The Beatles - Peter Kemper - E-Book

The Beatles E-Book

Peter Kemper

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Beschreibung

Acht Jahre genügten, um Popgeschichte zu schreiben: 1962 feierten die vier Pilzköpfe aus Liverpool mit "Love me do" ihren ersten großen Erfolg, 1970 hatten sie sich derartig zerstritten, dass die wohl einflussreichste Band der Popgeschichte sich auflöste. Die unvergessliche Zeit dazwischen erweckt Peter Kemper zu neuem Leben. Ergänzt wurde der Band für die zweite Auflage u.a. um Forschungen zur Frühzeit in Liverpool und Hamburg oder die Rolle Yoko Onos - etwa bei missglückten Reunuion-Versuchen. Das (auch postume) musikalische Nachleben jedes einzelnen der Fab Four wird bis in die Gegenwart nachgezeichnet.

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Seitenzahl: 214

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Peter Kemper

The Beatles

Mit 10 Abbildungen

Reclam

 

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Umschlagabbildung: Michael Ochs Archives / Getty Images

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2013

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und

RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken

der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN: 978-3-15-960409-1

ISBN der Buchausgabe: 978-3-15-019052-4

www.reclam.de

Inhalt

Der König ist tot, lang lebe der König

Lärm und Liebesdramen in Liverpool

Auf der Reeperbahn nachts um halb vier

»Herzklopfen von Verliebten über Verstärker«

Hilfe, wir haben einen Orden!

Von Gummiseelen, Gummisohlen und Handfeuerwaffen

Exkurs: Turn on, tune in, drop out!

Exkurs: Nachrichten aus der deutschen Pop-Provinz

Beatlemania-Begräbnis und Wiedergeburt im Studio

Das Walross und die weinende Gitarre

Am Ende der langen, gewundenen Straße

Vereinzelte Flaggen am Schiffsmast

Diskographie

Literaturhinweise

Personenregister

Abbildungsnachweis

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Der König ist tot, lang lebe der König

Am 27. August 1965 – es war ein Freitag – kam es in Kalifornien zu einer historischen Begegnung. Die Beatles, die ihre zweite US-Tournee gerade mit einem spektakulären Konzert im New Yorker Shea Stadium vor der damals unvorstellbaren Menge von 55 600 Zuschauern eröffnet hatten, trafen endlich ihr Idol Elvis Presley in seinem Haus in Bel Air. Mit seinem Hit ›Heartbreak Hotel‹ hatte Elvis neun Jahre zuvor nicht nur Paul McCartney nachhaltig beeindruckt: »Wenn Elvis nicht gewesen wäre, hätte es die Beatles nicht gegeben«, gestand John Lennon später. Doch auch der damals berühmteste Rock’n’Roll-Sänger der Welt war von der kometenhaften Karriere der ›Fab Four‹ beeindruckt. Anlässlich ihres ersten US-Auftritts in der Ed-Sullivan-Show am 9. Februar 1964 schickte er ihnen durch seinen Manager Colonel Parker ein Grußtelegramm.

