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"Er ist ein Taluri, gefährlich, stark und geheimnisvoll. Und obwohl mir klar ist, dass er meine Schwester töten will, bin ich fasziniert von ihm."
Die Zwillingsschwestern Jade und Amy leben abgeschirmt, aber wohlbehütet im Anwesen ihres Onkels. Während die siebzehnjährige Amy sich nach Freiheit sehnt und heimlich die Villa verlässt, ahnt Jade nicht, in welch tödliche Gefahr sich ihre Schwester begibt.
Als Jade zufällig ein Gespräch ihres Onkels belauscht, erfährt sie eine Wahrheit, die ihre Welt völlig auf den Kopf stellt – skrupellose Killer, die Taluris, sind auf der Jagd nach Amy, um sie zu töten. Entschlossen, ihre Schwester um jeden Preis zu schützen, nimmt Jade den Kampf auf, selbst wenn sie dafür ihr eigenes Leben riskieren muss.
Erst als sie dem Anführer der Taluris gegenübersteht, erkennt Jade, wie ausweglos ihre Situation in Wahrheit ist. Denn sie muss nicht nur Amy vor einem grausamen Tod bewahren und ihre neue seltsame Welt begreifen, sondern auch ihr verräterisches Herz zurückhalten, das in der Gegenwart des gefährlichen und geheimnisvollen Taluris schneller schlägt.
“The Storm In Me” ist der Auftakt der epischen Romantasy-Reihe “Mea Suna” von Any Cherubim. Dies ist die komplett überarbeitete Neuauflage von “Mea Suna - Seelensturm: Band 1” (2013 erschienen).
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MEA SUNA-Reihe
BUCH 1
Verlag:
Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH
Werinherstr. 3
81541 München
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Texte: Any Cherubim
Cover: Zeilenfluss
Satz: Zeilenfluss
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer, Johannes Eickhorst
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Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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ISBN: 978-3-96714-318-8
Für Anja H. aus F.
Solange ich stehen kann, kämpfe ich für dich, solange ich atme, verteidige ich dich, solange ich lebe, liebe ich dich.
Autor unbekannt
Mit einem gezielten Stoß befördere ich meine Schwester auf die Matte. Sie stöhnt und ist stinksauer, was an ihrer glühend roten Aura deutlich wird. Sie umhüllt sie wie Nebel. Blitzschnell kommt sie wieder auf die Beine und attackiert mich. Überrascht von ihrer Aktion bin ich einen Moment unachtsam, weshalb diese eine unkonzentrierte Sekunde im Ernstfall mein Verhängnis sein könnte.
Schnell fasse ich mich, kontere mit einer kurzen Drehbewegung und einer Schlagkombination und beende unseren Kampf endgültig. Amy kann mir nichts entgegensetzen. Sie plumpst auf die Matte und bleibt wie eine Schildkröte auf dem Rücken liegen. Keuchend stehe ich über ihr, bereit, sie mit einem finalen Treffer zu eliminieren, und warte darauf, dass sie aufgibt.
»Du müssen dich entscheiden, Amy. Jetzt!«, verlangt Mr. Chang in seinem typisch gebrochenen Amerikanisch, während meine Schwester mich wütend anstiert. Der rote Schleier mischt sich nun mit einem Hauch Grau. Sie weiß, dass sie verloren hat.
Wieder bin ich die Siegerin, was für Amy eine bittere Pille ist. Sie weigert sich, dreimal mit der Handfläche auf die Matte zu klopfen – das Zeichen, dass sie aufgibt. Ich entscheide mich, sie freizugeben, und biete ihr meine Hand zum Aufstehen an. Mit grimmigem Ausdruck schlägt sie sie wütend aus, kommt auf die Füße und marschiert quer durch die Halle, ohne sich vor unserem Trainer Mr. Chang zu verbeugen.
»Jetzt komm schon, Amy! Es war ein fairer Fight!« Als sie nicht reagiert, werfe ich erschöpft den Kopf in den Nacken und stoße gefrustet den Atem aus. Ich kann sie ja verstehen. Sie hat es bisher noch nie geschafft, mich auch nur ein einziges Mal zu schlagen. Egal wie viel Mühe sie sich gibt und wie viele Stunden sie hart mit Mr. Chang trainiert.
»Amy werden sich beruhigen, Yūki-Chan«, sagt Mr. Chang. Seit seinem ersten Tag bei uns nennt er mich Yūki-Chan, was auf Japanisch ›mutiges, tapferes Mädchen‹ bedeutet.
»Die Frage ist nur, wann«, murmle ich.
»Trotzdem du waren gut heute«, meint er zufrieden und kommt auf mich zu, nachdem Amy die Tür der Trainingshalle mit einem lauten Knall zugeschlagen hat. »Achte auf Atmung. Du brauchen mehr Kondition. Deine Kraft lassen nach. Daran du müssen arbeiten.«
Mr. Chang ist ein kleiner Mann, schlank und zierlich, mit einem immerwährenden Grinsen auf den Lippen. An seinem ersten Tag bei uns vermuteten Amy und ich, dass er den Job als Trainer nur angenommen hat, weil mein Onkel ihn gut dafür bezahlt. Wir lernten allerdings schnell, dass man den gebürtigen Japaner nicht unterschätzen darf. Meine Schwester und ich wurden seit unserer Kindheit schon von einigen Coaches trainiert, aber Mr. Chang hinterließ am ersten Trainingstag einen bleibenden Eindruck. Er forderte Amy und mich gleichzeitig zu einem Kampf heraus und erteilte uns eine Lektion. Mühelos setzte er uns beide Schachmatt. Seine Attacke war so flink und präzise, dass ich mir bis heute nicht sicher bin, wie er das gemacht hat. So erlangte er unseren Respekt, und auch Amy hat seine spezielle Art und sein ständig grinsendes Gesicht zu akzeptieren gelernt.
»Inneres Gleichgewicht und atmen, Yūki-Chan!«, erklärt er sanft. Mit einer kurzen Verbeugung, die ich nachahme, läutet er das Ende der heutigen Trainingseinheit ein. Ich nehme das Handtuch und wische mir den Schweiß von der Stirn. Amy steht bestimmt schon unter der Dusche. Sie ist sauer, und das will ich unbedingt klären. Also beeile ich mich, in die Umkleide zu kommen.
Ein Handtuchturban thront bereits auf ihrem Kopf, und sie schlüpft gerade in ihre Klamotten, als ich hereinkomme. Sie ignoriert mich.
»Amy! Es tut mir leid!«, sage ich entschuldigend und schließe die Tür hinter mir.
Sie würdigt mich keines Blickes, zieht stattdessen ihren grauen Schleier, der um sie herumwabert, in die kleine Nische mit und bürstet sich herrisch die Haare. Ich laufe ihr nach, aber als sie den Föhn einschaltet, ist jede Möglichkeit, mit ihr zu sprechen, dahin.
Amy und ich sind Zwillinge. Von außen zum Verwechseln ähnlich, von innen aber wie zwei gegensätzliche Pole. Wir sind wie Yin und Yang, Sturm und Sonnenschein, hell und dunkel, sie laut und ich leise. Ich bin vier Minuten älter als sie und habe schon immer den Drang verspürt, sie beschützen zu müssen. Ich bin diejenige, der vieles besser gelingt, die vernünftig handelt und sich an Onkel Finleys Regeln hält – zumindest meistens. Sie hasst es, von mir zurechtgewiesen zu werden, dabei will ich sie einfach nur schützen. Sie hält mir ständig vor, dass ich sie in ihrer Freiheit noch mehr einschränke, als es unser Onkel ohnehin schon tut. Manchmal streiten wir deshalb.
Es stimmt, dass ich sportlicher bin, aber nur, weil ich härter trainiere und großen Spaß daran habe. Ihre grün-grauen Augen sind einen Tick dunkler als meine, strahlen dafür aber heller. Während sie Kurven an den richtigen Stellen aufweist, sind meine Muskeln an Armen und Bauch zu deutlich definiert. Wir sind beide schlank, was am von Onkel Finley angeordneten täglichen Kampftraining liegt. Trotz allem stehen wir uns sehr nahe. Vielleicht ist das ein Zwillingsding, aber unser Band ist innig – intensiver als bei anderen Geschwistern, denn wir haben ein besonderes Geheimnis, das jetzt gerade Amy wie feuerroter Nebel umgibt.
