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GUTE TEUFEL, BÖSE ENGEL Mein Name ist Landon. Ich bin ein Diuscrucis: zu gleichen Teilen Mensch, Dämon und Engel, auserwählt, den Krieg zwischen Himmel und Hölle im Gleichgewicht zu halten. Klingt fantastisch, nicht wahr? Das dachte ich anfangs auch, doch inzwischen ist viel passiert. Natürlich habe ich die Welt gerettet, doch der Preis war hoch. Beispiele gefällig? Ein Werwolf hat sich in meiner Seele eingenistet, ich wurde verraten, musste Freunde sterben sehen und nun ist auch noch die kleine Sarah verschwunden. Ich hätte die Warnung der Dämonenkönigin ernst nehmen sollen … "Täuschung" ist der zweite Band der Urban-Fantasy-Reihe von Michael R. Forbes
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Seitenzahl: 461
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Deutsche Erstauflage
Titel der englischen Originalausgabe:Betrayal (The Divine Series Book 2)
1. Auflage
Veröffentlicht durch den
MANTIKORE-VERLAG NICOLAI BONCZYK
Frankfurt am Main 2018
www.mantikore-verlag.de
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe
MANTIKORE-VERLAG NICOLAI BONCZYK
Text © M.R. Forbes
Deutschsprachige Übersetzung: Deborah Barnett
Lektorat: Anja Koda
Satz: Karl-Heinz Zapf
Cover- und Umschlaggestaltung: Jelena Begoviç und Matthias Lück
VP: 197-133-01-06-0518
eISBN: 978-3-96188-026-3
M. R. Forbes
– THE DIVINE CHRONICLES –
Roman
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG
SIEBENUNDZWANZIG
ACHTUNDZWANZIG
Ich konnte mich nicht an das letzte Mal erinnern, als ich geschlafen habe. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wie es sich anfühlte, eine Matratze unter mir zu spüren, meine Augen zu schließen und von etwas einigermaßen Wichtigem zu träumen, oder von etwas, das zumindest so was wie Erleichterung verschaffte von der Leere des Wachseins. Ich konnte die Idee nicht greifen, Frieden in der Dunkelheit zu finden, Ruhe für meinen immer wachsamen Geist, oder Trost für meine erschöpfte Seele. Schlaf war etwas für die Menschen, nicht für mich. Jetzt ist es nur noch ein Wunsch, eine Erinnerung, eingehüllt in Dunkelheit, die niemals kommt.
Erinnerungen. Sie zerrten an mir, wie ein tonnenschwerer Amboss. Der Unterschied ist, einen tonnenschweren Amboss könnte ich wegstoßen. Mit den Erinnerungen war ich gefangen.
Ich kauerte auf dem verlängerten Dach eines Bürogebäudes, ein neogotisches Ungetüm aus Eisen, Glas und Spiegelung. Vor mir befanden sich verspiegelte Fenster, welche die Innenwelt von der Außenwelt abschirmen sollten. Ich denke, es war passend, dass ich durch sie hindurchschauen konnte. Ich konnte die versammelten Engel drinnen sehen. Ich konnte spüren, wie die Dämonen sich näherten.
Sie kamen aus dem Keller, mühelos erklommen sie die Fahrstuhlschächte. Mindestens drei Dutzend von ihnen, herbeigerufen aus der Hölle von einem gefallenen Engel, der ihnen von dem Treffen erzählt hatte. Ich wusste nicht wie. Vielleicht, wenn Obi und ich noch regelmäßig miteinander sprechen würden, hätte ich ihn fragen können. Ich bin sicher, er wüsste die Antwort. Es war nicht wichtig. Alles zu seiner Zeit.
In meinen Gedanken kehrte ich immer an denselben Ort zurück. Ich fragte mich, wenn ich wirklich so achtsam wäre, wie Dante behauptet, dass ich es sei, wie anders dann wohl alles wäre. Ich hatte Rebeccas Verrat niemals kommen sehen. Ich war von ihrer Schönheit geblendet gewesen, von ihrer kunstvollen Art und Weise der Täuschung gefangen gewesen. Sie hatte nicht mal ihre dämonische List bei mir anwenden müssen.
Dante hatte mich gewarnt, und ich habe es vermasselt, aber so richtig. Er hatte nicht einen Atemzug verschwendet, bevor er mich daran erinnerte, dass er mich davor gewarnt hatte, ihr zu vertrauen.
Ja, ich habe den Gral wiederbekommen und dort versteckt, wo ich hoffe, dass ihn niemand jemals finden würde. Was ich als Bezahlung für meine Bemühungen bekommen habe, war der Verlust eines noch größeren Miststücks, als sie den Anschein gemacht hatte zu sein.
Die Engel hatten sich um einen einfachen runden Tisch geschart und starrten auf einen Computerbildschirm. Es waren insgesamt vier, drei von ihnen erkannte ich. Sie trugen Geschäftsanzüge, Aktenkoffer, und sahen aus wie ein Quartett normaler Bürohengste, zusammengekommen für einen schnellen Vortrag. Ihre Flügel waren nicht mehr als kleine Auswölbungen unter ihrer Kleidung, ihre Schwerter waren verbannt in ihre Verstecke im Himmel. Es waren erfahrene, alte Seraphen. Wie Josette es auch gewesen war.
In einem ledernen Chefsessel saß eine berührte Frau, Rachel Taylor, ein Bruce-Wayne-Verschnitt – Menschenfreundin und Karrierefrau. Sie präsentierte ihnen, wie ihre Wohlfahrtsorganisationen liefen, und die Engel zeigten lächelnd und nickend ihre Zufriedenheit. Ich war mir sicher, sie mussten wissen, dass Dämonen kamen, aber vielleicht auch nicht. Ich hatte diese Perspektive vor Jahren verloren.
Fünf Jahre. So lange ist es her seit dem Verrat. Ich musste mich ab und an daran erinnern, denn in letzter Zeit verschwammen die Tage ineinander; in ein nicht enden wollendes Gemisch aus Farben und Grautönen. Ich bevorzugte es, mir einzureden, dass Rebeccas Doppelspiel mich hierhergebracht hatte, aber zu dieser Zeit genoss ich es, auch mich selbst zu belügen. Das waren der Zuckerguss, die Kirsche und der Strohhalm. Ich hatte Josette verloren, Obi war seitdem nicht mehr derselbe, und, um ehrlich zu sein, die Langzeiterinnerungen eines Engels und eines Dämonen Vollzeit in seinem Schädel rumschwirren zu haben, stellte noch immer eine Herausforderung an mich dar, mich nicht selbst dabei zu verlieren. In ruhigeren Momenten konnte ich ihr Geflüster in meinem Kopf hören, ihre entgegengesetzten Meinungen, wie sie, wie in einem abgedroschenen Klischee, miteinander zankten.
Ich hörte auf, durch das verspiegelte Glas zu schauen, und betrachtete stattdessen mein Spiegelbild. Meine Augen hatten sich an diesem Tag verändert. Vor langer Zeit waren beide einmal blau gewesen, aber jetzt schimmerte eines im wundervollen tanzenden Gold eines Engels und das andere war dämonisch feuerrot. Gleichgewicht. Ich musste beinahe spucken bei diesem Gedanken. Gleichgewicht war der schlechte Scherz des Universums. Ich nehme an, ich war die Pointe.
Einer der Engel drehte seinen Kopf, sah aus dem Fenster und drehte sich direkt zu mir. Ich sprang auf und griff nach dem Seil, das ich vorher auf dem Dach befestigt hatte, meine Füße tapsten leicht auf der Etage über ihnen. Es störte mich nicht, ob er mich gesehen hatte oder nicht, aber es würde vieles einfacher machen, wenn er mich nicht gesehen hatte. Er hatte mich nicht gesehen.
Josette. Ich hatte versucht mit ihr zu sprechen, nachdem sie mir ihre Seele gegeben hatte. Ich hörte dieses Flüstern, und so oft dachte ich, ich könnte zurückflüstern. Ich hatte versucht zurückzuflüstern, aber sie hatte nie geantwortet. Aber das hat ihre Erinnerungen nicht davon abgehalten, durch mich hindurchzuströmen, normalerweise angestoßen durch einen Gedanken, ein Wort, eine Umgebung oder irgendwas anderes. In solchen Momenten war ich sie, zu dieser Zeit und an diesem Ort, mich selbst komplett verlierend.
Ich ließ das Seil los und landete lautlos wieder auf der Aussparung. Die Engel waren jetzt abgelenkt; sie hatten endlich die Signale des herankommenden Bösen empfangen und ihre Verteidigungspositionen eingenommen. Ein Engel stand auf jeder Seite des Aufzugs, um die Dämonen aus einem Hinterhalt heraus anzugreifen, die anderen zwei standen schützend vor Rachel vor dem Tisch. Was Rachel anging, sie hatte ein Paar Revolver aus ihrer Tischschublade geholt und zielte mit ihnen auf den Fahrstuhl. Silberne Patronen, da war ich mir sicher. Sie waren schlecht vorbereitet.