Mehr als ein Jahr lang hatten der Beatles-Manager Brian Epstein und Parker diskutiert, wie sie ihre Schützlinge für ein zwangloses Treffen zusammenbringen könnten, ohne das Prestige ihrer Megastars – beide Manager wachten eifersüchtig darüber – aufs Spiel zu setzen. Paul McCartney erinnert sich: »Wir glaubten damals, dass wir vielleicht eine gewisse Bedrohung für Elvis und seinen Manager darstellten – was wir letztendlich ja auch taten!« Als die Beatles dann den ›King‹ persönlich in seinem schlossähnlichen Haus, 565 Perugia Way, trafen – »es wirkte auf mich wie ein riesiger Nightclub« (John Lennon) –, machte sich zunächst einmal Verlegenheit breit. Elvis, der gerade angefangen hatte, Bassgitarre zu lernen, langweilte die Gäste zunächst, auf einem riesigen hellen Sofa sitzend, durch Fingerübungen auf seinem weißen »Fender Precision Bass«, bevor er zur Fernbedienung seines Farbfernsehers wechselte und damit herumspielte – damals eine luxuriöse Rarität. Nach ein wenig befangener Konversation lud er die Beatles zu einer spontanen Jam-Session ein. Man sang gemeinsam ›You’re My World‹, wechselte zu ›That’s All Right (Mama)‹ und ›Blue Suede Shoes‹, von Paul am Piano begleitet. Die ausgelassene Sing-along-Session fand dann mit ›I Feel Fine‹ ihren Abschluss. In dem anschließenden Gespräch über Songwriting, Filme und Tourneen sagte Lennon zu Elvis: »Wenn die Fans dich im Konzert umlagern, stehst du ihnen allein gegenüber. Wir dagegen sind vier gegen den Rest der Welt und können uns gegenseitig unterstützen.« Nach dieser Bemerkung soll Elvis sehr nachdenklich geworden sein. Ein leichter Missklang begleitete den Rest des Abends und verflüchtigte sich auch nicht, als Lennon beim Abschied leicht ironisch rief: »Sanks for ze music, long live the King!« Trotz aller bemühten Freundlichkeit waren die Beatles von ihrem Idol ein wenig enttäuscht. Zu groß war die Kluft zwischen der uninspirierten Normalität des Privatmanns Elvis Presley und dem charismatischen Bühnenperformer Elvis.

Vollends ernüchtert reagierten die Beatles, als sie Jahre später erfuhren, dass Elvis damals mit seinen engen Kontakten zum FBI versucht hatte, die Beatles aus Amerika verbannen zu lassen. McCartney erklärte: »Ich habe diese berühmten Nixon-Abschriften gesehen, in denen Elvis tatsächlich versucht, uns zu verpfeifen – die Beatles! Ausgerechnet zu Nixon sagte er: ›Also Sir, diese Beatles, die sind sehr unamerikanisch und nehmen Drogen.‹ Der größte Witz war, dass wir zwar Drogen nahmen, aber was tat er? Ihn erwischte man vollgepumpt damit auf einer Toilette! Das war zwar traurig, aber ich mag Elvis noch immer, besonders in seiner frühen Phase.«

Schon im Jahr zuvor, während ihrer ersten US-Tournee, war es zu einem folgenreichen Treffen der Beatles mit einer Frontfigur der aufbrechenden Popkultur gekommen. Auch hier spielten Drogen eine nicht unerhebliche Rolle. Bob Dylan, der die Beatles mit seinen metaphorischen Zeilen aus ›Blowin’ in the Wind‹ fasziniert hatte, besuchte die Gruppe 1964 im New Yorker Delmonico Hotel. Ein produktives Missverständnis sollte das Songwriting von Lennon/McCartney nachhaltig verändern. Denn Dylan ging wie selbstverständlich davon aus, dass die Beatles – wie er selbst damals – Marihuana rauchen würden. Als sie ihm jedoch erklärten, das Zeug noch nie probiert zu haben, verwies Dylan konsterniert auf eine Textzeile in ihrer Hitsingle ›I Want to Hold Your Hand‹. ›His Bobness‹ hatte das Liebeslied aufgrund des Satzes »I get high« als Drogensong missverstanden. Doch Lennon erklärte ihm ungerührt, es heiße dort »I can’t hide«. Um die Situation zu entspannen, drehte Dylan ein paar Joints und ließ sie kreisen. Lennon später: »Er dachte, wir seien an Drogen gewöhnt. Wir rauchten und lachten die ganze Nacht. Bob nahm ständig unser Telefon ab und meldete sich mit: ›Hallo, hier Beatlemania.‹ Es war ein einziger Joke.« So wie Dylan die Beatles dazu brachte, in der Folgezeit Songs unter Marihuana-Einfluss zu schreiben, so wurde er selbst von den Beatles animiert, seine akustische bald gegen eine elektrische Gitarre einzutauschen.