Wir haben farbliche Auren.
Für alle unsichtbar, nur für Amy und mich nicht. Wir wissen also ständig wann wir sauer, traurig oder glücklich sind. Dafür gibt es keine rationale Erklärung, und es mag seltsam klingen, aber das ist schon immer so gewesen. Wir haben niemals darüber gesprochen und tun das auch heute nicht. So verrückt es scheint, unser Gemüt strömt wie ein bunter Nebel aus uns heraus, was jedem anderen verborgen bleibt.
Allerdings veränderte sich das bei Amy, als sie dreizehn Jahre alt wurde. Plötzlich konnte sie ihre Aura wie mit einem Lichtschalter an- und ausknipsen. Dadurch kann ich ihren Gefühlszustand nicht immer lesen. Erst da begann ich mich zu fragen, warum sie das kann und ich nicht. Ich durchforstete das Internet, suchte mich dumm und dämlich über Google und ging in die Bibliothek, was alles ergebnislos blieb.
Seufzend gebe ich auf, weil sie immer noch nicht mit mir reden will und gehe duschen. Der Wasserstrahl massiert meine verhärteten Muskeln und tut verdammt gut. Mr. Chang war heute wieder erbarmungslos und hat uns durch die ganze Halle gejagt. Als ich schon glaubte, ein Sauerstoffzelt zu brauchen, trieb er uns noch weiter an. Er bringt uns an unsere Grenzen und schafft es immer, das Beste aus mir herauszuholen.
Aber am liebsten meditiere ich mit ihm. Er strahlt so viel Ruhe aus, die sich auch auf mich überträgt, dass es mir leichtfällt, mich auf ihn einzulassen. Anfangs sah ich keinen Sinn darin, im Schneidersitz auf dem Boden zu hocken und an nichts zu denken. In der Zeit wären mir tausend andere Dinge eingefallen, die ich hätte erledigen können. Doch Mr. Chang half mir, mich zu entspannen und ein erweitertes Bewusstsein zu schaffen, das ich selbst nicht für möglich gehalten habe. Auch wenn Amy das anders sieht, hat sie einmal zugegeben, dass sie besser schlafen kann, seit Mr. Chang uns trainiert.
Amys Föhn ist nicht mehr zu hören, als ich aus der Dusche komme. Schnell trockne ich mich ab und ziehe mich an, um sie noch zu erwischen. Es dämmert bereits, als ich unsere private Sportanlage auf unserem Anwesen verlasse. Ein kleiner Schotterweg führt durch den gartenähnlichen Park direkt zu Onkel Finleys Villa.
Ich renne am Tennisplatz vorbei und hole Amy ein.
»Jetzt warte doch!«, rufe ich, und tatsächlich bleibt sie diesmal stehen, dreht sich aber nicht zu mir um. Sie hat ihre Hände in die Trainingsjacke gesteckt und bietet mir stattdessen stumm ihren Arm an, in den ich mich einhaken soll. Es ist ihr halbherziges Friedensangebot, und ich nehme es gern an. Im Grunde weiß ich, dass sie nicht auf mich sauer ist. Ihr roter Rauch ist verflogen, und nur ein wenig Grau zeigt mir, wie traurig sie noch ist.
»Alles wieder gut zwischen uns?«, frage ich und hake mich bei ihr unter.
Sie seufzt schwer. »Ich war … ach!« Genervt winkt sie ab. »Ich bin es leid, Jade. Ich habe keine Lust mehr.«
»Ich weiß, aber sieh mal, Mr. Chang will, dass du gut wirst. Es ist sein Job. Es kommt doch nicht darauf an, wer den Kampf gewinnt, sondern wie du dich schlägst. Und diesmal hast du mich wirklich zum Schwitzen gebracht.«
Beschämt senkt sie ihren Kopf. »Trotzdem werde ich niemals so gut sein wie du, Jade. Du bist einfach dafür gemacht, während ich … Du kannst das alles auf Anhieb. Ich dagegen muss mich für jede Übung abrackern. Ich bin nicht wie du. Das wissen wir beide.«
Ja, das stimmt. Der Kampfsport war noch nie ihr Ding. Dennoch könnte sie mit mehr Ehrgeiz ähnliche Ergebnisse erreichen, wenn Onkel Finley sie so antreiben würde wie mich. Doch stattdessen ignoriert er ihre mangelnde Disziplin und lässt ihr vieles durchgehen. Aber das sage ich nicht. Viel wichtiger ist mir, dass Amy nicht mehr sauer auf mich ist.
»Ich könnte dich das nächste Mal gewinnen lassen«, schlage ich vor, wobei ich bezweifle, dass das die Lösung für unser Problem ist.
Abrupt bleibt sie stehen und sieht mich empört an. »Erstens würde das Mr. Chang dir niemals abkaufen, und zweitens bin ich nicht bescheuert.«
»Ist ja gut. War ein blöder Vorschlag«, gebe ich zu.
»Seit Monaten plage ich mich mehrmals in der Woche ab und das nur, weil wir es ihm versprochen haben«, beschwert sie sich weiter. Wieder einmal lässt sie mich an ihrem Gemütszustand nicht teilhaben und verbirgt ihren Nebel. »Ich finde, es wird höchste Zeit, dass er uns mehr Freiheiten gibt. Wir sind fast erwachsen, und er sperrt uns nach wie vor hier ein.«
Onkel Finley lässt uns tatsächlich nicht viel Freiraum. Er kennt unseren Alltag, weiß immer, was wir gerade tun und mit wem wir befreundet sind. Er ist eben ein Kontrollfreak, der über jeden unserer Schritte informiert ist.
»Du hast recht. Er sollte uns allmählich mehr vertrauen. Es wird Zeit für ein ernstes Gespräch. Vielleicht lockert er seine Regeln. Komm!« Ich ziehe sie Richtung Villa. »Ich habe Hunger. Agnes hat bestimmt etwas zu essen für uns.«
Onkel Finley war der jüngere Bruder unseres Vaters. Unsere Eltern kamen bei einem Verkehrsunfall ums Leben, als wir sieben Monate alt waren. Viel wissen wir nicht über unsere Familie. Dieses Thema ist ein wunder Punkt, und Onkel Finley spricht nicht gerne darüber. Erinnerungen an Mom und Dad haben Amy und ich nicht, nur einzelne Fotos und ein großes Familienbild, das im Wohnzimmer direkt über dem Kamin hängt. Wir kommen sehr nach unserer Mutter. Von ihr haben wir die grün-grauen Augen, das schokoladenbraune lange Haar und die vollen Lippen. Unser Vater Aaron strahlt stolz auf dem Bild, während er Amy im Arm hält und Mom mich. Eine stille Sehnsucht überkommt mich jedes Mal, wenn ich das Familienfoto betrachte. Ich empfinde eine unsichtbare Verbundenheit, besonders zu meiner Mutter, ohne genau zu wissen, warum.
Als Amy und ich ein Jahr alt waren, zogen wir von Portland nach Bayville in die Nähe von New York. Dort kaufte Onkel Finley die Villa mit dem riesigen Grundstück. Er stellte Agnes, unsere Haushälterin, und ihren Mann Ron als Gärtner ein. Agnes ist so etwas wie eine Ersatzmutter für uns. Sie bekocht uns, sorgt für saubere Wäsche und hat uns zu selbstbewussten jungen Frauen miterzogen. Sie und Ron leben in einem kleinen Häuschen nicht weit vom Anwesen entfernt. Agnes ist unser Mädchen für alles. Sie kümmert sich nicht nur um das Haus, sondern hat mit ihrer Liebe einen großen Teil dazu beigetragen, dass Amy und ich unsere Mom kaum vermisst haben. Seit ich denken kann, ist Agnes eine kleine Frau mit kurzem, lockigem Haar. Sie ist seit ewigen Zeiten mit Ron, unserem Gärtner, verheiratet, leider blieb ihre Ehe kinderlos, deshalb betrachten Ron und Agnes uns als ihre Töchter. Ron ist vor einigen Tagen zu seinem Bruder nach Australien geflogen, dem es gesundheitlich nicht gutgeht. Ich vermisse ihn.
