The Love That Lies Within - Mia Sheridan - E-Book
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The Love That Lies Within E-Book

Mia Sheridan

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Beschreibung

Er ist umgeben von Mauern aus Stein, Mauern aus Schuld. Sie ist gekommen, um sie mit der Kraft der Liebe einzureissen.

Als die junge Tänzerin Clara von der geheimnisvollen Windisle-Plantage am Stadtrand von New Orleans hört, ist sie sofort fasziniert. Clara stellt schnell fest, dass das alte Anwesen nicht so verlassen ist, wie alle denken. Jenseits der Mauer hört sie die Stimme eines Mannes. Sie gehört Jonah Chamberlain, der sich - verletzt und beladen mit Schuld - nach Windisle zurückgezogen hat und sein von Narben entstelltes Gesicht vor der Welt versteckt. Vom ersten Moment an spürt Clara eine tiefe Bindung zu ihm. Doch kann sie Jonah überzeugen, dass er ihre Liebe verdient hat?

"Mia Sheridan nimmt uns mit an einen Ort, wo ein Funken Hoffnung seinen Weg selbst durch einen winzigen Spalt in einer alten Mauer findet." NATASHA IS A BOOK JUNKIE

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Mia Sheridan bei LYX

Impressum

Mia Sheridan

The Love That Lies Within

Roman

Ins Deutsche übertragen von Barbara Först

ZU DIESEM BUCH

Die junge Tänzerin Clara ist gerade nach New Orleans gezogen und fühlt sich einsam in der fremden Stadt. Als ihre alte Nachbarin ihr von der Windisle-Plantage am Stadtrand erzählt, wo sich eine tragische Liebesgeschichte zugetragen haben soll, ist sie sofort fasziniert und sucht den geheimnisvollen Ort auf. Angeblich sollen sich die Wünsche erfüllen, die man in die rissige alte Mauer um das verlassene Anwesen steckt. Doch Clara stellt schnell fest, dass Windisle nicht so verlassen ist, wie alle denken. Auf der anderen Seite der Mauer hört sie nicht etwa einen Geist, sondern die Stimme eines Mannes. Ein Mann, der sich, verletzt und beladen mit Schuld, von der Welt zurückgezogen hat. Jonah Chamberlain hatte als blutjunger, ehrgeiziger Anwalt eine folgenschwere Entscheidung getroffen, die mehrere Menschen das Leben kostete, darunter sein eigener Bruder. Seitdem ist Jonahs Gesicht von Narben entstellt. Woche um Woche kehrt Clara zurück zu der alten Mauer, zu dem Mann, dessen Gesicht sie nicht kennt, zu dem sie jedoch vom ersten Moment an eine tiefe Verbindung verspürt. Nach und nach gelingt es ihr, Jonah aus seiner selbst gewählten Isolation zu locken. Doch kann sie ihn auch davon überzeugen, dass sie nicht vor seinen Narben zurückschreckt und dass er es verdient hat, geliebt zu werden?

Dieser Roman ist Fred gewidmet, dem besten aller Ratgeber

PROLOG

Als er zielstrebig durch das Foyer des Justizgebäudes eilte, hallte sein Pfeifen von den Marmorwänden wider. Jonah blickte zum Kuppeldach hoch und atmete den zeitlosen Geruch von Recht und Gesetz ein. Herrgott, wie ich das hier liebe, dachte er, von tiefer Befriedigung erfüllt.

Das Gebäude des Orleans Parish Criminal District Court war ihm seit seiner Kindheit vertraut. Damals war der kleine Jonah seinem Vater hinterhergelaufen und hatte sich gewünscht, eines Tages auch so angeschaut zu werden wie er – mit Respekt und einem kleinen Hauch von Furcht.

»Wenn andere kein bisschen Angst vor dir haben, mein Sohn, dann hast du offensichtlich etwas falsch gemacht.« Selbstverständlich hatte diese Theorie auch für Edward Chamberlains Erziehungsstil gegolten. Er hatte sein Heim mit eiserner Hand regiert.

»Frohes Schaffen, Mr Chamberlain«, wünschte ihm die blonde Anwältin im Bleistiftrock, die gerade den Metalldetektor passierte. Sie kam von draußen und drehte sich im Vorbeigehen um, musterte Jonah eingehend und biss sich auf die volle Unterlippe. Seit Wochen schon sandte sie ihm eindeutige Signale, aber Jonah war zu beschäftigt gewesen, um sich auf außerberufliche Unternehmungen einzulassen. Sobald der Prozess vorbei war, würde er mit Freuden auf ihr Angebot eingehen. Zu gern würde er ihren wohlproportionierten Körper von diesem konservativen Kostüm befreien, um herauszubekommen, was sie darunter trug. Bei diesem Gedanken spürte er eine gewisse Reaktion in der Lendengegend.

Jonah lief die Stufen des Gebäudes hinab und schwenkte seine lederne Aktentasche. Die Welt liegt mir zu Füßen, dachte er grinsend.

Die Kanzlei Applegate, Knowles und Fennimore lag weniger als eine Meile vom Gericht entfernt. Jonah entschloss sich zu einem Spaziergang – und ertappte sich dabei, dass er schon wieder den verdammten Song pfiff, der ihm seit Palmer Applegates Abschiedsparty vor zwei Tagen nicht mehr aus dem Kopf ging.

Palmer war der älteste Seniorpartner der Kanzlei und im Übrigen alles andere als ein netter Kerl. Der alte Knacker war so lustig wie eine lebende Leiche, aber Jonah vermutete zu Recht, dass ein Lied zu diesem Thema bei einer solchen Ehrung nicht ganz passend gewesen wäre. Wie auch immer, im Ruhestand konnte Applegate nun nach Herzenslust seine neue junge Vorzeigefrau anöden und die Angestellten der Kanzlei, in der Jonah seit einem halben Jahr beschäftigt war, in Frieden lassen.

Die renommierte Sozietät belegte die beiden obersten Stockwerke eines Backsteinbaus. Wieder pfiff Jonah ein paar Takte, während die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.

Which nobody can deny …

Sanft fuhr der Fahrstuhl nach oben, dann ertönte ein Läuten, und die Türen glitten auseinander.

»Guten Tag, Sir«, begrüßte ihn seine Sekretärin Iris.

»Iris. Irgendetwas –« Abrupt brach er ab, als ein Mann aufstand, der auf einem Stuhl in dem kleinen Warteraum gesessen hatte. Justin.

»Sir, ich hatte diesem Gentleman bereits gesagt, dass Sie keine Zeit für ihn haben würden, aber …«

Jonah nickte ihr zu, um eine gleichmütige Miene bemüht. »Ist schon gut, Iris. Es ist mein Bruder Justin.«

»Oh«, machte Iris. »Das habe ich nicht …«

Das zeigte, wie wenig man in der Kanzlei über ihn wusste: Sie kannten nicht einmal seinen Bruder, Justin Chamberlain. Justin war ebenfalls Anwalt, doch seine Sozietät lag in einem ganz anderen Teil der Stadt und übernahm, soweit Jonah wusste, mehr Pro-Bono-Vertretungen als zahlende Klienten. Es war schon ein Wunder, dass sie sich überhaupt ein Büro leisten konnten.

Er ergriff die Hand seines Bruders und lächelte. »Was liegt an, Bro? Lange nicht gesehen.«

Justin lächelte verhalten. »Hast du ein bisschen Zeit für mich?«

»Eigentlich nicht …«

»Es ist wichtig.« Justin fuhr sich mit der Hand durch die dunkelbraunen Locken und enthüllte den spitzen Haaransatz der Chamberlains.

Jonah sah demonstrativ auf seine Rolex, während Justin fortfuhr. »Ich versuche seit Wochen, dich ans Telefon zu bekommen. Hab sogar ein paarmal bei dir zu Hause vorbeigeschaut.«

Jonah stieß einen Seufzer aus. Für einen Rückruf hatte er einfach keine Zeit gehabt. Was zum Teufel konnte denn bloß so wichtig sein?

Er bedeutete Justin, ihm in sein Büro zu folgen. »Ich bin total im Stress. Verstehst du, ich stecke mitten in einem großen Fall. Morgen soll ich das Opfer ins Kreuzverhör nehmen. Das könnte …«

»Genau darüber will ich mit dir sprechen.« Justin machte die Tür zu. Einen Augenblick lang war Jonah mit Stolz erfüllt, als er sah, wie sein Bruder das kleine, aber luxuriös eingerichtete Büro mit Blick auf die Skyline von New Orleans betrachtete. Doch dann bemerkte er Justins finstere Miene.

»Tu es nicht, Jonah.«

»Und was soll ich nicht tun?«

»Dieser Fall.« Justin schüttelte den Kopf. Seine Augen glitzerten verdächtig, wie Jonah genervt feststellte. »Murray Ridgley hat dieses Verbrechen begangen, und das weißt du ganz genau.«

Jonah lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. »Die Kollegen haben den Fall übernommen, weil sie an seine Unschuld glauben, Justin. Sicher, es sieht nicht besonders gut aus. Es gibt … einen Haufen Indizienbeweise. Aber er verdient einen fairen Prozess und eine ordentliche anwaltliche Vertretung, wie jeder andere Bürger auch.«

»Das will ich ja gar nicht bestreiten. Ich bitte dich lediglich darum, dass du jemand anderen in die Kameras der Presse sprechen lässt. Lass jemand anderen das Kreuzverhör mit dem Opfer führen. Ich kenne dich, Jonah. Du bist ein verdammt guter Anwalt. Du wirst sie auseinandernehmen, wenn du es drauf anlegst. Aber mach das nicht, ich bitte dich. Lass dich nicht in ihre Machenschaften verwickeln. Du willst doch nicht ausgerechnet mit diesem Prozess berühmt werden! Darauf kannst du keine Reputation aufbauen.«

»Jesus, hör dir nur mal selbst zu … Willst du mir etwa einreden, ich soll nicht gewinnen?« Im Laufe der letzten Wochen war Jonah das Gesicht des Prozesses geworden; seine Kollegen hatten es so bestimmt, und er hatte gar nicht wissen wollen, warum. Er sah gut aus und besaß das strahlende Lächeln des typischen Sonnyboys. Frauen gefiel er, Männer achteten ihn. Die Jury vertraute ihm.

