Territorium ist überall - Samy Molcho - E-Book

Territorium ist überall E-Book

Samy Molcho

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Beschreibung

Das große Alterswerk des legendären Menschenverstehers

Jeder kennt das: Wir sitzen in der S-Bahn, und plötzlich setzt sich jemand neben uns, obwohl viele andere Plätze frei sind. Uns stört dieses Verhalten. Warum rückt uns jemand so nah? Wir fühlen uns unwohl, vielleicht ärgern wir uns sogar. Denn: Jeder Raum, den wir als unseren eigenen Bereich empfinden, wird für uns zum Territorium, das wir verteidigen. Konflikte und Spannungen sind die Folge. Genauso gereizt reagieren wir auf Eindringlinge in andere persönliche Bereiche: unsere Kompetenz, unser Wissen, unseren Glauben, unsere Hobbys oder unsere Ansichten.
Samy Molcho – einer der bekanntesten Körperspracheexperten weltweit – zeigt, dass territoriale Grenzen und Konflikte nicht nur auf physische Gebiete beschränkt sind, sondern sich auch auf unsere geistige und gedankliche Welt ausdehnen. Indem er uns bewusst macht, wie zentral »Territorium« für unsere Verfasstheit als Menschen ist, gibt er uns ein faszinierendes Mittel an die Hand, um unser Verhalten als Individuen, als Gemeinschaft, als ganze Gesellschaften, ja sogar bis hin zu Glaubenskriegen und internationalen Konflikten zu verstehen. Die ganze Welt ist Territorium, vom privatesten Umfeld bis zum globalen Kräftemessen. – Informativ, voller überraschender Erkenntnisse und tiefer Einsichten!

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Seitenzahl: 221

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Jeder kennt das: Wir sitzen etwa am Gate im Flughafen und plötzlich setzt sich jemand direkt neben uns, obwohl auch noch andere Plätze frei sind. Uns stört dieses Verhalten. Warum rückt uns jemand so nah? Der Grillgeruch aus Nachbars Garten dringt über den Zaun oder der Nachbar beobachtet uns hinter dem Vorhang. Auch das empfinden wir als Überschreiten einer Grenze. Wir fühlen uns unwohl, vielleicht ärgern wir uns sogar. Jeder Raum, den wir als unseren eigenen Bereich ansehen, wird für uns zu einem Territorium, das wir verteidigen. Übertritt ein anderer die Grenze dazu, ist ein Konflikt vorprogrammiert. Das betrifft übrigens nicht nur räumlich sichtbare, physische Territorien, sondern auch unsichtbare, geistige Territorien: Wenn ein anderer zum Beispiel unsere Fachkenntnisse anzweifelt oder unsere Kultur und unsere Sitten verletzt, sind das Grenzüberschreitungen geistiger Natur, die wir ebenso wenig dulden können wie das Überschreiten physischer Grenzen.

Samy Molcho macht uns bewusst, wie zentral der Begriff Territorium für uns Menschen ist und wie sehr wir uns damit – oft ganz unbewusst – identifi¬zieren. Er gibt uns mit diesem Wissen ein faszinierendes Mittel an die Hand, sowohl das Verhalten Einzelner als auch ganzer Gemeinschaften und Gesellschaften besser zu verstehen. Territorium ist überall – im privatesten Umfeld wie auch beim globalen Kräftemessen. Samy Molcho, 1936 in Tel Aviv geboren, widmete sich nach seiner internationalen Karriere als Pantomime zunächst der Bewegungslehre und der Regiearbeit. Damit vertiefte sich seine Affinität zum Körper und dessen Ausdruck. Bekannt für seine Analyse der Körpersprache, wecken seine Vorträge, Seminare und Bücher zum Thema (u.a. Körpersprache der Kinder, Körpersprache des Erfolgs, Alles über Körpersprache) nach wie vor allgemein großes Interesse und rücken Körpersprache ins Bewusstsein vieler Menschen. 2007 erschien seine Autobiographie ... und ein Tropfen Ewigkeit. Mein bewegtes Leben. Samy Molcho ist emeritierter Professor an der Universität für Musik und darstellende Kunst am Max Reinhardt Seminar in Wien.

