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Die Liebe des Elfenkönigs hat immer einen Preis ...
Nach dem Tod ihrer Eltern schafft es Bristol Keats nur mit Mühe, sich und ihre Schwestern über Wasser zu halten. Als eine angebliche Tante überraschend Hilfe verspricht, erfährt sie, dass alles, was sie über ihre Familie zu wissen glaubte, eine Lüge war, und dass ihr Vater womöglich noch am Leben ist. Um ihn zu finden, muss Bristol ins Land des Elfenkönigs Tyghan reisen. Dieser braucht ihre verborgene magische Gabe, um eine finstere Bedrohung von den Reichen Elfheims abzuwenden. Bristol taucht in eine Welt der Magie, Intrigen und Verführung am Hof der Tuatha De Danann ein und kann sich schon bald der Anziehungskraft des geheimnisvollen Elfenkönigs nicht mehr entziehen. Was Bristol nicht weiß: Tyghan ist ebenso entschlossen wie sie, ihren Vater zu finden - sei es tot oder lebendig ...
»Mary Pearson ist die neue Königin von Faerie.« STEPHANIE GARBER
Das New-Adult-Debüt von TIKTOK-Star und NEW-YORK-TIMES-Bestseller-Autorin Mary E. Pearson
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Seitenzahl: 905
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Zu diesem Buch
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Die Autorin
Impressum
Mary E. Pearson
The Courting of Bristol Keats
Roman
Ins Deutsche übertragen von Ulrike Raimer-Nolte
Nach dem Tod ihrer Eltern versucht Bristol Keats, sich und ihre beiden Schwestern irgendwie über Wasser zu halten. Als sie Briefe einer angeblichen Tante erreichen, die Hilfe verspricht, ist Bristol zunächst mehr als misstrauisch, lässt sich aber widerwillig auf ein Treffen ein. Doch was sie dort erfährt, hebt ihre Welt aus den Angeln. Alles, was sie über ihre Familie zu wissen glaubte, war eine Lüge, und ihr Vater ist womöglich noch am Leben – entführt von Kreaturen aus Elfheim, dem Reich der Elfen und Fabelwesen. Um ihn zu finden, muss Bristol ins Land des Elfenkönigs Tyghan reisen, der dringend ihre Hilfe braucht, um eine finstere Bedrohung von den Reichen der Anderswelt abzuwenden. Denn in Bristol schlummert eine Magie, die der Schlüssel zur Rettung Elfheims sein könnte. Sie taucht in eine Welt der Magie, Intrigen und Verführung am Hof der Tuatha De Danann ein und kann sich schon bald der Anziehungskraft des geheimnisvollen Elfenkönigs nicht mehr entziehen. Was Bristol nicht weiß: Tyghan ist der Grund dafür, dass ihre Eltern ihr ganzes Leben lang auf der Flucht waren – und er ist ebenso entschlossen wie sie, ihren Vater zu finden, sei es tot oder lebendig …
Für den Mann, der mich auf einen kleinen Spaziergang einlud,
und ihn in eine magische Reise verwandelte.
Das Universum öffnete mir eine Tür.
Wie hätte ich wegschauen können?
Anastasia Wiggins
Am Ende der Oak Leaf Lane erwachte der Morgen fünfzehn Minuten zu früh. Den meisten Bewohnern fiel es nicht auf, wie es so oft der Fall ist, wenn solche Dinge sich ereignen. Aber etwas Ahnungsvolles schwebte in der Luft, lauernd wie ein hungrig kreisender Bussard. Wildgräser erzitterten; Tautropfen tänzelten zu Boden. Die Erde erbebte leicht, als ein leises Wispern über die Torfhügel strich, Gänsescharen aufschreckte und hoch in den Himmel fliegen ließ. Irgendetwaswürdegeschehen.
Auch Bristol Keats schlief tief und fest und bemerkte nicht, wie sich das frühe Morgenlicht langfingrig wie ein Dieb seinen Weg durch die Vorhänge stahl. Nichts und niemand würde sie aus ihrem Bett kriegen können, bevor sie eine anständige Mütze voll Schlaf bekommen hatte. Ihr Kissen war feucht von ihrem Speichel, und ein Arm hing schlaff über die Bettkante. Sie hatte bis spätnachts gearbeitet. Ihr Trinkgeld stapelte sich in einem befriedigenden Häuflein auf dem Nachttisch … ein schwankendes Monument, das von ihrer Durchhaltekraft kündete.
Erst spät am Morgen regte sie sich stöhnend. Sie erhob sich widerwillig aus dem zerwühlten Bett und bugsierte ihre Beine in die enge Jeans. An Freitagabenden war im Ort viel los, aber die heute beginnenden Festivaltage würden noch viel lohnender sein. Gut so, denn der Stapel aus Mahnungen wurde immer höher. Ganz oben lag die Rechnung vom Elektrizitätswerk, die vierzig Tage überfällig war. Sehr bald würde man ihnen den Strom abdrehen. Aber wenn Bristol die heutigen Trinkgelder mit denen aus letzter Woche zusammenlegte, sollte es reichen. Vermutlich würde sogar noch ein bisschen für den Einkauf im Supermarkt übrig bleiben.
Noch verschlafen schnupperte sie an ihren Haaren, in denen wie erwartet der Fettgeruch von Pizza hing. Hastig raffte sie alles zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammen wie an jedem normalen Tag. Sie ahnte nicht, wie außergewöhnlich dieser werden sollte, denn noch sah man nichts davon. Doch als sie sich notdürftig das Gesicht wusch und die Zähne putzte, wandte sich ihr Kopf wie von selbst zur Seite, dorthin, wo eine seltsam samtige Wärme in der Luft zu liegen schien. Das Gefühl war so vage, dass sie es kaum benennen konnte. Unbewusst schmiegte sie sich dagegen wie ein Katze, die den gekrümmten Rücken an einem Türrahmen reibt.
Eine Tür. Ja. Genau dagegen lehnte sie sich.
Aber das wusste sie in diesem Moment noch nicht.
Bristol zog die Vorhänge zurück und musste ihre Augen vor der Sonne abschirmen, die schon gleißend über die Bäume hinwegstrahlte und allzu überschwänglich den Tag einläutete. Es war jetzt ein Jahr her, seit sie ins Zuhause ihrer Familie zurückgekehrt war. Dabei kam ihr diese Zeit sehr viel länger vor, hätte man doch ein ganzes Leben in die zurückliegenden Wochen und Monate packen können. Das Jahr beulte sich wie ein übervoller Reisekoffer, der sich nicht mehr schließen lässt.
Zuhause. Noch immer kam ihr das Wort nur zögernd über die Lippen. Es wirkte so fremdartig und neu, dass sie nur ab und zu probeweise damit herumspielte. Sie hatte Angst, sich daran zu gewöhnen, es vielleicht lieben zu lernen. Schnell fort. Schnell weiter. Diese Worte hatten sich in sie eingegraben wie der Dreck unter ihren Fingernägeln.
Bristol wandte sich vom Fenster ab und durchwühlte den Korb mit frischer Wäsche, der auf dem Boden stand. Sie kramte ein schwarzes ärmelloses Shirt hervor und zog es über. Ihre Oberweite würde die Falten schon glatt ziehen.
»Bri!«
Harpers Rufen schallte den schmalen Treppenflur herauf, und ihre Stimme klang eher wie die eines Zwei-Meter-Türstehers als die einer zierlichen Vierzehnjährigen, die auf einen Wachstumsschub hoffte. Was Bristols kleiner Schwester an Körpergröße fehlte, machte sie durch pure Lautstärke wett.
»Schon gut, ich bin wach«, rief Bristol zurück. Sie ließ sich auf den Bauch plumpsen und suchte unter dem Bett nach ihrem fehlenden Schuh. Eigentlich war sie sicher, dass sie beide Sneaker neben dem Bettpfosten abgestreift hatte, aber bei der späten Uhrzeit gestern war sie zu erschöpft zum Denken gewesen.
»Bri!«
Sie unterbrach ihre Schuhjagd. Das klang nicht wie der übliche Weckruf. Vielleicht hatte ihre Schwester eine Spinne in der Küchenspüle entdeckt? Abgesehen davon, dass Bristol die Rechnungen bezahlte und das Unkraut im Vorgarten wegmähte, wann immer sie Zeit fand, war sie auch die Spinnenjägerin des Haushalts. Mit Pech war es aber auch schlimmer, und statt eines fiesen Mörderinsekts wartete ein weiteres geplatztes Wasserrohr auf sie. Verdammte alte Bruchbude. Bristol presste einen Moment die Faust gegen ihre Stirn. Nur das nicht, dachte sie mit aller Kraft. In ihrem Kopf schien ein fragiles Gleichgewicht ins Schwanken zu geraten und neigte sich in Richtung drohender Katastrophe. Noch eine Rechnung vom Klempner konnten sie sich nicht leisten.
Wummernde Schritte jagten die Treppe hinauf. Bristol erhob sich vom Boden und bereitete sich innerlich auf das Schlimmste vor, als die Zimmertür aufflog. Die Wangen ihrer Schwester glühten rosenrot, und die Brille saß ihr schief auf der Nase. Bristols Magen zog sich zusammen. Wie jung Harper noch wirkte, wie eilig und dramatisch alles für sie war. Der Altersunterschied zwischen ihnen betrug sieben Jahre, aber manchmal kam es ihr wie ein Jahrhundert vor.
