The Magic Flute - Das Buch zum Film - Hendrik Lambertus - E-Book

The Magic Flute - Das Buch zum Film E-Book

Hendrik Lambertus

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Beschreibung

Die Romanadaption der spektakulären Verfilmung von Mozarts »Die Zauberflöte«. Produziert von Roland Emmerich!  Für den 17-jährigen Tim geht ein Traum in Erfüllung: Er darf am berühmten Mozart-Internat Gesang studieren! Doch dort angekommen, muss er sich nicht nur dem herausfordernden neuen Schulalltag stellen - geführt von mysteriösen Lichtergeistern findet er auch ein geheimes Portal in die sagenhafte Welt von Mozarts Zauberflöte. Hier soll er in der Rolle des Prinzen Tamino gemeinsam mit Papageno Prinzessin Pamina retten, um ihre Welt vor der ewigen Dunkelheit der Königin der Nacht zu bewahren. Mit vielen Filmfotos und QR-Code zur Filmmusik!

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Seitenzahl: 285

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Über das Buch

Für den 17-jährigen Tim geht ein Traum in Erfüllung: Er darf am berühmten Mozart-Internat Gesang studieren! Doch dort angekommen, muss er sich nicht nur dem herausfordernden neuen Schulalltag stellen - geführt von mysteriösen Lichtergeistern findet er auch ein geheimes Portal in die sagenhafte Welt von Mozarts Zauberflöte! Hier soll er in der Rolle des Prinzen Tamino gemeinsam mit Papageno Prinzessin Pamina retten, um ihre Welt vor der ewigen Dunkelheit der Königin der Nacht zu bewahren!

Die Romanadaption der spektakulären Verfilmung von Mozarts »Die Zauberflöte«!

Dieser QR-Code führt zu dem Soundtrack des Films »The Magic Flute – Das Vermächtnis der Zauberflöte«

https://soundtrack.themagicflute.de/

Überall, wo dieses Zeichen zu sehen ist, kann man sich passend zur Stelle im Buch die Musik dazu anhören. Einfach den angegebenen Track auswählen und Musik und Geschichte gemeinsam genießen!

Trackliste »The Magic Flute – Das Vermächtnis der Zauberflöte«

6Zu Hilfe!

7Ein holder Jüngling

8Der Vogelfänger bin ich ja

10Dies Bildnis ist bezaubernd schön

12Du, Du, Du

13Hm! hm! hm!

17Du feines Täubchen nur herein … Wo bin ich wohl?

19 Ha! Hab’ ich euch noch erwischt!

20Wer viel wagt

21Es lebe Sarastro! Sarastro lebe!

25I’ll be there – Unplugged

28Alles fühlt der Liebe Freuden

30Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen

31In diesen heil’gen Hallen

32Ach, ich fühl’s, es ist verschwunden

37Es lebe Sarastro! Sarastro lebe! (Instrumental)

38Pa-Pa-Pa-Pa-Pa-Pa-Papagena!

Inhalt

1 Ouvertüre

2 In diesen heiligen Hallen

3 Eine Frage der Haltung

4 Auf nächtlichen Pfaden

5 Drei Damen und ein bunter Vogel

6 Die Sternflammende Königin

7 Das fehlende Etwas

8 Pamina

9 Die Reise des Prinzen Tamino

10 Sarastro

11 Benjamin

12 Eine besondere Nacht

13 Prüfungen

14 Drei Uhr

15 Feuer und Wasser

16 Die Entscheidung

17 Mozarts Meisterwerk

1

Ouvertüre

Tim –

mögen diese Seiten dich auf deiner wagemutigen Reise geleiten. Und denke immer daran: Nicht die Landkarte ist das Land, und die Noten sind nicht das Lied.

In Liebe und mit Stolz

Dad

Langsam fuhr Tim mit den Fingerspitzen über die Buchstaben. Sie waren in dunkelblauer Tinte mit der Hand geschrieben, auf der ersten Seite des Buches, das er auf dem Schoß balancierte. Das Papier war bräunlich und fühlte sich rau an. Vermutlich war das Buch schon sehr alt.

