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"Es ist, als hätte sich zwischen den kleinen Zahnrädern, die perfekt angeordnet waren, ein Steinchen verkeilt und damit alles aus dem Takt genommen."
Der Mord hat sowohl Jade als auch die Padres und die Illustris tief erschüttert. Jades dunkle Macht scheint ihre einzig verbliebene Verbündete zu sein, denn die Padres glauben, sie sei eine Gefahr für die Menschheit und für sich selbst. Die vermeintlich sichere Zuflucht auf Grace Island wird für sie zum Käfig, aus dem es kein Entkommen gibt.
Durch eine neue Bedrohung geraten Jade und ihre Freunde in einen tödlichen Wettlauf gegen die Zeit. Jades verhasste Macht wird zum Spielball und niemand ahnt, dass ihre Kräfte der Schlüssel sein könnten, das Leid aller ein für alle Mal zu beenden – oder aber ihr Schicksal zu besiegeln …
"The Death In Me" ist das vierte Buch der epischen Romantasy-Reihe "Mea Suna" von Any Cherubim. Dies ist die komplett überarbeitete Neuauflage von "Mea Suna - Seelentod: Band 4" (2016 erschienen).
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MEA SUNA
BUCH 4
Verlag:
Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH
Werinherstr. 3
81541 München
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Texte: Any Cherubim
Cover: Zeilenfluss
Satz: Zeilenfluss
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
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Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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ISBN: 978-3-96714-279-2
Ich weiß nicht mehr, wer ich bin oder wer ich sein will, nicht mal mehr, wo ich hingehöre. Ich habe mich verloren auf dem Weg, mich zu finden. Bei dem Versuch, wer ich sein kann, habe ich die wichtigste Frage vergessen: Wer bin ich?
Um ganz ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Die Stimmen in meinem Kopf sind laut. Das Geschrei ist so groß, dass es mich aus mir herausdrängt – so weit fort, dass ich mich nicht wiederfinde.
Alle erklären mir, was gut und richtig für mich ist, damit ich so lebe, wie ich leben soll, damit mein Körper funktioniert, wie er zu funktionieren hat. Es ist, als hätte sich zwischen den kleinen Zahnrädern, die über die Jahre perfekt angeordnet waren, ein Steinchen verkeilt und damit alles aus dem Takt genommen.
Im Moment spüre ich nur den unendlichen Schmerz, der sich unaufhaltsam in meine Seele frisst. Das dumpfe Pochen meines Herzens deutet darauf hin, dass ich noch lebe – gezwungenermaßen atme. Leise reden Menschen auf mich ein, suchen nach Worten, schenken mir eine sanfte Berührung. Ich höre ihr Mitleid, hier und da ein Schluchzen und spüre die bedauernden Blicke. Doch ich kann nur auf das Kreuz mit der goldenen Schrift starren.
Amy Lewis
Geboren 21.8.2006 – Gestorben 14.09.2024
Allmählich sickert die entsetzliche Wahrheit in mein Bewusstsein. Amy, mein über alles geliebter Zwilling, meine Seelenschwester, ist tot. Kaltblütig ermordet, von mir zu Asche verbrannt und für immer aus dem Leben gerissen. Ich werde das niemals vergessen können. Ihr Kopf war vom Körper abgetrennt, und ihre Augen haben ins Nichts geblickt. Ihr blutbesudelter Rumpf lag schlaff und leblos auf dem Boden. Mit einer einzigen Berührung ist sie zu Staub zerfallen. Die dunkle Macht in mir hat sie zersetzt und für immer zerstört. Diese Bilder haben sich in meine Seele gebrannt, und ich werde sie nie wieder vergessen.
»Jade? Liebes? Du sitzt hier schon den ganzen Morgen. Komm ins Haus. Sie möchten sich von dir verabschieden.«
Wie aus weiter Ferne höre ich Agnes‘ Stimme, die mich aus meinen Gedanken reißt. Einen Moment später legt sich ihr Arm wie eine warme Decke um meine Schultern. Endlich klärt sich mein Blick, und ich löse mich aus den dunklen Schatten der letzten Tage.
»Wenn sie fort sind, kannst du vielleicht ein wenig schlafen.«
Schlafen? Ich wünschte, das könnte ich. Dann würde ich wenigstens nichts fühlen, für ein paar Stunden der Realität entfliehen. Mir ist kalt, obwohl die Sonne scheint. Hier auf Grace Island, Amys und meinem Zuhause, ist immer Sommer. Sie hat diese Jahreszeit geliebt.
»Matteo wartet dort drüben. Er will sich von dir verabschieden«, sagt Marie neben mir und nickt zu ihm. Der Ex-Taluri steht etwas abseits von Amys Grab und schaut in meine Richtung.
»Ich will allein mit ihm sprechen«, sage ich tonlos und gehe ihm entgegen. Nervös zieht er die Sonnenbrille ab. In seinem Gesicht lese ich Trauer und Schmerz, aber auch Härte und Entschlossenheit.
»Gehst du ein Stück mit mir?«, frage ich ihn, ohne auf die Sicherheitsleute zu achten, die mich seit dem dunkelsten Tag meines Lebens überallhin begleiten. Matteo und die Typen folgen mir. Das Summen der Bienen über uns ist zu hören, und ich nehme den Flügelschlag einer Maori-Krähe wahr. Als wir ein gutes Stück von Agnes und Marie entfernt stehen bleiben, werfe ich den Männern mit den dunklen Sonnenbrillen einen warnenden Blick zu. Sie spüren meinen Groll und weichen zähneknirschend zurück.
»Sie lassen mich kaum atmen«, erkläre ich Matteo flüsternd.
»Sie sind zu deinem Schutz hier.«
Ich lache verächtlich. »Genau! Zu meinem Schutz!«
Ich weiß, warum die Padres mich keinen Schritt mehr alleine machen lassen – sie haben Angst vor mir.
In den letzten achtundvierzig Stunden war Matteo stets an meiner Seite. Er ist einer der wenigen, der mir nicht mitleidige Blicke schenkt. Er leidet selbst wie ein Hund. Auch ohne Worte verstehen wir uns.
Ich blende die Gorillas aus. »Wo wirst du hingehen, Matteo?«
»Nach Anizio zu Leonardo«, antwortet er knapp. »Vielleicht kann ich bei ihm vergessen.« Er schaut in den Staub zu seinen Füßen und kickt einen Stein fort.
»Können wir beide den schrecklichsten Tag überhaupt jemals loswerden? Das werden wir nie, und das dürfen wir auch nicht.«
Gepeinigt wirft er den Kopf in den Nacken und blickt gen Himmel. »Ich kann das nicht, Jade. Sie ist ständig in meinem Hirn. Mit ihr habe ich alles, was mir wichtig war, verloren.«
»Dann sind wir schon zwei«, sage ich voller Bitterkeit.
* * *
Er seufzt und schweigt eine Weile. Meine Worte tun mir leid, aber genauso empfinde ich es. Mein Leben ist wertlos geworden.
»Leonardo und ich werden nach Pepe suchen«, schwenkt er plötzlich auf ein anderes Thema. Damit hat er meine volle Aufmerksamkeit. »Ich fliege nach Anizio, dort werden Leo und ich uns beraten. Ich vermute, die Padres haben etwas Wichtiges übersehen. Der Junge kann nicht vom Erdboden verschluckt sein!«
Kurz werfe ich einen Blick zu den Gorillas und flüstere: »Wie meinst du das?«
Auch Matteo senkt die Stimme. Er weiß genau, dass unser Gespräch von den Typen hinter uns abgehört wird. »Keine Ahnung. Irgendwie stimmt etwas nicht. Luca hat das von Anfang an gespürt.«
Ich erschaudere. Niemand spricht mehr den Namen des Taluris aus, der Amy getötet hat. Aber in diesem Punkt muss ich Matteo recht geben. Luca hat auch immer an den Selbstmorden seiner Brüder gezweifelt.
»Leonardo und ich werden Pepe finden, das verspreche ich dir. Ich werde nicht ruhen, bis ich die ganze Wahrheit herausgefunden habe. Das bin ich Amy schuldig.«
Ich kämpfe mit den Tränen, dränge sie aber tapfer zurück. Nachdem Matteo und ich durch den Alarm in seiner Wohnung das Jero verlassen haben, ist auch Pepe verschwunden – spurlos. Die Padres und auch die Mädchen haben jeden Zentimeter der Katakomben unterhalb des Museo del Prado abgesucht, aber alles blieb erfolglos. Seither sorge ich mich um den Knirps und hoffe mit jeder neuen Nachricht, dass man ihn gefunden hat.
Matteo nimmt meine Hände. »Egal, was die Wahrheit sein wird, wir müssen dafür sorgen, dass es endlich aufhört. Und bitte, Jade … dich trifft keine Schuld. Rede dir das nicht ein, okay?«
»Das sagst du so leicht. Du warst dabei, hast gesehen, was … er und ich getan haben.«
Matteo umarmt mich. »Amy würde das nicht wollen.«
Seine Worte sollen mich trösten, doch das tun sie nicht. Der Brocken ist zu groß, zu gewaltig; er liegt wie ein dicker, fetter Klumpen in meinem Magen.