»Ich sage doch nur, du sollst nicht so werden wie Dad.«

Das war ein Schlag in die Magengrube. Jonah war sich bewusst, dass Justin als der Ältere die Hauptlast der drakonischen Erziehung getragen hatte. Der Löwenanteil des Drucks, den Edward Chamberlain auf seine Söhne ausgeübt hatte, war auf Justins Schultern gefallen. Als kleiner Junge hatte Jonah alles genau beobachtet und dabei eine Menge gelernt. Er hatte gewusst, was seinen Vater in Harnisch brachte und was ihm ein Lob wert war, und er hatte sich danach gerichtet.

»Dad war nicht durch und durch schlecht.«

»Wer ist das schon?«

Eine gute Gegenfrage.

Vielleicht traf es auf Murray Ridgley zu. Jonah hegte tatsächlich starke Zweifel an seiner Unschuld. Dazu kam der Verdacht, dass seine Kollegen ihm etwas verheimlichten. Doch dafür hatte er keine Beweise, nur dieses Geflüster hinter angelehnten Türen, das er hörte, wenn er in die Nähe kam.

Und dieser Fall … Dieser Fall war derjenige, der ihn auf die nächsthöhere Stufe hinaufkatapultieren könnte. Wenn er die Sozietät beeindruckte, könnte das der Beginn seiner Karriere sein.

Einer der Juniorpartner würde Applegates Position besetzen, aber Knowles, der andere der beiden Gründer, war sozusagen schon ein lebender Leichnam. Irgendwann in den nächsten Jahren würde er in Pension gehen oder sterben, und wenn Jonah sein Blatt richtig ausspielte, konnte er zunächst Juniorpartner und danach vollwertiger Partner werden. Partner! Selbst sein Dad hatte das nicht vor seinem dreißigsten Lebensjahr eschafft.

Jonah hatte wie ein Verrückter geschuftet, um nach zweieinhalb Jahren Studium sein Examen zu machen, er hatte Jura im Eilverfahren absolviert, hatte die Prüfung im ersten Anlauf bestanden und sofort danach eine Stelle bei einer der renommiertesten Kanzleien in New Orleans bekommen. Er war auf der Überholspur. Einen Fehler konnte er sich nicht leisten.

»Dad wurde geachtet«, gab er zu bedenken.

Justins Augen wurden schmal. »Dad war ein Scheißkerl, dem es um Macht ging statt um Menschen. Er hat Existenzen so beiläufig zerstört, wie er sich Butter aufs Brot schmierte. So bist du nicht, Jonah. Ich bin dein Bruder. Ich …«

»Also schön, hör zu: Ich weiß deine Bedenken als Weltverbesserer durchaus zu schätzen, aber ich kann dir versichern, dass ich ein absolut reines Gewissen habe, was den Job angeht. Murray Ridgley könnte dieses Verbrechen begangen haben.« Murray Ridgley könnte auch ein Monster sein. »Aber ich werde nicht darum bitten, von dem Fall abgezogen zu werden. Das wäre mein Ruin.«

Justin schaute seinen Bruder lange an, bevor er den Blick der beeindruckenden Aussicht zuwandte. »Ich hab nur so ein Gefühl … Du stehst jetzt vor einem entscheidenden Schritt für deine Zukunft, Jonah.« Wieder schaute er ihn an, und dieses Mal entdeckte Jonah Trauer in den Augen seines Bruders. Justin zwang sich zu einem Lächeln. »Wenn du diesen Fall abgibst … dann wäre es vermutlich mit deiner Karriere in dieser Firma vorbei, aber bei mir kannst du immer eine Anstellung bekommen.«

Jonah kicherte in sich hinein. »Damit ich für wenig mehr als ein Taschengeld gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt kämpfe? Das ist deine Berufung.«

Justin lachte freudlos, es klang wie ein Seufzen. »Ich könnte ein wenig Hilfe gebrauchen. Auf dieser Welt gibt es eine Menge Ungerechtigkeit, Bro.«

»Und manche würden sagen, dass es nutzlos ist, sie zu bekämpfen.«

»Manche ja.«

Während Jonah den Menschen musterte, den er auf der Welt am meisten liebte, spürte er einen Druck auf der Brust, ein merkwürdiges Gefühl der Schwere, das er sich nicht erklären konnte. Ein Gefühl, das … Sein Telefon läutete und unterbrach die seltsame Trance, in die er verfallen war. »Ich muss jetzt wirklich weitermachen. Können wir das Gespräch auf später verschieben?«

Justin nickte. Mit einem traurigen Lächeln legte er seinem Bruder die Hand auf die Schulter. »Klar, Jonah. Lass uns später darüber reden.« Und damit verschwand er aus dem Büro und schloss die Tür hinter sich.

Das Telefon läutete hartnäckig weiter, doch Jonah nahm nicht ab. Stattdessen ging er zum Fenster und starrte hinaus in den glühend heißen Sommertag. Wieder war da dieser Druck in seiner Brust … Mein Bruder fehlt mir, erkannte Jonah plötzlich. Er war Justin aus dem Weg gegangen. Doch wenn dieser Fall abgeschlossen war, würde er sich darum kümmern, dass er seinen Bruder öfter sah.

Zerstreut legte er eine Hand auf die Stelle, wo er sein Herz vermutete, und begann sanft zu massieren.

Du stehst jetzt vor einem entscheidenden Schritt für deine Zukunft, Jonah.

Aber er hatte ja längst entschieden. Nichts konnte daran mehr etwas ändern.

Zwei Wochen später, als Jonah in einer riesigen Blutlache lag, den widerlichen Geruch der Verbrennungen an seinem eigenen Körper in der Nase, erinnerte er sich wieder an die Worte seines Bruders: Träge schwebten sie durch seine Gedanken wie der dunstige Hauch eines vergessenen Traums.

Du stehst jetzt vor einem entscheidenden Schritt für deine Zukunft, Jonah. Lass uns später darüberreden.

Aber es hatte keine Gelegenheit mehr gegeben, mit Justin zu reden.

Sein Bruder war tot.

Das Geschrei ebbte so weit ab, dass Jonah das Fiepen hören konnte, mit dem die Luft aus seinen rauchgefüllten Lungen wich.

Wieder einmal pfiff er.

Nur diesmal ohne Melodie.

1. KAPITEL

Gegenwart

»Streck deinen Arm aus, Clara. Du willst doch ein Schwan sein, aber du siehst aus wie eine Ente. Fang noch mal von vorne an.« Abrupt stoppte die Musik. Die anderen Tänzer stießen einen unhörbaren, kollektiven Seufzer aus. Clara spürte ihr Gesicht glühen, als sie die verächtlichen Blicke wahrnahm. Sie war die Neue beim Städtischen Ballett New Orleans und hatte das Gefühl, dass all ihre geheimen Ängste wahr wurden.

»Ja, Madame Fournier.« Clara ging zur Markierung zurück und nahm ihre Position ein, während die Musik wieder einsetzte. Ich bin ein Schwan. Ich bin ein Schwan, sagte sie sich immer wieder vor wie ein Mantra.

Das Problem war nur: Obwohl sie sich auf ihren anmutig ausgestreckten Arm konzentrierte, kam Clara sich wie eine Ente vor. Und eine unbeholfen watschelnde noch dazu.

Nachdem die Stunde vorbei war und die anderen Tänzerinnen ihre Sachen zusammenpackten, ging Clara zu ihrem Matchsack, stellte den Fuß auf die Bank und löste die seidenen Bänder ihrer Spitzenschuhe.

»Ein Mädchen, das ich kenne, war zusammen mit ihr auf der Goddard«, flüsterte Belinda Baker hinter ihrem Rücken, wobei klar war, wer mit »ihr« gemeint war. »Sie hatte dieses Stipendium von Dance for Life erhalten, sonst wäre sie nie angenommen worden.« Clara warf sich den Matchsack über die Schulter und schoss Belinda einen bösen Blick zu. Diese riss vor Überraschung die Augen auf, hatte nicht damit gerechnet, bei ihrer boshaften Bemerkung ertappt zu werden. Clara drehte sich um und verließ eilig das Theater.

Es stimmte jedoch, was Belinda gesagt hatte: Claras Vater hatte jedes nur mögliche Opfer gebracht, damit seine Tochter ihren Traum von einer Tanzkarriere verwirklichen konnte. Aber niemals hätte er sich die Ballettschule aus eigener Tasche leisten können. Clara war stolz auf ihr Stipendium, und diesen Stolz würde sie sich von ein paar Klatschbasen nicht rauben lassen.