Die Dämonen waren nur einige Stockwerke unter ihnen, eine Masse aus Hitze für meine Sinne. Ulnyx sei Dank konnte ich sie anhand ihres Geruchs ausfindig machen. Es war der übliche Angriffstrupp, eine erste Linie Fußsoldaten der Dämonen, die im Hinterhalt getötet werden können, eine zweite Welle teuflischer Krieger und ein gefallener Engel, der sie kommandierte. Sechsunddreißig gegen viereinhalb. Es wäre ein recht fairer Kampf, nicht wirklich der dämonische Stil.
Rebecca. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie mich gelähmt am Boden zurückgelassen, darauf wartend, dass meine Wirbelsäule sich wieder mit mir verbinden würde, während sie ihre Höllenfahrt unternahm. Ursprünglich hatte ich geglaubt, dass sie dies tat, weil es ihr einziger Fluchtweg gewesen war und mich davon abhalten würde, ihr zu folgen. Ich hatte mir gesagt, dass sie wiederkommen würde, dass die Macht sie verwirrt hatte, die sie von Reyzl gestohlen hatte. Es war ein albernes Hirngespinst gewesen, das meine emotionale Wunde hätte heilen sollen. Eine sture Leugnung der Erkenntnis, dass die Dämonin, wegen der ich mich während meines Lebens nach dem Tod lebendiger gefühlt hatte als während meines eigentlichen Lebens, nicht auch eine Sklavin der versprochenen Macht war, wie all die anderen. Aber die Jahre gingen ins Land und sie blieb in der Verdammnis.
Mr. Ross hatte das auch Dante berichtet, aber er wusste nur, dass sie ein bestimmtes Wissen suchte, das sie nicht im Reich der Lebenden finden würde. Dante hatte vollstes Vertrauen zu seinem Sammler, aber über die Jahre hatte es für mich den Anschein gemacht, dass seine Berichte immer etwas sehr kurz gehalten waren, dass immer etwas in ihnen fehlte. Oder vielleicht war es nur meine allgemeine Paranoia.
Ihre Abwesenheit war aber keine komplette Verschwendung. Ohne die übertragenen Erinnerungen und die Macht der Generationen von Solens Nachkommen, war die Familie in einen Zustand des Chaos verfallen, ein Schatten ihres vormaligen Ruhms, gefangen in der Mitte eines Kampfes um Macht, der ihnen nur noch die Zankereien um die Überreste ließ. Reyzls Tod hatte ein ähnliches Machtvakuum unter den höheren Dämonen hinterlassen, selbst jetzt kämpften noch böse Geister und gefallene Engel um diese Rolle, während sie gleichzeitig darauf wartenden, dass jemand anderes die Rolle übernehmen wird, um zu sehen, wie ich darauf reagieren würde. Der bevorstehende Angriff auf die Engel war ein belangloser Einsatz, um die Muskeln spielen zu lassen. Zumindest für sie.
Die Dämonen hatten die Etage erreicht. Die Türen des Aufzugs würden sich jeden Moment öffnen und der Kampf würde beginnen. Ich wusste, warum die Dämonen dort waren. Ich brauchte Obi schließlich nicht für alles.
Ich hatte meine eigenen Erfahrungen darin, Netzwerke zu hacken und in den dunklen Ozeanen des Dark Web zu surfen. Es war an der Zeit einzugreifen.
Ich konzentrierte meine Gedanken auf das verspiegelte Glas. Meine Technik hatte sich über die Jahre verbessert, und wenn ich es vorher nur in Kristalle aus Splitter und Staub gesprengt hätte, überhitzte ich es jetzt, verflüssigte es und beobachtete wie das Fenster schmolz. Ich schlüpfte in dem Augenblick hinter Rachel hinein, als sich die Türen des Aufzugs öffneten.
Bevor die Engel damit loslegen konnten die Fußsoldaten anzugreifen, erlaubte ich ihnen mich zu sehen. Es war wie eine Schockwelle, die meiner physikalischen Form entfuhr und die Engel dazu brachte, alle Gedanken an den Angriff der Dämonen zu stoppen und sich stattdessen mir zuzuwenden. Dies führte dazu, dass die hereinkommenden Fußsoldaten in den Raum fielen und dann ihre Richtung änderten, in einem verzweifelten Versuch wieder zu verschwinden.
Fünf Jahre waren genug Zeit gewesen, einige neue Tricks zu lernen. Einer davon war es, meine Präsenz vor anderen Göttlichen abzuschirmen. Diesen Trick zu erlernen war eine interessante Übung gewesen, da er erstens ein Verständnis erfordert, wie die göttliche Wahrnehmung funktioniert, und zweitens einer außerordentlich feinen Kontrolle der Energieströme bedarf, die über meine Seele in meine physikalische Repräsentation flossen.
Am Anfang war es eine Quelle der Verwirrung gewesen, dass die Göttlichen damit zu kämpfen hatten, mich richtig zu erkennen, in einigen Fällen dachten sie, ich wäre ein Dämon, in anderen ein Engel. Seitdem habe ich gelernt, dass jede Form von Macht seine eigene, einzigartige Signatur hatte, vergleichbar mit der Benutzung eines Radars, der dir anzeigte, welches Flugzeug du dir gerade betrachtest, obwohl du es nicht sehen kannst. Mit der Ausnahme, dass die Göttlichen in den ersten Tagen meiner freiwerdenden Energie das Gleichgewicht der Kräfte des Fegefeuers wahrnahmen, in Abhängigkeit meiner jeweiligen geistigen Verfassung.
Später hatte ich gelernt, diese Energien zu kontrollieren, und konnte sie nun so weit neutralisieren, dass ich noch immer den Anschein eines göttlichen Wesens erweckte; meine wahre Identität als ein Diuscrucis. Richtig spaßig wurde es, als ich die Energien von Josette und Ulnyx in den normalen Fluss mit hineinmischte. Nach zahlreichen Fehlversuchen, und mit Sarahs Hilfe, hatte ich herausgefunden, dass ich mich effektiv aus den Sinnen anderer göttlicher Wesen negieren konnte und, was mindestens genauso wichtig ist, ich konnte andere Signaturen nachahmen. Es war nicht sonderlich hilfreich im Kampf gegen die mächtigeren Spieler, aber dennoch war es auch nicht zu verachten.
Ich wartete, während die Fußsoldaten sich zurückzogen. Stand bewegungslos da, bis der gefallene Engel den Raum betrat, seine teuflischen Krieger in einer Reihe hinter sich geschart. Ich warf Rachel einen kurzen Blick zu. Sie hatte die Waffen auf den Tisch gelegt und sah mich mit angstvoller Besorgnis an.
»Diuscrucis«, sagte der gefallene Engel. Ich kannte ihn. Alyle. »Auf welcher Seite kämpfst du?«
Ich sah mich im Raum um, sog den Geruch von Angst und Unsicherheit auf, den Geruch der Hoffnung. Das war die Frage der Fragen, jedes Mal wenn ich auf der Bildfläche erschien, wenn beide Parteien sich bekämpften.
Welcher Seite würde ich mich heute anschließen? Wo liegt das Gleichgewicht gerade? Die ersten zwei Jahre war ich treuer Verbündeter der Engel gewesen. Ich hatte mehr Dämonen getötet, als ich zählen konnte. Ich hatte ihnen den Freiraum gegeben, damit sie ihren friedvolleren Aufgaben im Dienst des Guten nachkommen konnten. Das Töten war toll für sie gewesen, hatte mich aber müde und leer gemacht. Der Gedanke, dass meine ewige Zukunft aus vorhersehbarer Gewalt bestehen würde, war nicht gerade berauschend.
Danach hatte ich für zwei Jahre Frieden erklärt. Ich hatte mich aus dem Kampf zurückgezogen, ein Beobachter des Gleichgewichts, das der Menschheit die Kontrolle über ihr eigenes Schicksal überlies. Die meiste Zeit hatte ich damit verbracht, Wissen anzuhäufen. Das Wissen, von dem Charis mir gesagt hatte, dass ich es suchen würde. Die Dämonen-Königin. Ich hatte das Rätsel gelöst, nachdem ich meine Augen gesehen hatte. Ich hatte aber noch nicht das Geheimnis gelüftet, dass sie so verzweifelt von mir erwartete. Ich wusste noch immer nicht, wie ich sie finden konnte. Nachdem sie mir den Gral gegeben hatte, hatte sie sich wieder in Luft aufgelöst. Nicht einmal Mr. Ross wusste, wohin sie verschwunden war.