Die Widmung hingegen war es nicht. Das war Dads leicht krakelige Schrift, die er unter Tausenden erkennen würde. Dad musste die Zeilen für ihn in das Buch geschrieben haben … als er noch am Leben gewesen war. Tim bemühte sich, die Tränen herunterzuschlucken. In Liebe und mit Stolz … Oh ja, er würde Dad stolz machen!

Er erinnerte sich noch gut an jenen Tag, als er das Buch bekommen hatte. An das endlose Warten in einem kalten Krankenhaus-Flur, zusammengekauert auf einem Stuhl aus Hartplastik. Schließlich hatte ihn eine Krankenschwester ins Zimmer geholt, und er hatte Dad sehen können – oder vielmehr das, was von seinem Dad noch übrig gewesen war: ein graues Gesicht, das fast in einem Kissen verschwand, mit einem Beatmungsschlauch in der Nase und einer piependen Maschine am Bett.

»Hey, Paps«, hatte Tim gesagt und sich dabei bemüht, so zu klingen, als sei alles völlig normal und in Ordnung.

»Hey. Wie schön, dich zu sehen, Tim«, hatte Dad gemurmelt und gelächelt. Anstrengend sah das aus, als wäre schon das Heben der Mundwinkel zu viel für ihn.

Tim räusperte sich. »Du, Dad …«, begann er unsicher. »Wegen dieser Sache mit dem Internat … Ich weiß, du hast extra dem Schulleiter geschrieben. Und dafür bin ich dir auch sehr dankbar. Aber …« Er guckte auf seine Hände. »Ich kann Mum jetzt nicht allein lassen! Nicht mit allem, was gerade los ist …«

»Tim.« Dads Stimme klang plötzlich beinahe so fest wie früher, als er noch gesund gewesen war. »Bitte schau mich an.«

Tim hob den Kopf und blickte Dad ins Gesicht. Er bemühte sich, nur seinen Vater zu sehen und nicht die Schläuche, die ihn am Leben erhielten.

»Du hast schon immer davon geträumt, diese Schule zu besuchen«, sagte Dad. »Also gehst du hin, sobald ich nicht mehr da bin. Versprich es mir.«

Tim musste schlucken. Nicht mehr da bin … Wie konnte Dad so etwas nur sagen! Und zugleich war es erschreckend real. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Das Schweigen lag schwer im Raum. Nur die Krankenhaus-Maschine piepste.

»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, sagte Dad schließlich.

»Ein Gefallen?«

»Ja. Dahinten steht eine Tasche auf dem Boden. Bring sie bitte mal her …« Dad zeigte in die Richtung, und sein Arm zitterte bei der kleinen Geste.

Tim beeilte sich, die Tasche ans Bett zu holen. Es war ein abgegriffener Rucksack, den Dad schon in seiner Jugend besessen hatte.

»Im Vorderfach … hol es heraus.«

Tim öffnete die Schnallen und zog ein in Leder gebundenes Buch hervor.

»Es ist wunderschön«, flüsterte er. »Woher hast du es?«

Dad lächelte. »Es ist ein kleines Andenken an meine Zeit am Mozart-Internat.«

»Wirklich? Du durftest es behalten?«

Dads Lächeln wurde verschmitzter.

»Du hast es gestohlen?«, fragte Tim ungläubig.

»Sagen wir besser: längerfristig ausgeliehen. Vielleicht könntest du es wieder zurückschmuggeln. Ich habe eine kleine Skizze ins Buch gemacht, wohin es gehört.«

Fasziniert starrte Tim das Buch an – und hätte fast nicht bemerkt, dass die Schwester wieder hereingekommen war.

»Dein Vater braucht nun seine Ruhe«, mahnte sie mit sanfter Strenge.

»Versprich mir, dass du dorthin gehst«, hatte Dad noch gedrängt. »Es wird dein Leben verändern …«

Tim hatte ihn hilflos angelächelt, während er zugleich mit den Tränen gekämpft hatte. Es war sein letzter Besuch gewesen.

Nun saß er also hier, im Zug, und hielt Dads Buch fest in den Händen, als wäre es ein Teil von Dad selbst, den er keinesfalls verlieren durfte.

Tim schaute aus dem Fenster, nahm aber die Landschaft draußen kaum wahr. Stattdessen sah er Mum vor sich, wie sie allein zurückgeblieben war, zwischen hektischen Reisenden, sperrigen Koffern und herumwuselnden Kindern am Bahnhof St Pancras. Ein Teil von Tim wäre gerne bei ihr geblieben. Schließlich gab es nur noch Mum und ihn … Doch er hatte eine Aufgabe vor sich!