Auf dem Grundstück hat Onkel Finley einen See angelegt und ein weiteres Gästehaus bauen lassen, das von Mr. Chang bewohnt wird. Als Amy unbedingt Tennisunterricht nehmen wollte, gab es hitzige Diskussionen, warum sie nicht – wie ihre Freunde – in einem offiziellen Tennisclub spielen durfte. Seine Lösung war: Er ließ extra für sie einen Platz errichten.
Unsere Villa bietet mittlerweile wirklich alles, was unsere Herzen höherschlagen lässt. Er ließ sogar einen alten Geräteschuppen für uns umbauen, ein absolutes Highlight, denn es entstand direkt neben dem Tennisplatz ein Sport- und Spaß-Center. Zuerst verstand ich den Sinn darin nicht. Doch mit der Erklärung, dass er Ruhe im Haus brauche, wenn Geschäftspartner kamen, gab ich mich zufrieden. Schließlich fanden wir es genial, darin ein eigenes Kino mit einem coolen Zockerbereich mit toller Ausstattung und eine kleine Trainingshalle fernab der Villa zu haben. Problemlos hätte man darin ein ganzes Flugzeug unterbringen können. Man könnte es fast mit der Turnhalle unserer Schule vergleichen, nur ist der Bereich ausschließlich für Amy und mich bestimmt. Hier können wir laut sein, feiern, aber auch trainieren.
Mit sechzehn Jahren war Amy nicht länger damit einverstanden, ständig zu Hause auf dem Anwesen zu bleiben. Sie wollte sich mit Jungs verabreden und abends ausgehen. Onkel Finley jedoch ist eigen, was dieses Thema betrifft. Ich selbst habe nicht so sehr das Bedürfnis, kann meine Schwester aber verstehen. Es reichte ihr einfach nicht mehr aus, Freunde in unserem C. O. B (Center of Body), wie wir unser Spielhaus liebevoll nennen, zu treffen. Sie wollte raus und feiern. Nach unendlichen Diskussionen schafften wir es, Onkel Finley zu überzeugen, allerdings war die neue Freiheit an strenge Regeln gebunden. Unsere Bodyguards begleiten uns auf Schritt und Tritt, ständig, immer und egal wohin. Wir sind somit nie allein. Das heißt, selbst wenn wir, nach langem Bitten und unter seinen Auflagen, in ein Kino in Bayville dürfen, sitzen unsere Aufpasser in der Reihe hinter uns.
»Er wird die Bodyguards nicht abziehen, Jade. Das weißt du genauso gut wie ich. Aber wie soll ich jemals geküsst werden, wenn ich ständig die Gorillas im Schlepptau habe? Chris wird nicht ewig auf mich warten.«
Chris ist Amys aktueller Schwarm, und sie versucht alles, um mit ihm allein zu sein, in der Hoffnung, dass sie endlich einen Schritt weiter kommt. Längst sind sie über das Level, Händchen zu halten, hinaus.
»Wir werden sehen«, sage ich und hätte selbst gern einen Typen zum Küssen.
Jetzt sind wir beide fast volljährig, und wenn sie nicht bald Erfahrungen mit Jungs machen darf, befürchtet Amy, das Gespött der Schule zu werden. Onkel Finley muss seine kurze Leine endlich verlängern und uns mehr Freiheiten gewähren.
* * *
Hungrig und schweigend gehen wir am Pool vorbei und steigen die wenigen Steinstufen zum Eingang der Villa hinauf. Die vielen Fenster sind hell beleuchtet, obwohl sich niemand darin aufhält. Abends schalten sich die meisten Lichter automatisch ein, selbst wenn wir nicht zu Hause sind. Onkel Finley glaubt, er könne so Einbrecher abhalten. Er hat das ganze Anwesen elektronisch absichern lassen.
Angekommen in der Eingangshalle folgen wir dem Duft von Gebratenem, der uns zu Agnes in die Küche führt. Sie hat ein fantastisches Gespür dafür, wann wir heimkommen. Ihr Timing ist unschlagbar.
»Hallo Agnes, was gibt es denn heute Leckeres?«, rufe ich fröhlich, als wir hereinkommen und uns an den Tresen setzen.
Freundlich lächelt sie, während sie die Teller mit dem köstlichen Gemüseauflauf belädt. Amy und ich beginnen sofort zu essen.
»Lasst es euch schmecken und schlingt nicht. Ihr wisst, dass das nicht gut ist. Man soll sich beim Essen immer Zeit nehmen«, ermahnt sie uns, als ich mir den Löffel mal wieder zu voll schaufle. »Und? Was habt ihr heute gemacht?«, fragt sie und lehnt sich zu uns an die Theke.
Während ich einen großen Schluck vom Saft trinke, erzählt Amy, wie lange wir an einer bestimmten Übung trainiert und gefeilt haben. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie anstrengend das auf die Dauer ist. Also, ich für meinen Teil falle nachher gleich ins Bett. Ich bin echt fertig heute.«
Sie schiebt sich ein Stück Karotte in den Mund und kaut bedächtig.
Agnes grinst und nickt zufrieden. »Ach, ja! Das hätte ich beinahe vergessen. Terry wird euch morgen in die Stadt zum Einkaufen begleiten.«
Terry und Clive, genau wie Frank, gehören zu unserem Sicherheitsteam. Ich habe mich an sie gewöhnt, doch Amy hat schon mehr als einmal versucht, sie abzuschütteln. Meistens ohne Erfolg und immer mit einer darauffolgenden großen Auseinandersetzung mit Onkel Finley. Beim letzten Mal, als Amy sich davonschlich, hat sie es geschafft, zwei Stunden unsichtbar zu sein, was Onkel Finley in den Wahnsinn getrieben hat. Der arme Terry hat beinahe wegen Amy seinen Job verloren, und nur durch Agnes’ gutes Zureden hat unser Onkel nachgegeben und Terry doch nicht rausgeworfen.
Doch auch er hat es eine ganze Weile gemieden, Amy oder mich zu chauffieren. Nach langen Diskussionen konnte ich bei Onkel Finley erreichen, dass die Sicherheitsleute uns mehr Raum zum Atmen geben sollen. Sie mussten sich einfach noch weiter im Hintergrund halten, wenn sie Frieden wollten. Wir brauchen schließlich mehr Privatsphäre. Ständig fallen wir durch unsere Begleiter auf. Es ist schon peinlich genug, dass uns die Leute auf den Straßen begaffen, wenn wir im Rolls-Royce unterwegs sind. Wir versprachen ihm hoch und heilig, dass wir die Bodyguards nicht mehr austricksen, und endlich hat er es uns erlaubt. Bei bestimmten Themen fiel es Amy leichter, Onkel Finley zu überreden, doch was unsere Sicherheit betrifft, ist er selten von seiner Haltung abgewichen.
»Dann steht ja unserer Shoppingtour nichts mehr im Wege. Vielleicht finde ich etwas Hübsches«, sagt Amy und schiebt ihren Teller von sich.
Agnes lacht, da sie weiß, dass man meine Schwester eher bremsen muss und sie selten ohne vollgepackte Einkaufstüten nach Hause kommt.
Ich freue mich, denn es ist schon lange her, dass wir in die New Yorker Innenstadt durften. Das ist immer etwas Besonderes.
»Du solltest dir genau überlegen, was du brauchst, bevor wir losfahren. Sonst fällt dir wieder auf dem Rückweg ein, was du alles vergessen hast«, sage ich und schiebe mir eine Gabel in den Mund.