Es war Dante gewesen, der mich wieder auf das Spielfeld gezwungen hatte. Er war besorgt, dass beide Fraktionen es sich zu gemütlich machten. Ich hatte ein Jahr damit verbracht, mich für eine Seite zu entscheiden, zuerst mit einem klaren Ziel vor Augen, und dann je nachdem wie ich gerade gelaunt war, wenn ein Kampf ausbrach.
Heute Nacht versuchte ich eine neue Taktik.
Ich sah wieder zu Rachel. »Bitte versteck dich unter dem Tisch«, sagte ich zu ihr.
Sie warf den Engeln auf der anderen Seite ihres Arbeitsplatzes einen kurzen Blick zu, ließ sich auf ihre Knie fallen und kroch unter den Tisch.
»Diuscrucis?«, wunderte sich einer der Engel. Silas. Er hatte Moses als Ältesten Engel im Catskill Heiligtum ersetzt. Ein alter, weiser Engel, wir hatten bereits viele Male zusammengearbeitet.
Ich griff nach hinten auf meinen Rücken, löste das einfache Schwert der Sterblichen aus seiner Scheide und hielt es vor mir nach oben. Ich folgte dem polierten Stahl mit meinen Augen. Keine Runen, keine Magie, nur geradliniges, scharfes, spitzes Metall.
»Für mich«, sagte ich, sprang über den Tisch und köpfte Silas. In derselben Bewegung zog ich einen der Revolver zu mir und feuerte ein Bullseye direkt zwischen Alyles Augen. Es würde den Dämon nicht töten, aber meine gewünschte Nachricht überbringen.
Die Engel wandten sich mir zu. Die Teufel wandten sich mir zu. Für einen Moment vergaßen sie ihren eigenen Krieg. Zum ersten Mal gab es eine noch größere Bedrohung. Ich feuerte die übrigen fünf Kugeln des Revolvers ab, perfekte Treffer, auf fünf der Teufel, und dann verwandelte sich mein Körper brüllend, windend und wachsend, in etwas komplett Unmenschliches; eine massive Gestalt aus Muskeln, Kraft und Knochen. Ich spürte, wie sich ein Schwert tief in meinen Oberschenkel grub, aber ich ignorierte es. Ich sprang nach vorne und stürzte mich auf die Teufel, meine massiven Krallen zerfleischten sie. Sie versuchten zu fliehen, aber der Aufzugschacht war klein und ein mehr als kläglicher Fluchtweg. Ich löschte sie aus mit meiner Größe und Schnelligkeit, zerfleischte sie mit der viszeralen Wut, die immer in meinem Bewusstsein aufstieg, wenn ich die natürliche Form des Großen Wers annahm.
Ich konnte riechen, wie die Engel sich hinter meinem Rücken neu gruppierten, sich für einen gemeinsamen Angriff auf meine Flanke organisierten. Alyle war bei ihnen, schloss sich ihnen im Kampf gegen mich an, akzeptierte ihre unausgesprochene Aufforderung nach Hilfe. Das war eine interessante Entwicklung. Es würde ihnen nichts helfen. Ich erledigte die letzten beiden Teufel und gab dann Ulnyx Gestalt auf, schrumpfte wieder auf die menschliche Größe. Ich zog mein Schwert zu mir und stand steif und gerade vor den übrigen Engeln.
»Warum?«, fragte der gefallene Engel. Ich wusste, dass genau diese Frage durch all ihre Köpfe hallen würde.
»Gleichgewicht«, sagte ich. Ich hatte gelernt, dass dies die Antwort auf alles war, das absolut keinen Sinn ergab. Ich tanzte nach vorne, ein schwarz gekleideter Schatten, durch die Reihe der Engel. Sie kämpften gut, aber Josette war die Beste unter ihnen gewesen, bevor sie ein Teil von mir geworden war, bevor ihre Macht sich mit meiner vermischt hatte. Es dauerte nur einen Augenblick.
Ich nahm ein Stück Stoff aus meiner Jeanstasche, wischte die Klinge damit sauber und ließ es dann auf den Boden fallen. Ich steckte das Schwert zurück in die Scheide auf meinen Rücken. Die Engel lösten sich bereits auf, erst zu Staub, dann zu Nichts.
Ich lief zu dem Tisch hinüber. »Du kannst jetzt rauskommen«, sagte ich zu Rachel. Ich hörte, wie ihre Knie über den Boden rutschen, und dann erschien ihr Kopf am Rand des Tisches.
Fünfundvierzig Jahre alt, kurze braune Haare zu einem Bob geschnitten, braune Augen, ein bisschen übergewichtig. Sie war intelligent, mitfühlend und eine treue Verfechterin des Guten. Sie stützte sich mit ihren Händen am Tisch ab und zog sich nach oben. Sie wusste, dass ich sie nicht töten würde, deswegen hatte sie ihre Angst verdrängt.
»Gleichgewicht?«, fragte sie.
Ich seufzte. »Ursache und Wirkung«, sagte ich. »Ich habe darüber nachgedacht, wie ich das lösen kann.«
Sie neigte ihren Kopf zur Seite. »Also hast du beschlossen einfach alles umzubringen?«
»Nicht alles. Du bist noch am Leben«, antwortete ich.
Sie runzelte die Stirn. »Was ist mit dir passiert?«, wollte sie wissen.
Wo sollte ich da anfangen? Ich hatte Rachel nur ein paar Monate nachdem ich den Gral wiedergefunden hatte getroffen.
Sie war dienlich gewesen mir die nötigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die ich gebraucht hatte, um das Gleichgewicht wieder herzustellen – Geld, Transportmittel, Informationen, wenn immer sie welche hatte, und noch etwas anderes.
»Ich hatte dir immer gesagt, dass sich die Dinge ändern würden, sobald das Gleichgewicht erreicht sein würde«, sagte ich.
»Du weißt, dass das nicht das ist, worüber ich hier rede«, gab sie mir zu Antwort.
Ich wusste es, aber ich wollte nicht darüber reden. Rachel war für mich da gewesen während einer Zeit, als ich eine Freundin gebraucht hatte, mehr als alles andere. Nein, keine Freundin. Eine Art Mutter. Sie hatte in den paar Jahren, seit ich sie kenne, einen besseren Job gemacht, als meine biologische Mutter es jemals getan hatte. Sie war eine der wenigen, die so tun konnte, als ob sie verstehen würde, was es heißt, ich zu sein. Dass ich unfähig war eine Beziehung zu ihr zu haben, ihr nahe zu sein, sich nicht mal daran erinnern zu können, was das bedeutet …
»Landon«, sagte sie mit besorgter Stimme. Das riss mich aus meiner nutzlosen Introspektive.
»Erinnerungen«, sagte ich dann endlich. »Ich habe versucht, sie zu bekämpfen, aber ich kann ihnen nicht entkommen. Ich bin es leid, es zu versuchen.«
Charis hatte gewusst, was passieren würde. Sie hatte es gewusst, weil sie dasselbe durchgemacht hatte. Vielleicht hatte es sie fast zweihundert Jahre gekostet, aber sie war nicht ich. Ich hatte noch nie gut damit umgehen können. Ich versuchte so verzweifelt, es zu verarbeiten, aber ertrank dabei. Ich wusste, dass jenes Wissen, wenn ich es entdecken würde, meine Erlösung sein würde. Es musste einfach so sein.
»Da ist noch etwas, das ich brauche«, fuhr ich fort, und schüttelte die Schwermut ab. »Deinen Datenspeicher.«
Rachel sah zurück auf ihren Monitor. »Meinen Datenspeicher? Wofür?«
Geflüster und Hoffnung. Meine Suche nach Informationen hatte mich nach Shanghai geführt, wo ich mit einem niederen Geist gesprochen hatte, der zufälligerweise auch einer der Topagenten für Satan in Asien war. Er hatte mir von dem Geflüster berichtet. Dass die Engel verschlüsselte Nachrichten durch die günstigsten Kanäle schickten. Dass nicht alle Engel davon wussten. Ich vermutete, dass die finanziellen Transaktionen von Rachels Wohlfahrtorganisationen einer dieser Transportwege war.
»Recherche«, sagte ich.