Zögernd löse ich mich aus seiner Umarmung. »Ich komme schon klar … irgendwie. Pass auf dich auf.«
»Das werde ich, mach dir um mich keine Sorgen.« Er kramt aus seiner Jeans eine Karte hervor und reicht sie mir. »Falls du Hilfe brauchst, hier kannst du mich immer erreichen. Tag und Nacht.«
»Das wird schwer, ich kann von der Insel aus nicht abhörfrei telefonieren. Du weißt, dass hier alles abgeschottet und gefiltert wird.«
Er nickt und wirft einen Blick zu den Männern, die ungeduldig von einem Fuß auf den anderen treten. »Du wirst einen Weg finden, mich zu erreichen, wenn du Hilfe brauchst.«
Dann küsst er mich auf die Stirn und hält einen kurzen Moment inne. Ich schließe meine Augen, bis er mich loslässt.
»Bis bald, Matteo«, flüstere ich.
Er geht, und ich höre, wie die Kieselsteine unter seinen Stiefeln knirschen, bis das Geräusch leiser wird und er schließlich fort ist.
Ich schaue ihm nicht nach, sondern starre aufs offene Meer. Mein Leben ist vollkommen aus den Fugen geraten. Ich leide unter dem Verlust meiner Schwester, habe Angst um Pepe, von dem immer noch jede Spur fehlt, und spüre die Feindseligkeit der Menschen, die mich eigentlich beschützen wollen. Die Padres sehen mich als eine Bedrohung, und sie haben recht.
Wem kann ich noch vertrauen? Ich schaffe es nicht einmal, in den Spiegel zu schauen, ohne Abscheu zu empfinden.
»Johanna hat dir eine Brühe gemacht, du würdest ihr eine große Freude machen, wenn du wenigstens ein paar Löffel davon zu dir nimmst«, sagt Marie plötzlich neben mir.
»Ich will nichts«, erwidere ich, ohne meinen Blick vom Meer abzuwenden.
»Du musst aber etwas essen, Jade. Dir wird schlecht werden, wenn Dr. Blackham dich wieder an die Infusion hängt. Na komm, ich bring dich zur Villa. Wenn du möchtest, kannst du später hierher zurück.«
Wenn ich an die vielen Infusionen denke, die in den letzten Tagen durch meinen Blutkreislauf gejagt wurden, krampft mein Magen, und mein Handrücken schmerzt. Meine Haut ist an Armen und Handgelenken von den vielen Stichen bereits grün und blau. Dr. Nussbaum und Dr. Blackham haben entschieden, mich alle drei Stunden mit einem noch besseren Impfmittel zu versorgen. Nach dem letzten Ausbruch haben die beiden Ärzte Tag und Nacht gearbeitet, bis sie glaubten, ein stärkeres und wirksameres Mittel gefunden zu haben. Sie entwickelten ein neues Verfahren, um die Effektivität präziser einschätzen zu können. Die Padres haben weder Kosten noch Mühen gescheut, um die ganze Ausrüstung aus dem Labor in Madrid zur Insel zu schaffen. So konnten sie eine engmaschige Überprüfung meines Zustandes gewährleisten und den Erfolg des Impfstoffes leichter beurteilen.
Mir ist klar, dass ich nun eine Gefangene bin. So schnell werden sie mich nicht gehen lassen. Wo soll ich auch hin? Ab jetzt bin ich auf mich allein gestellt, meine Familie ist komplett ausgelöscht.
* * *
Gestern haben wir Amy auf Grace Island beerdigt, gleich in der Nähe der Villa, auf einem einsamen Hügel der Insel. Viele Leute sind gekommen, um meiner Schwester die letzte Ehre zu erweisen. Die Illustri-Mädchen, alle Trainer und auch Mr. Zanolla, Jacques, die Nonnen Angela und Mali, einige Padres, Agnes und Ron und die meisten Taluris. Sie alle haben mir helfen wollen, indem sie mit netten Worten und Gesten ihr Beileid bekundeten.
Heute reisen alle wieder ab. Nur Marie, Agnes und Dr. Blackham werden hierbleiben – und die zehn Sicherheitsleute natürlich, die die Padres angeblich zu unserem Schutz einbestellt haben. Ich frage mich, wen sie beschützen, mich oder die Menschen auf der Insel? Denn eines ist klar: Ich bin die Bedrohung!
Marie, Agnes und ich betreten die Villa. Zum Glück bleiben meine Bewacher draußen und lassen mich auch sonst weitestgehend in Ruhe.
»Ich werde uns einen Tee machen«, sagt Agnes und geht in die Küche, um Wasser aufzusetzen.
Marie führt mich zum riesigen Sofa. Ich streife mir die Schuhe von den Füßen und lege mich hin. Marie setzt sich neben mich. Ich bin froh, wenigstens eine Vertraute bei mir zu haben. Professor Tramonti wollte vermeiden, dass ich mich auf der Insel als Gefangene fühle, doch ich mache mir nichts vor. Ohne Begleitung darf ich die Villa nicht verlassen und schon gar nicht in der Nähe von Quinns und Johannas Haus auftauchen. Wenn ich mich im Freien aufhalte, kreisen mehr Bienen über mir als sonst, und ich höre die Flügelschläge der Maori-Krähen. Aber darüber mache ich mir am wenigsten Gedanken. All meine Sorgen gelten Pepe. Täglich warte ich auf den erlösenden Anruf von Prof. Tramonti, der mich mit den neusten Informationen über die Ermittlungen versorgt. Jeden Tag hoffe ich auf positive Nachrichten, doch der Knirps bleibt verschwunden und das schon seit sechs Kalendertagen.
Das Einzige, was die Padres mittlerweile aufgedeckt haben, ist, dass niemand bemerkt hat, wie Pepe sich heimlich hinausgeschlichen hat, als Amy und Luca zu Matteos Wohnung aufbrachen, um ihre Sachen zu holen. Irgendwie hat der Knirps es geschafft, die sicheren Katakomben zu verlassen, ist ihnen still und leise gefolgt. Demnach ist Luca der Letzte, der ihn gesehen hat. Meine Hoffnung schwindet mit jeder Stunde. Ich grüble, und tausend Spekulationen wirbeln durch meinen Kopf. Was könnte geschehen sein? Hat der Junge vielleicht mitbekommen, wie meine Schwester getötet wurde? Ist er deshalb aus der Wohnung abgehauen und irrt jetzt verängstigt und traumatisiert durch die Straßen? An den besagten Abend, als Pepe verschwand, kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Ich stand völlig unter Schock. Nur die Erinnerung an mein schreckliches Handeln ist geblieben.
Marie hat mir erzählt, dass Luca sofort von den Padres festgenommen und im Jero eingesperrt wurde. Stundenlang verhörten sie ihn, doch angeblich schwieg er und blieb unkooperativ.
Gleichgültig nehme ich Lucas Schicksal hin. Meine Gefühle sind überlagert von Angst und tiefer Trauer – für etwas anderes gibt es im Augenblick keinen Platz. Besonders an Amys Grab spüre ich den Verlust und meine Schuld.
Das Telefon klingelt, sofort schrecke ich auf.
Marie nimmt ab. »Hallo? … Ja … Ich werde es ihr sagen … Danke.« Sie legt auf. »Das war der Professor.«
Kaum merklich schüttelt sie den Kopf, und ich lasse mich wieder in die Kissen fallen.
»Leider nichts Neues. Sie arbeiten daran und werden ihn schon finden«, versucht sie mich zu beruhigen. Marie weiß genau wie ich, dass die Chancen, ihn lebend zurückzubekommen, mit jedem weiteren Tag geringer wird.
Am späten Nachmittag versammelt sich der Rest der Inselbesucher im Garten vor der Villa. Dr. Blackham hat mir die Infusion verabreicht, und danach bin ich eingeschlafen. Jetzt begleitet mich Marie hinaus, damit ich mich von allen verabschieden kann.
»Isch weiße nischt, was isch dire sagen kann, meine Mädschen, außer, dass isch immer füre disch da bine.« Jacques umarmt mich. »Vielleischt lassen sie disch zu uns, wenn mit dir wiedere alles okay iste?«
Ich nicke und wische mir eine Träne von der Wange.
»Dann werde isch disch bekochen, mon amour. Du wirste mire fehlen, oui!«
»Danke, dass du gekommen bist, Jacques. Das hat mir viel bedeutet.«
Er haucht mir einen Kuss auf die Backe und tritt beiseite. Ein Illustri-Mädchen nach dem anderen verabschiedet sich von mir. Wortlos nehmen sie mich in den Arm, drücken mich liebevoll.
»Du bist eine von uns, vergiss das nicht«, flüstert mir Amber weinend ins Ohr. Sie macht Platz für Miku Lu.