Harper hielt einen Brief in der Hand. »Wir haben noch einen bekommen!«
Hastig zog Bristol sie ins Zimmer und schloss die Tür. »Ist Cat schon weg?«
Sie stieß einen erleichterten Seufzer aus, als Harper nickte. Wenigstens eine Sache, die heute nicht schiefging. Sonst hätte sie fürchten müssen, dass Cat sich wegen eines simplen Briefs in eine ihrer Tiraden hineinsteigerte. Eigentlich war Cat die Älteste von ihnen – mit einem Abstand von zehn Monaten, um genau zu sein –, aber normalerweise hielten die Leute immer Bristol für die Ältere. Angeblich lag es an ihrer reservierten Ausstrahlung. Sie musste zugeben, dass sie berechnender war und erst alle Möglichkeiten abwägte, bevor sie etwas offenbarte, während Cat spontan reagierte. Ihre Schwester wurde von ihren Gefühlen mitgerissen und hielt sich nie zurück. Eigentlich liebte Bristol sie für ihre Leidenschaftlichkeit, nur führte das eben auch zu langen, dramatischen Wutanfällen. Heute hatte sie keine Zeit für schrille Vorhaltungen. Das letzte Mal war Cat sogar in Tränen ausgebrochen, als Bristol verkündet hatte, dass sie das College ganz aufgeben und sich einen Vollzeitjob suchen würde. Eine volle Stunde hatte Cat sie angeschrien. Bist du verrückt geworden? Dad hat gutes Geld dafür bezahlt. Er würde wollen, dass du durchhältst! Leider wusste Cat immer ganz genau, welche Knöpfe sie drücken musste, und der Hinweis auf ihren Vater war einer davon.
Bristol nahm Harper den Umschlag aus der Hand, wobei sie betont gelangweilt mit den Schultern zuckte und den Brief dann unentschlossen zwischen den Fingern drehte wie lästige Werbepost. Heutzutage tat sie vieles aus Rücksicht auf Harper. Aber wenn sie dabei zu offensichtlich wurde, streckte ihre kleine Schwester das Kinn vor und verkündete: »Du bist nicht meine Mutter!« Und dann würde Bristol schnauben, und sie beide würden anfangen zu lachen, weil ihr Leben so absurd war. Seltsamerweise half es zu lachen, als würde dadurch alles weniger real.
Wenigstens hatte Harper den Brief zu ihr gebracht und nicht zu Cat, die darin nur eine beleidigende Form von Junkmail sah. Bei den letzten beiden Malen hatte sie aufgequiekt wie eine verwundete Maus und verkündet, das sei doch alles Betrügerei und man müsse die Briefe verbrennen. Bristol hatte gemeint, der Abfalleimer würde wohl ausreichen.
»Willst du ihn denn nicht öffnen?«, fragte Harper.
Bristol strich mit dem Daumen über den Umschlag. Er war aus dem gleichen dicken, edlen Papier wie bei den letzten Malen und ein Absender stand wieder nicht darauf. Aber die Handschrift wirkte anders, so ausladend und kühn, dass sie geradezu nach Aufmerksamkeit schrie. Wie immer war der Umschlag mit einem roten Wachssiegel verschlossen – ein weiterer Trick, um Neugier zu wecken. In den vielen Jahren, die Bristol mit ihrer Familie über Märkte und Feste getingelt war, hatte sie schon viel zu viele Glücksräder und Letzte-Chance-Angebote gesehen. Trotzdem öffnete sie den Umschlag und ließ das zerkrümelnde Wachs auf den Boden rieseln. Sie zog den Brief hervor und verdrehte dabei die Augen, um Harper zu zeigen, dass sie auf eine so billige Bauernfängerei nicht hereinfiel. Aber innerlich begann ihr Herz dennoch schneller zu klopfen. Ein dritter Brief. Die geben wirklich nicht auf.
Der Fluchtinstinkt, den sie von ihren Eltern das ganze Leben lang eingeimpft bekommen hatte, hämmerte gegen ihre Rippen, als würden die beiden ihr eine letzte Warnung zurufen. Harper drängte sich dichter an sie, um mitzulesen.
Meine liebe Bristol Keats,
deine Großtante Jasmin hat mit Enttäuschung festgestellt, dass du ihre letzte Einladung zum Tee nicht annehmen konntest. Daher schlägt sie einen weiteren Treffpunkt vor, der näher an Bowskeep liegt. Sie bittet um dein Erscheinen zum heutigen Nachmittagstee um vier Uhr im Gasthaus Willoughby an der Skycrest Lane. Neben den vielen angenehmen Erinnerungen an deinen Vater, die sie mit dir teilen möchte, hat sie ein Geschenk für dich – ein Kunstwerk von großem Seltenheitswert, ähnlich wie jenes, das dein Vater vor nicht allzu langer Zeit erstanden hat. Gewiss könnte es dir und deinen Schwestern helfen. Komm bitte allein. Deine Tante leidet an einer schwachen Konstitution und meidet größere Menschenansammlungen.
Mit herzlichsten Grüßen,
Eris Dukinnon, Ratsmitglied
Wer immer den Brief geschrieben hatte, strengte sich jetzt jedenfalls noch mehr an. Meine liebe Bristol? Von ihrem Vater wusste die Person offenbar so gut wie nichts. Es gab keine Tante. Keinen Hauch von Verwandtschaft auf dem ganzen Planeten. Ihr Vater war als Baby ausgesetzt worden und als Pflegekind aufgewachsen. Man hatte ihn von einer Ersatzfamilie zur nächsten weitergereicht. Seinen Namen hatte er von einer Mitarbeiterin der US-Sozialbehörde bekommen. Logan. Es gab keine angenehmen Erinnerungen, die eine imaginäre Tante mit Bristol teilen konnte.
Aber da war dieser Hinweis auf ein seltenes Kunstwerk, vermutlich wohl eine neue Lockmethode. Wenn auch deutlich wirksamer als die vorigen. Kälte rieselte ihr Rückgrat hinunter. Jemand wühlte in ihrer Vergangenheit, um mehr über die Familie Keats herauszufinden.
Harper rückte noch etwas näher. »Glaubst du, es könnte vielleicht sein, dass –«
»Nein«, sagte Bristol. Ihre Stimme klang zu scharf, und sie hoffte, dass Harper es nicht bemerkt hatte. Ein einziges harsches Wort konnte reichen, damit ihre Schwester sich alle möglichen Sorgen machte. »Nein«, wiederholte sie mit geübtem Gleichmut und wich dabei Harpers Blick aus. Sie hörte einen enttäuschten Atemzug, der wie ein Zischen klang. Harper war der Bücherwurm der Familie und hatte von den drei Schwestern wohl am meisten Grips, aber gleichzeitig ein weiches, optimistisches Herz. Sie glaubte immer noch an Happy Ends. Manchmal geriet Bristol deswegen in Panik, denn so etwas würde sie ihrer Schwester nie bieten können.
Harper war ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, von der warmen Braunfärbung ihrer Haut bis hin zu den glatten schwarzen Haaren. Sie hatte auch die gleichen großen dunklen, von dichten Wimpern umrahmten Augen, aus denen ein Blick genügte, um jeden um den Finger wickeln zu können. Ihre Mutter pflegte zu sagen, damit hätte Logan sie vom ersten Tag an verzaubert. Wenn Bristol ihrer Schwester in die Augen blickte, war die Wirkung natürlich ein wenig anders … dann wünschte sie, alles wieder in Ordnung bringen zu können und sämtliche Wunden zu heilen, die das letzte Jahr bei Harper hinterlassen hatte.
Tief im Inneren spürte sie bei dem Brief die gleiche Neugier wie ihre Schwester. Schließlich war es menschlich, sich zu fragen, wer man war und wo man herstammte. Die Herkunft ihres Vaters war ein Mysterium, das Bristol nie ganz losließ. Alle drei Mädchen hatten ihn mit Fragen gelöchert, solange sie sich erinnern konnte, und alle möglichen wilden Vermutungen angestellt. Aber seine Antwort war immer dieselbe gewesen: Ich weiß es nicht. Die Vergangenheit ihrer Mutter blieb genauso rätselhaft, und im Gegensatz zu ihrem Vater weigerte sie sich, überhaupt über ihre Verwandtschaft zu reden. Man bekam aus ihr nur heraus, ihre Familie sei garstig gewesen. Bei Nachfragen, was »garstig« bedeuten sollte, verließ sie das Zimmer. Anscheinend war etwas daran zu schmerzhaft für Worte, und ihr Vater bat die drei immer mit einem stummen Kopfschütteln, das Thema fallen zu lassen.
Das taten sie auch jedes Mal, aber die offenen Fragen verschwanden dadurch nie. Selbst heutzutage überlegte Bristol immer, wenn sie jemanden mit der warmbraunen Hautfarbe und den schönen dunklen Augen ihres Vaters sah, ob es sich wohl um eine Kusine oder einen Onkel handeln mochte. Ähnlich ging es ihr bei Menschen mit milchblasser Haut und schimmernden kupferroten Haaren wie bei ihrer Mutter. Vielleicht gehörten sie zur garstigen Verwandtschaft?
Cat hatte das Aussehen ihrer Mutter geerbt, die gleichen grünen Augen und Haare rot wie Mohnblüten. – Und dann gab es noch Bristol. Sie war mittelgroß, hatte mittelbraune Haare und sah keinem ihrer Eltern besonders ähnlich.
Vielleicht ließ das Rätsel ihrer Herkunft ihr gerade deshalb keine Ruhe. Sogar ihre Augen hatten eine Tönung, die irgendwo in der Mitte zwischen beiden lag. Man konnte es haselnussbraun nennen, aber das war bloß ein Wort für eine unentschiedene Mischung. Grünlich? Bräunlich? Herbstlich? Ihre verflixte Augenfarbe wollte sich genauso wenig festlegen lassen wie ihre Eltern, wann immer es um die Vergangenheit ging.