Sie sah mich wieder an. »Lass mich dir helfen«, sagte sie. »Ich weiß, dass ich nicht verstehe, was du gerade durchmachst, aber du brauchst jemanden, der dich erdet.«
»Nein«, gab ich ihr zur Antwort. »Du kannst mir nicht helfen, jetzt da das Gleichgewicht stabil ist. Selbst wenn du es könntest, es tun würdest, würdest du fallen. Ich weiß, wie alt du wirklich bist. Du würdest es nicht überleben.« Ich griff in meine Tasche und zog einen USB-Stick heraus. Ich reichte ihn ihr. »Bitte kopiere einfach deinen Datenspeicher auf den Stick.«
Ich verließ das Taylor-Gebäude durch den Haupteingang, den bespielten USB-Stick versteckt in der Innentasche meiner Lederjacke. Ich wechselte die Straßenseite und schaute nach oben in der Erwartung, Rachel am Fenster stehen zu sehen, darauf wartend, dass ich in die Nacht hinaustrat. Sie war nicht dort. Unerwartet, aber nicht überraschend.
Während der letzten fünf Jahre unterhielt ich zwei Basislager für meine Mission. Das erste war die versteckte Ausgrabung unterhalb der Freiheitsstatue, wo Rebecca gelebt hatte. Das zweite war mein ursprüngliches Zimmer in der Nähe des Daches des Belmont Hotels. Rachel hatte monatelang versucht, mich zu einem Umzug zu überreden – sie hatte mir sogar ein Penthouse in einem der Wohntürme angeboten, die im Besitz ihrer Firma waren. Anfangs war es noch verlockend gewesen, aber welche irdischen Annehmlichkeiten brauchte ich schon? Ich schlafe nicht. Ich esse nicht. Ich gehe ja nicht mal auf die Toilette. Ich war ein Geist aus Masse und kinetischer Energie. Ich kannte das Belmont, und ich konnte noch immer die geladene Luft spüren von jener Nacht, in der ich mit Josette Schwertkampf geübt hatte. Ich wusste nicht, ob das echt war, oder ob meine Erinnerung es nur als echt erscheinen ließ. So oder so – es machte keinen Unterschied. Die Statue … Alles dort erinnerte an Rebecca, bis zu der Flasche Parfüm, die sie neben ihrem Bett in der Schublade ihres Nachttischs aufbewahrt hatte. Ich saß nicht dort und schnüffelte daran oder irgendwas ähnlich Vergebliches. Was ich stattdessen getan hatte, war, ihre Bücher zu lesen, die Runen zu studieren und in der Hoffnung zu leben, dass ich eines Tages dort hinabsteigen würde und sie würde dort auf mich warten. Auf mich warten, damit sie mir erklären konnte, was sie getan hatte und warum. Denn das war fast genauso ein großes Geheimnis für mich, wie die Worte von Charis.
»Überleben«, hatte sie gesagt. Das konnte so viel bedeuten. Ich hatte geglaubt, dass sie sich mir angeschlossen hatte, weil ich ihre größte Chance darstellte. Offensichtlich hatte ich mich da geirrt.
Ich war zu sensibel gewesen. Ich hatte mich zu sehr gesorgt, und das zu schnell. Ich hatte mich am sterblichen Feuer verbrannt, verbrannt am Feuer der Hölle, verbrannt am Vertrauen. Du kannst nicht das Göttliche bekämpfen und dich um andere Dinge kümmern. Die Alternative war, die Schmerzen zu ertragen und zu verlieren, wieder und wieder und wieder. Wenn sie das Einzige waren, das dich noch verletzen kann, werden Gefühle zu deinem Feind. Wie ich schon sagte, ich genoss es, mich selbst zu belügen.
Ich fühlte einen leichten Druck in meinem Kopf und ein Kribbeln, das meine Wirbelsäule hinabfloss an die Stelle, die ich als den Käfig meiner Seele identifizierte. Ich konnte nicht anders, ich musste lächeln. Ich setzte mich mit verschränkten Beinen in die Mitte der Straße und ignorierte die Autos, die mir gekonnt auswichen.
»Ich bin hier, Sarah«, sagte ich und öffnete mich der Verbindung.
»Hey, Landon«, antwortete Sarah, ihre Stimme erklang klar in meinem Geist.
Sie hatte sich seit unserem ersten Treffen so sehr verändert. Dem Treffen, bei dem sie mir geholfen hatte die Antworten zu finden, von denen ich selbst damals nicht wusste, dass ich sie suchte. Damals war sie ein Kind gewesen, aber niemals nur ein Kind. Sie war ein wahrer Diuscrucis, der Einzige, der einer, nicht in beiderseitigem Einverständnis erfolgten Vereinigung zwischen einem Dämonen und einem Engel entstammte. Der Engel war Josette. Der Dämon war Gervais, ihr Bruder, ein Erzdämon, der von Paris aus arbeitete. Ich hatte ihn niemals gestellt aus Angst, Sarah dadurch zu verraten. Das bedeutete aber nicht, dass ich nicht wusste, wo er sich aufhielt. Josette hatte mich gebeten, sie zu beschützen. Sarah selbst hatte mich ihren Beschützer genannt, lange bevor ich wusste, dass es dazu kommen würde. Konnte sie die Zukunft sehen? Sie selbst sagt, sie könne es nicht, aber sie war auch die einzige Person, die mich anlügen konnte. Wenn sie es könnte, so zeigte sie es nie.
»Was gibt‘s, Kleine?«, wollte ich wissen.
Ich spürte meine Seele nur dann atmen, wenn sie sich mit mir verband. Ich war ihr Beschützer, und ich würde niemals zulassen, dass sie mich schwitzen sieht, sie nie sehen lassen, was aus meiner Welt geworden ist.
»Ich schaue nur, was du so treibst. Wann kommst du vorbei für ein bisschen Ninja-Training?«, wollte sie wissen.
Ihre Stimme war leicht, fröhlich. So anders, als zu dem Zeitpunkt, als wir uns das erste Mal getroffen hatten. Das Wissen, dass sie sicher war, hatte ihr gestattet zu wachsen, zu erblühen und zu leben, so, als ob sie fast normal ist. Sie lebte noch immer im Untergrund mit den anderen Erwachten, aber sie ging auf eine High-School, hatte sterbliche Freunde und war sogar öfter mal sterblich verknallt. Niemand auf der Welt wusste, dass sie anders war, außer mir, aber sie musste dennoch vorsichtig sein, ihre Fähigkeiten nicht zu offenbaren.
Ich griff in meine Tasche und berührte den USB-Stick. »Mir geht`s gut, Süße«, erwiderte ich, und zwang meine mentale Stimme eine Oktave höher, um fröhlicher zu klingen, als ich mich gerade fühlte. »Vielleicht morgen Abend? Ich bin auf dem Weg zurück zum Belmont, um dort etwas zu recherchieren.«
Ich hatte die letzten drei Jahre Hunderte von Stunden damit verbracht Sarah alles beizubringen, was ich … nein, was ihre Mutter über das Kämpfen wusste. Es hatte mir gut getan, dass ich in der Lage war, ihr etwas von Josette zu geben, an dem sie sich festhalten konnte, selbst wenn sie nicht wusste, oder zumindest vorgab nicht zu wissen, wo diese Fähigkeiten wirklich herkamen.
Ihr Lachen schallte durch meinen Kopf. »Du sitzt mitten im Verkehr«, sagte sie. »Ist das wirklich nötig?«
Das war einer der Unterschiede zwischen einem geborenen Diuscrucis und einem geschaffenen, wie ich einer war. Sie wusste immer genau, wo ich war. Sie musste nur an mich denken, und sie konnte mich sehen. Ich konnte das nicht, aber ich wusste, dass es sie sehr beruhigte, immer zu wissen, wo ich war.
»Um ehrlich zu sein, ich hatte nicht mal darüber nachgedacht«, gab ich zu, stand auf und wechselte ganz auf die andere Straßenseite. Ich hatte mich so an die sterbliche Welt, die um mich herum zirkulierte, gewöhnt, dass ich sie manchmal total vergaß. „Wie war es heute in der Schule?“
»Es ist immer ein Abenteuer«, erwiderte sie. «Katie Winslow und ihre Bande haben wieder versucht, mir einen Streich zu spielen, indem sie meine Dose Cola gegen eine mit Urin ausgetauscht hatten. Irgendwie endete diese dann auf Katies Kopf. Nur weil ich blind bin, habe ich noch immer meinen Geruchssinn.«
Ich lachte. Eine Seltenheit dieser Tage, unvorstellbar, es sei denn, ich redete mit Sarah. Sie hatte schon einige Streitigkeiten mit den Schulprinzessinnen hinter sich, meistens ihrer Behinderung geschuldet und den nicht enden wollenden Einfällen an Gemeinheiten, die daraus entstehen. Sarah hatte immer gewonnen und ihre Rache war gut bemessen und verdient.
»Was hat der Rektor dazu gesagt?«, wollte ich wissen.