Also war er in den Zug gestiegen, der ihn fortbringen sollte – fort aus der City of London, fort von der Kuppel der St. Paulskirche, die stolz und unnahbar über den Dächern thronte. Schließlich waren auch die grauen Reihenhäuser und Plattenbauten der Vorstädte hinter ihm zurückgeblieben, und der Zug war über das weite, offene Land gefahren.

Tim war im Eurotunnel unter dem Ärmelkanal hindurchgebraust und zum ersten Mal durch Frankreich gereist. Von Paris hatte er nur den Bahnhof Gare du Nord beim Umsteigen gesehen. Der Zug, in dem er jetzt saß, war der letzte. Er würde ihn ans Ziel seiner Reise in Österreich bringen, während draußen bereits die Nacht aufgezogen war und die Landschaft in verwaschene Schatten hüllte. Und in den Händen hielt er eine kostbare Erinnerung an Dad.

Tim schloss das Buch, um noch einmal den Einband näher zu betrachten.

»DIE ZAUBERFLÖTE« stand in goldenen Lettern auf dem Deckel. Sonst nichts weiter. Aber damit war auch alles gesagt. Es war der Titel des großen Meisterwerkes, das Wolfgang Amadeus Mozart im Jahre 1791 komponiert hatte. Seine letzte Oper.

Vorsichtig drehte Tim das Buch in den Händen. Der Band war ziemlich schwer und kompakt – eine Prachtausgabe, eingebunden in echtes Leder. Der Buchrücken war mit Verzierungen aus glänzendem Zinn beschlagen, als käme das Buch direkt aus irgendeiner märchenhaften Schatzkammer.

Tim blätterte vorsichtig durch das Buch. Lange Reihen von Noten erstreckten sich über die Seiten. Es waren einfache schwarze Punkte mit Strichen und Fähnchen, wie geheimnisvolle Hieroglyphen über die Linien verteilt. Und doch enthielten sie eine ganze Welt aus Musik. Man musste sie nur lesen können. Das konnte Tim glücklicherweise gut.

Unter den Noten stand der Text der Oper, den einst der Theaterdirektor Emanuel Schikaneder für die Zauberflöte geschrieben hatte. Er war ein guter Freund von Mozart gewesen, und gemeinsam hatten sie ein Werk geschaffen, das einen ganz besonderen Platz in Tims Herzen hatte. Immerhin war es Dads Lieblingsoper gewesen …

Neben dem Text und den Noten enthielt das Buch auch Abbildungen von Personen und Orten der Zauberflöte. Tim sah den Vogelfänger Papageno mit seinem bunten Federgewand und die öde Felsenlandschaft, in der Prinz Tamino sich im ersten Akt der Oper auf der Jagd verirrte. Im Hintergrund wälzte sich drohend eine riesige Schlange heran …

Doch noch wertvoller als die herrlichen Bilder waren für Tim die Anmerkungen, die Dad immer wieder mit Bleistift an den Rand geschrieben hatte. Es waren Kommentare zu den einzelnen Arien der Oper.

Hier wächst die Liebe, hieß es zu der Szene, in der Prinz Tamino das Bildnis der Prinzessin Pamina erblickte.

Atemlos, aus dem Gefühl der tiefsten Angst heraus gesungen, stand neben den allerersten Worten der Oper, wenn der Prinz von einer monströsen Schlange verfolgt wurde. Tim musste lächeln. Die Kommentare waren so typisch Dad! Nicht gerade musikalisch exakte Anmerkungen – aber dafür jede Menge Gefühl. Tim hingegen konnte eher etwas mit konkreten, technischen Angaben anfangen. Schließlich wollte er sich nicht in einen Prinzen verwandeln, sondern auf der Bühne wie einer klingen. Es kam auf die richtige Gesangstechnik an, um das Publikum zu verzaubern. Und das war genau Tims Ding! Am liebsten hätte er seine eigenen Notizen hinzugefügt, wie er die Arien jeweils gestalten würde … Doch das ging natürlich nicht, schließlich sollte er das Buch ja für Dad zurückbringen. Vermutlich wäre es anständig gewesen, vorher auch die Bleistift-Anmerkungen auszuradieren. Aber das brachte Tim nicht übers Herz, immerhin stammten sie von Dad.