Samy Molcho

Territorium ist überall

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2021 Ariston Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Maria Koettnitz

Umschlaggestaltung: Martina Eisele Grafikdesign, München,

unter Verwendung eines Fotos von © Nuriel Molcho

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-27005-6V001

Vorwort oder warum ich die Idee zu diesem Buch hatte

Während ich als Pantomime tätig war, war ich den größten Teil meiner Zeit auf der ganzen Welt unterwegs. Auf meinen unzähligen Tourneen habe ich viele territoriale Grenzen überquert. Ich war auf fast allen Kontinenten der Welt, bin von Land zu Land und von Stadt zu Stadt gereist.

Dabei war es in den Sechzigerjahren nicht so einfach wie heute, Grenzen zu überqueren. Für viele Länder war ein Visum nötig, auf das man oft wochenlang warten musste, oder man hatte bei der Einreise unzählige Formulare auszufüllen. Jedenfalls musste man den Zweck seiner Reise sehr genau definieren und begründen. Tourismus war damals – wohl auch deswegen – nicht so populär wie heute. Heute reisen wir ganz selbstverständlich privat wie geschäftlich von Land zu Land und überqueren Grenzen – oft ohne uns ausweisen zu müssen oder überhaupt zu realisieren, dass wir eine Staatsgrenze überschreiten. Für viele Staaten ist Tourismus zur Haupteinnahmequelle geworden. Es ist völlig normal geworden, sich kreuz und quer durch die Welt zu bewegen.

Aber zurück zu meiner Zeit, als ich auf Welttournee war. Bei jeder Überquerung einer Grenze war mir klar, dass ich nicht nur physische territoriale Gebiete bereise, sondern mich auch von einem kulturellen Territorium zum anderen bewege. Wenn wir im alltäglichen Sprachgebrauch von Territorium sprechen, meinen wir üblicherweise politisch definierte Gebiete wie Staaten, Städte oder Ortschaften. Auch wenn wir im Lexikon nachschauen – oder heute eher Suchmaschinen im Internet befragen –, bezieht sich die Definition von Territorium überwiegend auf politisch definierte Gebiete.

Aber ist wirklich nur das Territorium?

In meinem Lebensalltag habe ich so viele Situationen erlebt, in denen Menschen ein territoriales Verhalten zeigten, und zwar so, wie wir es in Zusammenhang mit politisch festgelegten Gebieten kennen. Doch es ging und geht dabei oft gar nicht um physische Gebiete.

Mit diesem Buch möchte ich Sie auf eine kleine Reise mitnehmen. Ich lade Sie ein, mich und meine Gedanken zu begleiten, so, wie ich meinen Gedankenfluss erlebe, so, wie ich den Alltag ohne Filter sehe. Es ist weder meine Absicht, für alle angesprochenen Themen Lösungen anzubieten, noch soll dies eine akademische, wissenschaftlich untermauerte Arbeit sein.

Folgen Sie mir einfach in meine Gedankenwelt. Da ist vieles spontan, oft sprunghaft und fast immer assoziativ. Das erklärt sich am besten so: Wenn ich spazieren gehe, kann es passieren, dass meine Gedanken sich mit einem Thema beschäftigen, meine Augen aber etwas registrieren, was in meiner Umgebung passiert und mich von meinen ursprünglichen Gedanken ablenkt. Ich nehme beispielsweise ein Kind wahr, das gerade durch Schreien versucht, seine Eltern zu überzeugen, ihm Eiscreme zu kaufen. Schon wandern meine Gedanken zu meiner Großmutter, die mir immer ein Eis gekauft hat – auch ohne, dass ich schreien musste. So ist auch dieses Buch verfasst. Ein Gedanke bringt mich zum nächsten, und schon bin ich wieder bei einem anderen Thema. Ich hoffe, Sie verzeihen es mir, wenn Ihnen das manchmal sprunghaft erscheint.

Gedankensplitter und Beobachtungen, die ich in den letzten Jahren gesammelt habe, regten mich letztendlich zu diesem Buch an. Es ist ein Mosaik geworden, mit dem ich hoffe, Ihnen am Ende eine neue Sichtweise zu vermitteln – über das, was uns im Alltag überall begegnet und uns nicht immer bewusst ist. Vielleicht gewinnen Sie eine neue Perspektive, die Ihnen einen anderen Blick auf unser Verhalten und unser soziales Leben ermöglicht.