Sie lachte wieder. »Er sagte, dass ich sie hätte zwingen sollen, es zu trinken. Ich bin nicht die Einzige, die sie versucht, zu quälen. Ich bin nur die Einzige, die sich wehrt.«
»Ich bin sicher, du möchtest nichts mehr, als ihr einen ordentlichen Arschtritt zu verpassen«, erwiderte ich. Sie hatte in der Vergangenheit bereits so was Ähnliches schon angemerkt, aber es dann wirklich zu tun, würde ihre falsche Blindheit verraten.
Wie sollte sie das erklären?
»Ich habe schon darüber nachgedacht. Aber was ich noch viel lieber wollte, wäre, ihr zu befehlen sich selbst einen dicken, fetten Arschtritt zu verpassen.«
Diese Aussage brachte meine Augenbrauen in die Höhe. Obwohl sie ein Diuscrucis war, war sie bisher immer der guten Seite zugeneigt gewesen. Die Art und Weise, wie sie sich um die Erwachten unten in den Tunneln kümmerte, ihr Verlangen, ihren Mitleidenden in der Schule beizustehen. Befehlen war eine dämonische Fähigkeit und sollte nicht leichtfertig angewandt werden. Und das war auch so gar nicht Sarahs Art.
»Geht es dir gut?«, wollte ich wissen.
Da war eine sehr kleine Pause. Gerade lange genug, um mich wissen zu lassen, dass es ihr nicht gut ging.
»Mir geht’s gut, Bruder«, erwiderte sie. »Mir gehen diese Hexe und ihre gackernden Minions nur langsam auf den Geist. Wie auch immer – ich gehe jetzt ins Bett. Ich wollte mich nur kurz bei dir melden und Gute Nacht sagen.«
Ich konnte die kurzzeitige Erleichterung hinter diesen Worten spüren. Es war nicht, dass ich nicht wusste, dass sie kommen würden. »Gute Nacht, Schwester«, sagte ich. »Ich habe dich lieb.«
»Ich habe dich auch lieb«, entgegnete sie. Ich erwartete, dass sie die Verbindung unterbrechen würde, aber da war eine Pause. Als ihre Stimme wiederkehrte, war sie gedämpft. »Bruder, sei vorsichtig. Du findest vielleicht die Antworten, die du suchst, aber vielleicht wünschst du dir dann auch, du hättest es nicht getan.«
Ich wollte sie fragen, was sie damit meinte, was sie gesehen hatte oder gefühlt bezüglich meiner Zukunft. Ich konnte es nicht, denn sie unterbrach die Verbindung. Ich überlegte kurz, ob ich in den Untergrund gehen sollte, aber das war wohl sinnlos. Wenn sie mehr hätte sagen wollen, hätte sie es getan.
»Ich habe dich auch lieb.« Ihre Worte schallten in meinem Geist und brachten vertraute Erinnerungen, die nicht mir gehörten. Ich fand verzweifelten Halt an der Mauer des nahegelegenen Gebäudes und versuchte mich zu erden, bevor die Vergangenheit mich einholen konnte. Meine Sicht verdunkelte sich, die Geräusche der Stadt traten in den Hintergrund und Geschichte, schreckliche Geschichte, nahm deren Stelle ein.
Ich bin auf einem Bett, meine Oberschenkel sind blutig. Der Erzdämon nimmt mein neugeborenes Baby weg und reicht es seinem Diener Izak.
Er kommt zu mir, lächelt und lacht. Er ist gut aussehend, mit lockigen schwarzen Haaren und lieblichen Gesichtszügen. Sein fast nackter Körper ist schlank, stark und mit Runen übersät. Er hält einen gefährlich aussehenden Dolch in einer Hand, eine Karaffe Wasser in der anderen.
Er legt die Spitze des Dolches gegen meinen Fuß und bewegt sie mit genug Druck nach oben, sodass ich zu bluten anfange. Als sich das Gift verteilt, gießt er geweihtes Wasser darüber, der Duft von Weihrauch erfüllt meine Sinne und mein Körper schmerzt noch mehr. Ich heile bereits von der Geburt, mein Bauch schrumpft auf unnatürliche Weise, meine Muskeln werden fest und ich verwandle mich zurück in meine kleine, junge Form.
»Ich habe gehört, dass Diuscrucis sowohl aus dem Himmel als auch aus der Hölle verbannt worden sind aufgrund der Macht, die sie als Sterbliche innehaben, und wegen der unendlichen Macht, mit der sie uns Göttliche befehligen können«, sagt er. Der Dolch erreicht die Innenseite meines Oberschenkels. »Ich bin begierig zu sehen, wie ich solch ein Werkzeug verwenden kann.«
Ich bewege mich nicht. Es ist nicht, weil ich es nicht kann, sondern weil mir bewusst ist, dass Widerstand zwecklos wäre. Das hier ist sein Haus, seine Domäne, und wenn ich überleben will, um meine Tochter wiederzusehen, muss ich vorsichtig sein.
»Bitte, tu‘ ihr nicht weh, Gervais«, flehe ich mit Tränen in meinen Augen.
Er stoppt die Bewegung des Dolches und kommt näher, seine blutroten Augen nur wenige Zentimeter von meinen entfernt.
»Süße Josette«, sagt er. »Ich werde ihr nicht weh tun.«
Seine Worte sind nichts als Lügen. Ich weiß es, aber ich bin machtlos. Die Tränen fließen jetzt ungehindert. Das Messer bewegt sich über meinen Unterbauch und bleibt an meinem Herzen stehen.
»Ich werde dich nicht töten«, sagt er. »Selbst ich bin nicht Monster genug, mein eigenes Fleisch und Blut zu töten. Ich will aber, dass du weißt, dass ich es hätte tun können. Dass ich dir heute Gnade erwiesen habe. Ich will, dass du weißt, dass du eine Tochter hast und dass sie in meiner Obhut ist.«
Diese Worte sind schlimmer als ein Dolch in meinem Herzen. Er hebt den Dolch und legt ihn zusammen mit der Karaffe auf einen kleinen Tisch. Er lehnt sich wieder zu mir und legt seine Lippen auf meine. Ich erwidere den Kuss, denn ich kenne die Konsequenzen, wenn ich mich verweigere. Er stöhnt. Ich weine. Er löst den Kuss und legt seine Hände vorsichtig unter meinen kleinen Körper, vorsichtig, damit er nicht meine Flügel verletzt. Er trägt mich zum Fenster. Ich kann die Stadt in der Ferne sehen.
»Komm nicht hierher zurück«, sagt er. »Ich werde dich töten, wenn du es tust.«
Er wirft mich aus dem Fenster. Zuerst bewege ich mich horizontal und dann beginnt mein freier Fall. Mein Instinkt übernimmt. Ich breite meine Flügel aus, fühle die Schwingungen des Windes und hebe mich zurück in den Himmel.
Als ich wieder zurück zu mir gefunden hatte, hielt ich zerkrümelten Mörtel in meiner Hand, meine Anspannung hatte dazu geführt, dass ich meine Hand tief in den Zement vergraben hatte. Die Tränen flossen wie die anderen Male, als ich von dieser Erinnerung übermannt worden war. Ich kämpfte gegen die Gefühle an, zwang sie zurück in meine Seele.
»Josette«, flüsterte ich in der Hoffnung, dass sie vielleicht dieses Mal antworten würde. Sie tat es nicht. Ich beruhigte mich, wischte meine Augen und holte tief Luft. Ich hatte Arbeit zu erledigen.
Das Belmont hatte sich in den letzten fünf Jahren nicht wirklich verändert – außerhalb des Polizeiklebebands, welches das komplette Penthouse abriegelte. Ich hatte das Klebeband selbst dort angebracht, um Junkies, Alkis und Huren von Sachen fernzuhalten, mit denen sie sich verletzen könnten. Ich hatte Runen an den Türen angebracht, um sicherzustellen, dass die Abschreckungsmittel nicht aktiviert werden müssen.
Wie immer kam ich durch das Dach, verschaffte mir Zutritt über das Nachbargebäude und sprang über die Lücke. Ich nahm die Treppen nach unten und legte meine Hand an die Scharniere der Tür, entschärfte das Metall, um die Tür zu öffnen, überprüfte die Runen am Türrahmen und verlötete die Scharniere auf der anderen Seite. Der ganze Vorgang klang kompliziert, aber ich brauchte nur eine halbe Sekunde, um ihn durchzuführen. Ich hatte jede Wand auf der Etage eingerissen, die kein tragendes Element darstellte, was mich mit einem fast labyrinthartigen Studio zurückließ, das ich in den ersten Tagen nach dem Verrat dazu benutzt hatte, um meine Geschicklichkeit zu üben, meine Kontrolle zu verbessern und sicherzustellen, dass ich niemals wieder machtlos sein werde. Der Raum war fast leer, mit Ausnahme eines kleinen Schreibtisches mit einem Bürostuhl und einem Laptop, einer Matratze auf dem Boden, die seit Jahren nicht benutzt worden war, einer alten hölzernen Schranktruhe und einem sprichwörtlichen Haufen an Waffen.