Ein weiteres Mal blätterte er um. Und stutzte. Dad hatte nicht nur Notizen in das Buch geschrieben, sondern auch kleine Skizzen mit dem Bleistift hineingezeichnet. Tim war auf das Bild einer Standuhr gestoßen. Sie war überaus detailliert dargestellt, mit aufwendigen Mustern auf dem Uhrenkasten. Was hatte das zu bedeuten? In der Zauberflöte kam doch gar keine Uhr vor …

Tim schüttelte ratlos den Kopf und blätterte weiter, zur berühmten Bildnis-Arie des Prinzen Tamino. Er zog seine Kopfhörer aus der Tasche und pfriemelte sie sich ins Ohr. Dann durchforstete er seine persönliche Musikliste, die natürlich auch die Zauberflöte als Album enthielt, und wählte die passende Nummer aus. Während die volle, warme Stimme des Tenors ertönte, las Tim die Noten mit. Es war eine hervorragende Aufnahme von Enrico Milanesi, dem König der Oper. Technisch brillant.

Im Geiste stimmte Tim in den Gesang ein, tonlos formten seine Lippen die Worte. Wenn er doch auch die Herzen des Publikums so berühren könnte wie Milanesi! Aber vielleicht würde er das eines Tages können … Diese Reise war der erste Schritt dorthin. Er stellte sich vor, wie er auf der Opernbühne von Covent Garden stand, vor einem ausverkauften Saal. Warmes Scheinwerferlicht umhüllte ihn, die Leute lauschten atemlos auf jede silberhelle Note, die Tim Walker, der berühmte Tenor, ihnen an diesem denkwürdigen Abend schenkte. Auch Dad saß im Publikum, und Tim würde alles für ihn geben! Er nahm jene Pose ein, für die Enrico Milanesi berühmt war: beide Arme ausgestreckt und die Handflächen nach oben gekehrt – und dann die Finger schließen und die Hände an den Körper ziehen, als wollte man die ganze Welt ergreifen und an sein Herz drücken.

Eine plötzliche Bewegung riss Tim aus seinen Träumereien: Kinder tobten den Mittelgang des Zuges entlang. Es waren drei kleine Jungen mit hellblondem Haar, das fast schon silbrig glänzte. Sobald sie auf Tims Höhe waren, schauten sie in seine Richtung und brachen in glucksendes Gekicher aus, als hätten sie ihm einen heimlichen Streich gespielt. Ihre Stimmen klangen seltsam hoch und glockenhell. Und sie sahen alle drei völlig gleich aus. Waren das Drillinge?

Verwirrt beugte sich Tim aus seinem Sitz vor, um den merkwürdigen Knaben hinterherzuschauen. Sie liefen unbeirrt weiter durch das Großraumabteil. Die anderen Reisenden beachteten sie gar nicht. Dann öffnete sich auch schon die Automatik-Tür am Ende des Wagens, und das Trio verschwand außer Sichtweite.

Tim wollte sich wieder abwenden – da blieb sein Blick an der Person hängen, die ihm jenseits des Mittelganges schräg gegenübersaß. Es war ein Mädchen etwa in seinem Alter. Sie hatte dunkle Haare, die zu Zöpfen aufgesteckt waren und ihr etwas verwuschelt ins Gesicht fielen. Auf ihrem Kopf thronte ein großer, schwarzglänzender Kopfhörer. Ein hochwertiges Modell, das erkannte Tim sofort.

Das Mädchen schaute Tim direkt an, mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen. War irgendetwas komisch an ihm? Tim spürte, dass er rot wurde. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen – aber was eigentlich? Dann schaute er hastig weg, so als hätte er sie gar nicht wahrgenommen.

Verlegen drehte Tim sich zur Seite und betrachtete sein Spiegelbild im Fenster. Ein Junge mit schmalen Schultern, einem blassen Gesicht und brünettem Haar. Er seufzte.