»Wir werden mit den Padres reden. Sie können dich nicht ewig hier festhalten.«
»Ist schon in Ordnung, Miku. Nach allem, was passiert ist, ist das wohl das Beste.«
»Wir werden sehen.« Sie scheint fest entschlossen. »Jedenfalls hoffe ich, dass es dir bald besser geht.«
»Danke.«
Lucia ist an der Reihe. Sie schluchzt herzzerreißend. »Es tut mir so leid, Jade. Ich wollte nicht vor dir weinen, aber ich kann einfach nicht anders. Du bist so traurig und gleichzeitig so stark …«
»Hey, das ist vollkommen in Ordnung«, tröste ich sie. »Deine Gefühle sind ehrlich, und nur darauf kommt es an.« Eine Weile wiege ich sie im Arm, bis sie sich beruhigt. »Ich bin sehr froh, dass Marie bei dir bleiben darf.«
»Das bin ich auch.« Dankbar schaue ich zu meiner Freundin und zwinkere ihr zu.
Wortlos tritt Ava vor. Ihre Augen sind gerötet, und tiefe Schatten liegen darunter. Die Umstände von Amys Tod nehmen sie sehr mit. Sie bleibt vor mir stehen, hält meine Hände und schließt ihre Lider. Schweigend verharren wir so einen Moment. Damit erreicht sie mich mehr als mit tausend tröstenden Worten. Sie ist einfach bei mir. Gott! Es fällt mir so schwer, sie gehen zu lassen. Es tut weh, meine Freundinnen traurig zu sehen. Ava tritt beiseite und macht den Trainern und Mr. Zanolla Platz.
Deutlich spüre ich ihre Unsicherheit und Zurückhaltung mir gegenüber. Sie geben sich Mühe, das zu verbergen, reichen mir die Hand, aber sie haben Angst. Auch Schwester Mali bekreuzigt sich ständig und meidet meinen Blick.
Nur Schwester Angela schüttelt verständnislos den Kopf, drängt sich vorbei und zieht mich ohne Scheu in ihre Arme.
»Lass dich nicht unterkriegen, hörst du? Bleib stark und versuche, nicht den Kopf zu verlieren«, flüstert sie mir Mut zu.
Wenn das nur so einfach wäre. In den letzten Tagen stand ich kurz davor, durchzudrehen, igelte mich ein und wollte am liebsten nie wieder die Augen aufmachen.
»Ich werde mir Mühe geben«, antworte ich halbherzig. Sie streichelt mir über die Wange. Froh, die Verabschiedung endlich hinter mich gebracht zu haben, beobachten Marie, Agnes, Dr. Backham und ich, wie alle durch den Garten hinunter zur Bootsanlegestelle gehen. Die Mädchen winken mir noch einmal zu.
»Ich fand es toll vom Professor, dass er mir erlaubt hat, bei dir zu bleiben«, meint Marie.
»Ich bin auch sehr froh darüber.« Wir hören die Motoren der Boote. Marie hakt sich bei mir unter, und gemeinsam gehen wir zurück zur Villa.
»Auf eigene Gefahr, wohlgemerkt. Ich bin mir sicher, dass der Professor und dein zukünftiger Ehemann nicht glücklich mit deiner Entscheidung sind.«
Marie hat den Professor regelrecht dazu überredet. Seine Gegenargumente lagen klar auf der Hand: Solange man nicht weiß, wie mein Körper reagiert, ist das Risiko, dass es weitere Opfer geben könnte, zu groß. Die letzten Ereignisse haben gezeigt, dass es unverantwortlich und äußerst riskant ist, sich in meiner Nähe aufzuhalten.
Sie bleibt stehen und ist geschockt von meiner Aussage. »Daniel mag dich. Er würde dich nie verurteilen, Jade. Wie kommst du nur auf so eine Idee? Er unterstützt mich in allen Entscheidungen, die ich treffe.«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Ist sie wirklich so leichtgläubig? Hat Daniel keine Angst um sie? Sie ist meine Freundin, aber trotzdem geht sie ein beachtliches Risiko ein. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ihr etwas zustößt.
»Na, komm schon, Jade. Daniel weiß genau, dass mich in dieser Situation keine zehn Pferde von dir wegbringen.«
»Danke, Marie. Was würde ich nur ohne dich tun.«
»Wir stehen das gemeinsam durch. Dafür sind wir doch Freundinnen.« Sie umarmt mich kurz, und ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter.
»Ich weiß nicht, ob ich das alles aushalten kann«, sage ich schluchzend.
»Du wirst das schaffen, du darfst nur nicht aufgeben.«
»Das sagst du so leicht. Nichts ergibt mehr einen Sinn. Ich bin nicht stark genug, um das alles zu ertragen. Ich habe solche Angst um Pepe.« Ich ziehe die Nase hoch und wische mir die Tränen aus den Augen.
»Sie werden ihn finden, bestimmt! Hab ein bisschen Vertrauen.« Marie entlockt mir ein Nicken und führt mich dann zurück zur Villa.
Es ist nicht leicht, weiterzuleben. Tag für Tag, Nacht für Nacht, mit all den schrecklichen Bildern in meinem Kopf.
Eine Stunde später läuft der neue Impfwirkstoff bereits durch meine Adern. Dr. Blackham kontrolliert meinen Puls, während ich im Bett liege und dem Arzt dabei zuschaue. Er ist hochkonzentriert. Er hat dichte, dunkle Brauen, und erst auf den zweiten Blick kann man erkennen, dass er hellbraune, warme Augen hat. Ich frage mich, wie er wohl ohne Vollbart aussieht. Ich schätze ihn älter als Dr. Nussbaum ein. Dr. Blackham hat einen kleinen Bauchansatz, trägt meistens braune Cordhosen und Hemden. Selbst hier auf der tropischen Insel. Er erinnert mich an so manche Lehrer, die Amy und ich auf der Highschool hatten.
»Dein Puls ist in Ordnung. Wie fühlst du dich?«, fragt der Brite und kritzelt etwas auf das Klemmbrett, das er immer bei sich hat.
»Ganz okay. Die Übelkeit ist nicht mehr so schlimm wie am Anfang.«
»Das ist gut. Deine Werte sind auch wieder im grünen Bereich, und ich bin sehr zufrieden. Versuch dich zu entspannen. Ich komme wieder, sobald die Infusion durchgelaufen ist.« Er will hinaus.
»Dr. Blackham? Kann ich Sie etwas fragen?«
Er dreht sich mir zu. »Natürlich.«
Umständlich richte ich mich auf und achte darauf, dass die Infusion ungehindert weiterlaufen kann. »Inwieweit können Sie garantieren, dass das, was passiert ist, sich nicht wiederholt? Ich will einfach sichergehen, dass ich niemanden hier auf der Insel verletzen werde … oder Schlimmeres.«
Lange sieht er mich an, räuspert sich und setzt sich dann wieder. Auf seiner Stirn bilden sich Falten. »Jade, das kann ich dir leider nicht beantworten. Das neue Mittel wirkt, die gemessenen Werte sind alle in Ordnung. Aber was genau geschieht, wenn du wütend wirst, das vermag ich nicht abzuschätzen. Das kann niemand.«
»Also halten Sie es für möglich, dass es wieder passiert?«
Offenbar macht ihn die Unterhaltung nervös, er hält es nicht mehr auf dem Stuhl aus und geht zur Fensterfront. »Um ehrlich zu sein, sind Dr. Nussbaum und ich uns nicht ganz einig darüber. In deinem Fall ist das auch sehr schwierig, wir haben keinen Vergleich. Ein Illustri-Mädchen mit solcher Kraft gab es bisher nicht. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass dein Gen anders aufgebaut ist als bei den anderen. Aber … mach dir keine Sorgen, hier auf der Insel bist du gut aufgehoben.«
»Und was ist mit Marie, Agnes und den Menschen, die hier leben? Und bedeutet das, dass ich für immer hierbleiben muss?«
Mitleidig ruht sein Blick auf mir, und weil er nicht antwortet, frage ich mich, ob das der Plan ist, den die Padres für mich haben? Ich bin nicht in der Lage, ernsthaft darüber nachzudenken, trotzdem fühlt es sich so an. Bisher habe ich mir noch keine Gedanken über meine Zukunft gemacht – aber für immer auf der Insel bleiben? »Ich weiß überhaupt nicht, was das Beste ist.«
Er nickt und kommt ans Bett. »Hier bist du in Sicherheit. Die Insel wird geschützt, niemand kann hier eindringen.«
… und auch niemand entkommen. Ist es nicht das, was er mir damit sagen will? Ich bin eine Gefangene. »Und wenn ich irgendwann nicht mehr hierbleiben will?«
»Dann werden wir eine andere Lösung finden.« Er redet wie immer sehr freundlich, aber etwas in seiner Stimme verrät, dass er es nicht so meint. Bisher habe ich ihnen allen vertraut, aber seit Amys Tod und Pepes Verschwinden bin ich mir nicht mehr sicher.