Elvis, Dylan, The Beatles – war der erste schon lange vor dem Liverpooler Quartett eine Rock-’n’-Roll-Ikone und galt Bob Dylan lange vor den Beatles als visionärer Poet, so bildeten die ›Fab Four‹ doch eine Band und lieferten für Millionen von Jugendlichen ein revolutionäres Rollenmodell. Sie waren die Prototypen der ›Do-it-yourself-Rocker‹: Wenn du schon nicht singen kannst wie Elvis (und auch nicht so gut aussiehst) oder dichten wie Dylan, dann kannst du wenigstens mit Freunden eine Band gründen, dir eine dieser wundervollen elektrischen Gitarren schnappen und eigene Songs schreiben und spielen. Du kannst dich dadurch selbst erfinden! Keine andere Band symbolisierte diese jugendliche Energie des »self empowerment« so nachdrücklich wie die vier Liverpooler. Wirkte Elvis vom Kinn abwärts mit seinen provozierenden Beckenschwüngen als Rebell, war Dylan vom Kinn aufwärts mit der intellektuellen Brillanz seiner Songs ein Revolutionär, so vereinigten die Beatles »body, brain and soul«. Elvis wusste wahrscheinlich nie genau, warum er sich so provozierend bewegte, wie er es tat. Dylan fühlte sich zunächst als Traditionalist und war musikalisch der amerikanischen Folk-Vergangenheit verpflichtet. Die Beatles aber besaßen gleich ihren unerhörten Beat und sorgten für einen elektrischen Funkenflug, der bei Jugendlichen unmittelbar einen Flächenbrand der Gefühle auslöste. Ihr triumphierender »Yeah, Yeah, Yeah«-Hedonismus erschütterte nicht nur das britische Königreich in seinen Grundfesten, er traf ins Herz einer sich weltweit formierenden Jugendkultur. Der Journalist Jan Morris resümierte in der Saturday Evening Post vom August 1966: »England glich einer heruntergekommenen Aristokratie, ausgezehrt vom Krieg und dem Druck der Verantwortung – schon fast des Weiterlebens müde. […] Dann kamen die Beatles und ihre Freunde und steckten die Aristokratie in einen Minirock.« Für eine kurze, bewegte Zeit repräsentierten vier Jugendliche aus einer provinziell anmutenden, schmutzigen Stadt, die ihre besten Tage längst hinter sich zu haben schien, einen hochenergetischen Neuanfang des Lebens. In ihnen bündelten sich rückblickend die Verheißungen einer ganzen Ära: die Studentenrevolte mit ihrem Barrikadensturm, die sozialen Befreiungsbewegungen, der »Summer of Love«, Sex, Blumen, hochfliegender Idealismus und ein überwältigendes Gefühl von Grenzenlosigkeit, von erhebender Universalität.

Mit den Beatles fing letztlich alles an. Sie veränderten das Gesicht einer ganzen Generation und hatten maßgeblichen Anteil daran, dass sich populäre Musik zur Rockmusik gewandelt hat. Mögen Lieder wie ›Eleanor Rigby‹, ›Yesterday‹ oder ›Norwegian Wood‹ heute schon als Kunstmusik Bestand haben, so war ihr sozialgeschichtlicher Einfluss vor allem auf die Jugendkultur nach dem Zweiten Weltkrieg von eminenter Bedeutung. Oder, wie ihr früher Biograph Bob Wooler vermerkte: »Die Beatles explodierten geradezu in eine ermattete Umwelt hinein. Sie waren der Stoff, aus dem Schreie gemacht wurden.«

Lärm und Liebesdramen in Liverpool

Natürlich hat der Rock-’n’-Pop-Kosmos bis heute eine Menge Superstars geboren, und viele von ihnen haben mehr Platten verkauft als die Beatles in ihrer besten Zeit. Doch keine Band und kein Solokünstler hat jemals die Statur des Liverpooler Quartetts erreicht. Sie besaßen universelle Akzeptanz über alle kulturellen Grenzen hinweg und setzten einen Maßstab, an dem sich bis heute alle Nachfolger messen lassen müssen. Die Beatles wurden zu Wegbereitern jener Bewusstseinsrevolution in den westlichen Industrienationen, in deren Verlauf sich seit Mitte der 1960er Jahre die Lebens- und Kommunikationsformen aus konservativen Zwängen befreiten und für nachfolgende Generationen eine neue Freizügigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen ermöglichten.