Nicht nur verfluchte und gesegnete spitze Klingen, sondern auch Sturmgewehre, Handfeuerwaffen und eine weitere Anzahl an Handwerkzeug für Gewalt. Manche mögen behaupten, ich behalte die Instrumente des Schmerzes als Trophäen, aber ich habe bereits so viele davon zerstört, dass dieser Haufen nur einen jämmerlichen Überrest darstellte. Der Grund, warum ich sie behielt, war mir selbst nicht so ganz klar, aber es war eine Art Zwang, ich sehe keinen Sinn darin, es zu verleugnen.
Sie stammen von Engeln, Dämonen, Vampiren, Werwölfen, von den Verwandelten und den Berührten. Sie stammten auch von Sterblichen; ich hatte mich bei meiner Arbeit nicht nur auf die Göttlichen beschränkt, vor allem wenn es um Gewalt an Unschuldigen ging. Auf eine gewisse Art und Weise erinnerte mich der Haufen an meine Bestimmung, eine einzigartige Installation, die widerspiegelte, was aus mir geworden ist. Ich löste das Schwert von meinem Rücken und warf es auf den Haufen. Nimm den Mördern die Waffen und töte dann selbst damit. Gleichgewicht.
Ich sah rüber zu der Truhe. Ich hatte sie bei Obscura Antiquitäten im East Village gefunden, ein begehrter Laden, spezialisiert auf Kuriositäten und anormale Relikte. Was den Koffer so besonders gemacht hatte für sie, war die Serie an komplizierten Gravuren die, wenn man sie von einem bestimmten Winkel aus betrachtete, eine unheimliche Ähnlichkeit mit der Jungfrau Maria zeigten. Was mich auf die Truhe aufmerksam gemacht hatte, war die Tatsache, dass es sich bei den Gravuren um Seraphen-Runen der Macht handelte. Sie machten die Truhe zugleich unzerstörbar und sicher, und sie konnte nur von einem Engel oder Halb-Engel geöffnet werden, der die vorderen Runen nach einem bestimmten Muster berührte. Es hat mich drei Monate gekostet, bis ich über ihre Herkunft Bescheid wusste. Sie war nicht immer eine Dampfschiff Truhe gewesen; das Holz stammte ursprünglich von der Kutsche des Papstes Urban, das ihn vor sowohl sterblicher als auch göttlicher Gefahr beschützte, wenn er das Land bereiste. Ich wusste nicht, wer das Holz in seine jetzige Form gebracht hatte. Ihre Entdeckung war eine Mischung aus Glück und gesammeltem Wissen gewesen. Und aus Wissen besteht auch der Inhalt der Truhe; Hunderte von Büchern, Schriftrollen und antiken Seiten, die ich die meiste Zeit während meiner zweijährigen Auszeit studiert und organisiert hatte. Einiges hatte ich aus Universitäten gestohlen, manches aus Museen, und anderes hatte ich im Besitz von Dämonen und Engeln gefunden. Die Dämonen waren mehr als glücklich darüber gewesen, die Pakete gegen ihr Leben zu tauschen. Die Engel waren widerwilliger gewesen, und eine bedauerliche Anzahl hatte sterben müssen, ohne zu wissen, was sie eigentlich beschützt hatte. Am Anfang hatte ich so was wie Schuld empfunden, aber Charis hatte recht; es war alles eine Sache der Perspektive. Und was die Texte betraf – ich wusste, dass sie einen Schlüssel zu dem Wissen darstellten, von dem sie wollte, das ich es finde. Ich fand es fast zufällig. Eines von Rebeccas Büchern enthielt einen Hinweis auf eine Schriftrolle, die ich nun besaß. Der Hinweis umfasste auch ein Bild, und das Bild zeigte ein Emblem, so klein gezeichnet auf dem Papier, dass es von keiner menschlichen Hand stammen und auch kein sterbliches Auge es sehen konnte. Das Emblem stellte eine Rune dar, die Ähnlichkeit mit der Nummer sieben zeigte, mit einer Zickzacklinie oben, einer scharfen diagonalen Linie nach oben und einer von unten nach links. Diese Rune tauchte auf allen Texten auf, die ich gesammelt hatte, und sonst nirgendwo.
Ich wusste nicht, was sie bedeutete, wer sie geschaffen hatte oder wie ich sie interpretieren konnte, aber ich war mir sicher, dass sie mit Charis in Verbindung stand.
Ich hatte fast drei Jahre damit verbracht, so viel wie möglich über die Göttlichen auf der Erde zu lernen. Ich bin in tausend Sackgassen gelandet, habe Spuren gefunden und Verbindungen quer durch die menschliche Mythologie gezogen, sowohl der antiken wie auch der gegenwärtigen, hatte dämonische und Engeltexte studiert und gelernt, so viel wie möglich aus beiden Sprachen ohne ein Übersetzungslexikon lesen zu können. Die Rune war das einzige Zeichen, das ich gefunden hatte auf jeder Ebene der Göttlichen und der Menschheit, vorsichtig platziert auf bestimmten Seiten von ausgewählten Texten, und die resultierenden Stränge schaffen eine Art Dialog. Ich konnte ihn aber nicht entschlüsseln, weil ein Strang fehlte. Eine Quelle, die ich noch entdecken musste, ein unbekanntes Objekt, das den Schlüssel enthielt zur Wahrheit und zu mir selbst. Doch auch wenn ich es hätte, wusste ich nicht, ob ich es schaffen würde, die Codierung zu entschlüsseln, aber ich musste es zumindest versuchen.
Ich griff nach dem USB-Stick in meiner Tasche, sprang auf den Bürostuhl und steckte den Stick in meinen Laptop. Ich tippte mein Passwort ein und navigierte durch den Drive. Es gab eine Datei mit zweihundert Gigabytes, gefüllt mit Transaktionsdaten. Es würde wohl eine lange Nacht werden. Aber andererseits, waren sie das nicht immer? Falls es ein Muster in den Daten gab, hatte ich Probleme es zu finden. IDs, Daten und Geldbeträge liefen fast endlos nach unten über den Bildschirm. Ich filterte die Informationen, versuchte Daten und Geldbeträge zusammenzubringen, IDs mit Daten und so weiter. Die zweitwichtigste Lektion, die ich gelernt hatte, war, geduldig zu sein. Ich hatte eine Ewigkeit Zeit sie zu meistern.
Der Druck in meinem Kopf brachte mich aus meiner digitalen Trance zurück. Ich blinzelte zum ersten Mal seit ich mich hingesetzt hatte und öffnete meine Seele für Sarahs Anfrage.
»Ich bin hier«, sagte ich, griff nach oben und drückte den Schalter an meinem Monitor. Zwanzig Stunden. Ich hätte Sarah vor einer Stunde für unser Training treffen müssen.
»Du solltest hier sein«, erwiderte Sarah, ihre Stimme zitterte. »Irgendwas stimmt nicht«.
Ich holte tief Luft, ein Gefühl der Sorge trat über meine gefühlskalte Schwelle.
»Ich bin schon unterwegs«, sagte ich und war schon auf dem Weg zur Tür. „Was ist passiert?“
»Kelsie. Sie ist eines meiner Kinder. Sie wird vermisst.«
Die Wörter kamen aus einem Mix aus Angst, Sorge und Schuldgefühl. Ich schlüpfte zur Tür hinaus und sprang von der Treppe, fokussierte mich darauf, meinen Fall zu bremsen und landete sanft am Boden der Treppe. Ich raste durch die Lobby und durch die Eingangstür, sodass nicht mal der neueste Punkmo eine Chance bekam zu sehen, was die Störung verursacht hatte. Kelsie gehörte zu Trish, einer erwachten Landstreicherin, die erst viel zu spät gelernt hatte, nicht über die Göttlichen zu reden. Sie war drei Jahre eingesperrt gewesen und hatte seit ihrer Entlassung keinen Ort wo sie hätte hingehen können. Um an Geld zu kommen, verkaufte sie ihren Körper auf der Straße, und Kelsie war das Ergebnis. Sarah hatte sich augenblicklich in das kleine Mädchen verliebt und den beiden einen Unterschlupf gewährt. Das ist jetzt ein Jahr her. Sarah verwöhnte das kleine Mädchen, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot, und im Gegenzug hat Kelsie angefangen sie „Tante“ zu nennen. Sarah liebte das.
»Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?«, wollte ich wissen. Ich beugte mich nach unten und hob die Abdeckung zur Einstiegsluke, schlüpfte hinein und legte die Abdeckung wieder an ihren Platz. Das Dorf befand sich ungefähr in einer Meile Tiefe. Ich konzentrierte mich und spürte wie die Kraft in meine Beine floss.