Dennoch – Gedanken an den Vater riefen den altvertrauten Schmerz hervor. Clara musste sich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen. Der vor Kurzem erfolgte Umzug nach New Orleans war ihr schwer genug gefallen, dazu kam der Umstand, dass sie im Ballett nicht gerade … herzlich aufgenommen worden war. Melancholie schien ihr ständiger Begleiter geworden zu sein.

In diesem Augenblick bog ihr Bus um die Ecke. Clara beschleunigte ihre Schritte, um zur Haltestelle zu sprinten, die einen Block entfernt lag, während sie gleichzeitig in der Tasche nach ihrem Handy kramte. »Danke«, sagte sie atemlos zu dem Fahrer, der ihr mobiles Ticket abscannte und sie mit einem netten Lächeln in seinem Bus willkommen hieß. Clara erwiderte das Lächeln, dankbar für eine Geste, die Freude verbreitete wie ein spärlicher Sonnenstrahl an einem trüben Tag.

Eine halbe Stunde später stieg sie aus dem klimagekühlten Bus, und die Hitze traf sie wie ein körperlicher Schlag. In einem Film, so dachte sie, müsste die Sommerhitze New Orleans eine ganz eigene Rolle bekommen, personifiziert von einem großen, vierschrötigen Mann mit schläfrigen Augen und heißem Atem. Intensiv und verzehrend.

Eine blonde Locke löste sich aus Claras Haarknoten. Als sie sich die Strähne hinter das Ohr schob, wehte vom nächsten Eckhaus ein äußerst appetitanregender Duft zu ihr hinüber, der sie ein wenig von der feuchten Hitze ablenkte. Comfort Food – Futter für die Seele. Wie schaffte es die Küche Louisianas bloß, nicht nur dem Gaumen, sondern auch der Seele zu schmeicheln?

Der lässige, elegische Sound eines Saxofons drang aus einem geöffneten Fenster und ging Clara unter die Haut.

Gibt es eigentlich etwas Einsameres als den fernen Sound eines einzelnen Instruments?, überlegte sie.

Doch dann fiel ein anderer Laut ein: Eine süße, satte Stimme begleitete die Melodie, wob ihr eigenes Muster, schwoll immer stärker an. Die Musik, nun fern und nah und dennoch zu einem Duett verschmolzen, erfüllte Clara ganz und gar; ihre Haut war wie elektrisiert, und das Herz wurde ihr leichter. Denn sie kannte diese Stimme. Sie war wie Rauch vermischt mit Sirup, und in Claras Straße hörte man sie des Öfteren Gospels singen.

Der Gesang verstummte. »Da bist du ja. Grüß dich, Darlin’.«

Clara lächelte beim Aufschauen zu Mrs Guillot empor, die in ihrem Schaukelstuhl vor sich hin schaukelte. Sie lebte in dem Eckhaus der Straße, in der Clara eine kleine Wohnung mit Garten gemietet hatte.

»Warst so tief in Gedanken versunken, dass ich dich nicht stören wollte«, bemerkte die alte Frau mit einem Lächeln.

Clara stieß Mrs Guillots schmiedeeisernes Gartentor auf, stieg die Backsteintreppe hoch und setzte sich auf den zweiten Schaukelstuhl. »Bin nur noch mal die Übungen von heute im Kopf durchgegangen.«

»Aha. Wie läuft’s mit den anderen Schwänen?«

»Ganz gut. Ich wünschte nur …« Was wünschte sie? Dass die anderen nicht so gemein zu ihr wären? Dass sie in der Truppe eine Freundin fände? Dass sie nicht ständig mit Argusaugen beobachtet und nur nach ihren Mängeln beurteilt würde? Clara schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich würde hier wenigstens einen Menschen kennen. Irgendwo ganz neu anzufangen ist schwerer, als ich mir vorgestellt habe.«

Mrs Guillot lächelte freundlich. »Nun, einen Menschen kennst du hier: mich.«

»Oh, Mrs Guillot, ich wollte damit nicht …«

»Unsinn, Kind.« Die Frau lachte. »Ich weiß, was du sagen wolltest. Hab doch bloß Spaß gemacht. Eine junge Frau wie du braucht junges Volk. Wirst schon noch ein paar Leutchen kennenlernen. Zerbrich dir darüber nicht dein hübsches Köpfchen.«

Clara seufzte. »Ich weiß. Und das wird bestimmt toll. Aber ich bin auch froh darüber, dass ich Sie kenne.« Das war die reine Wahrheit. Seit Clara vor zwei Monaten nach New Orleans gezogen war, hatte Mrs Guillot ihr stets mit Rat und Hilfe zur Seite gestanden. Sie hatte ihr erzählt, was es über die Stadt zu wissen gab, und genau beschrieben, wo dieses und jenes zu finden war. Darüber hinaus hatte sie Clara, wenn diese Zeit hatte, immer wieder zu einem Plausch ermuntert.

»Das weiß ich doch, Darlin’.« Sie hielt inne. »Wie geht’s deinem Dad? Hast du mit ihm gesprochen?«

Ein jäher Schmerz durchfuhr Clara. Sie schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte es. Er hat nur noch selten klare Momente.«

Mrs Guillot musterte das Mädchen aufmerksam. Aus ihrem Blick sprach das ehrliche Mitgefühl eines Menschen, der weiß, wie viel Schmerz ein Verlust bedeutet. Hatte nicht auch Mrs Guillot in ihrem Leben oft genug großen Kummer gehabt? »Also das, Liebes, sind schon mal zwei Wünsche. Gib einen davon an Angelina weiter.«

»Angelina?«

»Mh-mhhm. Du bist doch jetzt schon ein paar Monate in der Stadt. Und da hast du noch nichts von der weinenden Mauer gehört?«

Die weinende Mauer. Ein merkwürdiges Zittern überlief Clara. »Nein. Wo ist denn die?«

»Na, auf der Plantage von Windisle.«

DiePlantage von Windisle. Clara nahm ihren Matchsack vom Schoß und stellte ihn neben sich auf den Boden, dann beugte sie sich leicht vor. »Wollen Sie mir etwas darüber erzählen, Mrs Guillot?«

Mrs Guillots Blick richtete sich auf den alten Magnolienbaum, der im Nachbargarten wuchs. Seine riesigen weißen Blüten und glänzenden grünen Blätter schimmerten im Licht der untergehenden Sonne.

Sie lehnte sich in ihrem Schaukelstuhl zurück, der vernehmlich knarrte, dann schaute sie Clara wieder an. »Windisle ist eine Zuckerrohrplantage, die vor mehr als zweihundert Jahren angelegt wurde.« Clara wurde sich bewusst, dass sie den Atem anhielt. Ganz langsam und vorsichtig ließ sie ihn ausströmen, damit Mrs Guillot nicht von ihrer Geschichte abgelenkt wurde. »Oh, manche sagen, es ist ein heiliger Ort. Manche nennen ihn verflucht. Aber alle sind sich einig, dass es dort spukt.«

Mrs Guillots braune, knotige Hände umfassten die Armlehnen ihres Stuhls. Ihr Ehering, den sie immer noch trug, glänzte im letzten Tageslicht. »Du musst wissen, Darlin’, dass sich eine junge Frau, Angelina Loreaux, dort im Rosengarten das Leben genommen hat, denn der Verrat ihres Liebsten hatte ihr das Herz gebrochen. Und seitdem geht ihr ruheloser Geist in diesem Garten um, und auch der Geist des Mannes, der sie verriet. Ihm wurde der ewige Friede versagt, weil seine Taten auf Erden so viel Leid über einen Menschen gebracht hatten.« Mrs Guillot lächelte verzagt. »Obwohl ich mir immer wieder überlegt habe, wenn so etwas wahr ist – wenn Menschen dazu verdammt sind, ruhelos auf Erden zu wandern, weil sie selbstsüchtig waren und Fehler begingen –, na, dann würde es im Himmel doch gar keine Seelen mehr geben!« Mrs Guillot verzog den Mund. Innerlich stimmte Clara ihr zu. Nein, in dem Fall wäre der Himmel wohl ziemlich leer.

»Was für eine traurige Geschichte!«

Die alte Frau nickte ernst. »Oh ja.«

»Wer war sie? Angelina, meine ich. War sie die Tochter des Plantagenbesitzers?«

»Nun – ja. Robert Chamberlain hieß er. Aber sie war auch die Tochter von Mama Loreaux, einer Küchensklavin, die das Kind unehelich zur Welt gebracht hatte. Mama Loreaux war eine Schönheit mit dunklen, einfühlsamen Augen, heißt es, und bekannt dafür, dass sie unter ihren Mitsklaven eine westafrikanische Form des Voodoo praktizierte, die ihre Mutter und Großmutter an sie überliefert hatten. Mit ihren Kräutern und Zaubersprüchen konnte sie Menschen von jedem Leiden unter der Sonne befreien. Ihre Tochter Angelina war ein wunderschönes, vor Leben sprühendes Kind, das von Mutter und Vater gleichermaßen sehr geliebt wurde. Es heißt, Robert Chamberlain sei von seiner kleinen Tochter hingerissen gewesen und habe sie oft auf der Vorderveranda des Herrenhauses auf seinen Knien geschaukelt … sehr zum Verdruss seiner Ehefrau und seiner ehelichen Kinder, die Angelinas Existenz gerade mal so hinnahmen.«

Clara war fasziniert. Voller Staunen sog sie jedes Wort der alten Geschichte in sich auf. Wie erschütternd, wie tragisch. Es raubte ihr den Atem.