Amy verzieht ihr Gesicht zu einer schnippischen Grimasse. »Ich kann doch auch nichts dafür, wenn ich mehr Kleidungsstücke benötige als du. Du solltest dir lieber mal überlegen, ob du nicht etwas an deiner Garderobe ändern willst, Jade.«
Ich verkneife mir einen weiteren Kommentar und helfe Agnes, die Teller in die Geschirrspülmaschine zu räumen. Fröhliches Gelb und ein klein wenig Rot strömen aus mir. Amy versteht mein Farbenspiel und brabbelt munter weiter, indem sie aufzählt, welche Kleidung sie für mich aussuchen würde. Zugegeben, in meinem Kleiderschrank befinden sich hauptsächlich sportliche Sachen, da ich es bequem liebe. Mit ein paar Ausnahmen kennt man mich nur in Jeans, engen Sporthosen, T-Shirts oder Sweatshirts. Ich mache mir nichts aus Mode, im Gegensatz zu ihr. Sie hat eine Vorliebe für trendige und teure Designerklamotten, welche sie ausschließlich trägt. Ich finde, sie sieht immer sehr hübsch aus. Mir ist es zu anstrengend, stundenlang vor unserem Schrank zu verbringen und Hunderte von Stofffetzen anzuprobieren, um sich dann doch wieder anders zu entscheiden.
Mein bester Freund Matteo steht auf ihrer Abschussliste. Trotz meiner Warnungen amüsiert er sich mit bekannten Models, berühmten Persönlichkeiten, was für Schlagzeilen gesorgt hat. Sein Gesicht wurde mehrfach in Boulevardzeitschriften abgelichtet, und neugierige Presseleute fingen an, zu recherchieren und Fragen zu stellen. Er weiß genau, dass er mit dem Feuer spielt, denn die Regeln lauten: Niemand darf von unserer Existenz erfahren. Wie unsichtbare Schatten müssen wir uns im Hintergrund halten und unsere Befehle ausführen. Dazu wurden wir ausgebildet.
Ein Signalton reißt mich aus den Gedanken, und auf dem Bildschirm erscheint die römische Kennung. Ich nehme das Videogespräch an.
»Guten Morgen, Luca. Wie geht es dir? Wir haben eine Weile nichts mehr voneinander gehört.«
Rabas’ Stimme ist mir seit vielen Jahren vertraut. Er ist die rechte Hand von unserem Schöpfer. Ein kleiner, kahlköpfiger Mann mit eisblauen Augen grinst mich freundlich an. Ich kenne dieses falsche Lächeln nur zu gut und weiß, dass dahinter eine hässliche, hinterlistige Fratze steckt. Seine Porzellanhaut und die rosigen Wangen sind geschminkt, denn mit jeder Menge Puder versucht er, die große lange Narbe auf seiner linken Gesichtshälfte zu überdecken.
Nickend begrüße ich ihn.
»Sag, geht es Matteo wieder gut?« Die Scheinheiligkeit in Rabas’ Stimme lässt mich stocken, und ich kneife die Augen zusammen. Sie haben ihn beinahe umgebracht, und nur durch mein Versprechen, dafür zu sorgen, dass Matteo seinen Lebenswandel ruhiger halten wird, ließen sie ihn am Leben.
»Er wird bereit sein«, erwidere ich tonlos.
»Ich hoffe, er hat begriffen, was ein unsichtbarer Schatten bedeutet. Du weißt, beim nächsten Mal ist sonst auch dein Kopf in Gefahr, Luca. Und das wäre wirklich sehr schade, bei deinem Talent und Können.«
Er grinst falsch wie eine Natter. Seine Drohung ist bei mir angekommen, und die Erinnerung an mein Versprechen verstärkt nur meine Kopfschmerzen. »Was willst du, Rabas?«
Sofort verschwindet das hinterhältige Grinsen, und seine Miene wird ernst. »Du bekommst einen neuen Auftrag, und diesmal darfst du den Meister nicht enttäuschen.«
Unser Meister … er ist unser Richter und auch unser Todesurteil, wenn es ihm gefällt. Seine Macht ist größer als alles, was sich die Menschen vorstellen können. Er ist ein Gott, er entscheidet über Leben und Tod, und nur seiner Gnade ist es zu verdanken, dass Matteo noch lebt. Mit Härte und Disziplin hat er uns gelehrt, Befehle, ohne mit der Wimper zu zucken, auszuführen. Diesen neuen Auftrag muss ich jetzt nutzen, um Matteo wieder in ein besseres Licht zu rücken, und darf mir diesmal keine Fehler mehr erlauben.
Kopfschmerzen kündigen sich an, und mit ihnen steigt das seltsame Gefühl in mir auf, das mich seit einiger Zeit immer wieder befällt – Emotionen. Ich bin ein Taluri, und Gefühle sind für uns nicht möglich, doch ich identifiziere Schuld und etwas, was ich erst neulich als Angst definiert habe. Das ist unmöglich und kann nicht sein.
Etwas stimmt eindeutig nicht, aber darüber darf ich kein Wort verlieren, wenn mir mein Leben lieb ist. Emotionen empfinden wir nur für unsere Brüder, aber seit einiger Zeit sind Gefühle in mir, die ich mir nicht erklären kann. Sie verfolgen und verunsichern mich. Während ich sie tagsüber gut zu unterdrücken weiß, dringen sie nachts in meine Träume.
Rabas mustert mich aufmerksam, als ahne er etwas davon. Schnell verberge ich alles hinter meiner kalten Maske und ignoriere den Druck, der sich in meinem Magen sammelt. »Wohin geht es diesmal?«
»Nach New York. Du und Matteo. Eine Maori wird dir alle Informationen bringen.«
Ich nicke und denke daran, wie schwer es das letzte Mal war, Matteo vor Morgion zu verteidigen. Diesmal werde ich nicht zulassen, dass er seinem Vergnügen nachgeht. Ich werde ihn an unseren Kodex erinnern. »Wann sollen wir aufbrechen?«
»Morgen früh. Wir erwarten regelmäßig Bericht.« Rabas macht eine kurze Pause, bevor er weiterspricht, und rückt näher zur Kamera. Sein Gesicht nimmt den gesamten Umfang des Bildschirmes ein. Flüchtig schaut er sich um, um sicherzugehen, dass es keine Mithörer gibt. »Keine Bilder, keine Presse, Luca! Nichts und niemand darf von euch Notiz nehmen. Denk daran, was mit euch beiden passiert, falls wieder Fotos in den Medien auftauchen.«
Dann ist der Monitor schwarz, das Gespräch beendet und seine Drohung schwingt noch eine Weile in mir nach.
New York also! Mein letzter Auftrag liegt einige Zeit zurück. Seit meinem siebzehnten Lebensjahr sind wir unterwegs, aber diese Stadt war bisher noch nicht unser Ziel.
Ich bin ein Taluri, wurde ausgebildet, um zu töten. Diesmal darf ich nicht versagen und werde alles tun, damit der Meister zufrieden mit uns ist. Jedoch auch, damit ich nicht gezwungen bin, meinen besten Freund zu töten, in einem grausamen Spiel, in dem ich mein Wort gegeben habe.
Es ist Samstagmorgen, und da ich nicht länger schlafen kann, beschließe ich, joggen zu gehen. Mehrfach habe ich versucht, Amy wach zu bekommen, doch die Schlafmütze zieht es vor, in ihrem warmen, kuscheligen Bett zu bleiben. Für mich ist Sport wie die Luft zum Atmen. Ich liebe das Gefühl, wenn meine Muskeln brennen.
Ich gebe den Code an der Tür zum Park ein, die sich summend öffnet. Kalte Morgenluft schlägt mir entgegen. Mein Atem bildet kleine weiße Wölkchen. Es ist noch frisch und neblig an diesem Morgen, doch die Sonne wird im Laufe des Tages die Temperaturen klettern lassen und den Dunst vertreiben.
Unser Grundstück hat Onkel Finley mit Kameras und einem sensiblen Alarmsystem gesichert. Sobald jemand versucht, das Anwesen unberechtigt zu betreten, wird der Alarm in der Sicherheitszentrale ausgelöst. In wenigen Sekunden verriegeln sich dann alle Fenster und Eingangstüren elektronisch. Wir sind besser bewacht als Fort Knox.