Meine Gedanken und Beobachtungen bewegen sich immer weiter vorwärts. Das erinnert mich an ein Gedicht des großen libanesisch-US-amerikanischen Malers, Philosophen und Dichters Khalil Gibran über die Sorge und Angst der Flüsse. Sie können nur in eine Richtung fließen, immer nur weiter nach vorne zum Meer hin. Jeder Fluss hat trotzdem seinen eigenen Charakter sowie seine eigene Art. Er wird weitergetrieben und kann nicht mehr zurückfließen. Am Ende bilden alle Flüsse zusammen ein neues großes Ganzes, einen Ozean. Genauso verhält es sich mit meinen Gedanken. Sie fließen weiter und weiter in eine Richtung und ergeben zum Schluss meinen Gedankenozean, das Gesamtbild dieses Buches – Territorium ist überall.«

Während ich dieses Buch geschrieben habe, hat ein Virus namens Corona unser Leben und unseren Alltag stark verändert. Neue Spielregeln im sozialen Umgang miteinander beeinflussen vorübergehend unser Leben. Wir halten mehr Distanz zueinander, tragen Masken und sind zum Teil von Angst getrieben. Ich hoffe, dass das alles bald vorbei ist. Im Kern ändert aber dieses Virus nichts an dem, was unserem territorialen Verhalten zugrunde liegt. Daher werden Sie in diesem Buch auch keinen weiteren Hinweis dazu finden.

Teil I

Die physische Welt

Territorium ist überall – ein paar Alltagssituationen

Ich sitze mit meinem Freund an einem Kaffeehaustisch. Wir trinken etwas und essen eine Kleinigkeit. Kaffeehaustische sind in der Regel nicht sehr groß, allerdings haben wir beide ausreichend Platz für unsere Gläser und zwei kleine Teller. Während wir angeregt plaudern, schiebt mein Freund sein Glas plötzlich einfach von sich weg über die Hälfte des Tisches in meine Richtung. Von diesem Moment an haftet mein Blick auf diesem Glas. Der Freund spricht weiter. Ich versuche, mich auf das zu konzentrieren, was er erzählt, aber irgendetwas stört mich. Mein Blick geht immer wieder zu diesem Glas zurück. Ich bin irritiert: Warum macht er das? Und warum stört mich das überhaupt? Ich brauche ja diesen Platz auf dem Tisch momentan nicht. Trotzdem kann ich mich schwer auf das Gesagte konzentrieren. Meine Gedanken schweifen immer wieder zu diesem Glas. Und dann regt sich ein Impuls in mir. Ich versuche, so zu tun, als ob ich angeregt zuhören würde, und ganz leicht bewegt sich meine Hand in Richtung Glas; ich schiebe es langsam zurück auf »seine« Tischhälfte und bin wieder ruhig und konzentriert.

Warum stört es uns, wenn jemand einen Gegenstand wie ein Trinkglas oder irgendetwas anderes – im Büro vielleicht Papier oder Unterlagen – in unsere Richtung über »seine« Hälfte des Tisches hinausschiebt? In der oben beschriebenen konkreten Situation sind wir noch dazu in einem öffentlichen Raum. Weder mir noch ihm gehört der Tisch. Trotzdem stört es mich. Warum?

Szenenwechsel: Wir sind in einer Firma. Der Boss reißt, ohne anzuklopfen, die Tür ins Büro der Sekretärin auf und wirft ein paar Akten und Papiere auf ihren Tisch. Er murmelt etwas wie »Das ist zu erledigen« und verschwindet wieder in sein Zimmer. Die Sekretärin schaut auf diese Akten und Papiere auf ihrem Tisch, und ihr Blick wandert zur Tür, wo ihr Boss eben verschwunden ist. Dieser Blick ist stechend und böse. Sie ist irritiert. Etwas stört sie. Es ist zwar ihre Aufgabe, Dinge für ihren Chef zu erledigen, aber die eben erlebte Szene stört sie; sie empfindet sie als unangenehm. Sie kann dieses Verhalten ihr gegenüber nicht akzeptieren und es dürstet ihr nach einer kleinen Racheaktion – nicht so richtig schlimm, aber so eine kleine Aktion schwebt ihr schon vor: Aufgaben, die sie »vergisst«, nicht sofort erledigt oder Ähnliches. Damit will sie ihrem Chef zeigen, dass er so etwas nicht machen sollte. Er soll gefälligst ihre Ordnung auf ihrem Schreibtisch respektieren und nicht Staub aufwirbelnd alles durcheinanderbringen. Er kann ihr die Dokumente doch auch in die Hand geben oder fragen, wo er sie hinlegen soll. Aber ist sein rüdes Verhalten der einzige Grund, weshalb sie sich ärgert? Warum fühlt sie sich so gestört?