»Angelina wuchs in der Küche der Chamberlains unter der strengen Aufsicht ihrer Mutter auf. Sie bezauberte ihre Familie ebenso wie alle Besucher. Sie lachte gern, sie besaß ein sonniges, liebevolles Gemüt, eine Seele, so sanft wie die Flügel eines Kolibris und die seltene Schönheit einer exotischen Blüte. Es war leicht, sie zu lieben. So heißt es jedenfalls.«

»Aber woher stammt denn all dieses Wissen, Mrs Guillot?«

»Oh, von den anderen Sklaven, die auf Windisle lebten, könnt ich mir denken. Es wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Meine Großmutter hat mir die Geschichte von Angelina Loreaux und John Whitfield erzählt, als ich ein Dreikäsehoch war!« Die alte Frau lachte, es klang sehr melodisch und schön.

»Wie auch immer, es heißt, dass Angelina, als sie siebzehn war, John Whitfield kennenlernte, einen jungen Soldaten aus einer wohlhabenden Familie, die zu Besuch auf der Plantage war. Sie hatten nicht viel Zeit zusammen, aber John war völlig gefesselt von Angelinas Schönheit.« Mrs Guillot verzog das Gesicht. »Es heißt, dass beide sich ineinander verliebten, aber wenn ich bedenke, was dann später geschah, kann ich das kaum glauben.«

»Er hat sie hintergangen«, flüsterte Clara. »Und sie hat sich das Leben genommen.«

»Ja.« Mrs Guillot nickte bekräftigend. »Aber davor waren sie heimlich ein Liebespaar geworden.«

Heimlich. Was auch sonst, dachte Clara. Wie anders war die Welt, in der jene beiden Unglücklichen gelebt hatten! Ihre eigenen Probleme, ihre Traurigkeit kamen ihr auf einmal … nun ja, nicht unbedingt unbedeutend vor. Aber wie schrecklich musste es sein, sich unsterblich zu verlieben und diese Liebe wie ein schändliches Geheimnis verbergen zu müssen? Das wäre doch unerträglich, oder? »Auf welche Weise hat er sie verraten?«, fragte Clara. Fast hatte sie Angst, es zu erfahren.

»Oh, das muss so ungefähr 1860 oder ’61 gewesen sein, da wurde John eingezogen, es herrschte Bürgerkrieg. Er versprach Angelina, zu ihr zurückzukehren. Angelina wartete. Ihre Liebe kannte keine Grenzen, ihr reines, zärtliches Herz war von der Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft erfüllt. Sie muss wohl eine arge Träumerin gewesen sein.« Mrs Guillot war einen Moment in ihre Gedanken versunken. »Vielleicht kam es ihr auch so vor, als hätte sie endlich einen Platz in dieser Welt gefunden, den es vorher für sie nicht gab.« Mrs Guillot lächelte. »Aber das ist nur meine Vermutung.«

»Es könnte aber stimmen«, murmelte Clara.

Wieder verzog Mrs Guillot das Gesicht. »Johns Herz war jedenfalls nicht so gefestigt. Durch seine Familie ließ er eine kurze Nachricht an Angelina schicken, dass er sie nicht länger liebte. Sie sollte versuchen, ihn zu vergessen, da auch er bereits angefangen hatte, sie zu vergessen.«

Mrs Guillot begann wieder zu schaukeln. Das Knarren des Stuhls war der einzige Laut in der stillen Straße. Der Saxofonist hatte irgendwann zu spielen aufgehört, und Clara hatte es nicht einmal bemerkt. »Erschüttert floh Angelina in den Rosengarten. Dort, an dem Ort, wo sie ihren Liebsten zum ersten Mal gesehen hatte, setzte sie ein Rasiermesser ihres Vaters an ihren Arm.«

Clara blieb vor Spannung das Herz fast stehen, obwohl sie bereits gehört hatte, wie die Geschichte ausging. Sie stieß einen Seufzer aus.

Mrs Guillot nickte, als verstünde sie genau, wie betroffen Clara war. »Ja, ich weiß. Mama Loreaux fand ihre Tochter, und wie es heißt, ist ihre entsetzliche Totenklage vom Wind in jeden Winkel der Plantage und noch weit über ihre Grenzen hinaus getragen worden. Sie hielt den schönen Leib ihrer toten Tochter in den Armen und verfluchte die Liebe, die ihr das kostbare Mädchen genommen hatte, beschwor die Geister, dass John niemals wahre Liebe finden sollte, weder in diesem Leben noch im nächsten.«

Mrs Guillot seufzte. »John kehrte aus dem Krieg zurück und lebte bis zu seinem Tod allein, er fand in der Tat keine Frau. In der Öffentlichkeit ließ er sich kaum blicken. Es hieß, dass er wieder und wieder den Krieg durchlitt. Als er Ende dreißig war, bekam er Tuberkulose und starb daran.«

Gut so!, hätte Clara am liebsten gesagt. Aber sie hielt den Mund. Es schien unrecht, jemanden zu verdammen, der bereits tot war. Und verflucht.

Sie schwiegen eine Zeit lang. Clara fühlte sich von der traurigen Geschichte betroffen. Ihr war, als hätte sie nicht nur ihr Interesse geweckt, sondern sich tief in ihr Inneres, in ihre Seele gesenkt. »Welche Rolle spielt denn die weinende Mauer? Und warum gehen die Leute mit ihren Wünschen dorthin?«

Die Falten auf Mrs Guillots Stirn vertieften sich. »Es heißt, dass die Geister von John und Angelina auch heute noch durch den Rosengarten streifen. Sie können keine Ruhe finden, keinen Frieden, weil sie nach etwas suchen, das sie von der Last ihrer Sünden auf Erden befreit. Angelina scheint irgendwie in Johns Fluch verwickelt zu sein, glauben die Bewohner hier, aber sicher wissen tut es niemand. Nur, dass sie diejenigen Wünsche erfüllt, die auf einen Zettel geschrieben durch die Ritzen der Mauer von Windisle gesteckt werden.«

Mrs Guillot lächelte. »Angelina erfüllt Wünsche, heißt es, um mehr Menschen zum Kommen zu ermutigen, in der Hoffnung, dass eines Tages ein ganz besonderer Mensch kommen wird, der das Rätsel lösen und den Fluch brechen kann.«

»Welches Rätsel?«

Wieder furchte Mrs Guillot die Stirn. »Also, so ganz genau weiß ich es nicht, aber ich bin mir sicher, dass es irgendwann einmal von einer Voodoo-Priesterin ausgesprochen wurde. Du könntest Dory Dupre von der Stadtteilbibliothek danach fragen. Sie wird sich wahrscheinlich daran erinnern oder für dich danach auf die Suche gehen.«

Clara lächelte, froh darüber, eine Adresse bekommen zu haben, wo sie mehr herausfinden konnte. »Das mache ich. Wissen Sie, warum man die Mauer die Weinende nennt?«

»Es heißt, dass die Mauer Tränen wegen des Kummers und der Tragödie weint und wegen der Seelen, die in ihr gefangen sind. Ich selbst weiß darüber gar nichts, denn die wenigen Male, die ich dort war, habe ich so etwas nicht gesehen, aber es heißt, dass die Mauer erst dann aufhört zu weinen, wenn Johns und Angelinas Seelen frei sind.«

»Wer wohnt jetzt dort, Mrs Guillot?«

»Niemand, soviel ich weiß. Das Haus steht seit Jahren leer.«

Claras Gedanken wurden vom Quietschen des Gartentores unterbrochen. Herein trat ein alter Mann, der am Stock ging. Er zog höflich seinen Hut und lächelte scheu zur Veranda hinauf. »Bernice, ein schöner Abend heute, finden Sie nicht?«

Clara sah Mrs Guillot an. Ihre Haut war zwar von einem wunderschönen Mahagonibraun, doch sie hätte schwören können, dass ein Erröten durchschimmerte.

»Harry.«

Harry wandte seinen Blick Clara zu und neigte zum Gruß leicht den Kopf. »Ich wusste nicht, dass Sie Besuch haben. Hab nur gerade meinen Abendspaziergang gemacht und dachte, ich schau mal vorbei, um Hallo zu sagen.«

Clara stand rasch auf und griff nach ihrem Matchsack. »Eigentlich habe ich es auch eilig. Muss morgen früh raus.« Sie beugte sich vor und gab Mrs Guillot einen Kuss auf die Wange, auf die papierdünne Haut, die zart war wie Seide. »Vielen, vielen Dank dafür, dass Sie mir die Geschichte von Angelina erzählt haben.«

»Viel los ist mit mir nicht mehr, aber ich stecke bis zum Rand voller Geschichten.« Mrs Guillot lachte. »Geh du nur und stecke einen Wunsch oder zwei durch die Ritzen der Mauer«, fügte sie leise hinzu. »Und grüß Angelina von mir.«

Clara nickte und lächelte sie über ihre Schulter hinweg an, während sie die Stufen hinabstieg. »Das mache ich.«

»Oh, und Clara, Liebes«, rief Mrs Guillot. »Wenn du das nächste Mal vorbeischaust: Ich hab dann wieder was von meinem selbst gemachten Einreibemittel!«

Clara unterdrückte eine Grimasse und lächelte ein weiteres Mal zu der lieben alten Frau hoch. »Danke schön, Mrs Guillot.« Im Vorbeigehen nickte sie Harry zu. Der alte Herr sah in seinem gebügeltem Hemd und Filzhut für einen simplen Abendspaziergang reichlich elegant aus. »Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen beiden.«

Am nächsten Sonntag erwachte Clara in aller Frühe und machte sich auf den Weg zur Bibliothek, die zehn Blocks entfernt lag.

