11,99 €
»Wahrscheinlich gibt es einen Grund dafür, dass ich noch da bin. Und es wird immer wichtiger für mich, diesen Grund herauszufinden«, meint Eric Clapton. Peter Kemper macht sich auf die Suche nach diesen Gründen. Er erzählt davon, wie ein unglücklicher weißer Jugendlicher aus zerrütteten Verhältnissen im Großbritannien der Nachkriegszeit überhaupt auf die Idee kommen konnte, sich dem amerikanischen, schwarzen Blues zu verschreiben. Er schildert, wie der Ausnahmemusiker seinen späteren Drogenkonsum in den Griff bekam, wie er Schicksalsschläge wie den Tod seines Sohnes verarbeitete – und woher Clapton die Kraft nimmt, weiterhin den Blues zu spielen. Zwei Konstanten nimmt Kemper dabei immer wieder in den Blick, nämlich Claptons Blues-Auffassung in Verbindung mit seinem Verständnis von »Blackness« (wie konnte es etwa zu seinen Entgleisungen in Birmingham gegen Schwarze kommen?) und seine lebenslange Verehrung des Blues-Mythos Robert Johnson (1911–1938), dem vielleicht einzigen sicheren Bezugspunkt in seinem Leben. Eric Clapton ist der einzige Künstler, dem es gelang, gleich drei Mal in die Rock & Roll Hall of Fame aufgenommen zu werden – mit den Yardbirds, mit Cream und für seine Solokarriere. Er gewann 17 Grammys, davon allein sechs im Zusammenhang mit dem bis heute erfolgreichsten Album der Reihe MTV Unplugged. Ein Leben für den Blues erzählt von Claptons Wurzeln, seiner Musik, seiner Weltkarriere – und von seinen Dämonen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 412
Peter Kemper
Ein Leben für den Blues
Reclam
5. Auflage
2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: zero-media.net
Coverabbildung: © gettyimages / Terry O’Neill / Kontributor
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-961661-2
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011370-7
www.reclam.de
Cross Road Blues – Ein Mann mit Gitarre gegen den Rest der Welt
I. Motherless Child – Blues der Kindheit
II. Baby What’s Wrong – Zwischen Nachahmung und Neuerfindung
III. Let It Grow – Der britische Blues-Boom
IV. Have You Heard – Gott ist kein Name
V. I Feel Free – Cream oder: Die psychedelische Blues-Revolution
VI. Can’t Find My Way Home – Blind Faith und das englische Heimat-Konzept
VII. Layla – Liebe und andere Drogen
VIII. Give Me Strength – Wirrnisse einer Wiedergeburt
IX. Don’t Blame Me – Hetztiraden in Birmingham
X. Next Time You See Her – Szenen einer Ehe
XI. Back Home – Die Jahre der Heimkehr
Literaturhinweise
Best of Bootlegs
Best of DVDs
Abbildungsnachweis
1960s Kay Jazz II
1963 Fender Telecaster
1960 Gibson Les Paul Standard »Beano Burst«
1964 Gibson SG Standard »The Fool«
1964 Gibson ES335TDC
1950s Fender Stratocaster »Blackie«
1939 Martin 000-42
»Wenn du mir versprichst, mich mit Eric Clapton bekannt zu machen, komme ich mit nach England.« Chas Chandler gab Jimi Hendrix sein Wort, und die beiden betraten am 24. September 1966 um neun Uhr morgens auf dem Londoner Flughafen Heathrow britischen Boden. Schlagartig machte Hendrix, der von dem Album John Mayall & The Blues Breakers With Eric Clapton zutiefst beindruckt war, als neue ›Gitarren-Sensation‹ in der damaligen Musikmetropole von sich reden. Clapton erlebte gerade mit der Supergroup Cream einen ungeahnten Höhenflug und war ganz begierig darauf, seinen amerikanischen Herausforderer persönlich kennenzulernen. Als es dann am 1. Oktober im Polytechnic in der Londoner Regent Street zur Begegnung der beiden Ausnahmegitarristen kam, fand Eric seinen Meister. Zwar hatte Ginger Baker schon vor dem gemeinsamen Auftritt Bedenken geäußert, doch Eric wollte unbedingt wissen, was dran war an diesem Hype um den Mann mit der futuristischen Afro-Frisur. Mit seinem Griffbrett-Feuerwerk, dem Spiel mit den Zähnen und hinter dem Rücken, fegte Jimi an diesem Abend in der Howlin’-Wolf-Nummer »Killin’ Floor« Clapton regelrecht von der Bühne. Der verschwand anschließend wortlos in der Garderobe. Sofort aber manifestierte sich seine Bewunderung und freundschaftliche Rivalität darin, dass er Hendrix’ Afro-Frisur übernahm und sich wie der Kollege aus Seattle um ein knallbuntes Outfit bemühte.
Doch Hendrix besaß hinsichtlich musikalischer Originalität zwei entscheidende Vorteile: Er war schwarz, und er war Amerikaner. Deshalb sah Clapton in ihm auch sofort ›the real thing‹: »Und ich dachte mir, wenn ich schwarz wäre, möchte ich er sein.« Eric blieb auch Hendrix’ »erstaunlich großes Talent« hinter der ganzen Bühnen-Exzentrik nicht verborgen, wo doch gerade dieses Showgebaren ihn für viele unecht wirken ließ. Hendrix jonglierte offenkundig mit rassischen Klischees, was vielleicht befreiend auf einen Musiker wirkt, der sich nicht in Kategorien wie ›schwarz‹ oder ›weiß‹, ›amerikanisch‹ oder ›britisch‹ zwängen lässt. Doch genau das brachte Clapton mit seinem eigenen puristischen Blues-Verständnis aus dem Konzept. Musikalisch hatte er mit Cream damit begonnen, sich von den üblichen Kategorien wegzuentwickeln. Es war weiße Musik mit schwarzen Elementen, von Weißen gespielt. Doch in seinem Denken blieb Eric der Unterscheidung weiße/schwarze Sounds weiterhin verhaftet. Deshalb glaubte er später auch, so Dave Thompson in seiner Cream-Biografie von 2005, er habe mit Cream seine Blues-Identität verleugnet und sich selbst betrogen:
Wir haben es versucht und auch geschafft, Pop-Songs zu schreiben und für uns ein Pop-Image zu kreieren. Ich habe da mitgemacht und es war eine Schande, weil ich mir gegenüber nicht ehrlich war. Ich bin nun mal ein Bluesgitarrist und werde immer einer sein.
Welche Konsequenzen hatte diese strenggläubige Auffassung von ›schwarzer Musik‹ für sein Weltbild?
Bis heute ist Clapton weit mehr als ein Blues-Musiker unter vielen: In ihm bündelt sich wie in einem Brennspiegel die Geschichte des britischen White-Boy-Blues, einer Bewegung, die noch immer als produktive Unterströmung in der aktuellen Rockmusik fortwirkt. Und nicht allein John Mayall zeigt sich überzeugt: »Eric ist der größte Blues-Gitarrist, der je auf Erden wandelte.« Warum aber haben sich ausgerechnet in England Anfang der 1960er Jahre weiße Jugendliche aus der Arbeiter- und Mittelschicht mit Haut und Haaren einer Musikform verschrieben, die in ihrem Heimatland, den USA, fast vergessen schien? Was waren die innersten Motive von Clapton & Co., den Blues zum Soundtrack ihres Lebens zu wählen? Und warum suchte sich Clapton als Leitfigur ausgerechnet einen damals fast vergessenen, obskuren Delta-Blues-Pionier wie Robert Johnson aus?
1961
1970
1990
2004
2004
Ende 1961 war Eric zum ersten Mal mit der Musik von Johnson in Berührung gekommen. Sein Schul- und Blues-Freund Clive Blewchamp hatte ein Exemplar des gerade erschienenen Johnson-Albums King Of The Delta Blues Singers aufgetrieben. Clapton war schockiert und fasziniert von den 16 Songs, die gleichzeitig als Drohung und mysteriöse Verheißung wirkten: Ein verletzlicher Gesang, der von weit her zu kommen schien, aus einer anderen, längst versunkenen Welt. Johnsons Stimme trägt anscheinend so viel existenzielles Erschrecken in sich, dass sie einen jugendlichen Blues-Aficionado wie Eric Clapton ins Mark getroffen haben muss: »Als ich ihn zum ersten Mal hörte, sprach er mich in meiner Verwirrung unmittelbar an, und es kam mir so vor, als würde in seiner Musik etwas widerhallen, was ich schon immer gefühlt hatte.«
Can’t You Hear The Wind Howl? Erst im Jahr 1972 tauchte das erste Foto von Robert Johnson auf.