»Bevor ich in die Schule ging«, sagte sie schluchzend. »Sie hat sich von mir verabschiedet. Trish sagte, sie waren draußen zum Betteln. Jemand hat sie abgelenkt. Und als sie sich wieder umdrehte, war Kelsie verschwunden.«
Ich bog um die Ecke und wurde nicht langsamer als ich die große Höhle erreichte, die Sarah als Zuhause diente. Einst konnte sie maximal hundert Leute beherbergen, aber sie ist in den letzten fünf Jahren gewachsen. Jetzt lebten hier fast sechshundert Menschen, sie sammelten Wasser und Strom von den Kabeln, die zu einer längst vergessenen Generatorstation liefen. Die Erwachten sahen zu mir auf, einige angstvoll, andere mit Bewunderung. Sie wichen mir aus, als ich mich näherte.
»Ich bin hier«, sagte ich laut und schlug die Klappe von Sarahs Zelt zur Seite, das sich in der Mitte der kleinen Stadt befand. Sarah saß auf dem Boden, ihre Arme um Trish gelegt. Ich sah Izak in der hinteren Ecke des Zeltes sitzen, sein Körper war bewegungslos, aber seine Augen zeigten die Traurigkeit, die er aufgrund von Sarahs Schmerzen empfand. Sarah unterbrach ihre Verbindung mit meiner Seele. Sie sah mit leeren Augen zu mir auf. Ich spürte einen Schmerz, der den von Izak spiegelte. Sie löste sich aus der Umarmung mit Trish, stand auf und fiel auf mich zu.
Das Flüchtlingscamp war nicht das Einzige, das gewachsen ist. Sarah hatte sich von einem jungen Mädchen zu einer jungen Frau entwickelt; ihr Körper war geschmeidig und stark, wie der ihrer Mutter, ihr Gesicht war stolz und bestimmt, wie das ihres Vaters. Ihr sonst zu einem Pferdeschwanz gebundenes Haar fiel gelockt auf ihre Schultern, und ich war sicher, dass sie mit den engen Jeans und dem schwarze T-Shirt viele wertschätzende Blicke auf sich zog. Ich fing sie in meinen Armen auf und hielt sie fest, küsste sie auf den Kopf und streichelte über ihren Rücken.
»Ich werde sie finden«, sagte ich.
Ich sah Trish an. Die abgemagerte blonde Frau blieb nach vorne gebeugt und still auf dem Boden sitzen, ihr Körper vom Stress gezeichnet.
»Ich werde sie finden«, wiederholte ich.
Sarah zog sich von mir zurück und kehrte an Trishs Seite zurück. »Sag ihm, wo du warst«, wies Sarah die Frau an. Es dauerte etwas, bis Trish sich soweit gefangen hatte, um zu sprechen. „Penn Station“, sagte sie. »Wir arbeiteten an den Nachmittagspendlern, versuchten etwas Geld für die Gemeinde zu erbetteln. Dieser Kerl lief in mich hinein und brachte mich zu Fall. Bis ich wieder auf den Beinen war, war Kelsie verschwunden. Ich rief ihren Namen. Ich suchte nach ihr. Ich griff mir einen Polizisten, aber der dachte wohl, dass ich halluzinierte oder so was. Oh, Kelsie.« Sie fing wieder an zu weinen.
Ich würde es Sarah nicht sagen, aber das war nicht das erste Mal, dass ich diese Geschichte gehört hatte. Junge Mädchen verschwanden in der Stadt schon seit den letzten sechs Wochen oder so, gestohlen direkt vor den Augen ihrer Eltern. Ich hatte darüber nachgedacht einzugreifen, habe es aber nicht getan. Es gab kein Karma, aber dennoch war es ein Ärgernis.
»Ich gehe zur Penn und schaue, ob ich eine Spur aufnehmen kann«, sagte ich. »Du hast keine Göttlichen gespürt?«
Trish schüttelte ihren Kopf. Als eine der Erwachten wusste sie, dass es uns gab, und sie konnte fühlen, wenn einer von uns in der Nähe war. Ich hatte nicht erwartet, dass sie einen gespürt hatte, denn sonst wäre sie nicht hier gewesen. Die Erwachten mieden die Göttlichen mit mehr Eifer, als sie es vermieden zu schlafen. Der Mörder war ein einfacher, normaler Sterblicher, was bedeutete, dass ich ihn ohne große Probleme aufspüren können sollte. »Ich begleite dich«, sagte Sarah mit fester Stimme. Sie versuchte meinem Widerspruch zuvorzukommen. Sie scheiterte.
»Du begleitest mich nicht«, erwiderte ich. »Du weißt, dass die Bahnhöfe gefährlich sind.«
Ich wünschte, ich hätte damals gewusst wie gefährlich Bahnhöfe waren, als ich mich zum ersten Mal mit Obi im Grand Central zu einem Treffen verabredet hatte. Sie hatten gerade erst die Gleise wieder geöffnet, die durch einen unbeabsichtigten Ausstoß an Energie zerstört worden waren.
»Ich kann auf mich selbst aufpassen«, behauptete sie. Das war vorhersehbar. Es gab nur wenige Dämonen, die auf der sterblichen Ebene Vollzeit leben können, ohne dass ein stärkerer Dämon ihnen half zu überleben. Vampire, Werwölfe und Nightstalker waren die am weitesten verbreiteten Kinder des Teufels. Dann gab es noch böse Geister – sie waren einst menschlich gewesen, gestorben und in die Hölle gefahren, wo sie gebettelt hatten zurückgeschickt zu werden und ihre dreckigen Geschäfte weiterführen zu dürfen. Sie alle zogen es vor, sich soweit es ging von dem Licht fernzuhalten, aber die Bahnhöfe waren Jagdreviere für die Nightstalker; mächtige menschenähnliche Wesen, die öfter mit dem Begriff „Zombies“ assoziiert werden. Aber sie waren nicht wie die schlurfenden, dummen Gehirnfresser. Sie waren die ersten irdischen Kreaturen des Teufels, und sie werden mehr von ihrem Instinkt als von ihrer Intelligenz getrieben, was sie schnell, stark und leise macht. In einer großen Gruppe stellen sie auch für mich eine Gefahr dar. Sarah hatte Macht, aber ihr Körper war sterblich und sie konnte nicht heilen.
»Ich kann ihnen befehlen«, erwiderte sie. Sie las entweder meine Gedanken oder war mir gedanklich einen Schritt voraus.
»Wie viele?«, wollte ich wissen. Nightstalker jagten in Gruppen. Ich besaß nicht die Macht zu befehligen, aber ich wusste, dass es bedeutete, einen Teil des Geistes zu benutzen, um das Ziel unter Kontrolle zu halten. So wie ein Computer, der Teile seines Speichers für jedes offene Programm benötigte. Es gab eine Grenze.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Sarah, zunehmend frustriert. Aus ihren Augen quollen noch immer Tränen hervor. »Sie ist eines meiner Kinder«, rief sie. »Ich werde dich begleiten.«
Ich spürte den enormen Druck in meinem Kopf und musste meine Augen schließen, um ihn zu bekämpfen. Als ich sie wieder öffnete, war ich wütend. Ich erkannte das Gefühl fast nicht.
»Es tut mir leid, Bruder«, sagte Sarah als sie meine Wut sah. »Kelsie.« Ihre Stimme verlor sich.
Meine Wut löste sich in Luft auf. »Ich komme bald zurück«, versprach ich.
Ich fühlte eine Hand auf meiner Schulter. Ich drehte mich um und stand Angesicht zu Angesicht Izak gegenüber. Der Landstreicher-Dämon hatte ein Schwert in seiner anderen Hand.
»Er möchte dich begleiten«, sagte Sarah. »Er möchte meine Augen sein.«
Ich warf Sarah einen kurzen Blick zu. Noch eine Manifestation ihrer bösen Natur oder nur die normale Rebellion eines Teenagers? Ich wusste, dass sie eine Verbindung mit dem Dämonen hatte, ähnlich derer, die Geister mit ihren Gleichgesinnten pflegten. Befehligte sie ihn oder hat er sich freiwillig angeboten?
»Okay«, sagte ich.