Dann nahm er all seinen Mut zusammen und schaute vorsichtig wieder um die Ecke. Das Mädchen blickte noch immer zu ihm rüber. Ihr Lächeln wurde breiter. Fragend hob sie den Arm und machte eine Geste, als würde sie eine Tasse an ihren Mund heben. Dann deutete sie nach hinten, in Richtung Speisewagen. Tim blinzelte überrascht, dann nickte er eine Spur zu heftig. Auch auf seinem Gesicht erschien ein vorsichtiges Lächeln.

Mit klopfendem Herzen packte er Dads Buch ein und kämpfte sich aus dem Sitz hoch.

»Meine Kehle ist schon ganz ausgetrocknet«, sagte das Mädchen in akzentfreiem Englisch. Sehr gut, dann gab es schon mal keine Sprachbarriere! Trotzdem fiel Tim nichts Besseres ein als »Allerdings, meine auch«, während er ihr den Gang hinunterfolgte und das Abteil durch die automatische Tür verließ. Der Speisewagen lag zwei Waggons weiter.

»Ich hätte gerne einen Kaffee«, bestellte das Mädchen schließlich am Tresen.

»Für mich bitte auch«, ergänzte Tim. Dabei mochte er Kaffee nicht einmal besonders. Aber er konnte ja kaum wie ein kleiner Junge einen Kakao bestellen; was wäre das für ein erster Eindruck?

Der Kaffee kam schnell. Mit warmen Pappbechern in den Händen arbeiteten die beiden sich zurück durch den rüttelnden Zug. Doch noch ehe sie wieder ihr Großraumabteil erreicht hatten, blieb das Mädchen abrupt vor einem leeren Sechser-Abteil stehen – und schlüpfte kurz entschlossen hinein. Okay, sie war wohl eher der spontane Typ. Tim folgte ihr unsicher und quetschte sich auf einen der Sitze.

Plötzlich zog das Mädchen streng die Augenbrauen zusammen.

»Die Fahrkarten, bitte!«, verlangte sie mit tiefer Stimme.

Tim riss mit gespieltem Schreck die Augen auf. »Oh-oh, die muss ich vergessen haben … in meiner Anzugjacke!«

»Das ist schon in Ordnung, Sir«, erklärte das Mädchen gönnerhaft. »Wir berechnen Ihnen einfach den Fahrpreis noch einmal.«

Tim musste grinsen. Das Mädchen imponierte ihm – sie gab sich so albern, wie sie gerade Lust hatte. Und sie schien sich nicht groß Gedanken darüber zu machen, wie etwas bei anderen Leuten ankam – ganz im Gegensatz zu Tim. Nun setzte sie sich ebenfalls hin. Ihre Knie berührten seine fast.

»Danke, Sir. Mein Name ist übrigens Sophie.«

»Schön, dich kennenzulernen. Ich bin Tim.«

Sophie musterte ihn mit schräg gelegtem Kopf. »Ich nehme an, du fährst nach Bad Auer?«

Tim starrte sie überrascht an. Woher wusste sie …?

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Einen Mozart-Schüler erkenne ich aus einer Meile Entfernung.«

Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, was das bedeutete. War Sophie etwa auch unterwegs zum Mozart-Internat? Aufgeregt beugte Tim sich zu ihr vor. »Wow, dann gehen wir also auf dieselbe Schule?«

»Die Mädchen haben ein eigenes Gebäude unten im Tal – aber ja.«

Tim nickte eifrig. »Morgen ist mein erster Tag am Mozart-Internat.«

Sophie hob die Augenbrauen. »Das Schuljahr hat schon längst angefangen. Normalerweise nehmen sie so spät niemanden mehr auf. Was war los bei dir?«

Tim öffnete den Mund – und sagte nichts. Er musste an die langen Monate voller angestrengter Hoffnung und tiefer Verzweiflung denken, an die Besuche im Krankenhaus. An Mums erstarrtes Gesicht, als schließlich jener Anruf gekommen war.

Er merkte, dass er die Zähne zusammengebissen hatte und an Sophie vorbei aus dem Fenster starrte, in die Schatten der nächtlichen Landschaft hinaus.

»Aber das kannst du ja auch ein andermal erzählen«, sagte Sophie rasch. »Welches Instrument spielst du übrigens?«

Die Frage überraschte Tim nicht. Immerhin waren sie unterwegs zum Mozart-Internat.