In der Tat kann man Claptons Karriere als lebenslange Suche nach dem ›spirit‹ von Robert Johnson verstehen. Und selbst die Jahre seiner Heroin- und Alkoholsucht in den 1970er Jahren vermitteln noch eine Parallele zu Johnsons frühem Tod mit 27 Jahren. Clapton war in seiner dunkelsten Phase genauso alt, und in dieser Zeit schien er von Johnsons faustischem Pakt (er soll seine Seele an einer Straßenkreuzung dem Teufel verkauft haben, um ein besserer Gitarrist zu werden) geradezu besessen gewesen zu sein: Er bezog den Mythos auf sein eigenes Leben und war davon überzeugt, dass auch in seinem Fall eine übernatürliche Macht über ihn wache. Denn warum hatte er überlebt, während viele Freunde an ihrer Sucht gestorben waren? Clapton war sich nur nicht sicher, ob es sich dabei um eine gute oder eine teuflische Macht handelte. Jedenfalls sollten sich bald verblüffende Entsprechungen zwischen seinem Lebensweg und dem seines Blues-Idols ergeben. Ursprünglich mag er vor allem vom Mythos ›Robert Johnson‹, von jener Dunkelheit und Gefahr, die seine Legende ausstrahlte, fasziniert gewesen sein. Doch schon bald reagierte er in einem viel tieferen Sinne auf die Art und Weise, wie Johnson mit Angst, Einsamkeit und Trauer umging. Musik und Legende versteht Clapton – wie er Andrew Franklin in der Zeitschrift Musician im Januar 1991 erzählt – inzwischen als zwei verschiedene Dinge:
Seine Musik besitzt ein eigenes Leben und wenn Johnson heute noch leben würde, und – sagen wir mal: ein etablierter Banker wäre, würde meine Wertschätzung seines Werks davon nicht im Mindesten betroffen sein. Die Aufnahmen sind aufregend und wahr – und alles andere ist nebensächlich.
Fast wäre Claptons lebenslanger Leitstern verschwunden, bevor er vollends aufgehen konnte. Claptons Klassenkamerad Anthony ›Top‹ Topham erinnert sich 2015 im Gespräch mit Tony Scott:
Samstagvormittags trafen sich alle Blues-Enthusiasten von der Art School in unserem Haus in der Clifton Road. Eines Morgens kam Eric völlig deprimiert bei uns an. Er hatte sich gerade sein erstes Robert-Johnson-Album gekauft und an der Haltestelle auf den Bus zu uns nach Kingston gewartet. Weil er noch ein paar Minuten Zeit hatte, lehnte er sich an das Bus-Stoppschild und stellte das Album neben sich auf den Boden. Als der Bus dann kam, sprang er gleich rein und merkte sofort, dass er die Platte vergessen hatte. An der nächsten Haltestelle stieg er gleich wieder aus und lief zurück, musste aber feststellen, dass das Album weg war. Er war fürchterlich aufgebracht, denn die Platte hatte ihn 30 Schilling gekostet, was damals viel Geld war.
Clapton war nicht der einzige Blues-begeisterte Jugendliche, der sich von Robert Johnson angezogen fühlte. »Wo zum Teufel hast du diese Platte her«, wollte der 18-jährige Keith Richards von Brian Jones wissen, als dieser ihm das Album vorspielte. In Los Angeles bemühte sich zur selben Zeit der erst 14-jährige Ry Cooder mit einem Bottleneck und einer Gitarre vergeblich, etwas vom Zauber von Johnsons verrücktem Zeug einzufangen. Doch keiner dieser Blues-Jünger hat sich ihm so bedingunslos ergeben wie Eric Clapton. Noch 2004 bekräftigte er in den Liner Notes seines Tribute-Albums Me And Mr. Johnson, dass Johnson »der Grundpfeiler meines musikalischen Fundaments ist, ein Meilenstein, an dem ich mich immer wieder orientiert habe, wenn ich Gefahr lief, abzudriften.«
Anfang der 1960er Jahre galt der Blues in Amerika als ›toter Hund‹, während er auf der anderen Seite des Atlantiks geradezu enthusiastisch gefeiert wurde. In einem ersten Schritt eigneten sich britische Blues-Bewunderer diese schwarze Musikform an, indem sie sie so genau wie irgend möglich studierten, ihre musikalischen Strukturen anhand von Schallplatten, Radiosendungen, Büchern und Zeitschriften analysierten und nachahmten. In einem zweiten Schritt kam es zu einer produktiven Synthese aus Nachahmung und Neuerfindung: Die Rhetorik des Blues, seine Bildersprache, seine Mythen, sein Slang-Vokabular, seine musikalischen Phrasen und Wendungen wurden mit englischer Folklore, ebenso wie mit amerikanischer Rockmusik verschmolzen, vor allem aber mit Lautstärke und Aggression aufgeladen. So entstand Anfang der 1960er Jahre der typisch britische Blue-Eyed-Blues als eine Rekombination von traditionellen und aktuellen Elementen.
Dabei bedeutete Blues als kulturelles Idiom und sozialer Text für Schwarze etwas völlig anderes als für Weiße. Die britischen Blues-Liebhaber – Musiker wie Publikum – wuchsen weder mit dem institutionalisierten Rassismus in Amerika auf, noch hatten sie zunächst eine Ahnung von den oft katastrophalen Lebensumständen schwarzer Musiker in den Südstaaten der USA. In Großbritannien speiste sich die Blues-Vorliebe eher aus Außenseiter-Instinkten, jugendlicher Rebellion und Nonkonformismus-Fantasien. Aus der tristen Welt englischer Vorstädte konnte man sich mühelos in die Rückzugsorte afroamerikanischer Blues-Musiker wie dem Mississippi-Delta, Memphis oder Chicago davonträumen. Nicht zufällig grassierte unter den britischen Blues-Boomern aus dem Stockbroker Belt von Surrey, südlich von London, der selbstironische Joke vom »Surrey Delta« oder von den »Thames Valley Cotton Fields«, denn man lebte tausende Meilen vom Mississippi entfernt.
Als Brite war man überzeugt, Rassefragen und damit verbundene moralische Entscheidungen vernachlässigen und den Blues als quasi wertfreie musikalische Ausdrucksform übernehmen und weiterentwickeln zu können. Diese Haltung entsprach noch ganz der ›Shopping-Mentalität‹ des untergehenden britischen Empire, das geglaubt hatte, kulturelle Formen, Stile und Genres aus allen Teilen der Welt konsumieren, amalgamieren und nach eigenem Gutdünken verändern zu können. Selbst wenn jemand wie Clapton sich nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende des britischen Empire um den Verlust von – sagen wir – Indien oder Kenia wenig gekümmert haben mag, so konnte er doch nicht der verbreiteten nationalen Stimmung von Unsicherheit und kultureller Verknöcherung entfliehen. Erst in dieser Situation des Niedergangs konstruierten britische Blues-Liebhaber ›Amerika‹ als einen Ort, an dem Abenteuer und Bewegungsfreiheit noch möglich schienen – und nach einem Wort von Keith Richards »die Mädchen ohnehin besser aussahen.«
Für Schwarze war das Leben im Mississippi-Delta in den 1920er Jahren, als der Blues entstand, eine Qual: Als Tagelöhner auf den endlos weiten Feldern wurden sie wie Geister behandelt: Bei Sonnenaufgang hatten sie lautlos zu erscheinen, mussten ohne Murren in glühender Hitze schuften und bei Sonnenuntergang möglichst geräuschlos wieder verschwinden. Auch einem einfachen ›farbigen‹ Sharecropper bzw. Pächter ging es nicht viel besser, war er doch von korrupten weißen Großgrundbesitzern abhängig, deren absurd hohe Pachtforderungen er kaum erfüllen konnte und sich deshalb immer weiter verschulden musste. Kein Wunder, dass die Schwarzen am Wochenende in sogenannten Juke Joints, von Alkohol und Sex durchtränkten Tanzveranstaltungen, Ablenkung von ihrem aufreibenden Alltag suchten. Die wüsten Partys in der Samstagnacht waren direkte Gegenveranstaltungen zum sonntäglichen Gottesdienst am nächsten Morgen. Inmitten der Massen von Prostituierten, Schaustellern und Whiskeyschmugglern hatten Blues-Musiker ihren festen Arbeitsplatz, ebenso in den zahllosen Camps der Tagelöhner, beides Brutstätten von Gewalt und Kriminalität. Hier konnte sich der Blues als Ausdruck einer erschöpften Seele und gleichermaßen als Demonstration unsterblicher Lebenslust entwickeln. Dabei ging es nicht in erster Linie um musikalische Virtuosität, sondern um innere Einstellung. Können ist zwar eine Voraussetzung, »aber die wahre Tugend des Blues-Musikers liegt darin, dass er sein Leben akzeptiert, ein Leben, für das er nur zum Teil verantwortlich ist«, so der amerikanische Rockkritiker Stanley Booth.