Dabei waren die Anfänge dieser vergötterten Weltbeweger alles andere als strahlend. »Es gab damals nichts Großartiges in Liverpool. Zu unserer Zeit war die Stadt sehr arm, aber zugleich sehr robust. Vielleicht hatten die Menschen dort wegen ihrer großen Sorgen einen ganz speziellen Sinn für Humor. […] Es war eine kosmopolitische Stadt, wo die Seeleute an Land gingen und die Blues- und Rock-’n’-Roll-Platten aus Amerika mitbrachten.« John Lennons Rückblick aus dem Jahr 1970 ist nüchtern und zugleich von zärtlicher Zuneigung zu seiner Heimatstadt.

Anfang des 20. Jahrhunderts stellte die Hafenstadt Liverpool einen prosperierenden Schmelztiegel verschiedenster Kulturen dar: Neben Iren und Walisern war hier die größte »Chinatown« Europas zu Hause. Die Stadt begriff sich selbstbewusst als Tor zum britischen Empire und als Brückenkopf von Irland und Amerika – hier hatte die Transatlantiklinie »Cunard« ihren Sitz. Dabei gründete der Reichtum Liverpools maßgeblich auf dem Sklavenhandel des 18. Jahrhunderts, doch inzwischen war die Stadt zum wichtigsten Umschlagplatz von Baumwolle und Textilien in England geworden. Obwohl von der feinen Londoner Gesellschaft als rückständig und bedeutungslos abgetan, hatten die Menschen an der Merseyside ein robustes Selbstbewusstsein entwickelt.

Sich selbst bezeichneten die ›Liverpudlians‹ gern als »Scousers« – nach einem deftigen Seemannsgericht namens »Lobscouse« (hierzulande als Fleisch-Gemüse-Eintopf, als ›Labskaus‹ bekannt). »Scousers besitzen einen unbändigen Lokalpatriotismus, glauben immer, gegen den Rest der Welt – vor allem gegen die Londoner – kämpfen zu müssen. Und diesen Standpunkt verteidigen sie sehr gewandt, mit ihrem Mundwerk und mit ihren Fäusten«, erklärte Bill Harry, Begründer des Musikmagazins Mersey Beat. Kein Wunder, dass aus Liverpool die meisten Komiker und die berühmtesten Fußball-Teams Englands stammen: »Man muss Komiker sein, um hier leben zu können«, war eine beliebte Redensart der Scousers. Als Beleg für die Selbstironie der Liverpudlians mag die Geschichte der Liver Birds dienen, die die Türme des Royal Liver Building schmücken, das gleich am Pier Head der Waterfront neben dem Cunard-Gebäude gelegen ist. Die beiden Phantasievögel, von Carl Bernard Bartels entworfen, gelten als Wahrzeichen der Stadt: Während der weibliche Vogel über den Hafen blickt, um die ankommenden Schiffe willkommen zu heißen, sieht der männliche über die Stadt, um ihre Bewohner zu schützen. Der Volksmund erzählt allerdings eine andere Geschichte: Der weibliche Vogel halte nach jungen, strammen Matrosen Ausschau, während der männliche schaue, ob die Pubs schon geöffnet haben. Im übrigen schlügen beide mythischen Vogelfiguren erst dann mit ihren Flügeln, wenn eine Jungfrau unten auf der Straße vorbeigehe.

Überlebenswichtig wurde der sarkastische Humor der »Scousers«, als die Stadt während des Zweiten Weltkriegs wegen des strategisch wichtigen Hafens zu einem Hauptangriffsziel wurde. Vor allem die ›Docklands‹, die Hafenanlagen und Landungsbrücken an der Flussmündung des ›Mersey‹ in die Irische See, lagen fast permanent unter Beschuss. Die Legende erzählt, dass John Winston Lennon – der zweite Vorname war eine patriotische Reminiszenz an den damaligen Premierminister – während eines deutschen Bombenangriffs am Abend des 9. Oktober 1940, um 6.30 Uhr im Liverpooler Oxford Street Maternity Hospital als Sohn des Handelsmatrosen Alfred Lennon und seiner Frau, der Kino-Platzanweiserin Julia Stanley (ein Joke in ihrer Heiratsurkunde von 1938, denn beide waren verrückt nach Filmen) zur Welt kam. Natürlich eignet sich diese Geschichte wunderbar zur Mythenbildung: Ein unruhiger Geist, ein Kämpfer wird geboren, während um ihn herum die Bombensplitter fliegen. Leider hat die Recherche im Archiv der Tageszeitung Liverpool Echo neuerdings ergeben, dass trotz der vielen Angriffe in jenem Monat am Tag von Lennons Geburt keine Bomben auf Liverpool fielen. Lennons rebellischer Impetus musste also andere Wurzeln haben.