»Ich kann Klavier spielen«, erwiderte er dankbar für die Ablenkung. »Aber in Wirklichkeit … ist es die Stimme.«

»Oh. Ein Sänger.« Sophie lächelte in sich hinein. Ein Lächeln, das Tim nervös machte. »Ich bin Cellistin.«

Jetzt musste er irgendetwas Kluges sagen! Leider hatte er von Streichinstrumenten nur wenig Ahnung. Hektisch durchforstete er sein Gehirn nach einem neuen Thema – irgendetwas, das ihn weniger linkisch wirken ließ! Er musste an die Aufnahme denken, die er eben noch gehört hatte.

»Du kennst doch den größten Namen in der Opernwelt«, setzte er an, »Enrico Milanesi. Er hat auch an dieser Schule angefangen.«

Sophie verzog das Gesicht. »Für meinen Geschmack ist er zu aufgesetzt. Alles nur Gehabe. Keine Seele.«

Tim nickte anerkennend. Sie kannte den König der Oper nicht nur, sondern hatte sogar eine Meinung zu seinem Stil! Die Mädchen in seiner alten Klasse in London hätten Milanesi bestenfalls für einen Fußballspieler gehalten – und Tim für einen Freak, weil er sich für so etwas Altmodisches wie Oper überhaupt interessierte. Es tat so gut, mit jemandem auf Augenhöhe reden zu können! Langsam fühlte er sich sicherer.

Er zeigte auf die Kopfhörer, die Sophie um den Hals trug. »Lass mich raten … du hörst vermutlich avantgardistischen mongolischen Kehlkopfgesang?«

Sie lächelte entschuldigend. »Nicht ganz. Eher … Jackson Five?«

Tim lachte. Sophie zog die Augenbrauen hoch. Sein Lachen ging in ein verlegenes Räuspern über. »Du meinst das ernst.«

»Ich gebe ganz gerne mal an, wenn es um Musik geht«, meinte Sophie, »aber einem guten, altmodischen Liebeslied kann ich nicht widerstehen.«

Sie hielt einladend einen zweiten Hub-Anschluss für ihre Kopfhörer hoch. Tim beeilte sich, seine eigenen Kopfhörer daran anzuschließen. Dafür musste er rüber auf ihre Bank rutschen – und sich dicht neben sie setzen. Sofort flossen die ersten Töne von I’ll be there in sein Ohr. Tim ließ sich zurücksinken. Entspannt atmete er aus und spürte, wie sich all die Anstrengungen der Fahrt von ihm lösten. Die Reise in sein neues Leben hatte gut begonnen! Er kuschelte sich immer tiefer neben Sophie in den Sessel, während die Musik ihn umfing und der Zug durch die Nacht voranpreschte, seiner unbekannten Schule entgegen.

2

In diesen heiligen Hallen

»Wir bitten alle Passagiere um ihre Aufmerksamkeit.«

Tim schreckte auf. Wo war er?

»Diese Zugfahrt endet hier«, krächzte es aus dem Lautsprecher. »Wir bitten alle Reisenden auszusteigen und darauf zu achten, kein Gepäck oder persönliche Gegenstände zurückzulassen.«

Verschlafen versuchte er, sich zu orientieren. Er saß noch immer in dem Sechser-Abteil. Helles Tageslicht fiel durch das Fenster herein. Doch irgendetwas fühlte sich seltsam an – es ruckelte nicht mehr! Der Zug stand still.

Tims Blick wanderte sofort zu dem Sitzplatz neben ihm. Er war leer, so als hätte dort niemals jemand gesessen. Verwirrt blinzelte Tim. Wo war Sophie hin? Hatte er die Begegnung etwa nur geträumt? Unsinn, er sah immer noch ihr schelmisches Lächeln vor sich. Aber sie hätte sich doch wenigstens verabschieden können!

Tim stand auf und ging auf den Gang hinaus. Zischend öffnete sich die automatische Tür, und eine Reinigungsfrau zog umständlich einen Staubsauger durch den Wagen. Sie warf Tim einen genervten Seitenblick zu. Dieser murmelte eine Entschuldigung und lief los, um sein Gepäck zu holen.