Schnell durchschaute der junge Robert Johnson dieses geheime Gesetz: Der Blues machte die Schrecken der Welt besser erträglich, einer brutalen Welt, »die tagtäglich auf der Lauer lag, sobald man den Fuß aus der Kirche setzte« – wie es der amerikanische Musik- und Kulturkritiker Greil Marcus formulierte. Nie war der Blues transzendent oder huldigte dem Höchsten. Anstelle göttlicher Gnade bettelte er um Erlösung durch Liebe und Sex. Das musste bei heranwachsenden, vom britischen Zeitgeist enttäuschten Jugendlichen zwangsläufig auf offene Ohren treffen. Eric Clapton und die Rolling Stones sollten deshalb in der Folgezeit viele Johnson-Songs covern, von »Love In Vain«, »Stop Breaking Down«, über »Ramblin’ On My Mind« und »From Four Until Late« bis zu Claptons lebenslanger Erkennungsmelodie »Crossroads«.
Die Bedeutung von Johnson lässt sich dennoch nicht allein an der Anzahl der Coverversionen messen, sein Einfluss reicht tiefer: Für viele Rock- und Blues-Musiker wurde er zum Spiegel und Prüfstein zugleich. Blues verkörperte für die weißen jungen Briten ungeschulte Rauheit anstelle von gekonnter Professionalität, bäuerliche Vorzeit statt städtischer Modernität und herbe Männlichkeit anstelle von zarter Weiblichkeit. Doch der Hauptgrund, warum weiße britische Mittelschichtsjugendliche sich für den Delta-Blues begeisterten, war ihre Suche nach den Wurzeln, nach den historischen Vorläufern des Rock ’n’ Roll. Wo kam Elvis eigentlich her? Aus welchen Quellen schöpfte Carl Perkins? Woher nahm Chuck Berry seinen Rhythmus? Und wie kam Little Richard zu seiner Rock-Röhre? Wurzeln galten den jungen Briten als das Wahre, die Quelle garantierte für sie Authentizität, noch unverdorben durch modernes Stadtleben und Kommerz.
Den ersehnten Ursprungsmythos fanden sie schließlich im Mississippi-Delta-Blues, in den Songs von Robert Johnson, Charlie Patton, Son House oder Skip James, so dass sich die aufmüpfigen Jugendlichen – so Mick Jagger – vorkamen wie »großartige musikalische Historiker«. Clapton und seine Mitstreiter stöberten in kleinen Jazz-Läden nach obskuren Platten oder bestellten wie Jagger die exotischen Alben per Mailorder direkt in den USA. So lernten sie in einer Art Secondhand-Studium das Blues-Vokabular, das Personal der Songs, ihre Charaktere, Ausdrucksformen und Ideen kennen. Obwohl in diesem Aneignungsprozess in Wahrheit keine reale Verbindung zu schwarzen, ja zumeist bitterarmen und ausgegrenzten Amerikanern bestand, konnten die britischen Blues-Musiker für sich immerhin emotionale Verarmung und eine Art Inhaftierung im britischen Klassensystem geltend machen, aus dem man sich mit aller Macht befreien wollte. Clapton präzisierte in einem Interview mit David Fricke vom Rolling Stone im Jahr 2014:
Wenn man es in einen sozialen Kontext stellen möchte, könnte man sagen, dass England im Zweiten Weltkrieg kurz davor war, besiegt zu werden. Aber wir sind aufgestanden und haben uns gewehrt. Die Blues-Sänger repräsentierten genau diese Haltung aus Widerstand und Trotz. Robert Johnson war ein Kerl gegen den Rest der Welt und die Jugendlichen aus meiner Generation haben dieses Gefühl übernommen – wir waren unschlagbar.
Projektion und Überhöhung gehen hier Hand in Hand.
Robert Johnson verarbeitete seine lebenslange Flucht vor der Heimatlosigkeit in einer Musik, die von immer neuen Verwundungen erzählt. Von zahllosen Höllenhunden gehetzt – er fühlte sich zeitlebens wie ein verstoßenes Kind, war von ständiger Unruhe erfüllt und wurde von seiner Gier nach Sex ins Verderben getrieben –, gelang es ihm dennoch, durch seine Musik der bedrückenden Realität zu entfliehen. Mit durchdringender, hoher Stimme forderte er in seinen Songs Erlösung ohne Rücksicht auf sein Seelenheil. Geht es im Gospel um die Huldigung des Höchsten, dann geht es Johnson um den Zusammenhang von Gewalt und Zärtlichkeit. Mal erzeugt sein Gesang Laute eines höhnischen Gelächters, dann dumpfes Donnergrollen, während sein Gitarrenspiel wie ausgedörrt klingt oder mit dem Slide gefährlich glitzernde Einzelnoten produziert. Die Musik, die er uns hinterlassen hat, in Verbindung mit dem Mysterienspiel seines Lebens und Sterbens, all das hat dazu geführt, dass er bis heute unvergessen geblieben ist. Peter Guralnick, einer seiner Biografen, ist überzeugt: »Johnson ist nie wirklich gestorben, er lebt als Idee weiter.« Doch was verbirgt sich hinter dieser Idee?
Das Mysterium, das Johnsons kurzes, aber heftiges Leben umgibt, sein rätselhafter Tod: Keiner der Blues-Musiker, die England in den 1960er Jahren besuchten, weder Muddy Waters, Big Bill Broonzy noch Howlin’ Wolf, konnte es mit dieser schillernden Figur aufnehmen, keiner verfügte über einen ähnlich verlockenden Mythos: Sein »walking with the devil« funktionierte als verführerische Metapher für die düstere Seite seines Charakters, seiner inneren Abgründe und führte damit direkt ins dunkle Herz der Rockmusik. Zugleich konnte Johnsons vermeintlicher Teufels-Pakt vom jungen britischen Blues-Netzwerk als eine Geste des Widerstands, des Ausstiegs aus bürgerlichen Konventionen gedeutet werden. Als er die Johnson-Platte King Of The Delta Blues Singers hörte, wurde Clapton, wie er sich im Gespräch mit Andrew Franklin erinnert, schlagartig klar:
Ich konnte seine Musik nicht auf die leichte Schulter nehmen. Denn er war ja in gewisser Weise ein Rebell. Er regte jede Menge Fantasien in mir an, und ich sah in ihm einen echten einsamen Wolf, der einfach zu kraftvoll war, um ihn mit anderen Musikern zu vermischen.
Es sind vor allem vier Songs, denen Johnson sein ›teuflisches‹ Image verdankt. Dabei beklagt der Sänger in »Hellhound On My Trail« lediglich, dass er von Höllenhunden gejagt werde und deshalb immer weiterziehen müsse. In »Me And The Devil Blues« wacht der Sänger eines Morgens davon auf, dass Satan an seine Tür klopft und ihn warnt, »dass die Zeit gekommen sei, zu gehen«. Er geht daraufhin mit dem Teufel Seite an Seite fort und versucht, sich dabei Mut zuzusprechen. Der »Preachin’ Blues« nennt dagegen ausdrücklich keinen Bewohner der Unterwelt und spricht nur vage vom »walkin’ like a man«, was man in Anlehnung an den »Me And The Devil Blues« mit einigem guten Willen auf den Weggang mit dem Teufel beziehen könnte.