»Es wird alles gut werden. Solange du das Mittel bekommst, bin ich fest davon überzeugt.« Dr. Blackham muss meinen Unmut gespürt haben, denn er setzt ein breites Lächeln auf. »Denk nicht so viel nach, Jade. Hey, ich wollte es dir noch nicht verraten, aber ich vermute, du wirst dich sehr freuen, wenn ich dir anvertraue, dass ich eine Lösung gefunden habe, damit du nicht mehr an den Tropf musst.«
Erstaunt hebe ich die Brauen. »Ehrlich? Und wie?«
Er verschränkt seine Hände hinterm Rücken und schwellt ein wenig seine Brust.
»Ich konnte eine hochkonzentrierte Lösung des Mittels in Form einer Pille herstellen.« Gespannt auf meine Reaktion, grinst er.
»Wow! Ich bin beeindruckt. Und wann ist es so weit?«
»In ein, zwei Tagen, wenn du willst.«
Die Aussicht darauf, dass meine Arme heilen und die blauen Flecken verschwinden, erhellt tatsächlich meine Stimmung.
»Ich kann es kaum erwarten«, sage ich, als der Doktor zur Tür geht. Er lächelt und verlässt den Raum.
* * *
Drei Tage später brauche ich keine Infusion mehr. Die Pille, die Dr. Blackham für mich optimiert hat, scheint zu funktionieren. Meine Werte bleiben im grünen Bereich, und ich habe endlich die schreckliche Prozedur mit den Nadeln hinter mir. Wie durch ein Wunder sind die blauen Flecken auf meinen Armen und die Einstichstellen über Nacht verschwunden, was der gute Doktor genauestens protokolliert. Nur ab und zu wache ich schweißgebadet auf, geplagt von Alpträumen um Amys Tod. Ich bin erschöpft, mein Appetit kehrt nicht zurück, und so langsam wird das an meinem Körper sichtbar.
Marie und ich sitzen auf Liegestühlen im Garten und haben es uns gemütlich gemacht. Sie liest mir aus einem Lieblingsliebesroman vor – ausgerechnet ein Liebesroman! Aber so schweigen endlich die Stimmen in meinem Kopf, und ich versuche, mich auf die Geschichte einzulassen.
»In diesem Moment verliere ich mich in seinen Augen, sehe seine Stärke und weiß, dass ich ihm vertrauen kann. Uns trennen nur noch wenige Zentimeter, und in mir peitscht ein unbändiges Verlangen auf. Das ist der Augenblick, in dem ich nicht mehr in der Lage bin, zu denken, und ich gebe mich den Emotionen hin, die er in mir auslöst.«
– Marie unterbricht sich mitten im Satz. »Das ist soschön, findest du nicht auch?«
»Ja, kann sein«, gebe ich knapp zurück.
Enttäuscht lässt sie das Buch sinken. »Du hast mir ja gar nicht zugehört!«
»Doch, das habe ich«, verteidige ich mich. Es ist mir unangenehm, denn ich will nicht zugeben, dass ich bei dieser Kussszene Lucas Gesicht vor Augen habe. Mein Kopfkino ist angesprungen und das, obwohl mir im Augenblick nicht der Sinn nach Zärtlichkeiten steht.
»Oh, wie dumm von mir! Daran habe ich nicht gedacht. Es tut mir leid, Jade. Ich wollte dich nicht …«
»Schon gut, ist nicht schlimm. Du hast ja recht, es ist wirklich eine schöne Geschichte.«
Als ich nicht weiter reagiere, klappt sie das Buch zu und seufzt. »Es muss schwer sein in so einer Situation. Du hasst ihn bestimmt. Nach allem, was wir nun wissen, oder?«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, ich kann mir nicht vorstellen, dass du noch etwas für ihn empfindest.«
Deutlich spüre ich Hitze, die mir ins Gesicht schießt. Sie trifft genau den wundesten all meiner Punkte, denn ja, ich hasse Luca. Er ist ein Mörder. Und ich liebe ihn. Zumindest den Luca, mit dem ich noch vor wenigen Wochen glücklich war.
»Ich hoffe, dass er wenigstens verrät, wo Pepe ist. Wobei ich ja vermute, dass der arme Junge sich wirklich erschreckt hat und abgehauen ist. Die Padres werden Luca sicherlich in die Mangel nehmen, und irgendwann wird er es sagen. Meinst du nicht?«
Ich kann nicht anders und starre Marie an. Was ist in sie gefahren? Seit wann denkt sie so über Luca? Bisher hat sie das Thema vermieden. Eigentlich haben alle um mich herum das getan.
»Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass er vielleicht weniger mit der Sache zu tun haben könnte, als wir alle denken?«
Marie stutzt und kräuselt die Stirn. »Was willst du damit sagen, Jade?«
Ihr Unterton stört mich. Alle haben Luca verurteilt. Ich auch, aber irgendwie ist da nach wie vor dieser Funke Hoffnung, der regelmäßig Lucas Worte in mein Gedächtnis holt.
»Keine Geheimnisse mehr, Luca.
Schließ mich bitte nicht mehr aus.«
Er nickt einverstanden.
»In Ordnung. Und du musst mir mehr vertrauen.«
Vielleicht irre ich mich, vielleicht will ich die Wahrheit nicht akzeptieren. Ich habe es ihm versprochen. Ja, ich habe noch Gefühle für Luca, auch wenn das niemand verstehen kann – ich am allerwenigsten.
Als von mir länger keine Antwort kommt, reißt Marie die Augen auf. »Jade? Es ist okay, etwas für ihn zu empfinden.«
»Ich will nicht darüber reden, in Ordnung?«
Es tut mir leid. Marie ist meine beste Freundin, vielleicht die einzige, die ich noch habe. Aber dieses Thema ist im Augenblick zu delikat, um mich damit auseinanderzusetzen. Womöglich bin ich noch nicht einmal fähig, meine Gefühle selbst zu verstehen und richtig einzuordnen.
Ich versuche zu lächeln und nehme ihr das Buch aus der Hand.
»Früher hatte ich mehr Zeit zum Lesen. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, welchen Autor ich gelesen habe«, lenke ich sie auf ein anderes Thema.
Zum Glück lässt sich Marie auf den Wechsel ein. »Vielleicht solltest du wieder anfangen. Es könnte dir helfen, für ein paar Stunden die Welt auszuschalten.«
Genervt setze ich mich auf und streiche mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wieso wollen immer alle, dass ich vergesse, was geschehen ist? Das werde ich nie und will es auch nicht.«
Ärger schwingt in meiner Stimme mit, was Marie kurz innehalten lässt.
»So meinte ich das ja auch nicht. Ich wünsche mir, dass du nicht den ganzen Tag über Amys Tod grübelst. Ein gutes Buch kann dich ablenken.«
Sie hat recht, aber ich will nicht über etwas anderes nachdenken. Das bedeutet, dass ich akzeptiere, was geschehen ist. Dazu bin ich noch nicht bereit.
Die Schiebetür des Wohnzimmers wird geöffnet, und Agnes betritt den Garten. »Jade?«
Ich schaue auf.
»Telefon! Der Professor möchte dich sprechen.«
Sofort springe ich von der Liege. Hoffnung keimt in mir auf, dass es endlich gute Neuigkeiten über Pepe geben wird. Schnell gehe ich ins Haus und nehme das Gespräch entgegen. Marie folgt mir.
»Ja? Hallo?«
»Hallo Jade. Wie geht es dir?«
Ungeduldig antworte ich: »Ganz okay. Haben Sie ihn gefunden?«
»Nein, aber wir haben eine Spur. Leider kann ich dir nichts Näheres berichten. Ich muss dich um noch mehr Geduld bitten.«
Enttäuscht lasse ich die Schultern sinken.
»Ich weiß, es ist viel verlangt, aber ich verspreche dir, wir werden alles tun, um so schnell wie möglich die Wahrheit herauszubekommen.«
Sekunden vergehen, in denen wir beide nicht wissen, was wir sagen sollen. Ich seufze.
»Ruhe dich aus, Jade, und überlass uns alles. Wir kümmern uns darum. Sobald es Neuigkeiten gibt, wirst du es von uns erfahren.«
Das ist leichter gesagt als getan. Die Warterei macht mich noch ganz verrückt. Wenn ich wenigstens eine Aufgabe hätte, die mich ablenkt!
»Ich melde mich wieder. Bis dahin erhol dich, ja?«
»Ich werde mir Mühe geben.« Er hört den Frust in meiner Stimme, geht aber nicht weiter darauf ein. Das tut er nie.
»Bis bald, Jade.«
»Ja, bis bald.« Ich beende das Gespräch und sehe nachdenklich den Hörer in meiner Hand an.
»Und?«, kommt es gleichzeitig aus Maries und Agnes` Mund. Beide blicken mich erwartungsvoll an.
