieße die Erfrischung in vollen Zügen. Ich schmecke Salz auf meiner Zunge und atme die herrlich frische Seeluft ein. Hach, ist das schön! Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen entledige ich mich des Inhalts meiner vollen Blase. Dabei fällt mir auf, dass ich zum ersten Mal im Mittelmeer schwimme. Ja, bisher war ich nur an der Ostsee, sogar schon einmal an der Nordsee auf Amrum. So ein großer Unterschied besteht gar nicht, bis auf den höheren Salzgehalt – und dass das Wasser hier viel klarer ist. Sicherlich gibt es hier auch ganz andere Fischarten, zum Beispiel …

… Haie?

Mein Herz macht einen Satz und verfällt in einen ungesunden Rhythmus. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass Haie von Urin angelockt werden. O Gott! Bitte nicht! Mir stockt der Atem, ehe ein lautes Kreischen sich meiner Kehle entringt. Ich sehe den weißen Hai bildlich vor mir, wie er sein Maul aufreißt, seine rasiermesserscharfen Zähne in meine Oberschenkel schlägt, Haut und Fleisch bis zu den Knochen zerfetzt und ich in einer Wolke aus Blut qualvoll ertrinke. Während sich das angewärmte Nass um mich herum verteilt, rudere ich von Panik getrieben wie wild mit den Armen. Lieber Gott, hilf mir, ich will noch nicht sterben! Wasser spritzt auf und mir ins Gesicht, bis ich merke, dass ich schon längst wieder stehen kann. Als ich die Steine unter meinen Füßen spüre und mich aufrichte, reicht mir das Wasser gerademal bis zum Po.

Keuchend und am Rande eines Nervenzusammenbruchs erreiche ich das rettende Ufer, wo ich von einer aufgeregten Meute Italiener empfangen werde.

Jazz mustert mich mit vor der Brust verschränkten Armen. »Was ist passiert? Ist dir der Gedanke gekommen, dass Nessie, das Seeungeheuer, auch Urlaub auf Ischia machen könnte?«

»Sehr witzig!« Ich spüre, wie mir Schamesröte ins Gesicht schießt. So viel Aufmerksamkeit bin ich einfach nicht gewöhnt. Dass Jazz meine Ängste auch immer so ins Lächerliche ziehen muss. »Ich hatte das Gefühl, ein Hai wäre in der Nähe«, verteidige ich mich mit gesenkter Stimme. Muss ja nicht jeder mithören, was der eigentliche Grund meiner Panikattacke war, denn irgendwie schäme ich mich wegen meines hysterischen Verhaltens.

Aufgeregtes Getuschel brandet auf, sobald ich mich an den Umstehenden vorbeidrücke, als würde der Auflauf rein gar nichts mit mir zu tun haben.

Ein Mann mit Schnauzer und Haarkranz fasst mich im Vorbeigehen an der Schulter und befeuert mich mit italienischen Wörtern. Abgesehen von »Medusa« verstehe ich nur Bahnhof.

Ich wäge kurz ab, ob ich seine Quallen-Theorie bestätigen soll, um nicht ganz so blöd dazustehen, entschließe mich aber dann dagegen. Schließlich will ich anderen durch meine Phobie nicht den Urlaub versauen. Vehement schüttle ich den Kopf. »No medusa!«

Plötzlich schlägt eine Idee wie ein Blitz in meinen Kopf ein. »Krampf. Horrible Krampf!« Mit Leidensmiene zeige ich auf meine Wade.

Die Umstehenden nicken verstehend und bedenken mich mit mitleidigen Blicken, ehe sie sich auf ihre Liegen zurückziehen.