Ich laufe mehrere Runden um den See und sehe den Schwänen dabei zu, wie sie majestätisch übers Wasser gleiten. Schon als kleine Mädchen waren Amy und ich begeisterte Schlittschuhläuferinnen. Natürlich hat Onkel Finley erst die Dicke des Eises fachmännisch überprüfen lassen, bevor wir die Eisfläche betreten durften. Er ist ein sehr vorsichtiger Mensch, und er liebt uns wie seine eigenen Töchter. Nach seinem Vermögen zu urteilen, muss er eine wichtige Person mit noch wichtigeren Aufgaben sein. Wir wissen nur, dass er Senator war, für die Forschung arbeitete und viel unterwegs gewesen ist.
Insgeheim frage ich mich, was genau er macht. Einmal, als ich in sein Arbeitszimmer ging, hat er müde ausgesehen. Sein Hemd war zerknittert, die Krawatte hatte er achtlos auf die Stuhllehne geworfen. Er saß an seinem Schreibtisch, die Hände zu Fäusten geballt, und Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben. So habe ich ihn noch nie gesehen.
›Vertrau niemandem, Kleines. Du kannst nie wissen, wer dein Freund oder Feind ist‹, hat er damals gesagt. Es war der einzige Moment, in dem ich ihn müde und schwach erlebt habe. Als er das so zu mir sagte, vermutete ich, dass Amy und ich seine Schwachstellen sind. Durch uns ist er angreifbar. Also sorgte er dafür, dass man gar nicht erst an uns herankommt. Onkel Finley will uns beschützen. Sonst ist er ein fröhlicher Mensch, hat immer gute Laune, außer, Amy hat mal wieder etwas angestellt. Dann kann er richtig sauer werden, doch lange hält seine Verärgerung nie an. Er verzeiht ihr schnell, auch wenn er mit seinen Bestrafungen konsequent bleibt. Das Einzige, was ich nicht verstehe, ist, warum er mir gegenüber nachtragender ist.
Nach dem Joggen dusche ich ausgiebig und komme noch pünktlich zum Frühstück. Amy hat in der Zwischenzeit auch den Weg aus dem Bett gefunden. Wahrscheinlich kann sie unsere genehmigte Shoppingtour nicht erwarten.
»Guten Morgen, Jade! Wie war das Laufen?«, begrüßt mich Agnes. Sie schenkt Kaffee in eine Tasse ein, als ich die Küche betrete. Amy sitzt auf ihrem Hocker, in der einen Hand hält sie ein Marmeladentoast, mit der anderen blättert sie in einem Modemagazin.
»Guten Morgen!«, grüße ich gut gelaunt zurück. »Es ist zwar noch frisch draußen, doch zum Laufen richtig angenehm.« Ich setze mich an die Theke, während meine Schwester weiter selbstvergessen in ihrem Magazin liest. Sie ist so vertieft in ihre Zeitschrift, dass sie den blauen Schweif, der sie umgibt, nicht bemerkt. Hin und wieder kommt es schon mal vor, dass sie vergisst, ihre Emotionen vor mir abzuschirmen. Jedes Mal muss ich schmunzeln. Ich lasse mir nichts anmerken und beginne zu frühstücken.
»Jade? Hast du schon von dem neuen Club in New York City gehört«, fragt Amy mich irgendwann, und ich höre die Begeisterung in ihrer Stimme.
»Nein, hab ich nicht! Warum?«
»Er ist neu und heißt Collections, soll der angesagteste Club der Stadt sein. Die Promis und die besten DJs geben sich dort die Klinke in die Hand. Ich will da unbedingt mal hin, du nicht auch?« Begeistert funkeln ihre Augen, obwohl ihr klar sein muss, dass Onkel Finley uns das nie erlauben wird.
»Na, lass das nicht deinen Onkel hören, Amy«, mischt sich Agnes ein und wirft ihr einen warnenden Blick zu.
»Ja, ja. Ich weiß«, gibt sie knurrig zurück. Sie blättert eine Seite weiter und ist schon bei einem anderen Thema. »Auf jeden Fall will ich heute bei Bloomingdales oder bei Macy’s vorbeischauen.« Ein sanftes Orange schimmert kurz auf, bevor sie es abstellt. Sie ist aufgeregt.
»Wann geht es los?«, will ich wissen.
»Gleich nach dem Frühstück. Terry wartet schon auf uns«, sagt sie und trinkt ihren Orangensaft in einem Zug aus. »Ich warte draußen auf dich, Jade. Wiedersehen, Agnes«, ruft sie, rutscht vom Barhocker und verschwindet aus der Küche.
Agnes schüttelt den Kopf, als sie Amys Toast noch auf dem Teller liegen sieht.
»Du bist ja noch gar nicht mit dem Frühstück fertig!« Sie erhält keine Antwort. »Dieses Kind! Sie wird nie lernen, sich gesund zu ernähren, wenn sie nicht richtig frühstückt«, schimpft sie.
»Sei nicht böse, Agnes! Du kennst sie doch. Sie freut sich schon so lange auf die Einkaufstour. Wir werden in der City etwas essen, versprochen«, beruhige ich sie, gebe ihr einen Kuss auf die Wange, verlasse die Küche, nehme meine Handtasche und mache mich auf den Weg zu den Garagen.
* * *
Wie abgemacht hält sich Terry dezent im Hintergrund. Er fällt gar nicht auf, und Amy und ich genießen unsere Freiheit, wenn auch nur für ein paar Stunden.
Die beliebte 5th Avenue ist in Manhattan an diesem Samstagvormittag gut besucht. Wir schlendern von einem Laden in den nächsten. Die Auswahl an Kleidern und den dazu passenden Accessoires ist riesig, und Amy findet auf Anhieb einige kurze Sommerkleider, Tops und Blusen, die sie der Angestellten der Boutique in die Arme legt, damit sie sie schon einpacken kann. Sie lässt es sich auch nicht nehmen, ein Abendkleid anzuprobieren.
»Wann willst du denn das tragen?«, frage ich. Ich habe es mir mit einem Glas Wasser auf einem Sofa bequem gemacht und beobachte, wie sie sich im großen Spiegel betrachtet. Amy trägt ein kurzes petrolfarbenes Satinkleid, das perfekt zu ihren Augen passt. Es hat nur einen Träger an der linken Schulter, und der geraffte Stoff wird mit edlen und glitzernden Steinen zusammengehalten. Sie sieht fantastisch darin aus. Es unterstreicht ihre weiblichen Rundungen. Oh Mann! Ich wünschte, ich könnte auch so hübsch in einem Kleid aussehen.
»Wer weiß, vielleicht lässt Onkel Finley uns doch einmal in einen Club. Man kann ja schließlich nie wissen«, erwidert sie und scheint mit ihrem Spiegelbild zufrieden zu sein. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass unser guter Onkel jemals zu einem Clubbesuch einwilligt, aber ich lasse sie in dem Glauben.
»Und?«, fragt sie, dreht sich hin und her und bleibt, auf mein Urteil wartend, vor mir stehen. Aufmerksam betrachte ich sie. »Ganz ehrlich, Amy. Du siehst toll aus.«
Zufrieden lächelt sie. Natürlich ist ihr mein hellgrauer, aber auch leicht gelber Schweif nicht verborgen geblieben. Ich bin nicht neidisch, im Gegenteil, ich bewundere sie. Von uns beiden ist sie diejenige, die ständig beim anderen Geschlecht punkten kann. Heimlich, sodass Onkel Finley es nicht bemerkt, hat sie schon Affären gehabt. Es war zwar nie etwas Ernsthaftes dabei, doch sie liebt den Flirt. So richtig verliebt war sie noch nicht, genauso wenig wie ich.
»Dann nehme ich es, und du solltest auch mal eins anprobieren. Man kann wirklich nie wissen, wofür du es gebrauchen kannst. Außerdem könnte dein Kleiderschrank mehr Glamour vertragen«, sagt sie grinsend und zwinkert mir zu.
Ich will ihr die Laune nicht verderben und kratze die wenige Lust zusammen, die ich aufbringen kann. Amy scheucht zwei Angestellte durch den Laden mit dem Auftrag, die schönsten Cocktail- und Abendkleider für mich rauszusuchen. Es dauert nicht lange, und sie steckt mich in Kleider, die ich nie im Leben ausgesucht hätte.