Schließlich sprang er aus dem Zug und eilte über den Bahnsteig, beladen mit seinem Koffer und einer vollgestopften Umhängetasche. Bad Auer verkündete ein angerostetes Schild. Das kleine Bahnhofsgebäude war im Fachwerkstil erbaut und schien aus irgendeinem hutzeligen Märchen zu stammen. Tim durchquerte die Halle, vorbei an einem Kiosk. Als er durch den Haupteingang auf den Bahnhofsvorplatz trat, blieb er mit offenem Mund stehen.

Mächtige Berggipfel erhoben sich über ihm vor dem blauen Himmel. Ihre Felsengrate leuchteten so klar, dass er das Gefühl hatte, mit der Hand hinübergreifen und die Eiskrusten der Gipfel berühren zu können.

Langsam senkte er den Blick und ließ ihn über die Tannenwälder an den Berghängen bis hinunter auf das Dorf schweifen, dessen Gassen sich vor ihm erstreckten. Die flachen Giebel der Häuser waren mit Holz verkleidet, und bunte Geranien leuchteten in den Blumenkästen an den Balkonen. Irgendwo ragte ein Kirchturm aus den Dächern hervor. Seine Spitze war wie eine Zwiebel geschwungen, und gerade läuteten seine Glocken. Ihr Klang tänzelte über das Tal, bis hinauf zu dem Schloss mit stolzen Zinnen, das sich im Hintergrund an einen Berghang klammerte.

Tim war mitten in den Alpen! Die ganze Umgebung hier hatte so wenig mit der Großstadt zu tun, wo er gestern in den Zug gestiegen war, dass es auch eine völlig andere Welt sein könnte.

Er setzte sich in Bewegung, in Richtung Ortsmitte, wobei sein Rollkoffer auf dem Kopfsteinpflaster klapperte und der Riemen der Tasche an seiner Schulter zerrte. Schließlich hielt er an einem Springbrunnen vor der Kirche an, auf dem ein steinerner Ritter einen Lindwurm mit der Lanze durchbohrte. Gegenüber der Kirche lag die Konzerthalle, für die Bad Auer bekannt war, und in der Nähe hatte ein alter Puppenspieler seine tragbare Bühne aufgebaut. Ein hölzerner Prinz Tamino floh gerade vor einer grünen Sockenschlange. Mozart schien hier wirklich allgegenwärtig zu sein. Von der Schule war jedoch keine Spur zu sehen.

»Entschuldigen Sie …«, rief Tim einer älteren Frau zu, die gerade vorbeikam. »Wo geht es denn hier zum Mozart-Internat?«

Die Frau schmunzelte. »Du bist wohl zum ersten Mal hier, was?«

Tim lächelte verlegen. »Ist das so offensichtlich?«

»Ja. Sonst hättest du die Schule wohl kaum übersehen …«

Sie deutete hinauf zum Schloss, auf dessen glasierten Dachziegeln die Morgensonne funkelte. Tim pfiff beeindruckt durch die Zähne. Das also war das Mozart-Internat!

Er bedankte sich und eilte weiter voran. Vermutlich gab es einen Bus, der vom Ort zum Schloss hinauffuhr. Doch Tim entschied sich stattdessen, direkt dem steilen Fußweg zu folgen, der sich auf den Schlossberg hinaufwand. Nach der langen Fahrt konnte er Bewegung gut gebrauchen, und außerdem hatte er Lust, ein wenig die Umgebung zu erkunden.

Schon bald ging der Weg in eine Treppe über, die sich endlos lang dahinzog. Dass es so viele Stufen auf der Welt gab! Keuchend und mit hochrotem Kopf erreichte Tim schließlich den letzten Treppenabsatz. Im Schatten einer prachtvollen Eiche öffnete sich ein Gittertor in einer Hecke. Dahinter lag der Schlosspark. Tim wollte gerade eintreten, als plötzlich sämtliche Vögel in der Hecke empört zwitschernd aufflatterten. Verwundert schaute er sich um und entdeckte den Grund für die Unruhe: Ein Junge mit Lockenkopf kam schnaufend über einen Seitenpfad herangejoggt. Er sah nicht wirklich so aus, als ob ihm das Laufen Freude machen würde, quälte sich aber mit entschlossenem Gesicht voran. Schon trabte er an Tim vorbei, den er gar nicht zu bemerken schien, und verschwand durch das Gittertor, während ringsum die Federn der aufgescheuchten Vögel durch die Luft segelten.