Anstatt zu verblassen, wie es sich für Erinnerungen und Gefühle gehörte, wanderten ihre Gedanken bis heute sogar immer öfter zur Herkunft ihrer Familie. Vielleicht lag es an dem Psychologiekurs, den sie am kleinen College von Bowskeep belegt hatte. Einmal hatte ein Dozent etwas gesagt, das sich in ihrem Kopf festgesetzt hatte und sich nicht mehr herausschütteln ließ: Unsere Vergangenheit ist wie der Schatten, der uns folgt. Er formt uns, ob wir wollen oder nicht, und manchmal bestimmt er unser ganzes Leben.
Genau so fühlte es sich an. Wie ein Schatten, der hartnäckig jedem ihrer Schritte folgte. Und wenn sie die Vergangenheit gerade aus ihrem Kopf verdrängt hatte, tauchte so ein verdammter Brief auf – wie der in ihrer Hand –, und die alten Fragen quollen wieder hoch.
»Bri?« Harper wartete auf ihre Entscheidung.
Bristol knüllte das Schreiben zusammen und warf es in den bereits überquellenden Papierkorb. Von dort kullerte es zu Boden, und Angus, das Familien-Frettchen, kam sofort angewuselt, um an dem Ding zu schnüffeln und es zu untersuchen. Da Angus nichts so sehr liebte, wie Papier zu schreddern, huschte er hastig damit aus der Tür.
»Das ist nur ein Trick, genau wie die anderen«, sagte sie.
Harpers Blick ließ sie nicht los, ihre Augen wirkten wie von dunklen Fragen umwölkt. Bristol schnappte sich ihren Kapuzenpulli vom Bettpfosten. »Ich muss los, Harp. Heute gibt’s wahnsinnig viel zu tun. Wenn ich zu spät bin, bringt Sal mich um.« Sie beeilte sich, aus dem Zimmer zu kommen.
»Aber diese Leute verlangen doch gar nichts«, rief Harper ihr nach, als Bristol die Stufen hinunterrannte. »Im Gegenteil, sie wollen uns etwas geben.«
»Ja, aber dieses Etwas hat garantiert ein Haken«, rief Bristol zurück.
Sie konnten es sich nicht leisten, diesen Köder zu schlucken.
Wer nicht einmal ehrlich sagte, wer er eigentlich war, hatte garantiert Hintergedanken. Wenn man auf so etwas hereinfiel, war der Preis am Ende höher, als man sich leisten konnte. Und die Keats-Schwestern hatten schon genug verloren.
Ein scharfer Wind fegte schneidend über den Boden und brannte auf Eris’ Haut wie tausend Nesselstacheln. Die langen silberfarbenen Haare des Königlichen Beraters flatterten in den Sturmböen. Er drehte sich um, als er Schritte hörte, die laut auf dem spiegelglatten schwarzen Boden widerhallten.
Tyghan war zurück. Er kam um die Ecke, und ihre Blicke trafen sich.
Das Gesicht des jungen Mannes war von feinen Blutspritzern bedeckt, sein windzerzaustes rabenschwarzes Haar schlammverkrustet.
»Ah, es hätte wohl besser laufen können?«, bemerkte Eris.
»Ihre Beobachtungsgabe ist wie immer messerscharf.« Tyghan marschierte weiter den Korridor entlang. »Wir sprechen in meinen Gemächern.«
»Zuerst sollten Sie sich säubern, und dann –«
»Sofort.«
Eris folgte ohne ein weiteres Wort. Er verstand, unter welchem Druck der junge Mann stand. Der Kronrat hatte seit Monaten kein einziges Mal gesehen, dass er sich eine Pause oder ein Lächeln gönnte.
In seinen Gemächern angekommen, entledigte sich Tyghan seiner Kleider, warf sie zu Boden und ging ins Duschbecken. Er formte mit den Händen eine Schale, um das Wasser aufzufangen, das aus dem goldenen Zufluss strömte. Er benetzte sein Gesicht und zuckte sichtbar zusammen, als das Wasser seinen Rücken traf. Eris beäugte die geschwollenen Einschnitte, die sich über Tyghans Schultern zogen. »Soll ich einen Medicus rufen?«
Tyghan antwortete nicht, sondern konzentrierte sich darauf, die Blutspritzer von seinem Gesicht zu waschen. »Zwei aus unseren Reihen sind tot«, sagte er schließlich, »oder Schlimmeres. Wir haben ihre Leichen nicht bergen können.« Methodisch beschrieb er alle Einzelheiten des Scharmützels, das sich als Hinterhalt entpuppt hatte. »Drei Monate. Mehr Zeit bleibt uns nicht.«
»Drei Monate sind immer noch g-«
»Nicht genug«, widersprach Tyghan. Seine Stimme war leise, aber durchschnitt die Luft wie eine Streitaxt. »Vierzehn Jahre wurde ich im Kampf ausgebildet. Genau wie meine Offiziere. Die übrigen Rittertruppen wenigstens fünf. Dagegen sind drei Monate lachhaft.«
Leise sagte Eris: »Aber das ist alles, was wir haben. Also werden wir dafür sorgen, dass es reicht.«
Tyghan fuhr fort, sich das Blut abzuwaschen. »Hat jemand auf Ihre Anfragen reagiert?«
»Mehrere. Ich habe die Suche ausgeweitet. Eine Kandidatin wird aus Paris zu uns kommen, eine andere aus Lon-«
»Paris? Verdammt, Eris! Geht es nicht näher?«
»Wie gering das Talent auch sein mag, das wir benötigen, es ist ein rares Gut geworden. Wir haben es freiwillig aufgegeben. Die Schuld liegt ganz allein bei uns.« Eris wusste, dass Tyghan lieber etwas anderes gehört hätte, aber das war nun einmal die Wahrheit.
Tyghan hielt das Gesicht in den dampfenden Wasserstrahl. Im Marmorbecken bildete sich ein Wirbel aus Schmutz und Blut. »Zu unserem Pech war es nicht rar genug.«
Pech. Das war eine enorme Untertreibung. Eris verstand die Frustration, die Tyghan innerlich brodeln ließ und die wenig mit den Verlusten des heutigen Kampfes zu tun hatte. Noch immer schwärte der vergangene Verrat in ihm wie eine offene Wunde. Eris fürchtete, dass er sich nie ganz davon erholen würde. Er wählte seine nächsten Worte mit Bedacht, da er nicht sicher war, wie Tyghan die Neuigkeiten aufnehmen würde. »Ich werde mich heute mit einer weiteren Kandidatin treffen … wenn sie denn kommt. Sie hat meine bisherigen zwei Briefe ignoriert, trotz sehr freigebiger Versprechen.«
»Wenn sie so töricht ist, einem geschenkten Gaul ins Maul zu schauen, hat sie für uns keinen Wert. Suchen Sie anderswo weiter, statt kostbare Geschenke zu verschwenden.«
»Vielleicht ist sie aber auch zu schlau.«
Tyghan drehte sich um. Er schlang ein Handtuch um seine Hüften und trocknete sich mit einem zweiten das Gesicht ab, während ihm das Wasser aus den Haaren auf die Schultern tropfte. »Wie kommen Sie darauf? Sie sind ihr doch noch nie begegnet.«
Eris schluckte und zögerte mit der Antwort. Er versuchte, seine Worte so überlegt zu setzen wie nur möglich. »Unsere Späher haben schon seit Längerem ein Auge auf sie und mir laufend Bericht erstattet. Wir denken, möglicherweise hat sie die Qualitäten, die wir so dringend benötigen.« Was noch gesagt werden musste, würde Tyghan nicht gut aufnehmen, aber früher oder später musste Eris damit herausrücken. »Sie ist die Tochter von Kierus. Und von Maire.«
Tyghan erstarrte, und seine Gesichtszüge versteinerten. »Man hat Kierus gefunden?«
»Tot. Ein Unfall.«
Alle Farbe wich aus Tyghans Gesicht. Wie Eris vermutet hatte, erschütterte die Nachricht ihn.
»Sicher?«, fragte er.
»Er hatte sich einen anderen Namen zugelegt, aber wir sind sehr sicher. Ein Auto hat ihn überfahren. Man hat es mir in allen blutigen Einzelheiten geschildert.«
Tyghans Halsmuskeln spannten sich hart an. Eris war nicht sicher, was mehr seinen Zorn erregte: dass er Kierus nicht mehr persönlich töten konnte oder dass es keine letzten Worte zwischen ihnen geben würde. Keine Antworten. So würde er nie einen Schlussstrich unter ihre gemeinsame Geschichte setzen können. Er würde nie wirklich nach vorn schauen können, weil ein Teil seiner Seele in der Vergangenheit gefangen war.
»So schnell haben sie ein Kind bekommen?«, flüsterte Tyghan heiser.
»Dort sind zwanzig Jahre vergangen. Sie ist kein Kind mehr. Sie ist eine erwachsene Frau.«
Tyghan schüttelte ungläubig den Kopf, und Eris konnte ihn gut verstehen. Auch für ihn war es schwer zu fassen gewesen, wie die Jahre verflogen waren. Aber der Zeitenstrom hatte seinen eigenen Willen und verlief schneller oder langsamer, wie es ihm gefiel. Das entzog sich selbst Tyghans Kontrolle, so groß seine Macht auch war.
»Wie lange wissen Sie schon von ihr?«
»Ein paar Wochen.«
Tyghans Kopf ruckte hoch. »Und Ihnen ist nicht in den Sinn gekommen, mir früher davon zu berichten?«
»Ich wusste, dass Sie so reagieren würden. Wir haben es mit einer sehr heiklen Situation zu tun. Da können Sie nicht einfach –«
»Ich will sie noch heute hier im Palast haben. Ist das klar? Noch heute.«
»Sie muss die Wahl selbst treffen, sonst hat das Ganze keinen Sinn. Ein Geschenk zu überreichen ist eine delikate Angelegenheit. Und wir sind nicht einmal sicher, ob sie uns von Nutzen sein kann. Schließlich wissen Sie doch selbst, was bei solchen Paarungen oft herauskommt.«
»Nein, das weiß ich nicht! Weil eine ›Paarung‹ der beiden nämlich immer undenkbar war. Wo steckt sie? Ich werde –«
»Nein! So etwas braucht Feingefühl, ähnlich einer Brautwerbung. Überlassen Sie es mir.«
»Soll das heißen, ich sei taktlos?«
Eris ließ sein Schweigen für sich sprechen.