»So, keine Widerrede, die probierst du jetzt an«, bestimmt sie und zieht mich vom Sofa. Seufzend gebe ich mich geschlagen und tue, was sie sagt.
Zuerst ein kurzes knallrotes Cocktailkleid. Es sieht nicht schlecht an mir aus, doch die Farbe ist etwas zu gewagt. Während ich mich in ein rosa Seidenkleid zwänge, das knielang ist und einen viel zu tiefen Ausschnitt hat, klingelt mein Handy.
»Ja, hallo?«
»Hi, ich bin es! Wo steckst du?«
»Tom«, entfährt es mir erfreut, »ich bin gerade in einer Umkleidekabine. Wo bist du denn?« Ich klemme das Telefon zwischen Ohr und Schulter und versuche mich wieder aus dem rosa Fummel zu schälen.
»Ich bin in der Stadt. Können wir uns treffen?«
Ich nestele das nächste Kleid vom Bügel und steige aus dem rosa Alptraum. Ohne es mir genauer anzusehen, ziehe ich das schwarze Chiffonkleid über.
»Klar. Wann und wo?«, frage ich leicht im Stress.
»Bleib, wo du bist. Ich kann mir schon denken, wo ich euch finde.«
Ehe ich etwas erwidern kann, hat er schon aufgelegt.
Amy streckt ihren Kopf in die Umkleide. »Wer war das?«
»Tom. Er will hierherkommen!«
»Cool!« Sie kneift die Augen zusammen und grinst verschwörerisch. »Na? Freust du dich, ihn wiederzusehen?« Deutlich höre ich die Belustigung in ihrer Stimme.
Ich drehe mich augenrollend um. »Kannst du mir den Reißverschluss zumachen?«
Amy kichert. Ich bücke mich, um in die passenden High Heels zu schlüpfen, als sich jemand am Verschluss zu schaffen macht. Es sind nicht die sanften, gut manikürten Nägel meiner Schwester, das merke ich sofort, sondern männliche grobe Hände, die sich von hinten an mich heranschleichen. Verwundert richte ich mich wieder auf und blicke in den Spiegel.
»Tom Persky!«, entfährt es mir überrascht.
Sein Grinsen ist so breit, dass es sein ganzes Gesicht einnimmt. Seine braunen Augen strahlen, und ich erwidere sein Lachen. Mit einer Drehung werfe ich mich ihm voller Freude an den Hals. Sofort nehme ich sein Aftershave wahr, das ich schon vermisst habe. Er drückt mich fest an sich und hebt mich kurz an, bevor er mich sachte wieder auf die Füße stellt.
»Überrascht? So schnell hast du mich nicht erwartet, was?«
»Nein, das habe ich wirklich nicht. Seit wann bist du wieder in Bayville?«
»Seit gestern Abend! Die Semesterferien haben früher angefangen.«
Ich löse mich sanft von ihm und schaue ihn an. Es war eine Weile her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Tom Persky, mein bester Freund und Vertrauter seit Kindheitstagen. Er ist ein bisschen größer als ich, schlank, gut aussehend, zwei Jahre älter und der unsportlichste Typ, den ich kenne. Er studiert Jura, und sein Studium nimmt viel Zeit in Anspruch. Dazu hat er Bayville vor ein paar Monaten verlassen und wohnt deshalb in Washington.
Amy kichert mal wieder verschwörerisch. Sie hat gewusst, dass er schon in dem Geschäft stand, als er mit mir telefonierte.
»So, genug gekuschelt. Jetzt will ich aber wissen, wie du in dem Kleid aussiehst«, ruft sie und zieht Tom aus der Kabine, damit ich heraustreten kann. Ihr prüfender Blick ist mir unangenehm, und Hitze schießt mir in die Wangen, als Amy und Tom mich eingehend betrachten. Während sie beide immer noch schweigen, schaue ich an mir hinab. Dieses Kleid ist wirklich sehr schön. Es ist vorne kurz, der hintere Saum lang und fließend, fast wie eine Schleppe. Der Stoff aus schwarzem Chiffon fühlt sich angenehm auf der Haut an. Es ist schulterfrei, was mich unsicher werden lässt, als ich mich im Spiegel anschaue. Das Korsett ist übersät mit Glitzersteinen, die weniger werden, je tiefer man auf den Rock des Kleides blickt.
»Wow, Jade! Sieh dich an. Es ist wie für dich gemacht«, sagt Amy. Ehrliche Bewunderung schwingt in ihrer Stimme mit.
Auch Tom nickt mir grinsend zu. »Wundervoll! Einfach wundervoll, Jade!«
Ich drehe mich noch ein paarmal vor dem Spiegel, dabei funkeln und glitzern die Steine.
»Meint ihr wirklich?« Immer noch unsicher sehe ich von Amy zu Tom.
»Wenn du dir Gedanken machst wegen deiner nackten Schultern, dann kannst du ein schwarzes Organzatuch darüber ziehen«, meint Amy und gibt der Verkäuferin, die uns mit einigen Metern Abstand zugehört hat, ein Zeichen.
Amy ist meine Modequeen, denn sie hat recht. So könnte ich es mir vorstellen. Doch mir ist klar, dass ich nicht so schnell die Gelegenheit bekomme, es zu tragen.
»Jetzt noch deine Haare zurechtgemacht. Damit bist du ein absoluter Hingucker«, meint sie. Gesagt – gekauft! Meine Schwester hätte es niemals zugelassen, dass ich ohne eine Tüte den Laden verlasse. Unsere Einkaufsausbeute haben sich Terry und Tom aufgeteilt. Ohne zu murren, tragen sie die Tüten und Taschen, bis wir beschließen, die Tour für heute zu beenden.
In Amys Lieblingsrestaurant essen wir zu Mittag. Wir plaudern wie in alten Zeiten und haben uns einiges zu erzählen. Die Perskys sind schon sehr lange Freunde der Familie. Tom, der einzige Sohn von Bob und Emilia Persky, ist mit uns aufgewachsen. Früher hat seine Mutter ihn fast täglich zum Spielen gebracht. Wir spielten Verstecken und verbrachten unsere Freizeit im Park. Je älter wir wurden, desto enger wurde mein Verhältnis zu ihm. Meine Gefühle für ihn sind geschwisterlich. Doch je länger ich ihn ansehe, desto mehr fällt mir auf, wie sehr ich ihn vermisst habe.
Letzten Sommer lagen wir oft am Pool und haben von einer Europa-Rucksack-Tour geträumt. Wir wollten die Welt entdecken. Manchmal ging unsere Fantasie mit uns durch. Von West nach Ost durchstreiften wir mit dem Finger auf der Landkarte die großen Städte, die wir uns zusammen anschauen wollten. Tom, ich und die weite Welt. Dieser Traum bleibt eine Illusion, denn ich mache mir nichts vor. Tom studiert in Washington, und abgesehen davon wird Onkel Finley niemals damit einverstanden sein.
* * *
»Erzählt, was treibt ihr so den ganzen Tag?« Tom lehnt sich satt und zufrieden in seinem Stuhl zurück. Ein Kellner räumt unsere Teller ab und bringt für Tom und Amy das Dessert.
»Frag lieber nicht! Onkel Finley ist zurzeit nicht da, und wenn nicht gerade Wochenende ist, langweilen wir uns sehr. Jade und ich trainieren jeden Tag. Doch meistens warte ich nur darauf, dass etwas Aufregendes passiert«, berichtet Amy und beginnt ihr Eis auszulöffeln.
Ich schmunzle, denn ich finde, Amy macht es sich in dieser Beziehung zu leicht. Sie ist schlicht und einfach zu faul, sich eine Beschäftigung zu suchen, und jammert lieber über ihr Leben. Ich mag es, zu lesen, kümmere mich um meine Hausaufgaben und verbringe einige Stunden im C. O. B mit Jazz Dance oder dem Training. Außerdem braucht Agnes unsere Unterstützung. Es gibt ständig was zu tun.