Eine andere Situation habe ich vor einigen Jahren im Flugzeug erlebt. Damals gab es noch keine festen Sitzplätze, jeder konnte seinen Platz selbst auswählen. Ich steige also in den Flieger ein und suche nach einem geeigneten Platz für mich. Ein Herr sitzt in einer Dreierreihe auf dem Mittelplatz. Den Fensterplatz rechts neben ihm besetzt seine Tasche, den Gangplatz links neben ihm hat sein Mantel eingenommen. Ich stehe da und hätte gern den Gangplatz. Mir ist klar, dass die Plätze neben dem Herrn grundsätzlich frei sind. Also überwinde ich mich und frage: »Verzeihung, ist hier noch frei? Kann ich hier sitzen?« Ich ernte einen strafenden Blick, der mir signalisiert: »Siehst du nicht, ich habe die Plätze doch gerade belegt, also markiert.« Pause – dann reagiert der Herr. Leicht missmutig und etwas in sich hineinmurmelnd nimmt er den Mantel weg, legt ihn zur Tasche rechts neben sich. Ich darf mich auf den Gangplatz setzen.

Im Flugzeug gibt es diese Platzkonflikte heute zum Glück nicht mehr, jeder hat seine Bordkarte mit einem zugewiesenen Sitzplatz. Aber in öffentlichen Wartebereichen, etwa am Gate im Flughafen, erleben wir Situationen wie diese immer noch häufig. Wir ärgern uns dann. Aber ist es wirklich nur ein unhöfliches bis rüdes Benehmen, das uns stört? Oder steckt noch etwas anderes dahinter? Bevor wir dazu kommen, bleiben wir noch bei den Emotionen, die solche Szenen in uns wachrufen.

Emotionen

Solche und ähnliche Fälle, wie ich sie gerade beschrieben habe, kennen Sie sicher auch aus Ihrem persönlichen Alltag. Jemand beansprucht Raum, der eigentlich öffentlich ist und damit allen zur Verfügung steht. Diese Person »kapselt sich ab«, geht quasi auf Tauchstation und ignoriert ihre Umgebung und die Tatsache, dass auch andere Platz brauchen und das gleiche Recht auf Raum haben.

Und? Wie haben Sie sich in so einer Situation gefühlt? Bestimmt hatten Sie ein unangenehmes Gefühl und waren irritiert. Wiederholen sich solche Situationen häufig, stört uns das. Der »Verdrängte«, aber auch der »Verdränger« empfinden es als unangenehm. Und dann kommt es zu Konflikten. Konflikte werden immer von Emotionen begleitet. Auf der Sachebene können wir das Thema klären und Lösungen finden. Auf der Gefühlsebene sind wir unangenehm berührt, gestört oder irritiert. Der Konflikt schwelt also weiter.

Warum ist das so? Warum ärgern wir uns? Warum sind wir irritiert? Machen wir uns ein paar Gedanken darüber, warum wir solche kleinen Alltagsszenen als so störend empfinden. Was passiert da mit uns?

Emotionen entstehen und sind als Tatsachen zu akzeptieren. Sie zu unterdrücken oder gar zu ignorieren, ist keine Lösung. So wie ein Ball voller Luft nicht unter Wasser bleibt – er wird immer wieder zur Oberfläche kommen –, so verhält es sich auch mit Emotionen. Nehmen wir sie aber wahr, akzeptieren sie und gehen ihnen auf den Grund, kommen wir der Ursache unseres Unwohlseins schon einen Schritt näher. Je mehr ich weiß und je mehr Informationen ich über den Grund meines Ärgers habe, umso besser kann ich damit umgehen und das Problem vielleicht sogar lösen. Kenne und verstehe ich den Auslöser oder die Ursache für mein Gefühl, kann ich damit, und mit der Situation an sich, besser umgehen. Entweder kläre ich es direkt mit meinem Gegenüber, oder ich kläre es mit mir selbst, indem ich herausfinde, was es genau ist und warum es mich stört. Die Auflösung des Ärgers in uns selbst ist nur möglich, wenn wir den Grund kennen und uns damit auseinandersetzen.