Tyghan ging zu seinem Bett und griff nach dem Schlafrock, den man ihm zurechtgelegt hatte. Dann starrte er auf den Boden, auf das weiße Fell, auf dem er mit seinen nackten Füßen stand. Schweigend vergingen die Sekunden. Eris wusste, dass Tyghan nicht nur ein explosives Temperament besaß, sondern auch einen scharfen Verstand. Er würde alle Möglichkeiten sorgfältig abwägen.
Schließlich blickte Tyghan auf. »Nun gut, übernehmen Sie die Verhandlungen. Ich kann mich in Unsichtbarkeit hüllen, dann wird sie nicht einmal wissen, dass ich da bin.«
»Aber ich werde es wissen.«
Tyghans helle Augen verdüsterten sich. »Nun gut«, gab er widerwillig nach, »ich halte mich ganz heraus. Aber seien Sie nicht zimperlich mit ihr. Entweder Sie bringen sie dazu, die richtige Wahl zu treffen, oder ich erledige es auf meine Art.«
Vor ihr erstreckte sich eine verlassene Landstraße, die an eine paradiesische Monet-Landschaft erinnerte. Zwischen hohen Wildgräsern leuchteten Farbtupfer von Kalifornischem Mohn und Schafgarbe. Das Bild war wie geschaffen für Tagträume von warmen Frühlingstagen und entspannten Picknicks. Aber Bristols Gedanken waren weder blumig noch entspannt. Stattdessen fragte sie sich, wie es wohl war, in einem Straßengraben zu sterben.
Sie versuchte, sich die Schmerzen vorzustellen. Wie unerträglich konnten sie sein? Was für ein Gefühl war es, dort verblutend mit gebrochenen Knochen zu liegen und nicht zu wissen, ob man gefunden wurde? Außer von Gevatter Tod. Womit waren solche Minuten gefüllt? Mit purer Ungläubigkeit? Stoßgebeten an einen unbekannten Gott? Geflüsterten Botschaften an die Liebsten in der verzweifelten Hoffnung, dass sie irgendwie ankommen würden? Oder drehten sich die Gedanken vor allem darum, wer das Auto gefahren hatte? Ob der Unfall mit Absicht passiert war, um eine alte Rechnung zu begleichen?
Morbide Vorstellungen, das war Bristol klar. Trotzdem schlichen sie sich jedes Mal in ihre Gedanken ein, wenn sie das improvisierte Mahnmal aus aufgeschichteten Steinen am Straßenrand sah. Es markierte die Stelle, wo Logan Keats vor fünf Monaten gestorben war. Bristol wusste nicht einmal, wer es errichtet hatte – offenbar eine befreundete Person aus dem nahen Städtchen. Er hatte in Bowskeep schnell alle um den Finger gewickelt. Es war fast unmöglich gewesen, ihren Vater nicht zu mögen. Bristol hatte das Mahnmal schon zweimal umgetreten, die Steine weggekickt und die ausgeblichenen Seidenblumen über den Stacheldrahtzaun ins benachbarte Feld geworfen. Ein paar Tage später war alles wieder da gewesen.
Im Polizeibericht stand, es habe keine Bremsspuren gegeben. Wer immer der Fahrer gewesen war, er hatte den Zusammenprall in den frühen Morgenstunden vielleicht nicht einmal bemerkt. Es hatte leichten Nebel gegeben. Vielleicht hatte der Fahrer angenommen, ein Wildtier wäre gegen den Wagen geprallt. An diesem Straßenabschnitt wimmelte es von Kaninchen. Sheriff Orley hatte schon selbst ein paar davon erwischt, und von einem besonders großen Exemplar war ihm sogar der rechte Kotflügel eingedellt worden.
Allerdings war Logan Keats ein fast zwei Meter großer, breitschultriger Hüne gewesen. Man hatte ihn sich immer eher mit einem Wurfspeer als einem Pinsel in der Hand vorstellen können.
Auf dem Rücken hatte er seinen schweren Rucksack mit den Malutensilien getragen.
Der Aufprall musste laut, hart und unübersehbar gewesen sein.
Logan Keats verwechselte man nicht mit einem Kaninchen.
Für Bristol war die Sache klar. Es handelte sich um Fahrerflucht. Blieb nur die Frage offen: War es ein Unfall gewesen … oder Absicht?
Sie hielt an dem neu errichteten Mahnmal an und stieg vom Fahrrad. Ihr Blick wanderte von einem Straßenende zum anderen, während ihr die Fragen durch den Sinn gingen, auf die es wohl nie eine Antwort geben würde. Der Wegsaum war breit, es gab keine Unebenheiten oder Kurven. Vielleicht war der Fahrer abgelenkt gewesen, weil er auf sein Handy geschaut hatte.
Heiße Wut pulsierte in ihren Schläfen. Der Unbekannte hatte nicht einmal angehalten, um nach ihrem Vater zu sehen, seinen Puls zu fühlen. Niemand wusste, wie lange er sich im Straßengraben hatte quälen müssen, bevor Sheriff Orley ihn dort fand, eine leblose Gestalt mit zerschmetterten Gliedern, die Malutensilien überall am Straßenrand verstreut. Freundlicherweise hatte Orley ihnen den Albtraum erspart, ihren Vater identifizieren zu müssen. Das wollt ihr nicht sehen. So wollt ihr ihn nicht in Erinnerung behalten.
Bristol holte mit dem Fuß aus und trat gegen die obersten Steine des Mahnmals, sodass sie ebenso zu Boden fielen wie die sonnengebleichten Seidenblumen. Und so will ich ihn auch nicht in Erinnerung behalten!
Sie wollte den Mann vor sich sehen, der immer zärtlich und freundlich gewesen war, der jeden Pinselstrich mit Bedacht setzte, weil ein Künstler nicht einfach nur Farbe auf einer Leinwand verteilt. Kunst bedeutete für ihn immer eine besondere Art zu sehen und zuzuhören, was ihm beides gleichermaßen gut gelungen war. Er hatte seine Töchter mit gleicher Hingabe geliebt wie seine Frau. Wenn sie sich verlaufen hatten, fand er sie wieder, und seine große Hand schloss sich schützend um ihre. Das war der Mann, an den Bristol sich erinnern wollte, aber nicht die gebrochene Gestalt, die er schon lange vor seinem Tod gewesen war.
Sie setzte ihren Weg in die Stadt fort, wenn auch etwas langsamer. Bristol hatte ihre Schwester angeschwindelt. Sie war heute Morgen nicht zu spät dran, eher zu früh. Und im Übrigen würde Sal sie nicht gleich umbringen, nur weil sie einmal unpünktlich kam. Er war meistens ziemlich tiefenentspannt. Dieser Job war der Lichtblick in Bristols Leben, und sie war dankbar dafür. Sal hatte ihr eine Chance gegeben, als niemand sonst dazu bereit gewesen war. Aber auch dieser Gedanke konnte das Bild von Harper nicht überdecken, die so tapfer versuchte, gegen die Trauer anzukämpfen. Bristols Brust schnürte sich zusammen, bis sie kaum atmen konnte, und das Bild ihrer Schwester mischte sich mit dem ihres Vaters, der überlebensgroß versuchte, alles auf seinen Schultern zu tragen und dabei zu lächeln. Das war schlimmer gewesen, als ihn weinen zu sehen.
Er war voller Trauer gestorben, hatte er doch den Tod seiner Frau nie verwunden.
Vorher war es ihm in jeder Lage leichtgefallen, zu lächeln und zu lachen, doch das Licht in seinen Augen war verglommen und schließlich für immer erloschen.
Deshalb würde Bristol ihrer Mutter nie verzeihen, dass sie die Familie so leichtfertig im Stich gelassen hatte.
Bei der Beerdigung hatte Cat geweint.
Harper hatte geweint.
Bristol jedoch hatte reglos auf der vordersten Bank gesessen. Mit brennenden Augen hatte sie auf die Urne gestarrt, in der sich befand, was einmal ihre Mutter gewesen war. Stumm hatte sie sich immer wieder gefragt: Warum?
Cat war es gewesen, die sie angerufen hatte. Vor genau einem Jahr.
Komm nach Hause.
Und dann drängender: Komm nach Hause. Wir brauchen dich. Mutter ist verschwunden.
Natürlich war Bristol gekommen. Sie hatte keine Wahl gehabt. Der Klang von Cats Stimme hatte jeden Widerstand in ihr gebrochen. Und dennoch hatte sie gezögert, weil sie befürchtete, sie würde nie wieder gehen, war sie erst einmal zur Familie zurückgekehrt. Gleichzeitig hatte es an ihrem damaligen Leben eigentlich nicht viel zu vermissen gegeben.