Zunächst lebte die junge Familie zu dritt in beengten Verhältnissen in der Newcastle Road 9. Doch die Eltern trennten sich zwei Jahre später, und die Idylle zerbrach. Seine Mutter Julia hatte in dieser Zeit verschiedene Affären und gebar von einem ihrer Liebhaber ein Mädchen – John soll seine später verschollene Schwester Victoria nie zu Gesicht bekommen haben. Seinen Vater, einen unsteten Seemann irischer Abstammung, sah er in den ersten fünf Jahren nur sporadisch. Im Juni 1946 aber machte Freddie Lennon seinem Sohn ein überraschendes Angebot: Er wolle mit ihm zusammen nach Neuseeland auswandern, »mit der Absicht, nie mehr zurückzukehren«. Nach Aussagen seines Vaters war John von diesem Plan zunächst begeistert. Als im folgenden Monat überraschend seine Mutter Julia mit ihrem neuen Liebhaber auftauchte und von dem Plan erfuhr, war sie außer sich. Obwohl ihr Ehemann ihr sogleich anbot, auch sie nach Neuseeland mitzunehmen, lehnte Julia brüsk ab und forderte John auf, sich zu entscheiden: Mit wem wollte er in Zukunft zusammenleben? Nach einer dramatischen Szene, die den Fünfjährigen nachhaltig verstört haben muss, rannte John schließlich weinend seiner Mutter nach, um bei ihr zu bleiben. »Das war das letzte, was ich von ihm sah und hörte, bevor ich erfuhr, dass mein Sohn ein Beatle war«, erinnerte sich Freddie Lennon später.

Doch Julia dachte nicht daran, als treusorgende Mutter in Liverpool bei ihrem Kind zu bleiben. Sie wollte ihre – nach der endgültigen Trennung von Freddie – wiedergewonnene Freiheit auskosten und entschied, dass der kleine John am besten bei ihrer kinderlosen Schwester Mary Elizabeth, genannt Mimi, und ihrem Ehemann George Smith in der Menlove Avenue aufwachsen sollte. Im Gegenzug übernahm Julia die Rolle einer fürsorglichen, aber etwas exzentrischen Tante, die in Erziehungsfragen toleranter als Mimi war und John – vielleicht aus schlechtem Gewissen – oft verwöhnte.

In diesen familiären Wirrungen, denen der erst fünfjährige John Lennon ausgesetzt war, liegen bereits jene Motive begründet, die ihn später nach dem Ende des Beatles-Männerbundes und in der Lebensgemeinschaft mit Yoko Ono immer wieder dazu brachten, die Erinnerung an seine Mutter zu romantisieren – und gleichzeitig die Erinnerung an den Vater zu verdrängen. Dem Beatles-Biographen Hunter Davies gab Lennon bereits 1968 zu Protokoll: »Meinen Vater hatte ich bald vergessen. Es war, als wäre er tot.« Seine Mutter beschwor John dagegen in nicht enden wollenden Hymnen wie ›Julia‹, ›Mother‹ (»Mama don’t go, daddy come home!«) oder ›My Mummy’s Dead‹. Die beunruhigende Verbindung von Glaube und Geborgenheit, von Trost und Herkunft bleibt für Lennon bis zu seinem Tod ein bestimmendes Thema. Noch Ende 1979 bricht es sich in seiner Parodie auf den mittlerweile zum »Born Again Christian« konvertierten Bob Dylan Bahn: In ›Serve Yourself‹ singt Lennon mit beißendem Spott: »But there’s something missin’ in this whole bloody stew, it’s your mother, your poor bloody mother.« Schon in einer Dylan-Satire aus dem Jahr zuvor heißt es: »Because I’m knockin’ on heaven’s door, because I’m lookin’ for my Ma!«