»Der Professor hat gesagt, dass es eine Spur gibt. Mehr konnte er mir aber nicht verraten.«
Agnes setzt sich zu mir. »Das ist doch schon mal ein gutes Zeichen, Jade. Sie werden ihn finden, du wirst sehen. Und in der Zwischenzeit kannst du dich ausruhen.«
Ausruhen, ausruhen! Ich tue doch den ganzen Tag nichts anderes! Ich weiß, dass sie es alle nur gut meinen, aber ich würde mich wirklich besser fühlen, wenn ich aktiv etwas tun könnte.
Die Fürsorge der beiden und auch ihre Nähe werden mir plötzlich zu viel. Ich erhebe mich. »Ich muss nachdenken. Bitte seid mir nicht böse, ich möchte allein sein.«
Damit verlasse ich das Wohnzimmer und laufe in den Garten. Ich bekomme noch mit, wie Marie zu Agnes sagt: »Lass sie! Wir müssen ihr Zeit geben.«
Ich will niemanden verletzen, aber ich brauche ein paar Augenblicke für mich.
Sofort ist das vertraute Summen der Bienen zu hören, und zwei der Gorillas folgen mir. Ich ignoriere sie und gehe durch den Garten. Eine unbändige Lust, loszurennen, überkommt mich. Ich laufe schneller über die Wiese. Das Gefühl der lockenden Freiheit durchdringt mich, mein Puls beginnt zu rasen, und mit jedem Schritt spüre ich, wie mein Blut in Wallung gerät. Kurz werfe ich einen Blick hinter mich. Die Gorillas in ihren schwarzen Anzügen rufen mir etwas zu, ich verstehe sie jedoch nicht. Da packt mich der Freiheitsdrang, und ich sprinte einfach los.
So schnell ich kann, renne ich die kleine Erhöhung hinauf, die zum Grab meiner Schwester führt. Je schneller ich laufe, desto mehr spüre ich meine Muskeln. Es tut so gut! Zum ersten Mal seit Langem nehme ich mich selbst wieder wahr. Mein Haar wirbelt wild durcheinander, und meine Lungen füllen sich mit Sauerstoff. Die schrecklichen Bilder und Gedanken verblassen, und endlich fühle ich mich frei. Die Gorillas haben Mühe, mir zu folgen. Sie fluchen, während ich zum Grab hinaufsteige. Ich hätte erwartet, dass sie mehr Kondition haben.
Oben angekommen, werfe ich einen Blick hinter mich und grinse ihnen entgegen. Sie erreichen nach wenigen Metern atemlos den Gipfel. Einer der beiden lehnt sich gegen einen Baum und schnauft wie eine Dampflok.
Ich schüttle den Kopf. Wie kann jemand in so schlechter sportlichen Verfassung ernsthaft für meine Sicherheit sorgen wollen? Der Jüngere bleibt bei seinem Partner stehen. Dieser flucht immer noch. »Verdammt! Du weißt genau, dass dir das verboten wurde, Jade.«
Ich grinse ihm selbstgefällig ins Gesicht und hebe eine Augenbraue. »Dann müsst ihr schneller werden.«
Er murmelt etwas Unverständliches, und ich bin mir sicher, dass es nichts Freundliches ist. Dann wende ich mich ab und laufe zum Grabstein. Sofort wird es still in mir, und leise dröhnt der Schmerz wieder auf. Mit der Hand fege ich den Sand von der Grabplatte, den der Wind über die Mittagszeit darauf hinterlassen hat. Als der weiße Marmor wieder glänzt und die Rosenblüten ordentlich sind, erhebe ich mich und schlendere langsam über den Kiesweg zur Klippe. Von dort aus hat man einen wunderbaren Ausblick auf das offene Meer.
Die Gorillas folgen mir auch diesmal, aber sie halten einen größeren Abstand. Tief atme ich die kühle Meeresluft ein und lasse den Blick über den Ozean schweifen. In der Sonne glitzert die Wasseroberfläche und erinnert mich an den Tag, als Luca und ich uns in der Trainingshalle versöhnt und ausgesprochen haben. Ein Schauer fährt mir den Rücken hinunter, wenn ich an ihn denke. Deutlich spüre ich noch seine Lippen auf meiner Haut, schmecke seinen Duft, und ich erinnere mich genau, wie er sich in mir angefühlt hat. Sofort schäme ich mich für meine Gefühle, unterdrücke sie und überlasse meinem Verstand die Vorherrschaft. Luca ist der Mörder meiner Schwester, ich hasse und verbanne ihn aus meinem Gedächtnis. Mein Körper versteift sich, und mir wird kalt. Fröstelnd umschlinge ich meine Mitte und mache mich langsam auf den Rückweg.
Schweigend nehmen Agnes, Marie und ich das Abendessen ein. Agnes ist ungewöhnlich still. Sie wirkt müde. Sonst haben die beiden immer wieder versucht, mich mit Belanglosigkeiten in ein Gespräch zu verwickeln. Diesmal stochere ich appetitlos im Essen, bis Agnes ein deutliches Machtwort spricht.
Sie lässt das Besteck sinken und sieht mich ernst an. »Jade, so geht das einfach nicht weiter! Du musst dich dazu zwingen, etwas zu essen, auch wenn du keinen Hunger verspürst.«
Ich seufze und will schon mit den Augen rollen, als sie mir einen warnenden Blick zuwirft. »Ich meine das wirklich ernst, junge Dame. Ich habe viel Verständnis für dich, aber wenn ich zusehen muss, wie du jeden Tag immer weniger wirst und …«
Ihre Stimme bricht, und sie schluckt aufkommende Tränen hinunter. Marie und ich starren sie verdutzt an.
»Ich habe damals deiner Mutter versprochen, auf euch aufzupassen. Bei Amy habe ich versagt. Das darf mir nicht noch einmal passieren.« Ihre letzten Worte sind nur noch ein Flüstern, bevor sie zu weinen beginnt.
»Versagt? Dass Amy tot ist, ist doch nicht deine Schuld! Wie kommst du nur darauf?«, erwidert Marie, steht vom Tisch auf, um sie zu trösten.
So habe ich Agnes noch nie gesehen. Klar, wir leiden alle unter den Ereignissen, aber nie hätte ich gedacht, dass Agnes sich verantwortlich für Amys Tod fühlt. Erst jetzt erkenne ich, wie schwer es für sie sein muss – hat sie uns doch liebevoll aufgezogen und dafür gesorgt, dass aus uns offene und wohlerzogene junge Frauen geworden sind. Sie ist stark und wie eine Mutter. Sie jetzt hier weinen zu sehen, erschreckt mich.
»Niemand kann etwas dafür, dass das alles passiert ist«, tröstet Marie sie.
Ich bin wie erstarrt. Wieso gibt sie sich die Schuld? Sie war nicht einmal dabei.
Sie wischt sich über die Augen. »Es war nur ein kurzer Moment der Schwäche. Tut mir leid, ich …«
»Das ist in Ordnung, Agnes. Aber du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen. Es ist schwer, das alles zu begreifen. Ich habe selbst noch nicht verstanden, dass Amy nicht mehr da ist.«
»Ich weiß, meine Süße. Ich habe einfach nur Angst um dich.«
Angst habe ich auch, aber viel mehr vor mir selbst. Um ihr aber zu zeigen, dass ich an mir arbeiten werde, nehme ich die Gabel in die Hand und schaufle mir eine riesige Portion Nudeln und Gemüse in den Mund.
Sie lacht und schüttelt den Kopf. »Genau wie damals! Wenn Amy und du mal wieder nicht essen wolltet, habe ich euch mit einem besonderen Nachtisch bestochen. Genau wie du jetzt, habt ihr euch dann das Grünzeug hineingestopft. Kannst du dich erinnern?«
Natürlich. Agnes war immer um uns besorgt, wenn wir nicht mehr als die Hälfte unserer Portionen aufgegessen haben. Die Stimmung am Tisch wird lockerer, und Agnes erzählt von früher. Geschichten, die ich schon in- und auswendig kenne. Ich habe sie ja miterlebt. Aber ich höre ihr gern zu, und sofort sind die Bilder von Amy und mir als Kinder wieder farbenfroher und deutlicher in meinem Kopf. Es tut gut, über meine Schwester zu sprechen, so bleibt sie allgegenwärtig und lebendig.
»Jade, ich möchte dir noch etwas sagen. Marie hat mir von eurem Gespräch heute Nachmittag erzählt.«
Marie setzt sofort eine entschuldigende Miene auf.
»Liebling, es ist ganz bestimmt nicht leicht, die Enttäuschung von Luca zu verarbeiten.«
Oh nein! Was soll das denn jetzt?
»Du weißt schon, was ich dir sagen will, oder?«
Verwirrt blicke ich zwischen den beiden hin und her.
»Es ist normal, dass du dich nicht mit der Tat auseinandersetzen willst. Das ist absolut verständlich, und das musst du auch nicht – noch nicht.«
»Was Agnes damit sagen will, ist, dass du quasi noch unter Schock stehst. Wir verstehen dich.«
Ärger wallt in mir auf.
»Ihr versteht mich? Ihr versteht gar nichts!«, bricht es aus mir heraus. Sofort nehme ich mich und mein Temperament zurück und horche ängstlich in mich hinein. Mein Herz schlägt schneller, aber mehr ist da nicht. Zum Glück!