Die Geschichte über Windisle, die Mrs Guillot ihr vor wenigen Tagen erzählt hatte, hatte Clara nicht losgelassen. Sie war gefesselt – vielleicht sogar ein wenig besessen – von dieser Geschichte voller Kummer und Leid, die sich vor mehr als hundertfünfzig Jahren abgespielt hatte. Clara dachte an sie, während sie mit dem Bus zum Ballett fuhr und wenn sie auf dem Heimweg war, sie dachte vor dem Einschlafen daran und sogar beim Tanzen, wo das Getuschel der anderen Ballerinen dann zu einem bloßen Hintergrundgeräusch wurde.

Clara ließ sich nicht länger von ihnen beirren, ihr ganzes Denken kreiste um ein wunderschönes Mädchen mit einem Lächeln wie Sonnenschein und einer Seele so zart wie ein Kolibriflügel. Wie hatte Angelina gelebt? Hatte sie bereits Leid erfahren, bevor der Verrat begangen wurde, der sie in den Selbstmord trieb? Und welche düsteren Geheimnisse verbargen sich hinter jener Mauer?

Möglicherweise hatte Claras Fokussierung auf die Legende ebenso viel mit ihrer eigenen Einsamkeit zu tun. Doch sie spürte auch ein merkwürdiges inneres Drängen, wenn sie an Windisle dachte. Was auch immer der Grund dafür war, sie musste einfach mehr erfahren.

Die kleine Bibliothek war ein schummriger, stiller Ort. Als Clara eintrat, hielt sie zunächst inne und atmete den unverwechselbaren Geruch alter Bücher ein: staubiges Papier und menschliche Seelen, deren Leben in Tinte geflossen war.

Ein paar Leute bewegten sich suchend zwischen den Regalen; selbst heute, an einem Sonntag, waren es nicht viele. Clara sah eine winzige ältere Frau, die Bücher von einem Wagen in Regale einordnete, und ging auf sie zu. »Verzeihung?«

Die Angesprochene drehte sich lächelnd zu ihr um. Sie schien mindestens neunzig zu sein. Um den Hals trug sie eine Kette, an der ihre Brille hing. Ihr weißer Schopf bildete einen verblüffenden Kontrast zu ihrer braunen Haut. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Sind Sie Dory Dupre?«

»Die bin ich.«

»Oh, gut.« Lächelnd streckte Clara ihr die Hand hin. »Ich bin Clara Campbell. Mrs Guillot hat mir geraten, mit Ihnen zu sprechen.«

»Oh – wie geht es Bernice?«

Claras Lächeln wurde strahlender. »Sehr gut.«

»Das freut mich zu hören. Und worüber wollten Sie mit mir reden?«

»Über die Windisle Plantage.«

Ein Schatten glitt über Ms Dupres Gesicht. Ihre Runzeln schienen sich für einen winzigen Augenblick zu vertiefen. Sie schüttelte den Kopf. »Eine tragische Geschichte.«

»Ja«, flüsterte Clara. »Mrs Guillot hat mir erzählt, was sie weiß, aber sie konnte nicht alle meine Fragen beantworten.«

»Aha. Kommen Sie, ich schau mal, ob ich ein paar Lücken füllen kann.«

Clara folgte der Bibliothekarin zu einem runden Tisch in der Nähe des Ausleihschalters, an dem beide Platz nahmen. »Darf ich fragen, warum Sie sich so für Windisle interessieren, meine Liebe?«

Clara wandte den Blick ab, während sie ihre Antwort durchdachte. »Ehrlich gesagt, Ms Dupre, weiß ich es nicht so genau. Mrs Guillot hat mir die Geschichte erzählt, und seitdem bekomme ich sie einfach nicht mehr aus dem Kopf.«

»Das kann ich gut verstehen. Sie ist faszinierend. Und so geheimnisvoll.« Frau Dupre lächelte. »Und wer weiß – vielleicht werden Sie diejenige sein, die das Rätsel löst und Angelina befreit. Glauben Sie an Verwünschungen, meine Liebe?«

Clara lachte leise. »Ich weiß nicht, ob ich daran glaube. Aber ich würde gern das Rätsel hören, falls Sie sich daran erinnern.«

»Oh, ich erinnere mich sehr gut. Ich habe es wortwörtlich von der Voodoo-Priesterin gehört.«

Clara riss vor Überraschung die Augen auf. »Sie haben es selbst gehört?«

»Oh ja. Es war bei einem Fest auf Windisle Manor im Jahre 1934. Damals wurde das Herrenhaus noch von den Chamberlains bewohnt, und sie pflegten große Gesellschaften zu geben. Ich war erst vierzehn Jahre alt, trotzdem hatte meine Schwester für mich einen Job bei dem Partyservice ergattert, der an dem Abend für das Wohl der Gäste sorgte. Prentiss Chamberlain und seine Frau Dixie hatten eine alte, blinde Voodoo-Priesterin eingeladen.« Sie hielt kurz inne. »Soweit ich weiß, war es den Chamberlains mehr oder weniger gleichgültig, ob Geister auf ihrem Land umherstreiften – obwohl es immer Gerüchte gab, dass Gäste von Geistererscheinungen berichtet hatten, besonders um den Rosengarten herum. Doch auf jeden Fall wollten Prentiss und Dixie Chamberlain mit dieser märchenhaften Geschichte zur Unterhaltung ihrer Gäste beitragen, und aus diesem Grund luden sie die Priesterin ein.«

Ms Dupres Blick richtete sich in die ferne Vergangenheit. »Die Frau saß auf einem Stuhl, der mit rotem Samt bezogen war, und die Gäste versammelten sich in dem Saal. Kein Laut war zu hören. Ich habe von einer Seitentür aus zugeschaut, habe den Atem angehalten. Da war etwas in der Luft … Eine Empfindung, an die ich mich noch genau erinnere, obwohl ich sie nur schwer erklären kann. Etwas wie … eine Schwere, etwas Bedrückendes. Die Priesterin – ich sehe sie noch vor mir, wie sie beim Sprechen ihre milchig weißen Augen schloss – bekräftigte, dass die Geister von John und Angelina immer noch auf dem Besitz spukten, vor allem im Garten, jedoch ohne die Gegenwart des anderen wahrnehmen zu können.«

»Wie traurig«, flüsterte Clara. Obwohl sie annahm, dass es besser war für Angelina, nicht auf ewig mit dem Mann umherirren zu müssen, der ihr das Herz gebrochen hatte.

Ms Dupre nickte. »Ein Gast erkundigte sich nach dem Fluch, den Mama Loreaux ausgesprochen hatte, und die Priesterin sagte, John sei in der Tat mit einem besonderen Fluch belegt worden, der nur durch ein einziges Mittel aufgehoben werden könne.« Sie legte eine bedeutungsschwere Pause ein und sah Clara fest in die Augen. »Durch einen Tropfen von Angelinas Blut, der ans Licht gebracht werde.«

Durch einen Tropfen von Angelinas Blut, der ans Licht gebracht wird. Clara ließ die Worte in sich einsinken. »Und niemand weiß, was das bedeutet?«

Ms Dupre schüttelte den Kopf. »Kein Mensch, nicht einmal die Priesterin, die darauf hinwies, dass die Geister nicht immer ihre Geheimnisse offenbarten, nicht einmal ihr.«

Clara nahm sich fest vor, den rätselhaften Satz im Gedächtnis zu behalten.

Dann berichtete sie Ms Dupre in Kürze, was sie von Mrs Guillot über die Legende erfahren hatte. Da Ms Dupres eigenes Wissen erschöpft war, gab sie Clara den Rat, es an einem der bibliothekseigenen Computer zu versuchen: Dort könne sie etwas über das Herrenhaus herausfinden und über die Familie, die einst dort gewohnt hatte.

Clara bedankte sich herzlich bei der Bibliothekarin, die sogleich wieder von einer Leserin in Anspruch genommen wurde, die mit einem Bücherstapel an den Ausleihschalter getreten war.

Am Rechner scrollte Clara durch jeden Artikel, den sie über die Plantage und ihre Besitzer finden konnte. Auf den Zetteln, wie sie an jedem der drei Arbeitsplätze bereitlagen, machte sie sich Notizen.

Windisle Manor, im Antebellum-Stil erbaut, war im frühen achtzehnten Jahrhundert auf der tausend Morgen großen Zuckerrohrplantage der Chamberlains errichtet worden. Vor dem Bürgerkrieg hatte die Familie mehr als hundert Sklaven besessen, die meisten arbeiteten auf den Zuckerrohrfeldern, einige waren aber auch im Herrenhaus beschäftigt.

»Mama Loreaux«, wisperte Clara und stellte sich die schöne Frau mit den wissenden Augen vor, die Mrs Guillot ihr beschrieben hatte. Sie sah sie vor sich, wie sie vom Küchenfenster aus Robert Chamberlain betrachtete, der ihr kleines Mädchen auf seinen Knien schaukelte, während seine Familie voller Verachtung zusah. Wie war das für die Sklavin gewesen? Was hatte sie dabei empfunden?