Über ein Jahr lang hatte sie sich ziellos dahintreiben lassen, vielleicht weil sie nichts anderes kannte. Sie hatte Gelegenheitsjobs angenommen, die schwarz bezahlt wurden. Hatte in billigen Motels geschlafen, immer auf dem Sprung, immer von der Angst getrieben, irgendwo Wurzeln zu schlagen und dann alles wieder zu verlieren. Sie hatte sich freiwillig den Schatten hingegeben, vor denen sie immer geflohen war. Erst als ihr durch pures Glück ein gut bezahlter Job als Haushaltshilfe in den Schoß gefallen war, hatte sie sich gezwungen, eine Weile auszuharren. Zwei Monate lang hatte sie dafür geschuftet, aus den losen Fäden ihres Lebens etwas Haltbares zu spinnen wie normale Leute. Sie hatte sich sogar eine Geburtsurkunde besorgt. Zwar gefälscht, aber immerhin das Beste, das sie bekommen konnte, denn ihre Eltern hatten sich nie um Papierkram gekümmert. Bristol hatte gewagt, von einer Zukunft zu träumen. Großartige Träume von einem Studium, dem Schaffen von Kunst und ganz besonderen Reisen.
Dann war sie notgedrungen zu ihrer Familie zurückgekehrt, und eine Woche später hatte man Leanna Keats’ Leiche gefunden.
Bristol hatte es tatsächlich nicht geschafft, wieder zu gehen. Ihr Vater war ohne ihre Mutter vollkommen verloren gewesen. Für ihn schien jeder Schritt vorwärts unmöglich. Seine Gemälde waren unvollendet geblieben.
In letzter Zeit dachte Bristol oft über so etwas nach. Was war im Leben vorwärts, was rückwärts … was Stillstand? Es gab Zeiten, da konnte man noch so sehr in die Pedale treten und wusste doch nie, ob man seinem Ziel näher kam. Aber Bristol sagte sich jeden Tag, dass sie es schaffen würde. Ja, sie würde es schaffen. Für Harper und für Cat und auch für sich selbst. Deshalb beschränkte sie sich nun auf kleine Träume, die erreichbar waren. Heute würde sie es schaffen, die Stromrechnung zu bezahlen.
Kaum war Bristol auf der Straße ein kleines Stück weit gekommen, mit sirrenden Rädern und dem Zischeln des Windes in den Ohren, als sich das Mahnmal – Stein um Stein – zu seiner ursprünglichen Größe aufschichtete und die Seidenblumen ihren Platz oben auf der Spitze wieder einnahmen. Sie nickten in der Brise und schienen Bristol nachzuwinken, dass sie anhalten und zurückkommen solle.
Das Gasthaus Willoughby Inn war seit Jahren verlassen. Seine Mauern waren einsturzgefährdet, wilde Kletterpflanzen schoben sich zwischen den Wandbrettern hindurch und schienen wie Finger daran zu zerren, damit alles in sich zusammenbrach. »Eintritt-verboten«-Schilder versperrten jeden Zugang. Sie waren mit das Erste, das verschwand. Dann wurde aufpoliert, was an morschen Möbeln noch übrig war, die Holzböden bekamen eine glänzende Politur verpasst, und bald erstrahlten auch die abblätternden, von Stockflecken übersäten Tapeten wieder im einstigen Glanz.
»Blumen«, trällerte Esmee und ließ ihren Blick durch die Gaststube schweifen. »Dieser Raum braucht Blumen. Ich kümmere mich darum.« Sie zupfte einige Wildkräuter heraus, die über die Türschwelle wucherten, und verwandelte sie in prachtvolle Sträuße.
Olivia pustete Prisen von Löwenzahn- und Lavenderpulver in alle vier Ecken des Raums, um die modrige Feuchtigkeit zu vertreiben und eine einladende Atmosphäre zu schaffen, die Vertrauen erweckte.
Freda brachte Bibliotheksbücher herein und ordnete sie auf einem Regal an, weil es ihrer Ansicht nach nichts Beruhigenderes gab.
Der Gasthof war nicht wiederzuerkennen.
Dennoch blieb Eris nervös. Was war, wenn –
»Mach dir nicht so viele Sorgen«, sagte Ivy, während sie Vorhänge an einem Fenster drapierte. »Wenn es mit dieser Kandidatin nicht funktioniert, dann vielleicht mit der Rekrutin aus Longforest. Sie soll sehr vielversprechend sein, habe ich gehört. Die anderen sind auch auf gutem Wege.«
Melizan, die am anderen Ende des Raums beschäftigt war, gab einen unwirsch klingenden Ton von sich. Auf gutem Wege? Das würde bei Weitem nicht ausreichen.
Unauffällig musterte Eris die Schwester des Königs. Melizan war eine mächtige junge Frau mit genügend eigenen Verpflichtungen. Wieso war sie hier und half dabei, einen heruntergekommenen Gasthof aufzupolieren?
»Hat Tyghan Sie geschickt?«, fragte Eris. Um mich bei der Verhandlung im Auge zu behalten,dachte er, ohne es auszusprechen. Sie verstand auch so, was er andeuten wollte.
Sie nickte steif. »Mein Bruder hat seine Augen überall.«
»Aber er wird nicht persönlich herkommen, richtig?«
»Genau deshalb bin ich ja hier«, knurrte sie.
Melizan beseitigte Probleme am liebsten auf schnelle, tödliche Art. Bestimmt fand sie es ähnlich frustrierend wie ihr Bruder, dass ihr in diesem Fall die Hände gebunden waren. Keiner von beiden hielt sich gern an vorgeschriebene Schritte eines Protokolls. Das galt im Übrigen auch für Eris, aber ihre Welt hatte nun einmal bindende Gesetze, für die er nichts konnte. Als Königlicher Rat hatte er nur die Aufgabe, Wege zu finden, wie sich die Gesetze am besten nutzen – oder umgehen – ließen, was Zeit und Geduld erforderte. Und bei dieser jungen Frau war alles anders, denn durch ihren Stammbaum war sie mehr als eine gewöhnliche Rekrutin. Sie war ein Rettungsanker. Zumindest hoffte Eris das, denn allmählich gingen ihm die Alternativen aus.
Sorgfältig platzierte Eris das Kunstwerk auf dem großen Esstisch. Seine Späher hatten herausgefunden, dass sie in Kunstgeschichte gut ausgebildet war. Genauer gesagt hatte sie nie eine andere Art von Geschichte gelernt, was Eris wenig überraschte. Ihre schulische Laufbahn war holperig gewesen, um es milde auszudrücken. In einigen Fächern befand sie sich auf Universitätsniveau – Französisch, Spanisch, Literatur, Erdkunde – und zeigte sich außergewöhnlich gelehrig. In anderen Studienbereichen hatte sie Nachhilfe nehmen müssen. Offenbar hatten Kierus und Maire sich nicht allen Gepflogenheiten ihres neuen Lebens in der Menschenwelt angepasst. Der Studienberater von Bristol Keats hatte auf das widersprüchliche Niveau ihrer Bewerbungsmappe sehr verwirrt reagiert und nicht recht gewusst, was er mit ihr anstellen sollte.
Aber Eris wusste, wie er sie nehmen musste. Er zählte auf ihr Kunstinteresse. Damit sollte sich der Handel erfolgreich abschließen lassen. Zur Auswahl hatte er ein halbes Dutzend handgezeichnete Skizzenblätter mitgebracht. Alle ähnelten dem Blatt, das vor längerer Zeit aus dem Epona Museum gestohlen worden war. Kunstwerke von unschätzbarem Wert. Und das würde ihr auf den ersten Blick klar sein. Jede Skizze umschwebte ein eigenes Odeur von Mysterium, Alter und Genie.
Bei ihren Lebensumständen wäre es töricht, nicht zuzugreifen.
Ein Geschenk, ein Handel … ein Pakt aus freiem Willen. Mehr brauchte er nicht, damit seine Pläne funktionierten. Aber alle Vorbereitungen würden vergebens sein, wenn sie gar nicht erst kam.
Seien Sie nicht zimperlich mit ihr.
Eine weitere Chance würde Eris nicht bekommen. Sie war der letzte Strohhalm, an den er sich klammerte. Eris verließ den Gasthof und wandte sich in Richtung Stadt.
Er durfte nichts der Willkür des Schicksals überlassen – oder den Launen einer kapriziösen jungen Frau.
Bowskeep war ein Ort, der noch seine Identität suchte. Vielleicht war das der Grund, warum es Bristol hier gefiel. Sie verstand den Zustand, wenn man blind nach einem erstrebenswerten Ich tastete und nichts wirklich festgelegt war. Mit knapp über viertausend Bewohnern galt Bowskeep gerade eben als vollwertige Stadt. Ein vages Mittelding, genau wie sie selbst. Aber aus der Ansammlung von Künstlern, Bauersleuten, Büromenschen, Studenten und Ladenbesitzern bildete sich allmählich eine gemeinsame Gestalt heraus. Wie sie aussehen würde? Bristol bezweifelte, dass jemand von den Bewohnern es wusste, und gerade das fand sie seltsam beruhigend.
Mehr als zwei Monate an einem Ort zu leben glich für die Familie Keats einem Wunder. Bristol war fasziniert davon, wie sich hier Ideen weiterentwickelten und mit der Zeit tatsächlich Früchte trugen. Sie konnte zusehen, wie die Bäume, Landschaften und sogar die Menschen sich mit den Jahreszeiten veränderten, aufblühten, neue Gestalt annahmen und wieder zur alten zurückkehrten. Dieser seltsame Kreislauf, dieser Rhythmus schien für die meisten Leute ganz selbstverständlich zu sein. Er versprach eine Kontinuität, die unaufgeregt und beruhigend war. Im Leben ging es nicht immer nur um Veränderung, manchmal blieb alles gleich. Und die Gleichförmigkeit schärfte den Blick für das Wesentliche, das unsichtbar darunterlag – den tragenden Knochenbau und die Schwachstellen, an denen es gefährlich knirschte.
Veränderung lenkte ab. Gleichförmigkeit forderte zum Nachdenken heraus. Bristol fragte sich, ob ihre Mutter vor der Gleichförmigkeit geflohen war. Weil sie gezwungen war, Dinge zu sehen, die sie nicht sehen wollte.