Die verlorene Mutter – sie war und blieb das lebenslange Trauma von John Lennon. Er ging später so weit, zu behaupten: »Der einzige Grund dafür, dass ich ein Star geworden bin, liegt in der Verdrängung. Nichts hätte mich zu all dem getrieben, wenn ich ›normal‹ gewesen wäre.« Dabei war es Julia Lennon, die die musikalischen Interessen ihres Sohnes unterstützte und ihm beispielsweise einfache Banjo-Akkorde zeigte. Sie selbst galt als talentierte Sängerin, die ihr Baby oft mit einer kleinen Melodie aus dem Disney-Film Schneewittchen und die sieben Zwerge zum Schlafen brachte: »Want to know a secret? Promise not to tell. You are standing by a wishing well.« Kein Wunder, dass Lennon später diese Melodie mit Buddy-Holly-Harmonien kreuzte und daraus die Beatles-Nummer ›Do You Want to Know a Secret‹ machte. Wie ein Schwamm saugte der Heranwachsende alle alltagskulturellen Einflüsse auf. »Ich wurde von den unterschiedlichsten Dingen beeinflusst, sie reichen von Lewis Carroll über Oscar Wilde bis zu kleinen, frechen Jungs, die in der Nachbarschaft wohnten und schließlich im Gefängnis landeten.«

Kein Wunder, dass John während seiner Schulzeit dafür bekannt war, keiner Schlägerei aus dem Weg zu gehen. Er galt unter seinen Klassenkameraden auf der Quarry Bank Grammar School als Großmaul. »Ich war aggressiv, weil ich beliebt sein wollte. Ich fühlte mich immer als Anführer.« Obwohl er als arrogant galt, fiel John schon bald durch seinen Wortwitz auf, durch seine Cartoons, Parodien und Nonsens-Verse. In der Schule machten seine Zeichnungen und Gedichte als »The Daily Howl« die Runde. Doch schnell avancierte der Rock ’n’ Roll zum Fluchtpunkt seines Lebens. Durch den Film Blackboard Jungle mit Bill Haleys Song ›Rock Around the Clock‹ fand die elektrisierende Synthese aus amerikanischem Pop und Rhythm ’n’ Blues ihren Weg nach Großbritannien. Auch der Einfluss von Radio Luxemburg auf die musikalische Sozialisation von Lennon ist nicht zu unterschätzen. »Als sie zum ersten Mal ›Heartbreak Hotel‹ spielten, war es um mich geschehen. Es war, als wäre ein Zauberfunke übergesprungen, der uns mit einem Knall die ganze Welt eröffnete.« Erste Schallplatten von Elvis waren bald erhältlich und in ihrem Gefolge auch Aufnahmen vom ›Killer‹ Jerry Lee Lewis, Carl Perkins und nicht zuletzt von Buddy Holly – nicht zu vergessen die schwarzen Performer wie Little Richard und Chuck Berry, die den Weißen ihre Vorherrschaft im Rock ’n’ Roll schon früh streitig machten.

Es ist sicherlich kein Zufall, dass das letzte öffentliche Konzert der Beatles am 29. August 1966 im »Candlestick Park« in San Francisco mit Chuck Berrys ›Rock and Roll Music‹ begann und mit Little Richards ›Long Tall Sally‹ endete. Schlagartig kurbelte der Rock ’n’ Roll im England der 1950er Jahre die Nachfrage nach Gitarren an. Lennons erstes Saiteninstrument – schon mit zehn Jahren hatte er begonnen, Mundharmonika zu spielen – war eine schwarz-braune »Gallotone Champion« (mit dem Vermerk: »geht garantiert nicht kaputt«) für fünf Pfund zehn Schilling, die John sich gegen den Willen seiner Tante auf eine Zeitungsannonce hin an die Adresse seiner Mutter bestellte. Lennon erinnert sich: »Zunächst spielte ich die Gitarre wie ein Banjo, die sechste Saite war eigentlich überflüssig. Ich wollte nur Akkorde schrubben, um ein paar Songs zu begleiten.«