»Das wird vorübergehen. Mit der Zeit und dem nötigen Abstand wirst du irgendwann das alles hinter dir lassen können, Schatz.« Agnes kommt zu mir, rückt den Stuhl neben mir zurecht und setzt sich. Sie legt einen Arm um mich.
»Ich weiß einfach nicht, was ich glauben soll. Mein Luca hätte so etwas nie getan.«
»Er wollte, dass du ihm vertraust«, meint Marie.
»Du kennst ihn nicht. Er hat gelitten, er wurde gefoltert und gezwungen, eine falsche Denkweise anzunehmen. Er war so dankbar für sein neue Leben, das er mit mir verbringen wollte.« Es ist das erste Mal seit Amys Tod, dass ich über ihn spreche. Die ganze Zeit über habe ich versucht, ihn aus meinen Gedanken zu verbannen.
»Es muss unglaublich schwer sein für dich.« Agnes sieht mich so mitfühlend an, als würde sie darauf warten, dass ich selbst dahinterkomme, dass ich auf ihn hereingefallen bin.
Mein Herz weigert sich, doch mein Verstand schreit mich an. Ich bin hin- und hergerissen, bis ich wieder vor mir sehe, was damals den radikalen Ausbruch in mir hervorgerufen hat. Gedankenverloren starre ich auf meinen Teller und habe das Bild vor Augen, welches mich Nacht für Nacht aufschreckt.
Das Blut meiner Schwester klebt an seinen Händen und an seinem Körper. Sein Blick ruht düster auf mir, und für einen kurzen Moment glaube ich, ein dämonisches Grinsen zu sehen. Angewidert schlucke ich, und unbändige Wut steigt in mir auf.
Ich schüttle mich und tauche aus dem Tagtraum wieder auf. Wahrscheinlich haben Agnes und Marie recht. Ich darf nicht an den früheren Luca denken. Tränen laufen über meine Wangen, und es tut so furchtbar weh, aber in mir ist noch der Funke, den ich nicht ignorieren kann. Winzig klein und tief versteckt leuchtet er in meiner Seele. Er ist wunderschön. Ein weiß-silbernes Licht, das so viel Wärme verspricht.
»Er hat es zugegeben, Jade!«, flüstert Marie und reißt mich in die Wirklichkeit zurück.
Entsetzt schaue ich zu ihr rüber. »Was? Wann?«
Meine Augen brennen, erneut habe ich Mühe, die Tränen zurückzuhalten.
»Wann das war, wissen wir nicht genau. Ich habe diese Information erst mal zurückgehalten, damit du etwas Zeit hast, um zu trauern.«
Der Funke droht zu verglühen. Wieso haben sie mir etwas so Wichtiges verschwiegen? Ruckartig stehe ich auf, sodass der Stuhl umkippt. »Wieso habt ihr mir nichts gesagt?«
»Doch nur, damit –«
»Agnes! Wie konntest du?«
»Es tut mir leid, Jade. Ich dachte, es wäre so das Beste für dich.«
Sprachlos und kopfschüttelnd schwirren tausend Gedanken durch meinen Kopf. Ich bin kaum in der Lage, klar zu denken, und will nach dem Funken greifen, den ich all die Zeit nicht aufgeben konnte. »Was hat er gesagt?«
»Er hat seine Tat bei einem Verhör der Padres zugegeben. Genaueres weiß ich nicht. Bestimmt werden wir in den nächsten Tagen Näheres erfahren. Ach Jade, es tut mir alles so leid.« Marie und Agnes wollen mich trösten, doch ich halte es nicht aus, brauche Abstand.
»Entschuldigt, ich muss …« Ich breche ab, unfähig weiterzureden, und wende mich ab.
»Ich komme mit dir«, beeilt sich Marie zu sagen, aber ich hebe meine Hand.
»Nein! Lasst mich allein. Bitte.« Damit lasse ich sie stehen und gehe.
* * *
Lange liege ich wach und kann nicht schlafen. Ich denke an Bayville und an unsere Kindheit zurück. Amy war immer der Wildfang, mit ihr war es nie langweilig. Wie oft hat sie uns Streiche gespielt. Damals waren wir glücklich, auch wenn wir strenger erzogen wurden als andere Kinder. Wir hatten ein Zuhause und wurden geliebt. Was würde ich tun, um die Zeit zurückzudrehen. Jetzt ist aus meinem Leben ein Scherbenhaufen geworden. Irgendwann übermannt mich die Müdigkeit, und ich schlafe endlich ein.
Nach Luft schnappend schrecke ich hoch. Der Traum zerplatzt wie eine Seifenblase. Ich bin auf Grace Island, in Sicherheit, aber es stellt sich keine Erleichterung ein. Die grausamen Bilder sind die Wirklichkeit. Ich werfe einen Blick auf die Uhr und lasse mich stöhnend in die Kissen zurückfallen. Es ist erst kurz nach Mitternacht. Die Luft ist stickig, und mir kleben die Haare nassgeschwitzt am Kopf. Wieder steht mir eine schlaflose Nacht bevor. Ich stehe auf, wasche mir im Bad den Schweiß vom Körper und öffne im Zimmer das Fenster. Von draußen strömt eine leichte, kühle Brise herein. Es ist eine laue Sommernacht, der Vollmond leuchtet und lässt den Garten in dunkelblauen Schatten erscheinen. Die Grillen zirpen, und ich kann das Meeresrauschen hören. In der Villa ist es ruhig, die Angestellten, Marie und Agnes schlafen, und meine Gedanken wandern zu meiner Mutter, zu den Zeilen, die sie in ihren Almanach geschrieben hat. Mom hat dort nicht nur ihre persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse niedergeschrieben, sondern auch ihre Studien, Versuche und Tests festgehalten, die für mich wie eine Art Lexikon über die Illustris sind. Inzwischen habe ich das Notizbuch durchgelesen, und ich liebe es sehr. Ich wünschte, Amy hätte es noch lesen können.
Ich setze mich auf die Bettkante und hole es aus der Schublade. Liebevoll streiche ich über das abgewetzte Leder und schlage die Seite mit dem Textstück auf, das mir nicht aus dem Kopf geht, seit ich es das erste Mal gelesen habe.
Wie gesagt, es ist schwierig zu verstehen, wann die elektrische Ladung sich in meinem Körper aufbaut. Manchmal horche ich in mich hinein und versuche, etwas zu fühlen. Ich gebe zu, dass ich es mir auch schon eingebildet habe und sich nichts getan hat. Jedoch wenn ich das Gesamte überblicke, erscheint es mir logisch, dass beide Kräfte sich nicht ausschließen, sondern miteinander verbunden sein könnten – etwas Positives und etwas Negatives, das eine hell, das andere dunkel. Vielleicht darf man die Fähigkeiten nicht schwarz-weiß betrachten, womöglich steht eine Ordnung dahinter, ein in sich geschlossener Kreislauf, der einem wiederkehrenden Zyklus folgt.
Bis jetzt bin ich gescheitert, aber alles wäre leichter zu ertragen, wenn ich wenigstens das Heilen beherrschen könnte. Es gibt so viele Menschen, denen ich ihr Leid und ihren Schmerz nehmen könnte.
Verzweifelt hat Mom nach einer Möglichkeit gesucht, die beiden Fähigkeiten zu kontrollieren. Sie hat, genau wie ich, darunter gelitten, sie nicht so einsetzen zu können, um sie sinnvoll zu nutzen. Bei ihr, wie auch bei mir, hat besonders die dunkle Macht nur Chaos und Leid hervorgerufen. Bei Mom war das Problem, dass jede Art von starken Emotionen, ob gut oder schlecht, die blitzartige Energie in ihr freisetzte. Inzwischen weiß ich, dass es sich bei mir ausschließlich um negative Gefühle handelt. Verärgerung, Wut, Zorn, Hass – all das führt dazu, dass sich Hitze sammelt und den kleinen Funken in mir anwachsen lässt. Mom besaß elektrische Kraft, die bei Berührung einen schmerzhaften Stromschlag verursachte. Sie berichtete manchmal von Blitzen, die aus ihren Fingerspitzen schlugen. Ich dagegen lasse alles in Flammen aufgehen oder erzeuge eine so heftige Glut, die sich in Lava wandelt und wie in Bayville sogar ein Erdbeben beschwor.
Die Erinnerung, wie ich Amy durch eine Berührung zu Asche verbrannte, und die Schuldgefühle, die ich seit diesem Tag in mir trage, dröhnen in mir auf. Trotz Impfung war plötzlich dieser winzige Funke da, der die Tragödie in mir in Gang gesetzt hat. Ob er immer noch irgendwo verborgen in mir schlummert?
Ich schließe die Augen und taste mein Inneres nach ihm ab. Ich suche ihn in jedem Winkel meines Körpers, aber da ist nichts. Womöglich hat die neue und hoch dosierte Impfung ihn diesmal endgültig zerstört.