In Johnsons »Cross Road Blues« sehen die meisten Kommentatoren die deutlichste Anspielung auf einen Deal mit dem Teufel. Obwohl die abergläubische Verbindung ›Straßenkreuzung – Teufel‹ in der Folklore der Südstaaten stark verbreitet war, erzählt Johnson in seinem berühmtesten Lied vom glatten Gegenteil: Hier geht der Sänger zu einer Straßenkreuzung, um Gott anzuflehen. Er fällt auf die Knie und bittet an der Kreuzung um dessen Gnade. Anschließend sucht er eine Mitfahrgelegenheit, doch keines der vorbeifahrenden Autos hält an. Dunkelheit senkt sich über die Straßenkreuzung, und der Sänger ist allein, voller Furcht, zusammenzubrechen. Wahrscheinlich im Jahr 1932 geschrieben, zählte der »Cross Road Blues« bald zu Johnsons Standardrepertoire. Obwohl in dem Lied an keiner Stelle explizit vom Teufel die Rede ist, gilt er unter Blues-Fans als derjenige Song, der die satanische Symbolik am plausibelsten ausdrückt. Wahrscheinlich liegt das an der düsteren Atmosphäre des Stücks, die leicht als unmittelbarer Ausdruck der Seelenlage des Sängers interpretiert werden kann. Allein die Tatsache, dass in Johnsons »Cross Road Blues« der Sänger die Kreuzung aufsucht, als die Sonne schon untergeht, widerspricht dem üblichen Ritual des Teufelspakts, das ja um Mitternacht stattfinden muss.
Der Song beschreibt eine typische Situation im Leben eines umherstreifenden Musikers: Sobald er einen seiner sicheren Stützpunkte verlässt, kommt er am Ortsrand unweigerlich zu einer Straßenkreuzung. Hier muss er sich entscheiden, welche Richtung er einschlagen soll. Der Sänger steht an einem schicksalhaften Scheideweg. Zunächst versucht er zu trampen, aber niemand nimmt von ihm Notiz. So geht das bis zum späten Abend, als ihn der Mut verlässt (»Poor Bob is sinkin’ down«.)
Man kann diesen Text so deuten, als handele er von der mentalen Verfassung einer Person, die Angst hat, ihre Seele an einen an der Kreuzung vorbeikommenden Teufel zu verlieren – vielleicht auch als Versuchung, die eigene Seele gegen musikalisches Talent einzutauschen. Wahrscheinlich aber erzählen Johnsons Zeilen von seiner Ruhelosigkeit, seiner selbstzerstörerischen Innenwelt, angefüllt mit Furcht und namenlosen Ängsten. In eine ähnliche Richtung geht auch Claptons Deutung, die er im Gespräch mit Andrew Franklin 1991 präzisiert hat:
In seiner Musik kommt eine Angst zum Ausdruck, die ich in meinem eigenen Leben auch erfahren habe. Ich kann mich mit seiner Furcht und seinem Schrecken vorbehaltlos identifizieren. Johnson hat in seiner Jugend einige schwerwiegende Fehler gemacht, deshalb wurde er ein Getriebener, immer auf Achse, weil er in der Klemme saß.
In immer neuen Versionen hat Clapton sich am »Crossroads«-Song mit den verschiedensten Bands abgearbeitet – als ginge es im Blues »nicht so sehr darum, was mit der Gitarre gesagt wird, sondern wie es gesagt wird. Deshalb wollte ich auch den ›spirit‹ und weniger die Form oder die Technik aus den Johnson-Songs herausziehen.«
Seit 1961 sucht Clapton beharrlich nach einem Weg, die rohe Emotionalität von Johnsons Musik in den modernen Sound eines elektrisch verstärkten Bluesrock zu integrieren. Im Booklet zu den Complete Recordings von Robert Johnson schreibt er:
Für mich war die Frage wichtig: Gibt es so etwas wie ein Riff, eine Form, die auch in einem Bandformat funktionieren kann? Der einfachste Ausgangspunkt schien mir in den Songs zu liegen, in denen er diese Jimmy-Reed-Figur in den Basslinien benutzt. Dann fand ich in seinem »Cross Road Blues« ein eingängiges Riff, das mehr oder weniger aus dem Song »Terraplane« stammt. Er spielte es als ganzen Akkord mit einem Slide. Ich übertrug es auf eine oder zwei Saiten und schmückte es dann noch etwas aus. Aus all seinen Songs schien mir dieses Riff am einfachsten zu reproduzieren zu sein.
Schon im März 1966, bevor er sein erstes Album mit John Mayall & The Bluesbreakers einspielen sollte, entstand eine erste Aufnahme des Stücks mit der Studio-Band Eric Clapton And The Powerhouse. Am 28. November 1966, bevor Cream ihr erstes Album Fresh Creamherausbrachten, unternahm Eric im Londoner BBC-Studio 2 einen weiteren »Crossroads«-Versuch. Doch die Verbreitung der Robert-Johnson-Legende begann eigentlich erst mit der Veröffentlichung der Cream-Live-Version von »Crossroads« vom Album Wheels Of Fire (1968). Ihr kommerzieller Erfolg übertraf nicht nur den aller Johnson-Aufnahmen, sondern wahrscheinlich auch die Verkaufszahlen aller Delta-Blues-Aufnahmen zusammen, die vor dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht worden waren.
Lokales Markenzeichen: Die Crossroads-Skulptur von Vic Barbieri in Clarksdale, Mississippi
Gerade die ›Crossroads‹-Metapher weist eine reiche Geschichte auf: In der afrikanischen Volksmythologie steht die Kreuzung für einen Ort zwischen den Welten des Natürlichen und Übernatürlichen. Hier kann eine außerweltliche Macht kontaktiert werden, es gilt ein »weder hier noch dort.« Überall in Europa war der Aberglaube verbreitet, eine Kreuzung sei der Treffpunkt von Hexen und bösen Geistern. Deshalb haben Christen gern an solchen Stellen Kapellen für Heilige und Madonnen-Statuen aufgestellt.
Psychologisch betrachtet symbolisiert die Kreuzung den Brennpunkt von Entscheidungen und den Ursprungsort von Kreativität. Sie gilt als Treffpunkt, wo Ideen und Gedanken zusammenfließen, bevor sie sich in einer Entscheidung manifestieren. In dieser Perspektive ist die Kreuzung auch ein Symbol von Unentschlossenheit und Entscheidungsschwäche. An der ›Crossroad‹ stellt man sich die Frage, ob es an der Zeit ist, seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Sie ist die Wegmarke, an der sich eine schicksalhafte Veränderung zum Guten oder Schlechten ergibt. Entsprechend oft steht die Kreuzung auch für innere Widersprüche, die ein Mensch auflösen muss.
Die ›Crossroads‹-Metapher drängt sich neben der Black-and-White-Problematik als Leitmotiv von Claptons Leben geradezu auf, das voll von Abstürzen und Neuerfindungen ist. Mit Hilfe des Kreuzungssymbols lassen sich entscheidende Wegmarken in seinem bisweilen widersprüchlichen Werdegang enträtseln, wie Clapton selbst im Interview mit Andrew Franklin erklärt:
Ich identifiziere mich mit Robert Johnson, und ich sehe mich ebenfalls oft an einer Kreuzung stehen. Ich durchlaufe dann immer einen Veränderungsprozess –, wenn ich in einer Situation bin, in der ich nicht mehr weiterweiß, nicht sicher bin, in welche Richtung ich gehen soll. Ich fühle mich nie in einer stabilen Verfassung. Ich bin nie wirklich mit mir zufrieden, halte immer nach mehr Ausschau. Ich bin mir auch nie sicher, wohin meine Reise geht. Wissen Sie, ich fühle mich wirklich richtungslos. Das ist schon ein komisches Dilemma, und es begann wohl, als ich Johnson zum ersten Mal hörte –, ohne dass ich ihm dafür die Schuld geben würde.