»Und wie geht es Onkel Finley? Ist er immer noch mit Allegra zusammen?« Tom grinst bei der Frage und lacht, als wir wie auf Kommando die Augen verdrehen. Gleichzeitig strömt ein wütendes Rot aus Amy. Jedoch schließt meine Schwester ihre Poren gleich darauf, sodass nur meine Stimmung für uns beide sichtbar bleibt.
»Allegra Marten!«, höhnt Amy. »Wenn ich den Namen nur höre, wird mir ganz schlecht!« Sie nimmt einen Löffel voll Sahne und schiebt ihn sich in den Mund, um den bitteren Geschmack auszugleichen, den Allegra auf ihrer Zunge hinterlässt.
»Ja, leider! Sie hat Onkel Finley vollkommen um den Finger gewickelt. Wir können nur hoffen, dass er erkennt, dass sie sich bloß für sein Geld interessiert. Morgen Nachmittag kommen sie wieder«, erzähle ich.
Tom schüttelt den Kopf. Keiner kann unseren Onkel in dieser Beziehung verstehen. Es ist so offensichtlich, dass sie sein Vermögen mehr liebt als ihn. Er hat sie vor ein paar Monaten von einer seiner vielen Reisen mitgebracht, und seitdem weicht sie ihm nicht von der Seite. Sie benutzt Agnes als Dienstmädchen, telefoniert den ganzen Tag, und wenn sie nicht gerade damit beschäftigt ist, ihre Nägel zu feilen oder ihren Lidstrich nachzuziehen, dann gibt sie sein Geld mit vollen Händen aus. Ich hatte mehr als eine Auseinandersetzung mit ihr. Selbst als wir nach einem Streit Onkel Finley baten, sie fortzuschicken, wurde mir klar, wie groß ihr Einfluss inzwischen ist.
Allegra Marten bedient so ziemlich jedes Klischee einer jungen, schönen Blondine, die einen Sugardaddy an Land gezogen hat. Sie weiß, wie sie ihre Kurven einsetzen muss, und es wundert mich nicht im Geringsten, dass unser guter Onkel ihr aus der Hand frisst. Trotzdem hoffe ich, dass er bald vernünftig wird und ihr endlich den Laufpass gibt.
»Ich mache mir Sorgen. Was ist, wenn er eines Tages die wahnwitzige Idee hat und sie heiraten will?«
»Das wäre das Worst-Case-Szenario«, stimme ich Amy zu.
»Ich könnte sie niemals als Stiefmutter akzeptieren.«
»Ich auch nicht.« Falls es jemals dazu kommt, müssen Amy und ich uns etwas einfallen lassen, um das zu verhindern.
»Jetzt macht euch nicht so viele Sorgen. Finley ist kein Dummkopf. Er weiß schon, was er tut«, versucht uns Tom zu beruhigen.
Zu gerne würde ich ihm glauben. Amy ist da skeptischer, denn ich denke, dass Onkel Finley genau weiß, wen er sich an seine Seite gestellt hat.
Amy leckt mit dem Finger das geschmolzene Eis aus ihrem Becher, als ihr Handy klingelt.
»Ja? … Hi Susan!«
Susan Tale ist Amys beste Freundin und gleichzeitig bei uns in der Abschlussklasse. Ich habe nichts gegen sie, aber sie schafft es immer wieder, Amy so zu beeinflussen, dass am Ende die beiden echten Ärger am Hals haben. Mehrfach haben sie schon die Schule geschwänzt, Susan ist oft mit Leuten zusammen, denen ich nicht über den Weg traue und die sonst auch nicht in unseren Kreisen verkehren. Ihre Eltern sind die meisten Monate im Jahr geschäftlich unterwegs, und Susan bleibt dann allein. Im Grunde tut sie mir leid, denn ich glaube, dass sie sich einsam fühlt.
»Wow! Wirklich?« Amys Augen leuchten vor Begeisterung. Sie weiß genau, was ich von Susans Einfluss halte, deshalb weicht sie meinem Blick aus, steht auf und verlässt entschuldigend unseren Tisch.
Was hat Susan für Neuigkeiten, die Amy derart begeistern? Ich schaue meiner Schwester nach, während sie aus dem Restaurant läuft.
»Du hast mir noch gar nicht gesagt, wie es dir geht.«
Völlig in Gedanken drehe ich mich zu Tom. »Entschuldige, was?«
»Wie geht es dir, Jade? Wie klappt das Lernen? Kommst du voran?«
»Oh ja, ganz gut. Und wie sieht es bei dir aus? Hast du dich in Washington inzwischen eingelebt?«
»Ja. Es ist superstressig, aber genau das Richtige für einen Bücherwurm wie mich«, antwortet er lachend. Er war nie der Typ, der gern Partys feiert, eine Freundesgruppe um sich schart oder im Mittelpunkt steht. Seit er fürs Studium nach Washington ging, haben wir zu Beginn regelmäßig telefoniert, was dann aber immer weniger wurde.
»Aber du wirst doch Kommilitonen haben und dich mit ihnen treffen, oder?«, versuche ich mehr aus ihm herauszubekommen. Ich spüre, wie unangenehm es ihm ist, darüber zu sprechen. Es ist nicht so, dass wir ein Paar sind, auch wenn Toms Mutter und Agnes, wie auch Onkel Finley das gern gesehen hätten, aber ich merke, dass sich etwas verändert hat. Gerade will ich ihm mehr Informationen aus der Nase ziehen, da taucht Amy wieder auf.
»So, da bin ich!« Ihre Wangen leuchten, aber mal wieder schließt sie mich von ihren wahren Gefühlen aus. Sie ist aufgeregt. Irgendwas ist da im Busch. Das spüre ich.
»Und? Was wollte Susan?«, fragte ich unauffällig.
»Oh, nichts Besonderes.« Sie winkt ab. »Sie hat mir von einer Party im Collections erzählt, die heute Abend stattfinden soll, und wollte meinen Rat, was sie anziehen soll«, sagt sie beiläufig, aber ich erkenne eine Lüge. Amy meidet es, mich anzusehen, und das Gefühl, dass sie mir etwas verschweigt, verstärkt sich.
In dieser Nacht werde ich von einem kühlen Luftzug geweckt. Mir ist kalt, und ich ziehe die Decke über die Schultern und will mich umdrehen.
Doch Moment! Wieso ist es im Zimmer windig? Irritiert öffne ich die Augen und schaue mich um. Das Fenster steht offen, und ich zucke zusammen, als ich einen dunklen Schatten auf dem Fenstersims wahrnehme, der genau in dem Augenblick springt, als ich hochfahre und Amy erkenne.
Eilig werfe ich die Decke von mir und stehe auf. Was zum Henker hat sie vor? Im Dunkeln entdecke ich sie, wie sie am dicken Stamm des Ahornbaums, der direkt vor unserem Zimmer steht, herunterklettert und sich dann davonschleicht.
»Amy? … Amy? Wo gehst du hin?«, rufe ich ihr leise hinterher, doch sie gibt keine Antwort. Sie hat mich noch nicht einmal bemerkt. Völlig perplex weiß ich nicht, was ich tun soll. Vielleicht will sie nur im Park spazieren gehen.
Amy und nächtliche Spaziergänge? Die sind so selten wie ein Regenbogen bei Nacht.
Kurzerhand schlüpfe ich in meine Jeans, steige in Schuhe, greife nach meiner Jacke und meinem Handy, bevor ich ebenfalls aus dem Fenster klettere. Es kostet mich Überwindung. Mutig ist meine Schwester ja, das muss ich ihr lassen. Aber was sie kann, kann ich auch, also tue ich es ihr nach. Ich springe und kralle mich zwischen zwei großen Ästen fest, die mich mühelos tragen. Blätter rascheln, und ich höre es leise knacken, doch der Baum hält mich, und alles bleibt still. Es sieht wesentlich gefährlicher aus, als es in Wirklichkeit ist. Vorsichtig klettere ich den Stamm abwärts und hangle mich langsam hinunter.