In den oben erzählten Beispielen geht es um Territorium beziehungsweise territoriale Verletzungen. Aber was ist ein Territorium eigentlich? Und warum stören uns Beeinträchtigungen desselben?

Territorium – was ist das?

Wir kennen den Begriff hauptsächlich als geografische oder geopolitische Einheit: Ein festgelegtes Gebiet, ein Land oder ein Staat sind Territorien. Darüber hinaus wird der Begriff auch in der Tierwelt verwendet, und zwar im Zusammenhang mit dem Revier von Tieren. Auch da geht es um ein bestimmtes Gebiet, in dem sich die Tiere aufhalten, in dem sie leben. Aber bezeichnet der Begriff »Territorium« wirklich nur etwas Physisches? Geht es nicht um noch viel mehr?

Territoriales Verhalten ist ein angeborener Instinkt. Ursprünglich hat dieser Instinkt mit dem nackten Überleben zu tun. Und was mit dem Überleben zu tun hat, ist für uns klarerweise lebenswichtig. Das territoriale Gefühl, der Wunsch, unser Territorium zu verteidigen, ist seit Urzeiten so stark in uns verankert, dass wir dieses Gefühl nicht außer Acht lassen, nicht verdrängen können. Klären wir aber nun, was »Territorium« als erweiterter Begriff bedeutet.

Das lässt sich einfach formulieren: Territorium ist ein Gebiet (nicht nur physisch, sondern auch geistig), das jemand in Besitz nimmt und in bestimmter Art und Weise »markiert«. Andere erkennen dann sofort: Dieses markierte Gebiet gehört X oder Y. Selbstverständlich verteidigt X oder Y dieses Gebiet vor Eindringlingen. Das ist das Grundprinzip, von dem ich ausgehe und das ich in diesem Buch in verschiedenen Ausprägungen behandle.

Machen wir zuerst einen kurzen Ausflug in die Tierwelt. Hier können wir ein paar Grundarten territorialer Markierung gut beobachten. Eine davon ist der Geruch. Die Geruchsdrüsen werden von Tieren an Baumstämmen oder Ästen gerieben und hinterlassen dort eine sehr individuelle Note, eine Duftmarke. Bei uns Menschen ist das nicht viel anders. Mit dem natürlichen Körpergeruch mischt sich heute das Parfum einer Frau oder das Rasierwasser eines Mannes. Je intensiver die Duftnote, desto stärker ist auch die Markierung. Hält sich eine Frau mit einem intensiv duftenden Parfum in einem Raum auf, bleibt ihre Duftmarke dort lange erhalten und ist selbst dann noch wahrnehmbar, wenn sie den Raum längst verlassen hat. Ihre Duftnote überdeckt andere Gerüche und markiert beziehungsweise »besetzt« den Raum, obwohl sie nicht mehr anwesend ist. Männer stehen dem nichts nach, wenn sie ein intensiv riechendes Rasierwasser verwenden oder Zigarren rauchen.

Tiere reiben ihr Fell zur Markierung an allen möglichen Gegenständen und hinterlassen dabei auch kleine Fellreste. Wir Menschen reiben uns heutzutage eher weniger an Mauern oder Türen, aber wir verwenden Gegenstände, die uns gehören, zum Beispiel Kleider, Schuhe, Zahnbürsten oder Ähnliches. Wir lassen die Dinge überall liegen und zeigen so, dass wir da sind. Wir werden noch später auf die Rolle der Markierung in unserem Alltag zu sprechen kommen.

Apropos: An dieser Stelle möchte ich Ihnen eine kleine Geschichte aus meinem Privatleben erzählen, die mir mein eigenes Territorialverhalten im Sinne einer Reviermarkierung zum ersten Mal bewusst gemacht hat. Bei einem Besuch im Berliner Zoo war ich fasziniert vom Verhalten der Menschenaffen. Während ich die Tiere beobachtete, kam der Wärter, um den Käfig zu reinigen. Um diese Arbeit ungestört ausführen zu können, trieb er zunächst alle Affen ins Außengelände. Mithilfe eines Wasserschlauchs reinigte er dann sehr gründlich den gesamten Käfig. Er spülte sehr sorgfältig alle Hinterlassenschaften der Tiere gründlich weg – und damit auch alle Gerüche und sonstige Reviermarkierungen – auch die des Alpha-Affen.