Da Clara aus der Arbeiterklasse stammte und mit nur einem Elternteil aufgewachsen war, hatte sie in vielen Ballettschulen reichlich vernichtende Kritik von eingebildeten reichen Mädchen einstecken müssen und sich dementsprechend unbehaglich gefühlt. Doch solche Angriffe geschahen nicht Tag für Tag, vierundzwanzig Stunden lang. Und nicht jedes Mädchen hatte sich an ihnen beteiligt. Clara hatte mitunter die giftigen, auf sie gemünzten Beleidigungen als solche gar nicht erkannt. In schicken Ballettschulen wurde es von der Mehrheit der Elevinnen stillschweigend gutgeheißen, diejenigen zu kritisieren, die man als unter sich stehend empfand.

Clara lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf den Bildschirm. Anders als viele Plantagen, die in die Obhut der Gesellschaft für historische Denkmalpflege übergegangen und dem Publikum zugänglich gemacht worden waren, gehörte Windisle immer noch den Chamberlains, blieb ein Privatdomizil. Die Historic Preservation Society, bestrebt, dieses großartige Beispiel amerikanischer Architekturgeschichte in ihren Besitz zu bekommen, hatte der Familie viele Angebote gemacht und war ebenso oft abschlägig beschieden worden. Interessant, fand Clara, die sich fragte, warum die Chamberlains kein Interesse an der Erhaltung ihres Besitzes durch diese Gesellschaft hatten.

Sie verlor sich in der Suche, verlor sich in der Geschichte, die ihr der Bildschirm darbot, und ehe sie es sich versah, teilte ihr die große Wanduhr mit, dass etliche Stunden verstrichen waren. Ihr Magen meldete sich grollend. Sie hatte die Lunchzeit verpasst.

Ms Dupre war im Gespräch mit einer Besucherin. Clara winkte ihr kurz zum Abschied zu, dann ging sie nach draußen, wo der Himmel sanft und blau über einer feurigen Sonne schimmerte.

Auf dem Heimweg bewunderte Clara die alten, traditionellen Häuser der Stadt. Sie waren in leuchtenden Farben gestrichen und mit kunstvollen Ornamenten verziert – verschnörkelte Konsolen, handgeschnitzte Säulen, Zierleisten und große Sprossenfenster. Viele Häuser waren in einem schlechten Zustand, die Geländer waren morsch und vermodert, blühende Ranken, Sträucher und Unkraut überwucherten die kleinen Gärten, einst prachtvoll bemalte Holztüren waren nun verblichen und durchzogen von Rissen. Doch all diesen Häusern war eine besondere Schönheit eigen, und Clara spürte ein sehnsuchtsvolles Ziehen in ihrem Herzen für alle Dinge auf dieser Welt, die einst geliebt worden waren und geduldig auf ein Wiedererstarken dieser Liebe warteten.

Als sie in ihre Straße einbog, erstand Windisle Manor vor ihrem inneren Auge, wie es auf den Fotos gewesen war, die sie gesehen hatte: großartig, wunderschön … umgeben von riesigen Zuckerrohrfeldern.

Clara hatte auch mehrere Artikel in den Gesellschaftsspalten früherer Jahrzehnte gefunden, in denen von Festen und anderen Feiern im Herrenhaus die Rede war. Die Gäste hatten stets den Zustand und die Schönheit von Haus und Grundstück gepriesen, Fotos belegten den einstigen Glanz. Doch in den letzten Jahren war kein Wort mehr über das Anwesen erschienen.

Aus all dem musste Clara schließen, dass dort niemand mehr lebte – zumindest niemand, dessen Herz noch schlug.

2. KAPITEL

»Hallo, Mrs Lovett. Hier ist Clara.«

»Oh, hallo Clara, meine Liebe. Wie geht’s in New Orleans? Haben Sie sich schon eingelebt?«

»Ja, danke. Ich fühle mich schon ganz wie zu Hause.« Clara legte ein Lächeln in ihre Stimme. Sie war entschlossen, positiv zu klingen, auch wenn sie sich eigentlich nicht eingelebt hatte. Noch nicht.

»Das freut mich zu hören.«

»Wie geht es ihm heute, Mrs Lovett?«

Mrs Lovett nahm sich einen Moment Zeit, um zu antworten. »Gestern Abend hatte er einen Schub.« Als Clara nachfragen wollte, beeilte sich die Pflegerin zu erklären: »Oh, nichts Gravierendes. Er wurde ein bisschen ärgerlich und hat mit seinem Lunchtablett geworfen. Wir haben ihm ein Beruhigungsmittel gegeben, und jetzt schläft er noch.«

Clara wurde todtraurig. Sie hatte so sehr gehofft, wenigstens kurz mit ihrem Vater sprechen zu können, nur um seine Stimme zu hören. Tränen brannten in ihren Augen. »Hatte er gestern überhaupt einen klaren Moment?«

»Nein, gestern nicht, Liebes.« Clara hörte das Bedauern in der Stimme der anderen. Sie wusste, wie gern die freundliche Pflegerin gute Nachrichten für sie gehabt hätte. Bevor Clara nach New Orleans gezogen war, hatte sie einige Zeit in dem Pflegeheim verbracht und sich mit Mrs Lovett angefreundet.

»Rufen Sie mich an, wenn sein Zustand sich ändert?«

»Natürlich rufe ich Sie an.«

Sie unterhielten sich noch ein wenig, dann verabschiedeten sie sich voneinander. Langsam steckte Clara ihr Handy wieder in die Tasche, während eine Träne über ihre Wange rollte. Hastig wischte sie sie fort und holte zittrig Luft. Sie hatte Heimweh, sie fühlte sich einsam und hätte ihren Vater auch unter anderen Umständen schrecklich vermisst. Aber das Wissen, dass er von Tag zu Tag dahinschwand und sie so weit von ihm entfernt war, bohrte sich wie ein Messer in ihr Herz.

Bald würde er nicht mehr da sein. Dann hätte sie die letzten kostbaren Augenblicke mit ihm verpasst, in denen er noch klar denken konnte, in denen er noch von ihrer Existenz wusste. Wenn sich ab und zu der Nebel hob – ob er sich dann wohl fragte, wo sie war? Machte er sich Gedanken darüber, warum sie ihn verlassen hatte, als er sie am meisten brauchte? Oder erinnerte er sich daran, dass er es gewesen war, der ihr zugeredet, sie fortgeschickt hatte? »Oh Dad«, flüsterte Clara in der Leere ihrer Wohnung.

Sie erhob sich von dem Stuhl in ihrer winzigen Küche und griff nach ihrer Handtasche. Sie brauchte frische Luft. Sie musste diesen vier Wänden entkommen, die sie einschlossen. Tanzen half ihr normalerweise, weil es sie daran erinnerte, warum sie hier war, half ihr, sich der gern gebrachten Opfer ihres Vaters zu erinnern. Doch heute war Claras freier Tag, außerdem brauchte ihr Körper eine Pause von dem anstrengenden Training. Sie wünschte nur, sie hätte …

Der Gedanke endete abrupt, als sie in den schwülen Tag hinaustrat, das Wort Wunsch jedoch ging ihr nicht aus dem Kopf. Clara holte ihr Handy aus der Tasche und suchte die Adresse von Windisle Manor. Sie fand sie problemlos. Wenige Minuten später hielt ein Uber am Bordstein, und sie befand sich auf dem Weg zu der weinenden Mauer.

Als Clara zwanzig Minuten später aus dem Taxi stieg, war eine leichte Brise aufgekommen, die ein wenig Kühlung mit sich brachte. Sie seufzte vor Behagen, atmete die süßen, reifen Sommerdüfte ein und genoss die Erfrischung nach der Gluthitze der vergangenen Wochen.

Der Himmel war in unterschiedliche Grautöne getaucht, die Wolken hatten einen silbrigen Kranz. Es sah aus, als würde es ein Gewitter geben. Ein Vogelschwarm schoss durch den funkelnden Dunst. Einer der Vögel fiel zurück und flatterte einen kurzen Moment allein, doch dann kehrten die anderen zurück, nahmen den Verlorenen wieder bei sich auf, stellten ihre Formation wieder her.

Eine ganze Minute stand Clara am Straßenrand, sie sah keinen einzigen Wagen. Zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, dass sie hier draußen ganz allein war. Sie hatte damit gerechnet, dass sie wenigstens auf ein paar Menschen treffen würde, die mit ihren Wünschen zu der Mauer gekommen waren. Clara schritt auf die steinerne Einfriedung zu, froh darüber, einen Tag erwischt zu haben, an dem sie diesen Ort ganz für sich allein hatte.

Mit verschränkten Armen näherte sich Clara langsam der Mauer. Sie war fast zweieinhalb Meter hoch und erstreckte sich auf der einen Seite bis zum Mississippi hinunter, wo sie in dichtem Buschwerk und hohem Unkraut endete, und auf der anderen bis in die ehemaligen Zuckerrohrfelder hinein, die inzwischen völlig überwuchert waren.

In der Mitte der Mauer erhob sich ein steinerner Bogen, der durch ein Eisentor versperrt war. Wilde Rosen wuchsen durch das Gitter und bildeten ein Gewirr von grünen Blättern, dornigen Ranken und leuchtenden purpurnen Blüten. Sie wuchsen üppig und wild, und Clara spürte, wie ihr eine Gänsehaut den Rücken hinunterlief, die teils auf Furcht, teils auf Erwartung beruhte.

Einen Moment lang starrte sie einfach nur auf die Mauer, staunte über ihre Ausmaße wie auch darüber, dass sie nun endlich vor dem Objekt stand, das ihr schon seit Wochen Stoff zum Grübeln gab. Falls es stimmte, dass die Mauer weinte, so war es jedenfalls heute nicht der Fall. Die Steine waren staubtrocken und erinnerten in ihrer Farbe an den Himmel mit seinen Tönen von Zinn und Silber. Feine Lichtstrahlen drangen durch Risse, dort, wo der Mörtel herausgebrochen war; dies waren die Stellen, wo man einen Wunschzettel hineinstecken konnte.