Nicht weit von Tante Mimis Haus ›Mendips‹ in der Liverpooler Vorstadt Woolton, in der Siedlung Allerton, wohnte noch jemand, der von Elvis Presley verhext war: James Paul McCartney (geboren am 18. Juni 1942 in Liverpool). Er wuchs behütet in einem Middle-Class-Haushalt auf, erhielt aber im Vergleich zu Lennon eine anspruchsvollere musikalische Ausbildung: Sein Vater, ein Baumwollhändler und erfolgreicher Autodidakt an Trompete und Piano, hatte in seiner Jugend die Jim Mac Jazz Band geleitet. Kein Wunder, dass in Pauls Elternhaus ein Piano stand; anfangs schenkte er ihm allerdings nicht viel Aufmerksamkeit und experimentierte lieber mit der Trompete. Er war der festen Überzeugung, er könne darauf den Oldie ›When the Saints Go Marching In‹ fehlerfrei intonieren, obwohl seine Freunde nicht einmal die Melodie erkannten. Seinen ersten musikalischen Unterricht erhielt Paul von seinem Vater: »In der Schule gab es das damals nicht, wir hatten nie Musikstunden. Am Ende lernte ich, wie mein Vater rein nach dem Gehör zu spielen.« Er wurde an – wie Paul es später ausdrückte – »sing along stuff« geschult. Dennoch blieb dem musikbegeisterten Kind eine narzisstische Kränkung nicht erspart: Im Jahr 1953 bewarb sich Paul um die Aufnahme in den renommierten Knabenchor der Liverpool Cathedral. Sie wurde mit der Begründung verweigert, seine Gesangsstimme sei nicht gut genug.

Als er dann zu seinem vierzehnten Geburtstag eine Jazztrompete bekam, versuchte er zunächst, den Helden seines Vaters nachzueifern, Jazzgrößen wie King Oliver, Louis Armstrong oder Dizzy Gillespie. Doch bei allem Übungsfleiß – Paul war nicht der geborene Improvisator. Er hatte andere musikalische Prioritäten. Neben dem amerikanischen Pop, dem McCartney nachts auf Radio Luxemburg lauschte, war es vor allem die Skiffle-Musik, die es ihm angetan hatte. Skiffle – eine hausgemachte Mischung aus Folk-Melodien, Jazz-Akkorden und Country-Blues-Songs – war in England durch Lonnie Donegans Hit-Version von Leadbellys ›Rock Island Line‹ über Nacht populär geworden. Neben Gitarren und Banjo gehörten zu einer Skiffle-Band noch Waschbrett-Perkussion und ein Teekisten-Bass mit einer Saite, die an einem Besenstiel befestigt war. McCartney, der unbedingt Gitarre spielen wollte, litt anfangs unter seinem Linkshändertum, lernte dann aber die Grifftechnik auf einer Rechtshändergitarre. Daneben versuchte er sich monatelang an der Imitation von Little Richards Schrei-Gesang. Doch neben dem rauhen Rock ’n’ Roll war Paul als Jugendlicher auch für Schnulzen wie ›White Christmas‹ oder ›Over the Rainbow‹ nicht ganz unempfänglich. Er vergötterte die Everly Brothers, nicht zuletzt wegen ihres perfekten Harmoniegesangs. Dieser sollte für die frühen Beatles modellhaft werden.

Im Alter von sechzehn Jahren gründete Lennon – für ihn war Rock ’n’ Roll von Anfang an ein soziales Bindemittel – zusammen mit seinem Schulfreund Pete Shotton eine eigene Skiffle-Band. Für eine Woche nannte sie sich »The Blackjacks«, bevor man sich endgültig für »The Quarry Men« entschied – weil die meisten Bandmitglieder die Quarry Bank High School for Boys besuchten. Man spielte mit Lennon als Leadsänger und Gitarrist im Frühling 1957 auf Partys und Gemeindefesten. Weil man im Haus von Lennons Mutter Julia übte, wusste Tante Mimi nichts von den Band-Aktivitäten ihres Ziehsohnes – bis sie zufällig am 6. Juli 1957 beim Besuch des Sommerfests der St. Peter’s Parish Church plötzlich – nach eigenen Worten – »einen Lärmausbruch« vernahm, hervorgerufen von ihrem John und seinen Freunden.