Als der Tierpfleger seine Arbeit beendet hatte, öffnete er die Tür zum Innengehege. Schnell wie ein Blitz stürmte der Alpha-Affe vor allen anderen ins Gehege und sprang sofort von einem Ast zum nächsten. Er vertrieb seine Mitbewohner von ihren Plätzen und zeigte ihnen ganz klar: »Hier bin ich der Boss!« Er markierte jede Ecke im Affenkäfig. Nachdem er allen klargemacht hatte, wer hier die Führung innehat, nahm er auf dem obersten Ast Platz und ließ ganz entspannt den Versuch seiner Lieblingsäffin zu, ihm die Läuse aus dem Fell zu entfernen.

Plötzlich wurde mir klar, dass ich zu Hause ein ähnliches Verhalten an den Tag lege, das ich mir bis dato nie so richtig hatte erklären können. Nein, nein, keine Sorge, ich hüpfe nicht im Garten von Ast zu Ast oder vertreibe meine Mitbewohner. Aber wenn ich nach längerer Abwesenheit, zum Beispiel nach einer Tournee oder einer Seminarreihe, nach Hause zurückkehre, betrete ich Räume, in denen meine Familie in der Zwischenzeit ihren Alltag ohne meine Anwesenheit weitergeführt hat. Und was mache ich dann? Kaum bin ich zu Hause angekommen, renne ich wie von der Tarantel gestochen von einem Zimmer ins andere, mache sinnlos Schubladen auf und zu, ohne etwas Besonderes zu suchen. Danach gehe ich meiner Familie auf die Nerven und meckere, dass gewisse Dinge nicht an ihrem Platz seien.

Vor dem Affengehege im Berliner Zoo fiel es mir wie Schuppen von den Augen: »Ich benehme mich genauso wie dieser Alpha-Affe und markiere mein Territorium.« Unbewusst ärgert es mich vielleicht, dass der Familienalltag auch ohne mich gut funktioniert. Ein Gespräch mit meiner Familie half, die Situation in den Griff zu bekommen. Ich habe mein Verhalten erklärt und gebeten, mich den ersten Tag »von Ast zu Ast« beziehungsweise von Zimmer zu Zimmer toben zu lassen, um ihnen zu zeigen, dass ich wieder da bin. Ich bin schließlich immer noch der Alpha-Affe im Haus ...

Aber warum brauchen wir eigentlich ein Territorium, das wir in Besitz nehmen, markieren und verteidigen? Machen Sie mit mir eine Reise weit zurück in die Geschichte der Menschheit ...

Die Wurzeln reichen sehr weit zurück

Beamen wir uns also in die Zeit der Sammler und Jäger zurück. Zu dieser Zeit wandern wir Menschen umher und suchen uns Lebensräume, in denen es Wasser gibt, in denen wir Nahrung finden und uns sicher fühlen können. Einzelne Menschen und ganze Gruppen setzen sich in Bewegung, um ein gutes Fleckchen Erde zu finden. Findet jemand dann ein gutes Gebiet mit ausreichend und hochwertiger Nahrung für sich und seine Familie oder seine Gruppe, versucht er selbstverständlich erst einmal, dieses Gebiet zu markieren. Damit signalisiert er anderen, dass dieser Platz besetzt ist und dass er ihn vor Eindringlingen von außen verteidigen wird. Will noch jemand dieses Territorium für sich beanspruchen, muss er entweder kämpfen oder sich zunächst einmal unterordnen. Grundsätzlich werden aber Eindringlinge im gleichen Nahrungsraum nicht gern gesehen. Nahrung ist lebensnotwendig für uns. Haben wir ausreichend Nahrung, können wir eine Familie gründen und uns vermehren. Sobald das Essbare zu Ende geht oder das Jagdgebiet nicht mehr so gut ist, wie es einmal war – je weniger Tiere es gibt, umso schwerer wird die Jagd –, ist es Zeit weiterzuziehen. Wir suchen ein neues Gebiet. Dieses wird erkämpft oder erobert und so in Besitz genommen. Wir markieren seine Grenzen und versuchen, unseren Lebensstil sowie unsere Lebensart im neuen Territorium weiter zu pflegen.