Es interessierte mich nicht im Geringsten, ob Izak getötet werden würde, aber ich hätte dem Dämon gegenüber nicht so kaltherzig sein sollen. Erinnerungen von seiner Güte gegenüber Josette schwirrten durch mein Bewusstsein. Er war die einzige Quelle wahrer Freundschaft für sie gewesen in dem Jahr, als der Engel von ihrem Bruder in Gefangenschaft gehalten worden war. Am Anfang war er nur ihr Gefängniswärter gewesen, ein stiller Beobachter der nächtlichen Besuche von Gervais und deren schmerzvoller Folgen. Über die Zeit wurde er aber mehr eine Art Beschützer, immer da, um eine Schulter zum Ausweinen anzubieten, eine zärtliche Berührung, eine ruhige und friedvolle Präsenz, die gegen die chaotische Gewalt des Erzdämons half. Die zärtliche Hingabe hatte sich von der Mutter auf die Tochter übertragen, und Izak war unermüdlich darin, Sarah zu beschützen. Er verdiente dafür Respekt und zumindest ein bisschen Sympathie. Gervais hatte ihm die Zunge herausgeschnitten, aus Angst davor, dass er ihn eines Tagen stürzen würde. Ich legte meine Hand auf seine und sah ihm tief in die Augen. Ich konnte sein Bedürfnis, Sarah zu helfen, spüren, aber da war noch etwas anderes. Sie hatte ihn befehligt. Er wollte ihre Seite nicht verlassen, wollte sie nicht unbeschützt zurücklassen. Es war schon schwer genug für ihn, wenn sie nach oben ging, um ihr sterbliches Leben zu leben. Ich sah noch etwas anderes in seinen Augen, das ich nicht erwartet hatte.
Erkennen. Er sah Josette.
Sarah und ich haben nie über die Ereignisse gesprochen, die mein Aussehen verändert hatten. Sie hatte meine Bestimmung gekannt, bevor ich sie kannte, und ich habe mir vorgestellt, dass sie über das Ergebnis Bescheid wusste. Trotzdem, wusste sie, dass Josette ihre Mutter gewesen war? Ich bezweifelte es. Ich drückte Izaks Hand, fühlte wie die Knochen unter seiner Haut knirschten.
»Sag es ihr nicht«, flüsterte ich. »Noch nicht.«
Er spürte den Schmerz nicht, aber er nickte kurz.
»Wir werden bald zurück sein«, sagte ich. Ich ließ Izaks Hand los und lief auf den Ausgang zu.
»Sei vorsichtig, Bruder«, sagte Sarah. Sie lächelte schwach, schaute kurz zu Izak und ging zu Trish zurück.
Mein ursprünglicher Plan war, aus den Kanälen zu verschwinden und wieder nach oben in die Stadt zu gehen, um überirdisch zur vierunddreißigsten und siebten Straße zu gelangen. Izak hatte eine andere Idee. Ich hatte schon die Leiter, die nach oben führte, ergriffen, als Izak seine Hand wieder auf meine Schulter legte und sie drückte. Als ich ihn ansah, zeigte er nach oben zum Gullydeckel, legte seine Hände über die Augen und wies dann den Tunnel hinab.
»Du kennst einen anderen Weg?«, fragte ich.
Er nickte.
Ich folgte ihm.
Die Route, die Izak einschlug, verwirrte mich schnell. Der Dämon führte mich durch eine labyrinthähnliche Traversierung aus Drehungen und Wendungen, durch knietiefes Abwasser und große Tunnel aus Ziegelsteinen, die Teil des ursprünglichen New Yorker Untergrundes gewesen waren. Die unglaubliche Größe dieses Systems war etwas, das die Einwohner der Stadt als eine Selbstverständlichkeit ansahen, außer wenn starker Regen die städtischen Pumpen überlastete und dazu führte, dass Schmutzwasser in die umliegenden Flüsse gespült wurde. Für mich war sie keine Selbstverständlichkeit, aber ich bedauerte die Tatsache, dass, wer immer Kelsie entführt hatte, sie hier runtergebracht hatte und sie daher schwer zu finden sein würde. Es war das perfekte Versteck für Dämonen oder Menschen, eine schier unendliche Ansammlung von Tunneln, Rohren, Leitungen, Gehwegen und Eingängen, deren zahlreiche Ausgänge in die Stadt oberhalb führten. Ich konzentrierte meine Sinne auf unsere Umgebung, da ich nicht wollte, dass wir von irgendetwas überrascht werden würden. Ich wusste, dass sich Nightstalker hier unten aufhielten. Ich hatte bereits eine Gruppe vernichtet, die zu aggressiv vorgegangen war bei ihren Entführungen und Leute von den Bahnsteigen gezogen hatte, als diese auf ihre Züge warteten. Es hatte den Anschein, dass Izak wusste, wie er sie umgehen konnte, denn unsere Reise verlief ohne Zwischenfälle. Wir blieben vor einer schweren Metalltür stehen. Izak sah mich an und zeigte mit einer ziehenden Bewegung darauf. Ich konnte die Vibration der U-Bahn spüren in dem engen, mit Rohren gefüllten Korridor, in dem wir standen. Der Dämon trat zur Seite, damit ich mich an ihm vorbeizwängen konnte. Ich griff nach dem Türgriff und zog daran. Die Tür würde sich ohne etwas Hilfe nicht bewegen. Ich konzentrierte mich auf die Scharniere, befahl dem Rost, der die Tür verklemmte, schneller zu altern, trieb ihn in der Hälfte der Zeit über seine Korrosion und ließ ihn zu Staub zerfallen. Das Rumpeln wurde lauter, und ich konnte die U-Bahn hören, die sich auf der anderen Seite der Tür näherte. Ich öffnete sie. Wir wurden von einem Schwall heißer Luft begrüßt und dann schallte das Horn der U-Bahn durch den Tunnel. Ich streckte meinen Arm aus, um zu verhindern, dass Izak durch die Tür trat, drückte mich selbst zurück, während der Zug an mir vorbeiraste. Ich trat hinaus und sprang auf die Gleise hinter ihm und beobachtete, wie er in den Tunnel davonfuhr. Izak landete neben mir und zeigte erneut den Weg an. Wir waren bald an unserem Ziel.
Penn Station war nur eine Viertelmeile weiter oben und wir erreichten die Station ohne Zwischenfälle. Ich sprang problemlos auf den höher gelegenen Bahnsteig, vorsichtig, damit die wartenden Leute mich nicht sahen. Izak zog sich neben mir selbst nach oben. Falls ihn jemand sah, bezweifelte ich, dass es sie kümmerte.
»Trish hat gesagt, dass sie sich oben in der Halle aufgehalten hatten«, sagte ich. »Ich werde …«
Ich hörte auf zu reden und konzentrierte mich. Ich konnte einen Göttlichen in der Nähe spüren. Obi. »Warte hier«, sagte ich an Izak gewandt. Er schüttelte seinen Kopf, aber der Blick, den ich ihm zuwarf, besiegelte meinen Entschluss. Ich benahm mich wie ein Geschäftsmann und lief brüsk auf die andere Seite des Bahnsteigs. Obi war hier und er war in den Tunneln. Das war kein gutes Zeichen.
Als ich die andere Seite erreicht hatte, ließ ich mich wieder auf die Gleise hinab und folgte meiner Nase durch die Dunkelheit. Ich konnte den ehemaligen Elitesoldat jetzt riechen, irgendwo in den Tunneln vor mir. Er war nicht allein.
»Woher wusstest du das?«, wollte eine Stimme wissen. Sie war tief und männlich.
»Ja, Sarge«, stimmte eine zweite zu. »Es ist ja nicht so, als ob wir in irgendeinem Tunnel der New Yorker U-Bahn wären oder so.«
Ich folgte den Stimmen, weg von den Gleisen und durch einen weiteren Verbindungstunnel, dann eine zweite Leiter hinab und zurück in die Abwasserkanäle. Obi und die zwei Polizisten befanden sich gleich um die Ecke. Mithilfe meiner göttlichen Hellsicht und Ulnyx Geruchssinn bekam ich eine gute Vorstellung, was sich dort abspielte. Mein Herz hörte kurz zu schlagen auf. Er kniete über dem toten Körper eines Kindes.
»Nur ein Bauchgefühl«, erwiderte Obi.
Obi war mein erster Verbündeter gewesen und unabhängig von unserer Entfremdung war er noch immer eine Person, der ich mein ganzes Vertrauen schenkte. Nach den Vorfällen bei der Statue hatte er sich dazu entschlossen für die Menschheit zu kämpfen und wieder eine Uniform zu tragen – diesmal als Detektiv der Polizei. Wir hatten einen großen Streit wegen seine Rolle in meinem Team gehabt und wegen seinem Schwur, mir dabei zu helfen das Gleichgewicht zu halten, womit die Notwendigkeit verbunden war, beiden Seiten beizustehen. Er wollte den Menschen helfen, Gutes für sie tun, verfluchte aber das Gleichgewicht. Ich war wütend gewesen, immer noch leidend unter dem Verlust von Rebecca und Josette, und hatte vieles gesagt, das ich nicht hätte sagen sollen.