Ich wünschemir …

Ich wünschemir …

Es war, als schwebten das Geflüster und die Hoffnungen – die inständigen Bitten – im Wind, als wären auch sie gespenstische Geister, für immer und ewig gefangen in der Atmosphäre dieses verwunschenen Ortes.

»Jetzt reiß dich mal zusammen«, ermahnte sie sich. Schon als kleines Mädchen war Clara von Geschichten fasziniert gewesen. Es war ihr wichtig, den Stoff zu begreifen, der die Vorlage für eine Ballettaufführung bildete. Romantik und Herzeleid regten ihre Kreativität an und halfen Clara, mit ihrer Rolle zu verschmelzen. Ein weiterer Grund, so vermutete sie, warum sie derart fasziniert war von der Legende von Windisle, von Angelina Loreaux und ihrer tragischen Geschichte.

Aber Geister? Flüche? Daran glaubte Clara nicht unbedingt, auch wenn sie sie nicht vollständig als Hirngespinste abtat. Auf jeden Fall jedoch faszinierte sie die Geschichte, die allem zugrunde lag. Und hier hatte sie ihren Anfang genommen.

Zaghaft trat sie näher. Staunen mischte sich mit atemloser Traurigkeit. Clara legte ihre bebenden Hände auf die Mauer und schmiegte ihre Wange an den warmen Stein, während ihre Gedanken sich mit den vagen Vorstellungen dessen beschäftigten, was dahinter geschehen war.

Die Mauer schützte Haus und Grund vor möglichen Gefahren von außen, aber wer hatte jene geschützt, die sich innen befanden? Mit einem Mal spürte Clara deutlich die entsetzliche Qual – nicht nur Angelinas, sondern jedes Sklaven, der in diesem Hause gelebt hatte –, die so nahe der Stelle, wo sie jetzt stand, durchlitten worden war.

Sie fragte sich, ob Blut und Schweiß der Sklaven immer noch mit der Erde der Zuckerrohrfelder vermischt waren, und ihr Kummer war mit einem Mal so groß, dass sie glaubte, in Tränen ausbrechen zu müssen. Als kleines Mädchen hatte sie einmal über etwas Trauriges in den Nachrichten geweint. Dad hatte ihre Tränen getrocknet und ihr liebevoll erklärt, sie könne nicht ständig über die Ungerechtigkeiten der Welt weinen, oder sie werde gar nicht mehr damit aufhören.

»Aber Daddy«, hatte Clara gestammelt, »wenn ich die Tränen nicht herauslasse, werde ich dann nicht in mir selbst ertrinken?«

Und genauso fühlte sie sich jetzt, hier vor der Mauer … als würde ihr Herz langsam ertrinken.

Clara zog den Wunsch aus der Tasche, den sie während der Fahrt aufgeschrieben hatte – und hielt inne, weil sie auf der anderen Seite ein leises Geräusch hörte, vielleicht ein kleines Tier, vielleicht auch nur Pflanzen, die im Wind raschelten. Oder vielleicht war es Angelina, deren Geist hoffnungsvoll auf der anderen Seite auf den wartete, der sie befreite.

Durch einen Tropfen ihres Blutes, der ans Tageslicht gebracht wird.

Während Clara ihren Wunsch noch einmal durchlas, kam sie sich plötzlich töricht vor, nicht, weil sie sich etwas wünschte, sondern weil ihr die eigene Trauer … so nichtig vorkam. Nicht unwichtig – Clara war der Überzeugung, dass jeder Schmerz zählte –, aber ihr Kummer gehörte schließlich zur naturgegebenen Ordnung der Dinge, nicht wahr?

Laut und vernehmlich stieß sie ihren Atem aus. »Für wie dumm und selbstsüchtig musst du uns halten«, sagte sie halblaut, zerknüllte den Zettel in ihrer Hand und schloss die Augen. »Dass wir herkommen und uns etwas wünschen, während du seit mehr als hundert Jahren auf die Erfüllung deines Wunsches wartest. Und es in deinem Leben mehr Kummer gab, als wir jemals erfahren werden.«

Clara hielt kurz inne und dachte nach, dann entfaltete sie den Zettel wieder, strich ihn glatt und zog einen Kugelschreiber aus ihrer Schultertasche. Sie riss den Wunsch ab, den sie aufgeschrieben hatte, und notierte einen anderen. Nachdem sie das Papierchen wieder zusammengefaltet hatte, schob sie es durch den Spalt.

Sie wollte sich bereits zum Gehen wenden, drehte sich aber ohne bestimmten Grund noch einmal um und versuchte, durch den schmalen Schlitz zu spähen. Da schien sich etwas zu bewegen … Clara blinzelte verblüfft. Erschrocken fuhr sie zurück.

Doch schnell fasste sie wieder Mut, beugte sich zaghaft vor und spähte durch den Riss. Der war so schmal, dass sie dahinter nicht einmal ein Haus erkennen konnte, nur eine Andeutung von Grün. Natürlich – die mächtigen Eichen hinter der Mauer mussten das Haus ja vor neugierigen Blicken verbergen.

Was habe ich denn gesehen? Clara wartete … Worauf, hätte sie nicht sagen können. Dann jedoch klang es so, als werde Papier entfaltet. Wieder trat sie näher heran und legte die Fingerspitzen an die Mauer. »Hallo?« Sie wusste nicht genau, warum, hatte aber den undeutlichen Eindruck, dass das, was sich hinter der Mauer verbarg, ebenfalls den Atem anhielt.

Als sie keine Antwort erhielt, drehte Clara sich um und rutschte an der Wand entlang nach unten, den Kopf zurückgelehnt, lauschend. Sie spürte, dass jemand auf der anderen Seite war, der ebenfalls lauschte.

Clara schloss die Augen. Einige Minuten später vernahm sie ein leises Rascheln. Wäre sie nicht flach an die Mauer gepresst gewesen, hätte sie das Geräusch vielleicht für einen Vogel gehalten, der irgendwo in einem Baum mit den Flügeln schlug, um im nächsten Moment fortzufliegen. Sie drückte ihre Wange fest an die Steine, das rechte Ohr genau an dem alten porösen Mörtel, und hörte … Atemzüge. Clara riss die Augen auf, ihr Herz schlug schneller. Da war kein Geist auf der anderen Seite, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut.

»Ich höre Sie atmen.«

Unvermittelt wurden die Atemzüge eingestellt. Clara wartete eine Sekunde, dann noch eine. »Damit meinte ich aber nicht, dass Sie ganz zu atmen aufhören sollen.«

Kurz danach wurde die Luft zischend ausgestoßen. Clara blinzelte verwirrt.

»Wer sind Sie?«, fragte sie, ohne zu wissen, ob sie eine Antwort erwartete oder nicht.

Einen langen Moment rührte sich nichts, und Clara wollte eben wieder den Mund auftun, als eine Männerstimme das Schweigen brach. »Ich heiße Jonah. Und Sie?«

Überraschung bemächtigte sich Claras. Da saß ein Mann auf der anderen Seite der Mauer, sein Rücken drückte sich womöglich ebenfalls gegen die Mauer, die sie voneinander trennte. Einen Augenblick lang wollte ihr ihr eigener Name nicht einfallen. »Äh, Clara.«

»Clara«, wiederholte er. Es klang wie eine geflüsterte Liebkosung. Sie hatte keine Ahnung, wer dieser Mann war, aber die Art und Weise, wie er ihren Namen aussprach, gefiel ihr, besonders, wie er das r rollte.

»Wer sind Sie?«

Er seufzte. Es klang müde. Wieder entstand eine lange Pause. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das weiß.«

Clara runzelte die Stirn. Was sollte das denn heißen? »Ähm … wohnen Sie hier?«

»Ja.« Das klang undeutlicher, als hätte er den Kopf weggedreht. Clara presste ihr Ohr fester an die Mauer und stellte sich einen gesichtslosen Mann vor, der in die Ferne schaute. Als er wieder sprach, klang seine Stimme deutlicher, als hätte er sein Gesicht abermals ihr zugewandt.

»Ich … Man hat mir erzählt, dass niemand hier wohnt.«

»Erzählt?«

Clara wurde rot und schüttelte dann über sich selbst den Kopf. Der Mann konnte sie doch nicht sehen. »Die Leute hier reden gern über Windisle. Ich … hatte mich erkundigt.«

»Und sind dann hergekommen, um sich etwas zu wünschen.«

»Ja. Ich … Moment mal, haben Sie meinen Wunsch etwa gelesen?« War das das Rascheln, das sie gehört hatte?