Unbeschadet komme ich unten an und schaue mich um. Es ist mucksmäuschenstill. Leise, um nicht entdeckt zu werden, folge ich meiner Schwester in die Richtung, in die sie verschwunden ist. Habe ich sie etwa aus den Augen verloren? Aufmerksam husche ich über die Wiese und hoffe, sie noch irgendwo zu entdecken. Was zum Henker hat sie vor?
Da! Ganz am äußersten Rand unseres Grundstücks bemerke ich jemanden, der auf die Steinmauer klettert. Das ist sie. Das muss sie sein. Ich renne los, bis ich an der Grundstücksmauer ankomme. Inzwischen ist Amy natürlich schon weg, und mir bleibt nichts anderes übrig, als ebenfalls auf die Mauer zu kraxeln. Ich höre, wie auf der anderen Seite ein Motor angelassen wird und eine Autotür zuschlägt, und ahne, was Sache ist. Noch während ich mich auf die Mauer hochziehe, fluche ich murmelnd wie ein Rohrspatz. Oben angekommen, richte ich mich auf und kann gerade noch sehen, wie Susans roter Pontiac aus der Straße verschwindet.
Verdammt! Unentschlossen und wütend sitze ich auf dem Mauersteg und schaue den Rückleuchten des Autos hinterher. Amy ist einfach abgehauen, und ich hätte wissen müssen, dass mehr hinter dem angeblich harmlosen Telefonat im Restaurant steckt. Erst jetzt wird mir bewusst, dass die Alarmanlage keinen Mucks von sich gegeben hat und niemandem unser Verschwinden aufgefallen ist. Hat Amy die elektronische Überwachung etwa außer Gefecht gesetzt?
Im Geiste gehe ich das Gespräch im Restaurant noch einmal durch. Der neue Club … in Queens … aber der ist eine ganze Ecke entfernt. Ein unangenehmes Gefühl macht sich in mir breit. Ich spüre dieses seltsame Ziehen bis in die Knochen. Alles in mir brüllt, keine Zeit zu verschwenden, sie ist in Gefahr, und ich muss sie suchen. Ich fühle mich ihr stets verpflichtet, aber das hier ist anders. Liegt es an dem Verantwortungsbewusstsein, das Onkel Finley mir seit Jahren eintrichtert? Unruhig und der Panik nahe überlege ich, was ich tun soll. Und da fällt mir nur Tom ein, der mir helfen könnte.
Ich ziehe mein Handy aus der Gesäßtasche und rufe ihn an. »Tom? Ich weiß, das kommt jetzt überraschend, aber ich brauche deine Hilfe.«
Kurz erkläre ich ihm, was vorgefallen ist, und er macht sich sofort auf den Weg. Er ist wirklich ein Freund, mein bester. Ich bin ihm dankbar. Vielleicht schaffe ich es, dass Amy und ich zurückkommen, bevor unser unerlaubter Ausflug bemerkt wird. Soweit ich mich erinnere, hat Frank dieses Wochenende Schicht. Bestimmt ist er mal wieder in der Überwachungszentrale vor dem Fernseher eingeschlafen und hat alles verpennt.
Entschlossen, Amy zu finden, kletterte ich von der Mauer auf den Gehweg, ständig in Angst, den Alarm womöglich doch noch auszulösen. Keine Menschenseele ist weit und breit. Ich bin unruhig und werde immer nervöser. Gleichzeitig steigt Ärger in mir hoch. Was denken sich die beiden bloß?
Ein paar Minuten später leuchten Scheinwerfer auf. Toms Wagen hält direkt neben mir.
»Was ist los?«, will er wissen, als ich einsteige.
»Fahr los! Wir müssen Amy suchen. Sie ist mit Susan abgehauen«, erkläre ich ihm.
»Wie hat sie denn das geschafft?« Fassungslos starrt Tom mich an.
»Sie ist über die Mauer geklettert, und ich vermute, sie hat die Sicherheitsanlage irgendwie ausgetrickst.«
»Okay«, sagt Tom erstaunt. »Und wohin ist sie?«
»Ich habe da eine winzige Ahnung. Wie hieß der neue Club noch, von dem sie heute im Restaurant erzählt hat?«
»Du meinst das Collections?«
»Genau.«
»Aber das ist doch viel zu weit!« Erstaunt schaut er ein paarmal zu mir herüber, während er den Wagen aus der Straße lenkt.
»Ich weiß. Kannst du bitte schneller fahren?«
Tom lacht und schüttelt den Kopf. »Okay, jetzt mal langsam, Jade. Keine Ahnung, wie, aber Amy hat sich davongeschlichen. Letztlich war es doch eine Frage der Zeit, bis sie ausbüxen würde. Oder nicht?«
Entgeistert starre ich ihn an.
»Ist es nicht normal für junge Frauen, feiern zu wollen? Ich meine, ich habe mich schon gefragt, wie lange ihr euch noch von Finley einsperren lassen wollt.«
Mir klappt der Mund auf, und ich will ihm entgegnen, dass ich für Amy verantwortlich bin, ich sie schützen muss und … dieses Gefühl, dass sie in Gefahr ist, mir beinahe die Luft zum Atmen nimmt. Erinnerungen drängen sich mir auf, und ich muss daran denken, was Onkel Finley zu mir sagte, als ich neun Jahre alt war.
›Du musst deine Schwester mit deinem Leben beschützen, Jade. Das ist deine Aufgabe. Verteidige sie mit deinem Leben. Ich kann dir das jetzt nicht genau erklären, aber eines Tages wirst du es vielleicht verstehen.‹
Ich verstehe es bis heute nicht, aber das Ziehen in meinem Bauch, die Angst davor, meiner Schwester könnte etwas geschehen, und der innere Drang, sie zu suchen, waren noch nie so ausgeprägt wie in diesem Augenblick.
»Hilf mir einfach, sie zu finden, okay?«, sage ich stattdessen. Es hätte jetzt keinen Sinn, ihm davon zu erzählen. Ich weiß selbst, wie seltsam sich das alles anhört. Womöglich hält er mich für paranoid, aber ich muss zu Amy – jetzt – ganz dringend.
»Finley wird zwar toben, wenn er das herausfindet, aber meine Güte, Jade. Sie will doch nur feiern! Warum gönnst du ihr nicht den Spaß?«
»Tom, bitte … Ich weiß, du kannst das im Moment nicht verstehen, aber ich muss einfach zu ihr.«
»Na gut.«
Es ist ja nicht so, dass Onkel Finley kein unbeschriebenes Blatt ist. Jeder kennt ihn, und er hat überall seine Leute. Aber was mir viel mehr Sorgen bereitet, ist dieses seltsame Gefühl, dass Amy in Gefahr ist. Und je länger ich sie nicht sehe und keine Ahnung habe, wo sie steckt, desto mehr spüre ich, dass ich sie finden und schützen muss.
»Um diese Zeit ist das Collections ziemlich voll. Die Leute stehen Schlange, um hineinzukommen. Sie werden ausgesiebt und dürfen nur einzeln hinein. Vielleicht haben wir Glück, und Amy ist noch in der Warteschlange, wenn wir ankommen.« Tom tritt aufs Gas, was mich etwas beruhigt. Er schaltet das Radio ein. Leise Musik ertönt aus den Lautsprechern, und meine Gedanken schweifen zu meiner Schwester ab. Es gibt viele Leute, die Onkel Finley kennen. Amy kann doch nicht allen Ernstes glauben, dass sie einfach eine Partynacht verbringen kann, an so einem Ort, ohne dass er es erfahren wird.
* * *
In Queens angekommen steuert Tom das Auto auf einen großen Parkplatz. Mit Schrittgeschwindigkeit fahren wir durch die Reihen der abgestellten Autos. Es dauert nicht lange, bis wir einen roten Pontiac entdecken.
»Da, sieh mal! Das ist doch Susans Wagen, oder?« Tom hält an. »Du hattest recht, sie sind tatsächlich hier.«
»Na, Susan kann was erleben«, zische ich stinksauer und steige aus. Der Kies knirscht unter meinen Schuhen. Die Nacht ist kühl, aber die Luft ist erfüllt von Leben. Schweigend laufen Tom und ich nebeneinanderher.