Ich runzle die Stirn, als mir ein Gedanke kommt. Was ist mit der Heilkraft? Ist sie auch verschwunden? Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Ich stehe auf und laufe rastlos durchs Zimmer. Was, wenn ich diese Fähigkeit auch verloren habe? Ich erinnere mich, im Almanach gelesen zu haben, dass Mom ihre Kräfte an allen möglichen Gegenständen getestet hat. Vielleicht kann ich das auch tun. Ich schaue mich um, aber was könnte ich heilen? Da fällt mir etwas ein, und voller Aufregung greife ich nach dem Tagebuch und schleiche mich aus dem Zimmer.
Agnes hat vor der Beerdigung die Villa auf den Kopf gestellt, geputzt, sauber gemacht und eine abgestorbene Zimmerpflanze draußen in den Kompost verbannt. Die müsste dort noch sein. Ich schiebe die Tür auf und schleiche hinaus. Mit dem Handylicht suche ich den Komposthaufen ab, und wie ich vermutet habe, finde ich sie. Schnell fische ich sie heraus. Sie ist ein trauriger Anblick. Von den einst grünen, saftigen Blättern ist nicht mehr viel übrig. Das Blattwerk ist verdorrt, braun und hängt schlaff herunter. Eigentlich ein klarer Fall für die Entsorgung oder ein Wunder.
Ich schlucke alle Gedanken hinunter und versuche, mich zu konzentrieren, dabei reibe ich meine Hände und suche den heilenden Nebel in mir. Alles ist still, lediglich das Rauschen des Meeres schwappt leise zu mir rüber. Der Wind kitzelt sanft in meinen Haaren, und ich dringe in die tiefe Meditation, die mich Mr. Chang gelehrt hat. Ich entspanne mich, und plötzlich spüre ich, wie wohlige Wärme in mir aufsteigt, sich zu einem Nebel zusammenfindet und Ornamente auf meiner Haut zu kribbeln beginnen.
Ich öffne die Augen, betrachte die tote Pflanze, und in dem Augenblick, als ich merke, dass ich ausreichend Nebelschleier in mir aufgebaut habe, hebe ich meine Hand, strecke den Finger aus und berühre das abgestorbene Laub. Der heilende Nebel schleicht aus mir, gleitet zum Gewächs, und mit einem Mal bewegen sich die Blätter. Es ist wie in einem Film, der jedoch rückwärts abgespielt wird. Das ausgetrocknete Blattwerk verändert die Farbe und Form. Es wandelt sich von braun zu gelb, bis es in einem lebendig und saftigen Grün in ihrer ursprünglichen Schönheit erstrahlt. An mehreren Stellen bilden sich Knospen, die aufgehen und wunderschöne Blüten hervorbringen.
Mir entfährt ein freudiger Gluckser, als ich auf die gesunde und blühende Pflanze starre. Langsam ziehe ich meinen heilenden Schleier zurück und betrachte grinsend mein Werk.
Ich kann heilen!
Zufrieden gehe ich in die Küche, will mir etwas zu trinken holen und bleibe abrupt stehen. Ein Gedankenblitz durchdringt mich mit einer Erkenntnis, die mich innehalten lässt. Moms Worte ergeben plötzlich einen Sinn.
Jedoch wenn ich das Gesamte überblicke, erscheint es logisch, dass beide Kräfte sich nicht ausschließen, sondern miteinander verbunden sein könnten – etwas Positives und etwas Negatives, das eine hell, das andere dunkel.
Vielleicht darf man die Fähigkeiten nicht schwarz-weiß betrachten, womöglich steht eine Ordnung dahinter, ein in sich geschlossener Kreislauf, der einem wiederkehrenden Zyklus folgt.
Es ist Moms Theorie, über die ich länger schon grüble, aber jetzt erst begreife, was sie meint. Alles muss in einem Raster angeordnet sein, es ist in einem Gleichgewicht zu verstehen. Gerade habe ich eine sterbende Pflanze geheilt, … etwas Positives … hell … Wenn sie recht hat und sich die Fähigkeiten wie in einem Kreislauf anordnen, müsste demzufolge jetzt etwas Negatives, Dunkles in der Abfolge sein.
Okay, die Impfung, die ich in den letzten Tagen von Dr. Nussbaum erhalten habe, ist hoch dosiert, und womöglich ist der kleine Funke, den ich für diesen Test brauche, erloschen, aber das habe ich auch geglaubt, bevor ich meine Schwester in Asche verwandelte. Das Entsetzen und der Schmerz über ihren Tod waren unsagbar groß, und vielleicht muss ich diese Gefühle wachrufen, um die dunkle Macht in mir zu wecken.
Mein Blick wandert zu den Kräutertöpfen in der Küche auf einem Regal. Ich muss es austesten, dann wird sich zeigen, ob Moms Theorie die Lösung ist und ob Dr. Nussbaum sein Illustri-Studium an den Nagel hängen muss.
Der Estragon, die Petersilie und das Basilikum sehen frisch und gesund aus. Ich stelle die Töpfe vor mich auf die Arbeitsfläche, atme tief durch und schließe die Augen. Genau wie bei der Heilung zuvor konzentriere ich mich und suche in allen Winkeln meines Körpers nach dem kleinen Funken. Doch diesmal bleibt alles in mir dunkel und stumm. Bilder von Amy blitzen auf, und ich fühle den Schmerz. Nichts weiter geschieht, egal wie groß der Seelenschmerz und meine Wut darüber sind.
Enttäuscht wische ich die Tränen von den Wangen und will mich gerade abwenden, da bemerke ich ein winziges Surren in mir. Sofort horche ich auf, zerre die grausame Szene von Amys Tod noch stärker in mein Bewusstsein und füge Luca mit dem Katana vor meinen Augen hinzu.
Tatsächlich spüre ich ihn jetzt noch deutlicher. Es fühlt sich an, als wäre der Funken geschwächt, irgendwie kaum mehr am Leben. Von seinem einstigen quirligen und übereifrigen Temperament ist nichts mehr übrig. Er kommt mir vor wie ein krankes Kind, das Zuwendung und Liebe braucht.
Tief in der Konzentration greife ich behutsam nach ihm und nähre ihn von meinem Seelenschmerz. Es kostet unendlich viel Kraft, aber er scheint sich langsam zu erholen. Er wächst, sein Surren wird kräftiger, erfasst mich, und ein Beben geht durch meinen Körper. Meine leuchtende Aura hüllt den Kräutertopf ein. Die goldenen Ornamente gleißen glühend auf, und die vertraute Hitze steigt in mir auf, die sich sofort in Glut wandelt. Mit einer Berührung übertrage ich den Energieschub auf die feinen Blätter. Sie glimmen auf, zischeln und qualmen, bis plötzlich der ganze Topf in Flammen steht. Die Luft ist erfüllt von verbrannten Kräutern und der Magie, die in mir wohnt. Die feinen Blättchen werden grau und zerfallen vor meinen Augen zu Asche. Kleine Rauchschwaden steigen empor, alles verkohlt und rieselt herab. Der Funke will die Glut auch auf die anderen Kräutertöpfe übertragen, aber etwas geschieht.
Ich höre jemanden. Mr. Chang hat die schöne und helle Stimme als Göttin Illis bezeichnet – die Mutter aller Illustris. Sie ist wunderschön, rein und klar und ermutigt mich, über den Funken und den heilenden Nebel zu herrschen.
Wie soll ich das anstellen? Ich weiß nicht, wie!
Ich keuche vor Anstrengung, schlucke, kratze allen Mut zusammen und wende mich direkt an den Funken: »Zerstöre die Kräuter, lass sie sofort sterben.«
Der kleine Feuerball surrt erfreut auf und führt seinen Auftrag aus. Danach zieht sich die Glut in mir zurück, ich lasse sie schmelzen und winzig werden. Es zischt leise in mir. Sie gehorcht, weicht und geht in ihren Ursprung über – verkleinert sich zu dem einzelnen Funken. Sachte lasse ich ihn meinen Arm hinaufwandern. Gehorsam gleitet er meinen Hals entlang bis zum Ohr. Dort, in der Ohrmuschel, halte ich ihn versteckt, schütze und behüte ihn.
Ich bin vollkommen erschöpft und kann mich nicht mehr auf den Beinen halten. Ich sacke auf den Boden, aber ein überwältigtes Lachen schwappt aus mir. Ich habe es geschafft. Mom hatte recht. Ihre Theorie ist richtig – die Mächte verlangen nach einem Gleichgewicht. Ähnlich wie bei einem Pendel, das hin und her schwingt und alles in der Waage hält – heilen und verderben.
* * *
Aufgekratzt von meiner Entdeckung laufe ich euphorisch durch den Wohnbereich und teste die Mächte aus. Einige Zimmerpflanzen, Blumen und sogar Lebensmittel aus dem Kühlschrank müssen dran glauben. Ich bin völlig fasziniert davon und kann nicht damit aufhören. Heilen – verderben – heilen – verderben. Es ist so simpel wie einfach, und ich schüttle immer wieder den Kopf darüber, dass weder Dr. Nussbaum noch je eine andere Person, die sich damit beschäftigt hat, auf das Geheimnis gekommen ist.