Der Kampf um ein Territorium

Wie ich bereits erwähnte, müssen wir kämpfen, um ein Territorium zu gewinnen, und dann müssen wir es verteidigen. Das bedeutet oftmals wieder Kampf. In der Natur gilt das Recht des Stärkeren. Zumindest sagt das so manche Theorie. Selbstverständlich brauchen wir Stärke, um zu überleben. Aber das heißt nicht – wie diese Theorien das oft vermuten lassen –, dass andere gleich getötet werden müssen. Es gibt noch andere Möglichkeiten, Stärke zu demonstrieren. Der Kampf um ein Territorium ist meist anders als der Kampf während der Jagd um Nahrung. Zuerst findet immer ein Ritual von Imponiergehabe statt. Oft reicht das ja schon, und es kommt gar nicht erst zu einem Kampf. Das Imponiergehabe ist erst mal ein Versuch, den anderen einzuschüchtern. So erkennt er unsere Kraft und sieht, dass wir bessere Chancen haben und er im Kampf vermutlich unterliegen würde. Wir zeigen Stärke und Größe schon in der Hoffnung, dass der Gegner auf einen Kampf verzichten und unsere Dominanz, unsere Herrschaft, akzeptieren wird. Das erspart oft Verletzungen auf beiden Seiten. Verletzungen mindern nämlich die Überlebenschancen, vor allem auf der Seite des eigentlich Überlegenen.

Interessant ist in dem Zusammenhang auch, dass die Eroberung von Territorien und von Jagdgebieten normalerweise Aufgabe der Männer war. Es war immer Männerarbeit, Gebiete zu erobern, zu erkämpfen und zu verteidigen. Deswegen haben Männer einen kräftigeren Körper, sind größer, haben stärkere Muskeln und in der Regel mehr Gewicht als Frauen. Allein schon der Optik wegen: Je größer und stärker der Mann, umso größer ist seine Chance, zu gewinnen und den Gegner allein mit Drohgebärden einzuschüchtern: »Schau, wie groß und wie stark ich bin; es lohnt sich also nicht, mit mir zu kämpfen.« Und es wirkt!

Stellen wir uns mal so eine Begegnung mit Imponiergehabe vor. Was passiert da? Die Akteure stehen breitbeinig da, um einen festen Stand und generell eine bessere Position zu haben. Sie breiten ihre Arme weit aus und brüllen aus voller Kehle. Gut gebrüllt, Löwe! Die starke, laut brüllende Stimme zeigt, wie viel Energie und Kraft jemand hat. Eine tiefere Stimme, ein lauteres Brüllen schüchtert ein. Wer lauter brüllt, hat ein größeres Lungenvolumen, und das heißt, er kann länger und intensiver kämpfen – er hat den längeren Atem.

Ein weiteres Mittel, jemandem zu imponieren, ist das Haar. Es sträubt sich und vergrößert so das Volumen des Körpers. Gleichzeitig bildet es eine kühlende Isolierschicht für den Körper. Bei einem Kampf erzeugt der Körper Wärme und braucht Kühlung. Nicht umsonst heißt es, man müsse »einen kühlen Kopf bewahren«.

Nun hat aber nicht jeder Mann eine Löwenmähne, die sich sträuben kann. Aber es gibt Abhilfe – ein Bart. Der Bart verbirgt die wahre Größe des Unterkiefers und lässt ihn automatisch größer wirken. Ein großer Unterkiefer zeugt von einer besseren und stärkeren Bisskraft. Der Mann wirkt also damit kräftiger.

Vermutlich ist der Bart bei jungen Männern heute deshalb auch so in Mode. Ich glaube, dass ein Bartträger bewusst oder unbewusst einen Kontrapunkt setzt: zur Emanzipation der Frauen und ihrer sozialen Rolle in unserer heutigen Zeit. Frauen werden stärker, Männer auch.

Aber gehen wir wieder zurück in die Urzeit, in die Zeit der Jäger und Sammler.

Haben wir unser Territorium erfolgreich erkämpft oder verteidigt, hat der Unterlegene zwei Möglichkeiten. Variante eins: Er verlässt das Gebiet und sucht sein Glück anderswo, dort vielleicht als Alphatier. Variante zwei: Er ordnet sich unter und erkennt das Recht des Siegers an. Welche Variante gewählt wird, hängt letztendlich von der Persönlichkeit, der Kampfeslust und Kraft des Mannes ab.