Der Mann namens Jonah lachte leise. Sein Lachen klang eingerostet, als sei er aus der Übung. »Sie haben ihn immerhin auf mein Grundstück geworfen.«

»Da haben Sie wohl recht.« Sie stutzte. »Also sind Sie es … Sie lesen alle diese Wünsche.«

»Ich lese sie nicht. Ich sammle sie bloß.«

»Sie sammeln sie«, wiederholte Clara langsam. »Dann sind Sie also der Wünschesammler?«

Er zögerte. »Der Wünschesammler. Ja, der bin ich wohl.«

»Und was tun Sie mit all den Wünschen?«

»Ich glaube nicht, dass Sie das wissen wollen.«

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Sie erfüllen die Wünsche natürlich?«

»Ich werfe sie weg.«

Clara war entrüstet. »Das ist ja furchtbar.«

»Was soll ich denn sonst mit ihnen machen? Sie im Gras liegen lassen, damit sie im Regen aufweichen? Damit sie über das ganze Grundstück geweht werden?«

»Ich weiß es ja auch nicht. Aber sie einfach wegzuwerfen, kommt mir … kommt mir … wie ein Frevel vor. Eine Sünde.«

»Frevel. Das ist aber ein starkes Wort. Das Problem ist, Clara, dass ich nicht weiß, ob diese Sünde schlimmer ist als all die anderen, die ich bereits begangen habe.«

Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, also hielt sie den Mund.

»Was meinen Sie, sollte ich mit ihnen tun? Jeden Zettel einzeln einrahmen und an die Wand hängen? ›Die Galerie der falschen Hoffnungen‹ würde ich es dann nennen.«

»Seien Sie nicht so sarkastisch«, sagte Clara und hörte die Empörung in ihrer Stimme, »wenn es um die persönlichen Wünsche von Menschen geht, um ihre Hoffnungen und Träume. Um ihren Kummer.«

»Und doch haben Sie sich nichts für sich selbst gewünscht.« Clara hörte das Rascheln von Papier, als entfalte er ihren Zettel ein weiteres Mal. Und läse ihn.

»Mein Wunsch war vertraulich.«

»Sie haben ihn mir zugeworfen. Er ist genau vor meinen Füßen gelandet.« Er klang leicht belustigt. Clara schnaubte ärgerlich.

Wieder lachte er leise, und wider besseres Wissen gefiel Clara sein Lachen. Es hörte sich zwar wirklich eingerostet an, war dabei jedoch tief und voll.

»Tja«, meinte sie im Aufstehen und wischte sich die Hände ab. »Ich muss jetzt gehen. Ich habe verstanden, dass es keinen Sinn hat, sich an dieser Mauer etwas zu wünschen.«

Auch er erhob sich, wie Clara aus den Geräuschen hinter der Mauer schloss. Außerdem erklang seine Stimme nun von einem höheren Punkt aus. Der Mann war größer als sie. »Warten Sie. Es tut mir leid. Ich wollte Sie bloß foppen. Bitte …«

Er verstummte. Clara beugte sich wieder zur Mauer vor. Die Art, wie er sprach … die ungeheure Einsamkeit, die sie in seiner Stimme hörte, machte ihr die Brust eng. Einen Moment lang hatte er ihr einen kleinen Einblick in seine Verlassenheit gewährt.

»Was denn?«, fragte Clara leise mit dem Mund an einer der schmalen Mauerritzen.

»Nichts.«

Clara legte ihre Hände auf die Mauer. »Ich nehme an … da Sie hier leben, wissen Sie sicher viel über die Plantage. Über ihre Geschichte.«

»Ja.«

»Möchten Sie mir vielleicht etwas darüber erzählen? Wenn ich wiederkomme?«

»Sie kommen wieder?«

»Sonntags habe ich frei …«

»Ich, ähm, sonntags bin ich eigentlich immer mit Wunschplünderung beschäftigt. Aus irgendeinem Grund tauchen dann nicht so viele Leute auf. Vielleicht ist das der Tag, an dem sie ihre Wünsche in die Kirche tragen.«

»Wunschplünderung.« Clara lachte leise und hätte schwören können, dass sie hörte, wie er lächelte, aber natürlich konnte sie dessen nicht sicher sein. »Wenn ich also vielleicht einen anderen Vorschlag hätte, als die Wünsche einfach fortzuwerfen, wären Sie dafür offen? Und könnten Sie mir im Gegenzug dann mehr über Windisle erzählen?«

»Vielleicht.«

»Dann komme ich nächsten Sonntag wieder.«

Als er sich wieder hören ließ, bestand für sie kein Zweifel mehr daran, dass er lächelte. »Um die gleiche Zeit?«

Clara holte ihr Handy aus der Tasche und warf einen Blick darauf. »Um sechs?«

»Ja.« In seiner Stimme lag etwas, das sie nicht so recht einordnen konnte … Hoffnung? Erregung? Nervosität? Vielleicht sogar Bestürzung. Aber weswegen? Claras Herz klopfte heftig, und in ihrer Brust breitete sich ein warmes Gefühl aus. Sie war hocherfreut, nun eine persönliche Verbindung zu Windisle hergestellt zu haben, in Gestalt des mysteriösen Mannes auf der anderen Seite der Mauer.

»Also bis nächste Woche.«

»Bis dann.«

Clara rief Uber an. Mit einem Lächeln auf den Lippen entfernte sie sich, schlenderte die leere, baumgesäumte Straße entlang. Sie fragte sich, ob Jonah wohl durch die Ritzen spähte.

3. KAPITEL

Juni 1860

Die Party zum achtzehnten Geburtstag ihrer Schwester Astrid war in vollem Gang. Gelächter und Geplauder der Gäste mischten sich mit der Musik, die aus den Fenstern und von den Balkonen des Herrenhauses strömte.

»Autsch«, entfuhr es Angelina, als sich ein Dorn schmerzhaft in ihren zarten Handballen bohrte. Einen Moment lang saugte sie an der kleinen Wunde, dann kletterte sie weiter an dem Rosenspalier hoch, das vor duftenden rosa und weißen Blüten überquoll. Und Dornen, ermahnte sie sich. Pass bloß auf die Dornen auf!

Sie spähte über die Balkonbrüstung hinunter und machte große Augen beim Anblick der Gäste, die sich im Tanz drehten oder sich in den aufwendig hergerichteten Räumen ergingen. Gerade waren die Süßspeisen hereingebracht worden, die einen ganzen Tisch in Anspruch nahmen. Angelina wusste sehr wohl, welche Näschereien hier angeboten wurden, denn sie hatte den ganzen Morgen und Nachmittag beim Backen geholfen. Gegenüber war eine hohe Pyramide aus Sektflöten aufgebaut worden, und der perlende goldene Champagner glitzerte im Kerzenschein.

Sie selbst würde niemals zu einem solchen Fest geladen werden, aber sie wollte es unbedingt sehen!

Ihr Blick wurde von einem hochgewachsenen Mann in Uniform angezogen, der eben eine Sektflöte von der Pyramide nahm und sie an seine Lippen setzte.

Dann sah sie die Hausherrin, Delphia Chamberlain, die den Arm ihrer Tochter – und Angelinas Halbschwester – Astrid genommen hatte und mit dem Mädchen auf die Sektpyramide oder vielleicht auch auf den Soldaten zusteuerte. Als Angelina ihn wieder ansah, wurde ihr klar, dass auch er das Manöver bemerkt hatte. Plötzlich drehte er sich um, und es sah ganz so aus, als habe er Angelina beim Spähen ertappt. Ihr verschlug es vor Schreck den Atem, und sie zog schnell den Kopf ein.

Einen Moment verharrte sie reglos und atmete in hastigen Zügen den schwülen Rosenduft ein, dann ließ sie ihren Atem langsam ausströmen. Sicherlich hatte sie sich lediglich eingebildet, dass der Mann sie gesehen hatte. Das Haus war hell erleuchtet, der Garten aber lag im Dunkeln.

Allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag und sie wagte es, erneut über die Brüstung zu spähen, geradewegs auf die Sektflötenpyramide. Der Mann war fort. Und als Angelina wieder zu Mrs Chamberlain und Astrid schaute, sah sie, dass die beiden von einem Gast aufgehalten worden waren. Der Mann lachte und begleitete seine Rede mit vielen Gesten. Mrs Chamberlain schaute ärgerlich drein, während Astrid höflich lächelte.

Einige Minuten schwelgte Angelina noch in der Pracht der Festdekoration: Überall gab es üppige Blumenarrangements, auf Tischen türmten sich bunt verpackte Geschenke. Musik erklang. Ihr Vater hatte für seine Erstgeborene keine Kosten gescheut. Sie betrachtete die schwingenden weiten Röcke der farbenfrohen Kleider der Damen, und die Männer …

»Das scheint mir kein sehr sicherer Platz zu sein.«

Angelina hätte vor lauter Schreck fast den Halt verloren. Instinktiv griff sie nach den Latten des Spaliers, wobei sich ein weiterer Dorn in ihre Hand bohrte.

Der Mann beeilte sich, unter das Spalier zu treten. Erschrocken starrte sie ihn an. Sie schluckte, dann kletterte sie langsam hinunter, während der Mann einen Schritt zurücktrat, um ihr Platz zu machen. Er hatte die Arme leicht erhoben, als wollte er sie auffangen, wenn sie abrutschte.

Angelina strich ihr Kleid glatt. Sie spürte die Hitze, die ihr ins Gesicht gestiegen war, ihr Herz schlug wie verrückt. »Ich wollte eben nur … äh, nach ein –«

»Einem Stern greifen?«

Nach einer Rose für meine Mutter, hatte sie sagen wollen, doch seine Worte überraschten sie. Sie blinzelte verwirrt, während es um seine Mundwinkel zuckte. »Einem Stern, ja«, sagte sie zögernd und richtete den Blick zum Himmel. Wie Diamanten auf schwarzem Samt standen die Sterne am Nachthimmel. »Da sind ja so viele. Ich glaube nicht, dass man ein paar davon vermissen würde.«

»Aha. Und machen Sie das oft? Sterne vom Himmel pflücken?«