Ich kann es nicht fassen: ICH KONTROLLIERE DIE DUNKLE MACHT.
In Gedanken schicke ich ein Danke in den Himmel an Mom. Nur durch sie kam ich endlich dahinter. Und das, obwohl das laut Dr. Nussbaum und Dr. Blackham nicht möglich ist. Tja, ich würde sagen, ich bin eben eine Laune der Natur, und das Illustris-Gen lässt sich nicht von chemischen Prozessen eliminieren.
Aber langsam spüre ich Erschöpfung in den Gliedern. Die Fähigkeiten sind inzwischen erlahmt. Ich sollte es nicht übertreiben und mir eine Pause gönnen. Ich schiebe die Lamellenvorhänge beiseite, öffne die Schiebetür und will wieder hinaus. Angestrengt lausche ich in die Nacht hinein, doch diesmal begleiten mich auf Schritt und Tritt die blöden Bienen. Wieso registrieren sie mich erst jetzt? Oder hat Quinn mal wieder das Update der Dinger verpennt? Dafür schweben sie jetzt regungslos über mir in der Luft, sobald ich stehen bleibe. Sie überwachen jede Bewegung und senden die Daten zu Quinn in die Schaltzentrale und von dort aus auch zu den Padres nach Madrid. Ich blicke zu den Scheißdingern hinauf und stelle mir vor, wie ein Gorilla der Padres gelangweilt die Bildschirme kontrolliert. Wie ich sie verabscheue! Übermütig und weil ich mich für unbesiegbar halte, hebe ich den Arm und strecke den Mittelfinger aus. Keine Ahnung, was in mich gefahren ist, doch ich spüre eine belustigte Genugtuung und fühle mich Amy plötzlich so viel näher.
Mit einem sarkastischen Grinsen laufe ich barfuß über die Wiese, schenke den Bienen keine Aufmerksamkeit mehr und setze mich an den Holztisch, der nicht weit vom Pool entfernt ist. Es ist angenehmer hier draußen, aber meine Gedanken ruhen nicht. Ständig muss ich über Luca nachdenken. Ich weiß noch, was sein Blick in mir ausgelöst hat, bevor sich die dunkle Gabe in mir ausgebreitet und meine Schwester vernichtet hat. Er war kalt und eisig, und dieses merkwürdige Lächeln auf seinen Lippen hat mich so sehr eingenommen. Dieses Bild geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Schon damals am Strand, als er völlig apathisch ins Wasser ging, war mir klar, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Später in Madrid, als wir uns versöhnten, versprach ich, nie wieder an ihm zu zweifeln. Doch er hat alles geplant – das ist jetzt offensichtlich!
Luca ist trotzdem der einfühlsamste, stärkste und intelligenteste Mann, dem ich je begegnet bin. Ich erinnere mich an sein Lachen, an seine Berührungen und an Versprechungen, die er mir gegeben hat.
Ein Krächzen erschreckt mich, und mein Blick gleitet in den Nachthimmel. Dort entdecke ich eine schwarze Krähe, die über mir kreist. Die Drohnen fliegen auseinander. Sie haben den Vogel im Visier, der mit den Flügeln schwingend auf dem Tisch landet. Erst jetzt weiß ich, wer er ist.
»Garvin? Alter Junge!« Ein Glücksgefühl schleicht sich in meine Brust. Dass sich die Maoris auf der Insel aufhalten, ist mir bekannt, aber dass auch Garvin unter den Krähen ist, wusste ich nicht. Umso mehr freue ich mich. Am liebsten hätte ich ihn gestreichelt, so wie Luca es oft getan hat. Sein riesiger Körper ist schwarz wie die Nacht, und das Mondlicht lässt einige Federn blau schimmern. An seinem rechten Fuß erkenne ich den Spy. Er blinkt zum Glück nicht rot. Neugierig neigt er immer wieder seinen Kopf und blickt mich an. Ein gedämpftes Gurren ist zu hören. Vorsichtig tapst er über die Tischplatte. Behutsam strecke ich meine Hand aus und warte darauf, dass er noch näher kommt, damit ich ihn berühren kann. Es ist ein unglaubliches Gefühl, seine zarten und doch so starken Federn zwischen meinen Fingern zu spüren. Sanft streichle ich über seinen linken Flügel und arbeite mich weiter an sein Köpfchen vor.
»Wo warst du nur? Ich habe dich vermisst«, sage ich leise. Garvin hält ganz still und genießt meine Streicheleinheiten. Dabei schließt er seine Augen, und ich kann fast nicht glauben, wie er auf mich reagiert. Innerlich schreie ich vor Freude auf und wünsche mir, Luca könnte das sehen. Kaum habe ich diesen Gedanken, stocke ich. Mist! Schon wieder ertappe ich mich dabei, dass ich den Taluri noch für meinen Vertrauten halte.
»Weißt du, ich bin hin- und hergerissen. Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Einerseits habe ich Luca dort gesehen, in Matteos Wohnung, und andererseits würde er doch nie …«
Die Krähe gurrt leise. Ich ziehe meine Hand zurück und betrachte nachdenklich den schönen Vogel vor mir. Je länger ich Garvins Gurren zuhöre, desto mehr sickert das Gefühl in mich, dass ich selbst herausfinden muss, was dahintersteckt. Aber wie? Ich sitze auf dieser Insel fest. Wie soll ich an irgendwelche Informationen kommen?
Garvin hebt sein rechtes Bein. Vielleicht ist er erschöpft? Ich habe mal beobachtet, dass er sich aufplustert, seinen Kopf um hundertachtzig Grad dreht und seinen Schnabel in seinem Rücken vergräbt. Doch diesmal bauscht er seine Federn nicht auf, sondern hebt immer wieder sein Bein.
Ich runzle die Stirn. »Bist du müde, alter Freund?«
Natürlich antwortet er nicht, aber er knabbert vorsichtig an meiner Fingerkuppe. Dieses Verhalten kenne ich nicht von ihm. Erneut streift sein Schnabel meinen Finger, und er hebt sein Bein. Als ich nicht reagiere, krächzt er etwas lauter und wiederholt seine Bewegungen. Er pickt sanft nach meiner Hand und hebt abermals seinen Fuß.
»Was willst du mir denn sagen?« Interessiert sehe ich mir seinen Fuß genauer an. Ist er vielleicht verletzt? Oder will er, dass ich den Spy löse? Aber wie soll ich das machen? Das Ding ist mit seinem Körper verbunden. Zögerlich berühre ich den dunklen Kasten, und Garvin scheint zufrieden, denn er gurrt leise. Vorsichtig öffne ich das Kästchen, und ein silberner Chip glänzt im Licht des Mondes. Ich halte den Atem an, während ich ihn neugierig herausnehme. Das Ding ist kaum größer als ein Centstück, jedoch eckig und flach. Ich verschließe den Spy wieder. Wollte Garvin wirklich, dass ich ihn an mich nehme? Noch bevor ich reagieren kann, fliegt er mit einem lauten Krächzen davon. Ich sehe ihm nach, bis ihn die Dunkelheit verschluckt.
Das silberne Ding in meiner Hand glänzt. Die Drohnen über mir summen und haben bestimmt alles aufgezeichnet, doch meine Neugier gehört dem metallenen Plättchen. Was enthält es für Daten?
* * *
Eilig betrete ich die Villa, ziehe die Schiebetür zu und schließe die elektronischen Spione aus. Ich schalte kein Licht ein, sondern gehe im Dunkeln direkt in das Büro, das sich gegenüber dem Flur befindet. Diesen Raum habe ich nur einmal kurz gesehen, als ich mit Amy zusammen das Haus inspiziert habe. Damals haben wir gerade erfahren, dass unsere Eltern uns das Anwesen und auch die Insel vermacht haben.
In der Mitte ist ein großer Schreibtisch, auf dem eine kleine Tischlampe steht. Die knipse ich an. Meine Augen brauchen eine Weile, bis sie sich an die plötzliche Helligkeit gewöhnen. Ich setze mich in den ledernen Sessel, klappe den Laptop auf und schalte ihn ein. Ich erinnere mich, dass Luca Garvins Chip in einen seitlichen Schlitz gelegt und die Lade dann geschlossen hat. Doch welchen Knopf muss ich drücken, damit die Minilade sich öffnet? Ich probiere alle Möglichkeiten aus und finde schließlich die richtige Taste.
Meine Finger kribbeln, als der Motor des Computers zu arbeiten anfängt. Ein Fenster blitzt auf, und ein Cursor blinkt genau an der Stelle, an der ich nun ein Passwort eingeben soll.
Shit! Ich kenne es natürlich nicht, aber wenn ich wissen will, was auf dem Chip zu sehen ist, dann muss ich es herausfinden. Ich gebe GAVINein und probiere es mitLUCA.
Ohne Erfolg.