Wenden wir uns jetzt einmal von den Männern ab und betrachten die Rolle der Frauen in dieser Zeit. Ihre Aufgabe war es nicht, zu kämpfen. Sie waren Sammlerinnen im Gebiet des Siegers. Sie suchten und sammelten Früchte, Pilze, Wurzeln oder andere essbare Pflanzenbestandteile, denn das war oft die Hauptnahrung. Nicht immer lief dem Mann ein Mammut vor den Speer. Frauen bekamen Kinder und kümmerten sich auch um den Nachwuchs. Deshalb konnten sie auch nur in ihrer unmittelbaren Umgebung Nahrhaftes sammeln.

Sie sind deswegen grundsätzlich kleiner von Statur und verfügen über eine geringere Muskelmasse. Ihre Stimme ist normalerweise eine Lage höher. Warum? Wir haben gerade festgestellt, dass die Nachwuchspflege eine der Hauptaufgaben war. Und wie wir wissen, reagieren Babys positiver auf eine höhere als auf eine tiefere Stimme, wie sie Männer haben. Das ist aber nicht der einzige Grund, weshalb Frauen eine höhere Stimme haben. Bei Gefahr kann sich die höhere Stimme besser durchsetzen – der Hilfeschrei wird eher gehört: »Ich bin in Gefahr! Der Nachwuchs ist in Gefahr!« Die Frau schreit in der Hoffnung, dass der Mann kommt, um ihr zu helfen und den Eindringling einzuschüchtern oder zu verjagen. Und damit wird das Territorium geschützt.

Besitz und Paarung –

was hat das miteinander zu tun?

Gehen wir noch einen Schritt zurück. Wie kommen die Sammlerinnen und die Jäger überhaupt zusammen? Datingplattformen gibt es zu dieser Zeit noch nicht, und im Supermarkt kann man sich auch nicht über den Weg laufen. Also funktioniert es folgendermaßen: Männer erkämpfen und erobern Territorien. Je besser das Gebiet, umso mehr Chancen haben sie, Frauen zu beeindrucken. Sie haben mehr anzubieten, um eine Familie zu gründen und sich fortzupflanzen. Aber weit gefehlt – nicht der Jäger oder das Alphamännchen sucht sich eine Frau. Nein, es ist die Frau, die ihr Alphatier unter mehreren Männern auswählt. Sie prüft sehr genau, ob das Objekt ihrer Begierde ausreichend Nahrung bietet sowie Schutz für sie und ihren Nachwuchs verspricht. Kann der Bewerber mit einem großen, guten und nahrungsreichen Gebiet punkten, ist das schon die halbe Miete.

Jetzt verstehen Sie, warum Besitz für Männer so wichtig war und immer noch ist. Auch wenn wir uns längst aus der Urzeit wegentwickelt haben, ist der Besitz für einen Mann oftmals immer noch wichtiger als eine Frau. Ein gutes Territorium und ausreichend Besitz vergrößern seine Chancen, das beste »Weibchen« zu bekommen. Und sollte was schiefgehen, hat er immer noch den guten Besitz, um eine neue Dame zu beeindrucken. Dazu kommt noch ein weiterer Aspekt: Als Alpha-Mann bekommt er eine gute, gesunde und schöne Frau, was wiederum einen besseren, gesünderen Nachwuchs verspricht – Naturselektion sozusagen. Das ist übrigens heute nicht viel anders.

Was zeichnet aber eigentlich das beste »Weibchen« aus? Welche Eigenschaften zeichnen eine gute Frau aus? Im Prinzip denken wir heute an Eigenschaften wie gut aussehend, klug, sozialverträglich. Und wir schätzen eine gute Zuhörerin, eine gute Gesprächspartnerin. Schönheit spielt dabei – zumindest auf den ersten Blick – eine nicht unwesentliche Rolle. Attraktivität wirkt. In der Natur wird Schönheit übrigens mit Gesundheit gleichgesetzt. Wer gesund ist, wirkt vital, anziehend und damit schön.

Wann gilt ein Mensch als schön? Unser Körper hat zwei Seiten, eine linke und eine rechte. Sie sind von Natur aus nicht gleich. Je ähnlicher beide Seiten sind, umso harmonischer und schöner erscheint uns ein Mensch. Gleichen sich auch beide Gesichtshälften, ist das Gesicht also symmetrisch, empfinden wir es ebenfalls als schön.