Claptons Psychodrama nahm schon viel früher seinen Lauf: Als er seiner Mutter Pat zum ersten Mal bewusst begegnete, war er neun Jahre alt. Sie traf eines Tages im Jahr 1954 für Eric völlig überraschend mit einem Ozeandampfer in Southampton ein und führte ihre beiden Kinder mit sich, den sechsjährigen Brian und die einjährige Cheryl. Ein Foto von ihr auf der Gangway zeigt eine hübsche, wenn auch etwas streng wirkende Frau, die ihr rötlich braunes Haar der Mode entsprechend hochgesteckt trug. Auf Eric, der mit seiner Großmutter Rose am Pier stand, muss sie glamourös wie ein Hollywoodstar aus einer anderen Welt gewirkt haben. Rose und ihr Mann Jack hatten Eric erzählt, seine Schwester käme zu Besuch. Die letzten sieben Jahre hatte Pat nämlich in Kanada verbracht, wo sie mit ihrem Ehemann, dem Soldaten Frank McDonald, eine Familie gegründet und ihr erstes Kind Eric anscheinend aus ihrer Gedanken- und Gefühlswelt verbannt hatte.
Die vielleicht wichtigste Frau in seinem Leben: Clapton mit seiner Großmutter Rose Clapp in ihrem Haus in Surrey
Obwohl Clapton sich wegen seiner unehelichen Geburt lebenslang als Außenseiter fühlte, war er mit diesem ›Makel‹ keineswegs allein. Man nimmt an, dass rund 300 000 Kinder von unverheirateten britischen Frauen nach Ende des Krieges zur Welt gebracht wurden, während ihre Väter, amerikanische und kanadische GIs, in ihre Heimat zurückkehrten. Die meisten von ihnen hatten zuvor ein erstes militärisches Training in Aldershot durchlaufen, damals der größte Standort der britischen Armee. Um der Enge und Langeweile in ihrem Ausbildungscamp zu entgehen, besuchten die GIs aus Übersee gern Tanzveranstaltungen in der Umgebung und trafen sich dort mit Einheimischen. Sexuelle Liaisons zwischen GIs und englischen Mädchen waren an der Tagesordnung.
Patricia Molly Clapton, die älteste Tochter von Rose, war erst 15 Jahre alt, als sie unmittelbar vor dem sogenannten D-Day am 6. Juni 1944, der Invasion der Alliierten in der Normandie, eine kurze Affäre mit dem acht Jahre älteren Edward Walter Fryer hatte. Der in Montreal geborene Soldat war 1942 nach England gekommen und in Surrey, in der Gegend von Guildford – nicht weit von Aldershot entfernt – stationiert worden. In den Pubs der Umgebung verdiente sich Fryer an den Wochenenden etwas Taschengeld dazu – wie er es regelmäßig tat, seit er im Alter von 14 Jahren von zu Hause weggelaufen war –, indem er am Klavier amerikanischen Boogie-Woogie zum Besten gab. Fryer war ein erklärter Jazz-Enthusiast und fühlte sich besonders dem Swing der Big-Band-Ära verpflichtet. Bei einer dieser Tanzveranstaltungen lernte er eines Abends die bezaubernde Pat kennen und lieben, die von der Charme-Offensive des gutaussehenden, singenden Soldaten völlig überrumpelt wurde. Nach einem One-Night-Stand war sie mit Eric schwanger. Fryer weigerte sich jedoch, jegliche Verantwortung zu übernehmen. Im prüden England galt damals ein solcher Unfall als Skandal, der Mutter und Kind nachhaltig stigmatisierte. Kein Wunder, dass man in der Öffentlichkeit Pats Schwangerschaft – so gut es ging – zu verheimlichen suchte, und ihr Sohn am 30. März 1945 im oberen Schlafzimmer des winzigen Hauses von Rose und Jack zur Welt kam. Eric Patrick erhielt den Nachnamen seiner Mutter: Clapton, während seine Großmutter und ihr Mann den Namen Clapp trugen.
Rose war in erster Ehe mit dem Anwaltsgehilfen Reginald ›Rex‹ Clapton verheiratet, dem Sohn eines in Oxford erzogenen Armeeoffiziers, dessen betuchte Eltern sich zunächst vehement gegen die Liaison ihres Sohnes mit einem Mädchen aus der Arbeiterklasse gewehrt hatten –, auch wenn sie aus einer der ältesten Familien Ripleys, den Mitchells, stammte. Doch die beiden hatten sich durch keine Intrige auseinanderbringen lassen. Nach ihrem Erstgeborenen Adrian, brachte Rose am 7. Januar 1929 in London ihre Tochter Patricia zur Welt. Als Rex Clapton drei Jahre später an Tuberkulose verstarb, zog Rose mit ihren beiden Kindern von Woking in das fünf Meilen entfernte Dörfchen Ripley. Heute ein beliebter Pendler-Ort, galt Ripley Mitte der 1940er Jahre als verarmte Gemeinde, in der hauptsächlich schlecht bezahlte Landarbeiter wohnten, deren Lebensstil sich in den letzten 100 Jahren kaum verändert hatte. Hier lernte Rose ihren zweiten Mann, den großgewachsenen, schwarzhaarigen Jack Clapp kennen, einen geschickten Handwerker, den sie 1942 heiratete. Ein roter Backsteinbau mit vier Zimmern und Toilette im Garten, der an offenes Weideland, die sogenannten »Fuzzies«, grenzte, musste den bescheidenen Ansprüchen der vierköpfigen Familie genügen: Es gab in dem kleinen Mietshaus weder Elektrizität noch ein Badezimmer. Da Roses Sohn Adrian das zweite Schlafzimmer für sich beanspruchte, musste Eric in seinen ersten Lebensjahren entweder im ebenerdigen Wohnzimmer oder im Schlafzimmer seiner Großeltern in einem Campingbett nächtigen.
Man darf davon ausgehen, dass Pat ihren kleinen Jungen vom ersten Moment an ablehnte, markierte er doch nicht nur das Ende ihrer Jugend. »Mir war schon bei seiner Geburt klar, dass ich keine Chance haben würde, ihn großzuziehen. Darüber werde ich nie hinwegkommen, denn ich habe mich schuldig gemacht«, gestand sie später. Schon während Pat mit Eric schwanger war, wurde sie mehrfach auf der Straße angespuckt und beschimpft. Schmierereien an der Hauswand der Clapps stellten ihre moralische Integrität in Frage. Man kann sich lebhaft vorstellen, dass während des desolaten Kriegswinters 1944/45 in der Familie Clapp auch das Stimmungsbarometer auf den Gefrierpunkt fiel: Wie sollte man in den beengten Verhältnissen, bei ständiger Lebensmittelrationierung und zunehmender Geldknappheit ein weiteres Kind aufziehen?
Schon früh hatte man sich auf eine Scharade verständigt; der Plan war einfach und tausendfach erprobt: Pat, gerade erst von der örtlichen höheren Schule abgegangen, sollte fortan als die ältere Schwester ihres Sohnes auftreten, während seine Großeltern sich als seine leiblichen Eltern ausgeben wollten: Eric, der Junge von Rose und Jack. Obwohl sie ihn nie offiziell adoptiert hatten, behielten seine Großeltern bis zu seiner Volljährigkeit de facto die Vormundschaft. So konnte auch die Abwesenheit seines leiblichen Vaters verschwiegen werden, der (wie Philip Norman erst jüngst durch Recherchen im Armee-Register nachwies) keineswegs als Kampfpilot nach England gekommen und auch nicht verheiratet war. Vielmehr gehörte er zur Infanterie und wurde 1946 wegen »unerlaubten Entfernens von der Truppe« unehrenhaft aus der Armee entlassen, kurz bevor seine Einheit ohnehin in die kanadische Heimat zurückkehrte.
Nach dem Sieg der Alliierten fand England nur langsam den Weg zurück in die Normalität. Ein Schulfreund Eric Claptons resümierte später die ernüchternden Erfahrungen der Nachkriegsgeneration:
Obwohl Eric und ich nur sechs Wochen eigentliche Kriegszeit miterlebt haben, wirkten die Folgen noch zehn Jahre lang nach. In Großbritannien war diese Zeit ganz besonders schlimm: Einsparungen, Kürzungen, Stromausfälle, Streiks. Die ganze Zeit über schien es zu regnen. Kein Wunder, dass wir in den 60er Jahren alle verrücktspielten.
Sieg und Sorgen: Auch nach dem Krieg gab es noch Lebensmittelmangel in Großbritannien.