Das Städtchen sonnte sich im Schatten des deutlich größeren und mondäneren Urlaubsorts Kestrel Cove, der acht Meilen westlich an der Küste lag. Weil es dort mehr Jobs gab, arbeitete Cat in der Nachbarstadt als Cafébedienung. Bis vor zehn Jahren war Bowskeep kaum mehr als ein Pinkelpausenstopp für Touristen gewesen, die an den Pazifik wollten. Doch allmählich entwickelte es »seinen eigenen Charme«, wie die Bürgermeisterin zu sagen pflegte. Georgie Topz war kleinwüchsig, aber hatte die ganze Stadt dazu gebracht, ihren großen Ideen für die Zukunft zu folgen. Besonders deshalb bewunderte Bristol die Bürgermeisterin: Sie war eine smarte Geschäftsfrau und ließ einen Neuanfang für alle und jeden möglich wirken. Eine ihrer ersten Maßnahmen im Amt war gewesen, drei neue Stoppschilder auf der Hauptstraße vorzuschlagen, damit Bowskeep für die Touristen mehr als ein verwischter Eindruck hinter der Autoscheibe war. Gleichzeitig ordnete sie an, die Straße mit bunten Fassadenfarben und Blumenkästen aufzuhübschen. Das I-Tüpfelchen ihrer Marketingkampagne waren die Hühner. Sie gehörten der Bürgermeisterin und waren ihr ganzer Stolz – Seidenhühner, Rhodeländer, Faverolles, Orpingtons –, die nun frei auf den Bürgersteigen herumstolzierten. Nicht nur die Touristen waren begeistert. Die Ladenbesitzer gaben ihnen Namen. Bristols Lieblingshenne hieß Fern. Sie war ein weißes Leghorn mit so viel Temperament, das sie sich jederzeit mit einem Sattelschlepper angelegt hätte.
Eine weitere Idee der Bürgermeisterin war das Tingeltangel gewesen. Dabei handelte es sich um ein monatliches Straßenfest auf dem größten Parkplatz des Stadtzentrums. Nur deshalb war die Familie Keats überhaupt hier gelandet. Inzwischen kamen Händler aller Art zum Tingeltangel, um ihre Produkte anzubieten, und die Bandbreite reichte von Töpferwaren über Ölbilder bis zum Gemüse der örtlichen Bauernhöfe. Das abwechslungsreiche Angebot gab dem Straßenfest eine ganz besondere Energie, die Besucher magisch anzog – und Bristol hatte mehr bezahlte Arbeit als je zuvor in ihrem Leben.
Da die Hauptstraße für das Tingeltangel an beiden Enden gesperrt wurde, waren ihre Lieferdienste per Fahrrad sehr gefragt. Sal bezahlte ihr natürlich ein Gehalt, aber den echten Unterschied machten die Trinkgelder, die sie an Festtagen zuhauf einstrich.
Sie hatte einige Überredungskunst gebraucht, damit Sal sie einstellte. Zuerst war er nicht gerade wild darauf gewesen. Eigentlich brauchte er eine Zweitbesetzung in Teilzeit, die auch Lieferdienste mit dem Auto übernehmen konnte. Bristol besaß keinen Führerschein, denn dafür brauchte man Geld. Immerhin mussten sie für das schäbige kleine Wohnhaus keine Hypotheken mehr abstottern, dank einem Glücksfund ihres Vaters, der einst ein kostbares Bild auf einem Trödelmarkt entdeckt hatte. Aber trotzdem war es für Bristol und Cat nicht leicht, die täglichen Rechnungen zu bezahlen. Lebensmittel, Strom und Heizung, endlose Reparaturen, Steuern, eine neue Brille für Harper – all das fraß ihr Gehalt vollständig auf, sodass sie sich keinen Zweitwagen leisten konnten, ganz zu schweigen von Fahrstunden und der Kfz-Versicherung. Es reichte schon, dass Cat illegal ohne beides herumfuhr. Sollten sie jemals von den Cops angehalten werden, hätten sie ein Problem.
Bristol war schon immer gut mit Bus und Fahrrad ausgekommen und hatte dem skeptischen Sal erklärt, dass sie in allen möglichen Städten gelebt hatte, wo Lieferungen per Radkurier die Regel waren. Aus reiner Verzweiflung hatte sie behauptet, sie könne die Pizzas schneller zu den Kunden bringen als er mit seinem Lieferwagen. Wie sich herausstellte, stimmte das sogar meistens – besonders an den Wochenenden voller Touristen.
Wenn sie nicht gerade Essen auslieferte, hatte sie Tresendienst und war drei Abende die Woche dafür zuständig, den Shop zu schließen. Bei der Erinnerung daran, wie Sal sie zum ersten Mal mit dem Pizzaofen und den wartenden Kunden allein lassen musste, fing sie immer noch an zu grinsen. Er hatte sich schlimmer aufgeführt als eine Helikoptermutter.
»Ich schaffe das schon, Sal, du kannst gehen.«
»Aber die Speisekarte –«
»Kenne ich auswendig.«
»Alle drei Seiten?«
Seine Besorgnis war fast schon beleidigend. »Vier«, verbesserte sie. »Ich kann sie dir auch in Französisch oder Spanisch aufsagen, wenn du möchtest?«
Er zog die Brauen zusammen, als hätte er Zweifel, dass irgendjemand ihn für ein paar Stunden ersetzen konnte, was sie sogar verstand. Die Pizzeria war sein ganzer Stolz, doch sein Kardiologe bestand darauf, dass er weniger arbeiten sollte. Er nickte in Richtung einer überlauten Gruppe an einem Ecktisch. »Aber es ist Freitagabend, und –«
»Ich weiß, wie man mit schwierigen Kunden umgeht, Sal. Vertrau mir.«
Wie aufs Stichwort kam einer der Unruhestifter zum Tresen geschwankt, knallte ihr seine Bankkarte hin und bestellte noch einen Humpen Bier für alle. Den letzten großen Krug hatte er fast ganz allein geleert.
Bristol schob die Karte zurück. »Wie wär’s mit einer Limo auf Kosten des Hauses?«
Er schob die Karte wieder hin. »Bist du taub, Schätzchen? Erzähl mir keinen Scheiß von Limozeug.«
Bristol wischte sich das Lächeln vom Gesicht. »Erstens bin ich nicht dein Schätzchen. Zweitens bewegst du jetzt deinen Hintern zurück zu deinen Kumpels, und zwar mit ’ner Limo, oder du findest gleich raus, was richtige Scheiße ist.« Sie fixierte ihn mit ihrem vernichtend ruhigen Blick.
Tatsächlich mussten sie beide sich nur kurz anstarren, bevor er nachgab. »Dann will ich ’ne Cola.«
Sal grinste und ging nach Hause.
Danach nannte er sie seine Geheimwaffe, denn es blieb nicht das letzte Mal, dass Bristol mit ein paar gut gewählten Worten aufgebrachte Gemüter beruhigte. Sie hatte Talent dazu, die vielen Wünsche eines Raums voller nerviger Leute zu jonglieren.
Im Laufe der Monate hatte sie ein solches Geschick bei der Arbeit in der kleinen Pizzeria bewiesen, dass sie manchmal darüber nachdachte, ob ihr ein eigenes Lokal gefallen könnte. Damit hätte sie sich endgültig an einen festen Ort gebunden, und der Gedanke machte sie gleichzeitig nervös und neugierig. Doch er blieb eine amüsante Spielerei, um sich bei längeren Auslieferungstouren abzulenken, ungefähr als würde sie ein Puppenhaus mit Möbeln ausstaffieren, die nicht zur echten Benutzung gedacht waren. Ihr Lokal wäre ein Mini-Tingeltangel, gefüllt mit dem Besten, was sie an den vielen Orten ihrer Vergangenheit geschmeckt und gesehen hatte. Bei einigen Städten konnte sie sich nicht einmal an die Namen erinnern, denn in ihrem Gedächtnis verschmolzen alle zu einer Einheit, aber gewisse Bilder, Gerüche und Geschmackserlebnisse waren nicht verblasst. Bristol trug sie als Souvenirs eines bruchstückhaften Lebens mit sich herum, das immer einer Reise mit leichtem Gepäck geglichen hatte.
Während sie in die Pedale trat, wanderten ihre Gedanken zurück zu dem Brief. Sie hielt an, holte ihr Handy hervor, weil sie Harper ermahnen wollte, niemandem die Tür zu öffnen, der verdächtig wirkte. Aber leider bekam sie kein Signal. Sie hielt das Handy in die Luft und schwenkte es von einer Seite zur anderen, als würde sie einen beschwörenden Regentanz vollführen. Noch immer nichts. Schrottiges Teil.
Bristol stopfte das Handy zurück in die Tasche und setzte ihren Weg fort. In Gedanken beschäftigte sie sich wieder mit dem Brief und stellte sich vor, eine Tante zu haben. Eine echte. Eine stinkreiche. Was für eine verführerische Idee. Konnte es sein, dass ihr Vater gelogen hatte? Irgendwoher musste er das seltene Kunstwerk ja bekommen haben. Was wäre, wenn er es nicht zufällig auf einem Trödelmarkt entdeckt hatte? Aber warum sollte er die Existenz einer Tante verschweigen? Außer natürlich, sie war eine Schreckschraube. Oder das Wort Tante war in Wirklichkeit ein Spionagecode für Auftragskiller. Diese Möglichkeit musste sie durchaus in Betracht ziehen, nicht nur als Scherz. Ihre Eltern hatten so viele Geheimnisse gehabt, da bot sich der Fantasie ein weites Feld.