Auch Paul McCartney war an jenem Nachmittag mit einem Freund namens Ivan Vaughan nach Woolton auf die Gemeindeparty gekommen. Lennon war ihm bereits vom Sehen bekannt: »John war der ortsansässige Ted. Es gab viel Aggression in Liverpool, viele Teds, und man versuchte, ihnen auszuweichen, wenn man ihnen begegnete. Wenn man wie John eher ein Einzelgänger war, musste man sich mit einer Art Schutzwall umgeben. Also ließ er sich die Koteletten wachsen, trug ein langes Jackett mit schmalem Revers, Röhrenhosen und Schuhe mit Kreppsohlen.« Bei jenem denkwürdigen Gemeindefest in Woolton im Sommer 1957 aber trat John in einem schlichten karierten Hemd und schwarzer Hose auf. Mit den Quarry Men spielte er eine Mischung aus Rock ’n’ Roll und Skiffle und glänzte vor allem in einer Version des Dell-Vikings-Hits ›Come Go With Me‹. Vaughan wusste genau, dass sein Freund McCartney besser Gitarre spielte als alle Quarry Men zusammen, und stellte ihn deshalb Lennon nach dessen Auftritt vor. Der war zunächst skeptisch, doch als Paul dann als Linkshänder auf einer Rechtshändergitarre Eddie Cochrans ›Twenty Flight Rock‹ und Gene Vincents ›Be-Bop-A-Lula‹ spielte und dazu noch die kompletten Texte konnte, war Lennon klar: Obwohl er besser ist als ich, brauchen die Quarry Men ihn, um selbst besser zu werden.

Am 18. Oktober 1957 gab McCartney sein Debüt mit der Band am Broadway – in Liverpool. Von Anfang an sparte Paul nicht mit Kritik an den technischen Fähigkeiten seiner Mitmusiker. Während Lennon mehr instinktiv spielte, war McCartney ein Perfektionist, der genaue Vorstellungen davon hatte, wie etwas am Ende klingen sollte. Paul hatte inzwischen seine Trompete gegen eine akustische Archtop mit F-Löchern eingetauscht: das »Zenith Modell 17«. Weil er als einziger in der Band eine Gitarre stimmen konnte und auch ›richtige‹ Gitarrengriffe kannte, zog sich Lennon aus seiner bisherigen Rolle als Leadgitarrist zurück. Doch auch Paul hatte seine Probleme: »Bei meinem ersten Auftritt sollte ich in ›Guitar Boogie Shuffle‹ das Gitarrensolo übernehmen. Bei den Proben konnte ich es auch problemlos spielen, aber als es dann beim Auftritt so weit war, wollten meine Finger nicht. Ich hatte einfach zu viel Angst. Der Moment, in dem alle auf den Gitarristen starren, war zu viel für mich.« Im Jahr 1958, nach diversen Besetzungsänderungen, spielten die Quarry Men kaum noch Skiffle, dafür umso mehr Rock ’n’ Roll. Weil aber der Gitarrist Eric Griffith und Len Garry am Bass damit nicht viel anfangen konnten und beide schließlich die Gruppe verließen, brachte McCartney eines Tages einen weiteren Gitarristen zur wöchentlichen Probe mit: George Harrison (geboren am 25. Februar 1943 in Liverpool) schien von den sechs Saiten besessen.

Bereits mit dreizehn Jahren war der Sohn eines Busfahrers dem Griffbrett erlegen und übte sich auf einer »Egmond«-Flattop-Gitarre für zwei Pfund fünfzig die Finger blutig. Jedenfalls beeindruckte er McCartney und Lennon beim Vorspielen durch seine Instrumentalversion von ›Raunchy‹ – einem Lieblingsstück von Lennon. Dazu kam das markante »Teddy Boy«-Outfit von Harrison. Inzwischen war George auf eine in Deutschland gebaute »Höfner«-Gitarre namens »President« umgestiegen, an der er einen Tonabnehmer anbrachte – womit er den Sound der Quarry Men durch den Einsatz von Röhrenverstärkern nachhaltig veränderte. Ihm kam jetzt zugute, dass er die Soli früher Rock-’n’-Roll-Aufnahmen Note für Note studiert hatte und schon über Band-Erfahrungen (mit seinem älteren Bruder Peter bei den Rebels) verfügte. Also war bald klar, dass Harrison bei den Quarry Men die Leadgitarre übernahm.