Noch bis Ende der 1950er Jahre gab es in England Lebensmittelrationierungen für Zucker, Eier, Fleisch, Tee, Käse und Brot. Laut Keith Richards erklärte sich allein durch die langanhaltende Zuckerrationierung, »warum viele von uns so dünn sind«. Die meisten jugendlichen Briten erlebten ihr Heimatland damals als grau und langweilig. Die Düsterkeit in Kombination mit dem sprichwörtlich schlechten Wetter gerann zu einem Stereotyp. Jack Bruce erinnert sich mit Grausen an seine Jugend in Glasgow: »Es gab damals keine Farben in Großbritannien. Alles wirkte grau und verwaschen, um vier Uhr wurde es dunkel.«
Obwohl der stolze Inselstaat Hitler besiegt und die Demokratie verteidigt hatte, galt das Land nach dem Zweiten Weltkrieg als »der kranke Mann Europas«: ein kleines Land mit zerstörten Fabriken, kulturell ausgezehrt, in geistiger Enge gefangen, finanziell impotent und irgendwie zweitklassig. England hatte seinen Platz in der Welt noch nicht wiedergefunden. Zusätzlich nahm jener Entkolonisierungsprozess ab 1947 seinen Anfang, der das britische Empire massiv schrumpfen ließ. Erst diese ökonomische und kulturelle Kraftlosigkeit des Landes führte dazu, dass britische Jugendliche in den Folgejahren auf eine geradezu verzweifelte Suche nach Abenteuer und Exzessen gingen. Nach Ansicht des amerikanischen Folkmusik-Sammlers Alan Lomax war dieser globale Machtverlust Großbritanniens in Verbindung mit dem englischen »Klassen- und Kasten-System«, langweiligen Jobs und fehlendem Geld, im Kern dafür verantwortlich, dass britische Jugendliche sich mit verrufenem Rock ’n’ Roll, oder noch extremer: mit verpönten »Negro-Prison-Songs« so rückhaltlos identifizierten. Weil England sich im europäischen Vergleich als leistungsschwacher Nachzügler entpuppte, konnte Pete Townshend später von einem »besonderen Nachkriegsgefühl des Versagens« als seiner ureigensten Antriebsfeder sprechen.
Pat hielt es nur zwei Jahre bei ihrem Sohn in Ripley aus. Die Leute ließen sie spüren, dass sie eine ›Gefallene‹ war. An der Methodistenkirche des Ortes prangte schon bald die Aufforderung »Hau ab, PC, du Hure!«. Doch so schnell ließ sich Pat nicht einschüchtern, und erst nachdem sie sich 1947 mit dem ebenfalls aus Kanada stammenden Soldaten Frank McDonald verlobt hatte, kehrte sie ihrem inzwischen ungeliebten Heimatort den Rücken.
Als sie 1954 nach England zurückkehrte, brachte sie natürlich Geschenke für ihren Eric mit. Der war zunächst auch ganz begeistert von der knallig bunten Seidenjacke mit dem aufgestickten Drachen sowie den wundervoll verzierten Holzschachteln, die Frank seiner Frau aus dem Koreakrieg mitgebracht hatte. Doch irgendetwas stimmte nicht. Schon seit Längerem, nicht erst seitdem auf dem Schulhof darüber geredet wurde, dass er irgendwie ›anders‹ sei, hegte Eric einen Verdacht. Immer wieder hatte er bei Familienfeiern und Verwandtenbesuchen Gesprächsfetzen aufgeschnappt, die ihn daran zweifeln ließen, dass er wirklich der leibliche Sohn von Rose und Jack war. Warum hätte seine Tante Audrey auch mit schöner Regelmäßigkeit bei Rose im Flüsterton nachfragen sollen: »Gibt’s was Neues von seiner Mutter?« Und warum nannte sein großer Bruder Adrian, der in Wahrheit sein Onkel war, ihn am liebsten »Little Bastard«?
Nachdem Pat mit ihren beiden Kindern für die nächsten zwölf Monate in das Landhäuschen von Rose und ihrem Mann eingezogen war, sollte Eric schnell spüren, welch leeren Kulissenzauber man all die Jahre für ihn aufgeführt hatte: Pat musste seine leibliche Mutter sein, und sie war ja – wenn auch spät – zu ihm zurückgekehrt. Für ein paar Wochen stand die Wahrheit unausgesprochen im Raum. Rose und Jack hegten schon die Hoffnung, Eric hätte sich inzwischen mit den Umständen arrangiert und würde seiner Mutter keine Szene mehr machen. Doch eines Abends platzte es aus ihm heraus: »Pat, darf ich dich jetzt Mama nennen?« Der Augenblick betretenen Schweigens, der sich immer mehr in die Länge zog, dürfte auf Eric wie eine qualvolle Ewigkeit gewirkt haben. Schließlich überwand Pat die Verlegenheit und erklärte ihrem Sohn, den sie nur Rick nannte, in freundlich-sachlichem Ton: »Ich glaube, es ist am besten, wenn du deine Großeltern – nach allem, was sie für dich getan haben – weiterhin Mama und Papa nennst.« Beinahe über Nacht wurde aus dem aufgeweckten Jungen ein mürrischer, verbitterter Mensch: »Ich hatte erwartet, sie würde mich freudig in ihre Arme schließen und dass sie von jetzt an bei mir bleiben würde.« Doch seine Mutter dachte nicht daran, ihn nach Kanada mitzunehmen. Fortan sollte Eric seiner gesamten Umgebung misstrauen – seine Großeltern eingeschlossen. Und es begann für ihn der lange Weg der Selbsterforschung, der schmerzlichen Suche nach einer eigenen, unverbrüchlichen Identität.
Jene »emotionale Verarmung«, die er später für seine Liebe zum Blues, insbesondere für seine unbedingte Identifikation mit Robert Johnson verantwortlich machen sollte, nahm hier ihren Anfang. Erst durch sein Trauma des frühen Verlassenwordenseins sah er sich zeitlebens nicht nur autorisiert, den Schmerz des Blues zu verstehen, sondern auch dazu legitimiert, seiner Verzweiflung öffentlichen Ausdruck zu verleihen. Musik wurde für ihn zu einer Art Selbsttherapie: »Jetzt fühlte ich mich nicht mehr, als besäße ich keine Identität, und als ich das erste Mal Blues hörte, kam es mir so vor, als würde meine Seele weinen. Ich identifizierte mich unmittelbar damit.« Erst der Blues habe ihm erlaubt, mit seinen widerstreitenden Gefühlen Frieden zu schließen und ihm eine Art »einsamen Mut und Stolz« vermittelt, die Unbeugsamkeit »eines Mannes mit seiner Gitarre, vollkommen allein, ohne andere Möglichkeiten, seinen Schmerz zu lindern als durch Spielen und Singen.«
Die klassische Psychoanalyse kennt den Begriff der ›Verlassenheitsneurose‹, der die seelischen Leiden von Menschen umschreibt, die durch eine frühe Erfahrung des Verlassenwerdens verletzt worden sind. Der Schweizer Trauma-Forscher Daniel Dufour erklärt, welche Reaktionen diese »Verlassenheit« bei den Betroffenen auslösen kann: »Tatsache ist, dass es einem Menschen sehr schwerfällt, sich einzugestehen, dass er verlassen wurde. Er schämt sich sehr dafür, so etwas erlebt zu haben und fühlt sich obendrein selbst dafür verantwortlich.« Mangelndes Selbstwertgefühl und eine nicht eingestandene Bindungsunfähigkeit sind oft die Folgen.
Gleichwohl hat Clapton später wiederholt betont, seine Kindheit sei nicht vollkommen unglücklich verlaufen. Seine Großeltern hätten immer versucht, das Beste aus der schwierigen Situation zu machen und ihm eine solide Erziehung geboten. Was Kleidung und Spielzeug anging, habe er sich auch nie hinter seinen Altersgenossen verstecken müssen. Seine Oma Rose wurde von allen als kleine, quicklebendige Person geschildert, mit einem pragmatischen Zug, die sich mit ihren 39 Jahren hingebungsvoll der Versorgung ihres Enkels widmete. Auch ihr warmherziger Ehemann, der mit seinen vielen Talenten als Zimmermann, Maurer und Stuckateur selbst in der harten Nachkriegszeit für ein regelmäßiges Einkommen sorgen konnte, war ganz vernarrt in den kleinen Eric. Mit seinem schnörkellosen Realitätssinn verkörperte Jack den Prototypen des ›ehrlichen englischen Arbeiters‹. Und die beiden verwöhnten ihren Enkel nach Strich und Faden. Während Rose ihm wöchentlich seine Lieblings-Comics kaufte und sicherstellte, dass es ihm nie an Süßigkeiten fehlte, bastelte Jack jede Menge Holzspielzeug für den kleinen Eric.