Schon in ihrem fünften Lebensjahr war Bristol zum ersten Mal aufgefallen, dass die beiden ständig über die Schulter schauten. Wonach sucht ihr denn?, hatte sie gefragt. Damals und später hatte die Antwort immer gleich gelautet: Nach gar nichts. Aber das hielt Bristol und ihre Schwestern nicht davon ab, die verstohlenen Blicke zu bemerken, mit denen ihre Eltern jede Menschenmenge musterten. Die Zeichen, mit denen sie sich auf etwas aufmerksam machten. Oder das hastige Zusammenpacken, bevor der Tag auf dem Trödelmarkt auch nur halb vorbei war, ganz gleich wie viele kaufbereite Kunden um die kunstvollen, handgewebten Schals ihrer Mutter und die Gemälde ihre Vaters kreisten. Hätten ihre Eltern die Körpersprache von Katzen gehabt, dann hätten sie in solchen Momenten die Zähne gebleckt und den Buckel gekrümmt, jedenfalls stießen sie fauchend den Atem aus. Dann legte sich ihre merkbare Angst wie eine enge Faust um Bristols Eingeweide, und sie konnte erst wieder frei atmen, wenn sie auf dem Highway waren.
Die ständigen Umzüge von einer Stadt zur nächsten waren Beweis genug, dass sie vor etwas flohen – einem Verfolger, der ihnen beharrlich auf den Fersen blieb. Bevor sie nach Bowskeep gekommen waren, hatten sie nirgends länger als ein oder zwei Monate gewohnt. Sie waren von einem Straßenfest und Flohmarkt zum nächsten gezogen, hatten sich auf Raststätten aus den Vorräten im Van ernährt und entweder in winzigen Motelzimmern oder unter freiem Himmel geschlafen, wenn das Wetter es erlaubte. Die drei Schwestern hatten alle eine ähnliche Schulbildung erhalten: Privatunterricht während der Autofahrten und abends unterm Sternenzelt. Da wurden Shakespeare-Stücke aus dem Gedächtnis vorgetragen und in die Kunstgeschichte ihrer Zeit eingebettet, Mathepuzzle gelöst und Stockkampf geübt, wenn ihre kindliche Energie zu sehr überschäumte. Ihre Eltern waren beide auffällig gebildet, sprachen aber nie darüber, woher ihr ganzes Wissen stammte. Den Mädchen war klar, dass ihr Alltag anders war als bei den meisten Leuten. Ein freies Künstlerleben, wie ihre Eltern es nannten.
Und dann landeten sie in Bowskeep. Dort hatten sie zwei Monate lang zusammengepfercht im Überbau einer Garage gewohnt. Eine kleine, abseits der Hauptstraße versteckt liegende Kunstgalerie hatte zwei von Logans Gemälden ausgestellt und für einen erstaunlichen Preis verkauft: fünfmal mehr als er auf Kunstmärkten bekam. Die Galeriebesitzerin bat um Nachschub, aber kurz darauf verkündete Leanna Keats, dass es Zeit sei, die Zelte abzubrechen.
Bristol und Cat war schon vorher klar gewesen, was demnächst wieder auf sie zukam. Sie hatten bei ihrer Mutter die üblichen Anzeichen gesehen – das ruhelose Herumtigern, die dunklen Ringe unter den Augen, Fingernägelkauen bis aufs Blut, das Kochen von Blüten und Kräutern, bis die ganze Wohnung wie ein Laden für Badesalz roch. Aber Harper hatte sich in dieser Stadt schnell eingelebt und die Bücherei zu ihrem zweiten Zuhause gemacht. Die Bibliothekarin Freda ließ sich von ihr duzen. Bei der Ankündigung ihrer Mutter brach Harper in Tränen aus und stieß hervor: »Wart ihr beide bei der Mafia?« Ihre Stimme klang schrill und anklagend. »Müssen wir deshalb abhauen?«
Bristol hatte Cat über den Kopf ihrer kleinen Schwester hinweg einen schuldbewussten Blick zugeworfen. Am Abend zuvor hatten sie beide auf der Eingangstreppe gesessen, sich ein Bier geteilt und darüber spekuliert, ob ihre Eltern vielleicht aus einem Zeugenschutzprogramm abgehauen waren. Ihnen war nicht klar gewesen, dass Harper mitgehört hatte und diesen Streit vom Zaun brechen würde. Sie alle hatten immer gewusst, dass ihre Eltern sie über etwas Wichtiges belogen. Nach so vielen Jahren waren sie darauf getrimmt, den rosa Elefanten zu ignorieren, der im Raum stand. Darin waren sie richtig gut. Jedenfalls hatte Bristol das geglaubt. Aber Lügen glichen einer stumpfen Klinge, die so lange gegen Stoff schabt, bis irgendwann die Fäden reißen.
Bristol und Cat warteten genauso angespannt wie ihre kleine Schwester darauf, was die Eltern antworten würden.
Ihre Mutter riss die Augen auf, während der Blick ihres Vaters sich verfinsterte. »Woher habt ihr denn so eine verrückte Idee?«, entgegnete er schließlich.
Doch seine Reaktion überzeugte niemanden, denn sie hatten den vielsagenden Blick gesehen, den er mit ihrer Mutter gewechselt hatte. Später am Abend hatten die beiden dann einen erbitterten Streit im Badezimmer, das als einziger Raum ein wenig Privatsphäre bot. Sie hatten die Stimmen zu einem Flüstern gesenkt. Der einzige Satz, den Bristol aufschnappen konnte, kam von ihrem Vater und lautete: Wenn man etwas wirklich will, gibt es immer einen Weg.
Ein paar Tage später verkündete Logan Keats, er habe ein wertvolles Kunstwerk verkauft, das er auf einem Trödelmarkt entdeckt hatte – ein Glücksfund, wie er es nannte –, und mit dem Geld konnten sie sich ein Haus am Stadtrand von Bowskeep leisten. Also würden sie bleiben. Harper weinte vor Glück und fiel ihrem Vater in die Arme. Ihre Mutter lächelte, und diesmal wirkte es sogar echt. Am Abend summte sie vor sich hin, während sie an ihrem Webrahmen arbeitete. Die Melodie war fröhlich, als würde sie einen Neuanfang für die Familie Keats verkünden.
Aber Bristol blieb abwartend. Sie hatte von frühester Kindheit an gelernt, sich nicht an Menschen und Orte zu binden, die sie doch wieder verlassen musste. Nun schien es zu spät für eine zweite Chance. Zu spät, um etwas zu werden, das sie nie gewesen waren … eine Familie mit Wurzeln. Bristol traute sich nicht, Bowskeep zu lieben, wie ihre kleine Schwester es tat. Sie hatte diesen schmerzhaften Fehler in der Vergangenheit schon zu oft gemacht. Ganz sicher würde das Gefühl des Gehetztwerdens sich wieder einschleichen. So wie jedes Mal zuvor. Zwei Tage nach dem Umzug in das neue Haus packte Bristol deshalb ihre Reisetasche und ging.
Vielleicht war das der Moment, als bei der Familie Keats alles zu bröckeln begann.
Tschink.
Tschink.
Tyghan lag auf dem Bauch, den Blick starr zu Boden gerichtet. Das Gestocher ging wieder los. Er zuckte zusammen. »Sind wir bald fertig?«
Madame Chastain ließ eine weitere kleine Hyagen-Klaue in die Kupferschale fallen. »Nun ja, die Spitzen sind vergiftet. Wenn sie an Ort und Stelle bleiben, gelangt das Gift langsam ins Blut. Soll ich die letzten Klauen also stecken lassen? Oder mir die Zeit nehmen, alle herauszuholen?«
Tyghan wusste bestens, was diese Klauen anstellten, wenn sie nicht entfernt wurden. Und Madame Chastain wusste, dass er es wusste. Ihre Bemerkung sollte ihn nur unsanft daran erinnern, dass sie früher seine Ausbilderin gewesen war und ihn auf manchen Wissensgebieten immer noch ausstach. Er antwortete mit einem Knurren, das von ihr erwidert wurde.
Tschink.
Nun drückte sie auf der Wunde herum, um nach weiteren Klauen zu tasten. Schweiß lief Tyghan übers Gesicht und tropfte von seiner Nasenspitze. Aus seiner Brust kam ein dumpfes Stöhnen. Er hörte das Scharren von Schritten auf Stein, gefolgt vom lauten Stampfen von Hufen. In seinem Sichtfeld tauchte eine dunkelbraune Hand auf, die ein Paar Lederhandschuhe umklammert hielt. Quin. Die übrigen Offiziere betraten nach ihm das Zimmer.
Zwei von ihrer Truppe – Nisa und Liam – waren nicht mehr dabei. Sie hatten sich für die Mission freiwillig gemeldet und waren von ihrem Vorgesetzen empfohlen worden, aber Tyghan hatte sie kaum gekannt. Er hoffte nur, dass sie nicht ebenfalls mit Klauen gespickt worden waren.
»So, das waren alle. Sieben Stück«, zählte Madame Chastain die Klauen und ließ sie in der Kupferschale kreiseln. »Da muss Sie wohl eine ziemlich große Ladung erwischt haben.«
Damit hatte sie recht.
Tyghan richtete sich mühsam auf, indem er sich auf den linken Arm stützte, und unterdrückte ein Stöhnen. Seine Offiziere hatten es sich auf einer Stuhlgruppe ihm gegenüber gemütlich gemacht. Um Cullys Mundwinkel zuckte es amüsiert, und Tyghan warf dem jüngsten Mitglied seiner Garde einen eisigen Blick zu, sodass er seine Lippen schnell wieder unter Kontrolle brachte.
Madame Chastain schaute auf ihn herab. »Am besten weichen Sie das nächste Mal aus, wenn man Ihnen eine Ladung Klauen in den Leib jagen will, was meinen Sie? Das würde mir eine Menge Arbeit ersparen.«
Tyghan kleisterte sich ein steifes Grinsen aufs Gesicht. »Ja, in der Tat, warum habe ich nicht selbst daran gedacht?«
Sie rieb die Wunde mit einer heilenden Tinktur ein und wickelte einen sauberen Verband darum. »Nach einer Stunde können Sie das abnehmen, dann sollte alles verheilt sein. Schließlich sind Sie jung. Und bei guter Gesundheit … bisher.«
Sie sammelte ihre medizinische Ausrüstung ein und verließ den Raum, wobei sie immer noch die Klauen in der Schüssel kreiseln ließ und versuchte, nicht allzu erfreut auszusehen. Tyghan war klar, dass sie dafür schon eine gute Verwendung hatte. Vermutlich schwirrte es in ihrem Kopf vor Möglichkeiten.
Vorsichtig streifte er das Hemd über die empfindliche rechte Schulter. Madame Chastain machte sich nie die Mühe, Schmerzen zu betäuben. Das wird Sie daran erinnern, pflegte sie zu sagen, beim nächsten Mal klüger zu sein. Tyghan hätte auf ein nächstes Mal gut verzichten können, aber ihm war klar, dass es trotzdem kommen würde.
Quin hielt ihm einen Trinkpokal mit einer nicht erkennbaren Flüssigkeit entgegen. »Das könnte helfen.«
Also nahm Tyghan einen kräftigen Schluck und bekam einen Hustenanfall.
Quin grinste. »Ich hätte vielleicht erwähnen sollen, dass es ein bisschen im Hals brennt. Aber dann denkt man wenigstens nicht mehr an den Rest, stimmt’s?«
Kasta rieb sich den verbundenen Kopf. Sie war ebenfalls getroffen worden. »Wir sind wirklich ein armseliger Haufen. Alles, was das Reich braucht, ist ein einziges lächerliches Talent, und wir finden es nirgendwo im ganzen Reich.«
Glennis runzelte die Stirn und hockte sich auf ihre Hufe. »So lächerlich ist es wohl nicht länger, eher überlebensnotwendig.«
»Immerhin machen die Rekrutinnen gute Fortschritte«, bemerkte Cully und schnitzte an einem Eschenzweig herum, ohne sich um die Späne zu scheren, die auf dem Fußboden landeten.
Dalagorn stieß ein tiefes Knurren aus. »Nicht gut genug.« Er lehnte am Fenster und starrte auf die Stadt hinunter. Seine Laune war verständlich, denn Liam hatte aus dem gleichen Dorf gestammt wie er, dem gemeinsamen Sitz ihrer Vorfahren. Er war von Dalagorn persönlich rekrutiert worden.
Tyghan nahm einen zögernden Schluck aus dem Pokal und spürte, wie das bittere Gebräu seinen Magen wärmte. »Heute hat Eris eine Verabredung mit einer weiteren Kandidatin. Er behauptet, sie habe großes Potenzial.«
Kasta verdrehte die Augen. »Ja, das hat er bei allen anderen auch gesagt.«
»Eine Verabredung?«, schnaubte Quin. »Was für ein umständliches Getue. Wir reden schließlich nicht von einer Brautschau. Er sollte sie an den Zehennägeln nach Elfheim zerren.«
»Der Königliche Rat hat nur seine Bücher und Regeln im Kopf«, stimmte Cully zu.
»Und währenddessen läuft uns die Zeit davon«, sagte Dalagorn unwirsch. »Was gibt es zum Abendessen?« Sich den Bauch vollzuschlagen war seine übliche Lösung für unerfreuliche Situationen und Themen, die er lieber vermeiden wollte. »Ich könnte einen ganzen Ziegenbock verspeisen.«
»Nun, dann lasst uns gehen«, sagte Glennis und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Hinterkopf. Die Offiziere verließen das Zimmer in Richtung der Gartenterrassen, wo das Buffet aufgetischt worden war.
Tyghan entließ seine Männer mit der Bemerkung, er würde später nachkommen. Vom Korridor her trug eine Brise ihm die Bemerkung zu, die Quin zu einem seiner Kameraden machte: »Ich wette zwei Häute, dass Eris mit leeren Händen zurückkommt …«
Diesmal nicht, dachte Tyghan. Hier ging es um die Tochter von Kierus und Maire. Sie würde sich ganz gewiss als nützlich erweisen. Wenn nicht auf die eine Art, dann auf die andere.
Bristol blieb stehen, als Miriam ihr vom Nagelstudio her zuwinkte. Sie bat Bristol, kurz zu warten, damit sie schnell die Essensbestellungen für ihr Team aufschreiben und ihr mitgeben könne. So etwas passierte häufiger, vor allem während des Festivals. Bristol störte es nicht, eine Weile am Straßenrand zu stehen. Das Maniküre-Team gab großzügige Trinkgelder, und Sal war immer dankbar für eine Gruppenbestellung von so dicht nebenan. Deshalb packte Bristol meistens noch ein paar kostenlose Knoblauchbrötchen obendrauf.
Während sie auf Miriam wartete, bemerkte sie Willow, die den Bürgersteig entlangschlurfte. Die alte Dame hatte ihren unförmigen Hut tief nach unten gezogen, sodass ihr Gesicht wie immer im Schatten lag. Willow war nicht obdachlos im eigentlichen Sinne, aber sie gab Anlass für diese Vermutung, da sie ständig durch die Straßen und Gassen strich, selbst in tiefster Nacht.
»Hallo, Willow«, rief Bristol ihr im Vorbeigehen zu.
Die Alte nickte scheu, ohne langsamer zu gehen oder ihren leisen, gesummten Singsang zu unterbrechen.
Bristol legte ihr öfter die abbestellten Pizzen auf die Eingangsstufen, nur um sicherzugehen, dass Willow etwas zu essen hatte. Sie war so spindeldürr wie die Straßenlaternen, von denen die Hauptstraße gesäumt wurde. Niemand in der Stadt wusste viel über Willow, außer dass sie regelmäßig Kränze aus Wildblumen und Bändern als Geschenke an die Türknäufe hängte. Außerdem saß sie bei jedem Begräbnisgottesdienst in der Friedhofskapelle auf einer der hinteren Bänke und weinte.
Ein metallisches Klappern ließ Bristol herumfahren. Es war Pippa Hawkins vom Modeladen Best Threads, die einen Kleiderständer auf den Bürgersteig rollte, um Passanten in ihr Geschäft zu locken. An beiden Enden baumelte ein schreiend rotes Schild: 60 % Rabatt!! Der Ständer war voller bodenlanger, schimmernder Kleider. Der Jubiläumsball zur Stadtgründung war vor drei Monaten gewesen, und das hier waren die Restposten, die niemand hatte haben wollen. Fast niemand.
Zusammengequetscht in der Mitte entdeckte Bristol das moosgrüne Kleid, das sie einmal anprobiert hatte. Dabei hatte sie sich verträumt vorgestellt, selbst beim Event des Jahres dabei zu sein. Sie hatte noch nie an einer Tanzveranstaltung teilgenommen, erst recht keiner in Abendgarderobe. Noch immer erinnerte sie sich, wie es sich angefühlt hatte, das Kleid zu tragen. Sie hatte sich auf der Stelle in es verliebt. Seidenglatt hatte es sich an ihre Haut geschmiegt und eine seltsame Leere in ihr gefüllt. Für einige kurze Minuten hatte sie sich wie in eine andere Person verwandelt gefühlt. Eine junge Frau, die nicht ständig nach Fluchtwegen und Ausgängen schielte, die keine schmerzende Wunde in sich trug – die bleiben würde. Es war eine Menge Liebe und Hoffnung für ein überteuertes Stück Stoff gewesen.
Aber als damals die ganze Stadt über nichts anderes gesprochen hatte, von Maniküre-Miriam bis Bürgermeisterin Topz, und als gleichzeitig Mick in ihr Leben gewirbelt gekommen war, um sie mit seinem sexy Charme und seinen Aufmerksamkeiten einzuwickeln, da hatte sie tatsächlich mit dem Gedanken gespielt. Sie hatte gedacht, dass sie beide eine Art Paar seien. Davor war sie nie lange genug an einem Ort geblieben, um so etwas auszuprobieren. Mick hatte sie fasziniert. Er besaß eine magnetische Anziehungskraft, von der sie sich hatte einfangen lassen.
Sein Anmachspruch hatte gelautet: Hey, cooles Fahrrad! Im Nachhinein verdrehte Bristol die Augen, aber seine Flirterei hatte sie in einem verletzlichen Moment erwischt. Mick bot teure Bike-Touren für reiche Touristen an, die sich die Westküste ansehen wollten, und Bristols Secondhand-Rad sah dagegen aus, als würde es aus dem letzten Loch pfeifen. Leider war sie so schwach gewesen, sich mitreißen zu lassen, als er in ihr Leben gestürmt kam. Einige Wochen zuvor war ihr Vater gestorben. Sie hatte panische Angst gehabt, weil sie nicht wusste, wie sie den Alltag für Cat und Harper managen sollte. Mick hatte einfühlsame Fragen gestellt, als würde es ihm etwas bedeuten. Sie hatte jede seiner Aufmerksamkeiten und Berührungen begierig in sich aufgesogen, als könnte sie dadurch den schrecklichen Schmerz in ihrem Inneren auslöschen. Nach Ladenschluss hatten sie sich mehrmals in Sals Lagerraum getroffen. Aber leider hielt Micks intensives Interesse gerade mal zwei Wochen an. Ein paar leidenschaftliche Nächte, dann hatte er sich ohne jeglichen Abschiedsgruß in Luft aufgelöst. Vielleicht hatte er überstürzt zu einer Tour aufbrechen müssen, aber in ihrem Leben schienen immer alle zu verschwinden, ohne sich zu verabschieden.