Sie kauften ihm auch einen schwarzen Labrador, den der Junge »Prince« nannte. Am liebsten tollte Eric mit ihm auf den Fuzzies herum. Hier graste auch ein Pony, und Eric entwickelte ein besonders enges Verhältnis zu Tieren. Im Januar 1950 war er in die Church of England First School aufgenommen worden: ein im Innern düsterer Ort, an dem sich die etwa 60 Kinder in ihren Schuluniformen, also in kurzen grauen Hosen, grauen Socken, einem blauen Hemd und Pullover, in ungeheizten Räumen versammeln mussten. Erics zunächst passable Leistungen in Englisch, Religion, Geografie (Mathe war nie seine Sache) und vor allem in Kunst ließen schlagartig nach, als er das Geheimnis um seine Mutter gelüftet hatte. Seine ohnehin vorhandene Schüchternheit wurde jetzt noch schlimmer. Da es in Großbritannien damals noch keine Sexualerziehung in der Schule gab, und die Geheimnisse der Pubertät auch im Elternhaus nur selten gelüftet wurden, waren Eric und seine Freunde darauf angewiesen, sich allein durch Hinweise und Bilder in Zeitschriften sowie durch zufällig aufgeschnappte Bemerkungen von Älteren einen Reim auf das menschliche Sexualverhalten zu machen. Umso größer war ihre Begeisterung, als sie im Park von Ripley eines Tages eine Art selbstgezeichnetes Penthouse-Magazin fanden. Die etwas unbeholfenen Skizzen der männlichen und weiblichen Genitalien ließen gleichwohl kaum noch Fragen offen.
Fasziniert und schockiert zugleich nahm Eric am nächsten Tag all seinen Mut zusammen und fragte ein Mädchen, das gerade neu in die Klasse gekommen war, in aller Naivität: »Hast du Lust zu ficken?« Die anschließende Bestrafung mit sechs Rohrstockhieben durch seinen Klassenlehrer Mr. Dickinson führte dazu, die diffuse Ängstlichkeit des unbedarften Schuljungen noch zu verstärken. Eric war gar nicht richtig klar gewesen, was er seine Mitschülerin da gefragt hatte. Später meinte er: »Von da an neigte ich dazu, Sex mit Bestrafung, Schande und Peinlichkeit zu assoziieren – Gefühle, die mein Sexualleben noch auf Jahre prägen sollten.« Neben diesem Hang zum Selbsthass sollte der Vorfall in Verbindung mit der erlittenen Ablehnung durch die eigene Mutter Claptons Neigung verstärken, auf nahezu alle Frauen wütend zu sein. »Damit fing alles an. Bald wurde mir klar, dass ich das mit dem anderen Geschlecht auch machen konnte – dasselbe was meine Mutter mir angetan hatte.«
Der geborene Außenseiter? Eric Clapton als Schüler
Als Pat schließlich Hals über Kopf nach Kanada abreiste, befand sich Clapton in einer desolaten Stimmung und war kaum in der Verfassung, die für seine schulische Weiterbildung wichtige Eleven-Plus-Prüfung zu absolvieren. Dieser Test entschied darüber, welche begabten Schülerinnen und Schüler eine Grammar School – unserem Gymnasium vergleichbar – besuchen durften, und welche auf eine Secondary Modern gehen sollten. Da Eric keinerlei Ehrgeiz an den Tag legte und bei der Eleven-Plus durchfiel, wechselte er am 4. September 1956 in die St. Bede’s Secondary Modern, sozusagen eine Kombination aus Haupt- und Realschule, die in Ripleys Nachbargemeinde Send lag.
Auf dem Schulhof sonderte er sich jetzt immer häufiger von seinen Klassenkameraden ab, galt als verschlossen und eigenbrötlerisch, wie er in der Juli-Ausgabe des Rolling Stone 1974 enthüllte:
Ich war derjenige, nach dem man gern mit Steinen warf, weil ich so dünn und unsportlich war. Ich galt als der ewige 90-Pfund-Schwächling. Meist trieb ich mich mit drei, vier anderen Jungs herum, die sich in einer ähnlich misslichen Lage befanden – Außenseiter eben. Alle nannten uns nur die Bekloppten.
Seit seinen ersten Schuljahren hatte Eric den Eindruck, die anderen würden hinter vorgehaltener Hand über ihn tuscheln und sich über seine uneheliche Herkunft lustig machen: »Oft habe ich mir gewünscht, die Erde würde sich auftun und ich könnte einfach darin verschwinden.« Als er dann noch eines Tages vorm Spiegel festzustellen meinte, ein fliehendes Kinn zu haben, wurden die Komplexe noch stärker. Fortan versuchte er, den anatomischen Makel durch Bärte verschiedenster Form und Länge zu kaschieren.
Allein in seinen Zeichnungen konnte Clapton den Gefühlen freien Lauf lassen, obwohl sie meist nur tote Gegenstände und selten handelnde Menschen zeigten. Umso tollkühner ging es in seinem Kopf zu: In dieser Fantasiewelt herrschte sein furchtloses Alter Ego »Johnny Malingo«, der jedem mit äußerster Brutalität begegnete, sollte ihm der nötige Respekt verweigert werden. Malingo war der geborene Einzelgänger, der keine Freunde brauchte und allein mit seinem treuen Pony »Bushbranch« unterwegs war. Wenn Eric sich gerade nicht in ein neues Cowboy-Abenteuer von Johnny hineinträumte, konnte er stundenlang in der heimischen Küche hocken und Bilder von frisch gebackenen Pasteten anfertigen.
Sein Zeichentalent war auch seinen Lehrern nicht verborgen geblieben. Als Eric dann im Alter von 14 Jahren an der St. Bede die Thirteen-Plus-Prüfung mit tatkräftiger Unterstützung seines Kunstlehrers Mr. Swan bestand, wechselte er auf die Hollyfield Road School in Surbiton, der die Juniorenabteilung des Kingston Art College angeschlossen war. Das bedeutete für den Jungen zwar jeden Morgen eine halbstündige Busfahrt, doch war das die Sache wert. Hier konnte er an einem dreijährigen Kurs für Malerei und Bildhauerei teilnehmen: Als Glasmaler hätte Eric nach Ansicht von Rose und Jack eine sichere Zukunft vor sich gehabt.
Den stärksten Rückhalt aber bot dem Heranwachsenden die Musik, zumal sie Clapton buchstäblich in die Wiege gelegt schien. Schon sein Urgroßvater mütterlicherseits, Timothy Mitchell, spielte Akkordeon und Violine und hatte dafür gesorgt, dass seine Tochter Rose als Jugendliche regelmäßig Klavierunterricht erhielt. In ihrem Haus 1, The Green, in Ripley, stand im Wohnzimmer ein Harmonium, das später durch ein Piano ersetzt wurde, auf dem Rose mit Vorliebe sentimentale Music-Hall-Hits von Gracie Fields und Josef Locke spielte. Erics Onkel Adrian versuchte sich dagegen mit Erfolg auf der Mundharmonika, profilierte sich aber am liebsten als Tänzer zu Swing-Nummern der Big Bands von Posaunist Glenn Miller, Klarinettist Benny Goodman oder Posaunist Tommy Dorsey. Dies war auch die Musik, die Erics Mutter Pat während ihres Besuchs in Ripley ständig auflegte. Auch er fühlte sich eine Zeit lang vom melancholischen Ton des Trompeters Bunny Berigan in seiner Interpretation von »I Can’t Get Started« angesprochen. Allerdings waren Erics erste musikalische Gehversuche nicht von Erfolg gekrönt: Nachdem er unter lautem Quietschen vergeblich versucht hatte, auf einer alten Violine seiner Großeltern nachzuahmen, was ihm sein Urgroßvater Mitchell so virtuos vorgespielt hatte, gab er sein erstes Saiteninstrument bald wieder auf.
Als 1955 der Film Blackboard Jungle (Saat der Gewalt) in die englischen Kinos kam, war der Begriff ›Rock ’n’ Roll‹ in aller Munde. Bill Haley, Elvis Presley, Little Richard und Jerry Lee Lewis lieferten jetzt auch im Vereinigten Königreich den Soundtrack einer jugendlichen Revolte. Eric war wie elektrisiert und fest davon überzeugt, dass diese rohe, mitreißende Musik – entgegen den Prognosen englischer Zeitungen – keineswegs in sechs Monaten vorbei sein würde. Sein Schulfreund Philip Solly erinnerte sich später: »Für jeden auch nur einigermaßen frustrierten Jugendlichen, also für die meisten von uns, war diese Musik wie ein Geschenk des Himmels. Plötzlich sahen wir einen Ausweg.« Rock ’n’ Roll sollte sich als wichtigster kultureller Export Amerikas entpuppen, das nach dem Niedergang Großbritanniens ab 1945 das ökonomische, politische und kulturelle Leben in Europa dominierte: Coca Cola, Comics, Hamburger, Hollywoodfilme voller Action – all diese Konsumartikel wirkten wie Heilsversprechen eines Reichs der Freiheit, voller Abenteuer und Verlockungen.
Bill Haleys »Shake, Rattle ’n’ Roll« und »Rock Around The Clock« schafften es als erste Rock-’n’-Roll-Songs im Dezember 1954 und November 1955 in die britischen Charts. Das war jedoch nichts im Vergleich zum sensationellen Durchbruch von Elvis Presley im Jahr 1956, der ebenso wie in Amerika zum Liebling der Teenager und zur Hassfigur der Erwachsenen im Vereinigten Königreich avancierte: Man warf ihm idiotische Texte, einen peinlich larmoyanten Gesangsstil und sexuell aufstachelnde Musik vor. Patrick Doncaster beschrieb Elvis’ Gesang im Daily Mirror als »ein Gurgeln atemloser Krämpfe« und verglich ihn mit dem »Durchspülen eines Abwasserrohrs«. Mit rassistischem Unterton diskreditierte man seine Songs als »schwarze Musik« und die Daily Mail war sich nicht zu schade, den Rock ’n’ Roll als die »Rache des Negers« zu werten. Beiderseits des Atlantiks verfielen die Feuilletonisten in apokalyptische Schnappatmung.
Doch davon ließen sich weder Clapton noch Tausende andere Jugendliche auf der Insel beeindrucken. Schon während seiner Zeit auf der St. Bede School hatte Eric sich mit John Constantine angefreundet. Der Junge aus gut situiertem Hause teilte seine Rock-’n’-Roll-Faszination, zumal seine Eltern eine Musiktruhe besaßen, einen klobigen Holzschrank mit eingebautem Radio und Plattenspieler, damals eine Rarität. Hier hörte Eric 1956 zum ersten Mal den Elvis-Presley-Kracher »Hound Dog« und war vor allem von Scotty Moores Gitarrensolo mit seiner Weniger-ist-Mehr-Phrasierung völlig begeistert.
Home Is Where My Record Player Is: Claptons erster Plattenspieler
Zu seinem 13. Geburtstag im März 1958 bekam Clapton von Rose und Jack seinen ersten eigenen Plattenspieler geschenkt. Es war ein portabler Dansette Club, auf dem er wieder und wieder sein erstes Album von Buddy Holly And The Crickets abspielte. Als Holly im selben Jahr in der TV-Reihe Sunday Night at the London Palladium auftrat, saß Clapton natürlich bei der Constantine-Familie vor dem Fernseher und konnte sich an den aufstörenden Live-Versionen von »That’ll Be The Day«, »Oh Boy« und »Peggy Sue« nicht satthören. Den größten Eindruck auf den jungen Rock-Adepten aber machte Hollys futuristische Gitarre: eine rote Fender-Stratocaster, die mit ihrer Stromlinienform und dem fremdartigen Vibratohebel wie ein Objekt aus einer anderen Galaxie wirkte. Kein Wunder, handelte es sich doch um die erste Stratocaster, die man in Großbritannien zu Gesicht bekam. »Als ich sie sah, wusste ich: Das ist die Zukunft!«
Am Radio im Wohnzimmer von Rose und Jack verfolgte Eric auch begeistert die Kindermusiksendung Uncle Mac’s Hour. Sie lief samstagvormittags und hier konnte man neben gängigen Rock-’n’-Roll-Nummern auch schon mal einen Folk-Blues-Song von Sonny Terry und Browny McGhee oder einen Memphis-Slim-Boogie hören. Als Clapton dann »My Life Is Ruined« von Muddy Waters bei Uncle Mac hörte, war es um ihn geschehen: »Ich dachte sofort: Das ist mein Ding. Und so wuchs in mir der Wunsch, genauso zu sein.« Plötzlich galt Blues als ultimative Verheißung – Elvis Presley war 1958 in die Armee eingezogen worden, Buddy Holly kam im Februar 1959 bei einem tragischen Flugzeugabsturz ums Leben und Chuck Berry saß im Gefängnis. Nicht nur Keith Richards hatte damals den Eindruck, aus dem Rock ’n’ Roll sei schon wieder »die Luft raus«. Umso spannender war die Frage, wo die Wurzeln dieser Musik lagen. Als Eric zum ersten Mal einen Blues-Song hörte, wirkte diese Musik auf ihn in primitiver Art und Weise schmerzlindernd: »Sie rauschte umweglos durch mein Nervensystem, und ich fühlte mich gleich unbesiegbar.«
Die Blues-Texte mit ihren Bildern von Qual, Angst und Gefühllosigkeit, von Sinnlichkeit und Sex in Verbindung mit bodenständig-einfachen Rhythmen und gleichzeitig raffinierter Gitarrenbegleitung: Diese archaische Mischung hatte es dem pubertären Eric angetan. Sein Biograf Christopher Sandford zitiert ihn:
Während meiner Jugend hatte ich fast immer das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Den einzigen Ausweg sah ich darin, diese Zeit mit Würde, Stolz und Mut durchzustehen. Und die Möglichkeit dazu gab mir eine bestimmte Art von Musik, der Blues.
Clapton fühlte sich unmittelbar aus der kalten, grauen Welt im Nachkriegsengland auf die sonnendurchglühten Baumwollfelder im Mississippi-Delta versetzt, in die verruchten Blues-Kneipen der Gegend – ohne die geringste Ahnung von der Armut schwarzer Blues-Musiker und der Diskriminierung ihrer ›race music‹ im Heimatland des Blues zu haben.
Um die Geheimnisse dieser verlockenden Musik zu enträtseln, musste eine Gitarre her. Jeden Morgen, auf dem Weg von der Hollyfield School zu den Gebäuden der Kunstabteilung, kam Eric an Bell’s Music Shop vorbei. Der Laden, ursprünglich auf Klaviere und Akkordeons spezialisiert, stellte jetzt im Schaufenster die jüngsten Sehnsuchtsobjekte aller musikbegeisterten Jugendlichen aus: Gitarren, Akustikmodelle, vor allem aber Solidbody-Instrumente mit elektrischen Pickups. Nicht nur Eric drückte sich jeden Morgen seine Nase an der Scheibe platt. Sein Auge fiel bald auf ein erschwingliches Exemplar, wie er in seiner Autobiografie schreibt:
Es war eine in Deutschland gebaute Hoyer, die ungefähr zwei Pfund kostete. Es war ein seltsames Instrument, das aussah wie eine klassische Gitarre, jedoch keine Nylon-, sondern Stahlsaiten hatte, eine eigentümliche Kombination, die einem Anfänger das Spielen ziemlich schwer machte.
Ausgerechnet das Exemplar, das Rose 1958 nach langem Bitten und Betteln schließlich bei Bell’s für ihren Enkel Eric erstand, hatte seine Tücken. Das Griffbrett war zu breit, die Saitenlage zu hoch und außerdem schnitten die Stahlsaiten schmerzhaft in Erics weiche Fingerkuppen. Im Stehen kam ihm der Gitarrenkorpus viel zu groß vor. Er konnte das Instrument nicht richtig stimmen – und dann riss ihm auch noch eine Saite. Doch nachdem er die ersten Frustrationserfahrungen überwunden hatte, machte Eric mit fünf Saiten unverdrossen weiter. Er verbrachte Stunden damit, sich die rudimentären Akkorde von Harry Belafontes Folk-Song »Scarlet Ribbons« anzueignen und überprüfte seine technischen Fortschritte auf einem portablen Grundig-Tonbandgerät, das ihm Rose und Jack zu seinem 14. Geburtstag geschenkt hatten.