»Ein komischer Vogel«, murmelte Tim und nahm seinen Koffer wieder auf. Dann betrat auch er den Schlosspark.

Kleine Gruppen von Schülern waren auf den kiesbedeckten Pfaden unterwegs. Sie trugen graue Blazer mit weinrotem Kragen und einem Wappen auf der Brust. Einige schenkten Tim neugierige Blicke, andere kicherten über seinen abgekämpften Zustand. Tim nickte ihnen zu und ging so würdevoll wie möglich hinüber zum Schlossportal, wobei sein Koffer Furchen in den Kies zog.

Über dem Tor war eine Marmorbüste von Wolfgang Amadeus Mozart angebracht, deren Augen versonnen in die Weite zu schauen schienen. Mit klopfendem Herzen blickte Tim zu der Büste auf. Er würde also jene Musik-Akademie besuchen, die den Namen dieses großen Komponisten trug. Die Schule, die vor ihm bereits Dad besucht hatte. Er musste alles geben, um sich dessen würdig zu erweisen! Tim stieß einen Torflügel auf und betrat das Mozart-Internat.

»Ah! Tim Walker aus London, nehme ich an.«

Gleich in der Eingangshalle kam ihm ein kleiner Mann mit schütterem Haar entgegen. Er wirkte gestresst und wischte sich mit einem Taschentuch über die schwitzende Stirn. In der Hand trug er ein Klemmbrett, auf dem er etwas in eine Liste eintrug. Das musste der Schulsekretär sein. »Gut, dass Sie endlich da sind, Mr. Walker. Wir dachten schon, Sie würden die Einladung unserer Schule ausschlagen. Bitte folgen Sie mir in die Bibliothek. Der Rektor, Dr. Longbow, wird dann gleich Zeit für Sie haben.«

»Öhm … Vielen Dank, Sir«, murmelte Tim überrumpelt und platzierte Koffer und Tasche in einem kleinen Nebenraum, den der Sekretär ihm wies. Dann folgte er ihm durch die Gänge und Säle des Schlosses. Kronleuchter hingen von den Decken, an den Wänden waren Porträts mit üppigen Goldrahmen angebracht. In Öl gemalte Männer blickten streng auf Tim herab. Manche trugen Puder-Perücken wie zur Mozartzeit, andere Frack und Zylinder oder feine Anzüge. Gewiss allesamt große Musiker, die einst diese Schule besucht hatten. Ob auch Tims Porträt irgendwann an einer der Wände hängen würde?

»Bitte warten Sie hier, Mr. Walker. Ich werde Dr. Longbow informieren, dass Sie da sind.«

Der Mann öffnete einladend eine Tür und ließ Tim eintreten. Dahinter lag die Schulbibliothek. Endlose Reihen von alten, in Leder gebundenen Büchern zogen sich über zwei Stockwerke an den Wänden entlang. Die oberen Regale waren über eine umlaufende Galerie zu erreichen, die von reich beschnitzten Säulen gestützt wurde. Mehrere Kristall-Leuchter tauchten alles in ein warmes, orangefarbenes Licht. Sitzgruppen mit schweren Sesseln und Ledersofas waren im Raum verteilt. Dazwischen standen Vitrinen, in denen alte Notenhandschriften ausgestellt waren.

Tims Blick aber fiel sofort auf das beeindruckendste Einrichtungsstück: eine riesige, mit Blattgold überzogene Standuhr, die sich an der Wand gegenüber erhob wie die stolze Königin der Bibliothek. Tim kannte diese Uhr. Exakt dieselbe Standuhr hatte Dad in das Zauberflöten-Buch gezeichnet!

Seine Schritte hallten auf den Kacheln wider, als er sich fasziniert der Uhr näherte. Sie war fugenlos in die umliegenden Regale eingelassen und wurde von zwei Säulen flankiert, auf deren Spitzen kleine Pyramiden thronten. Nun bemerkte er, dass ihr bauchiger Kasten von geheimnisvollen Symbolen bedeckt war. Tim sah einen Zirkel, der sich über einer Sonnenscheibe öffnete, als wollte jemand den gesamten Kosmos vermessen. Darüber thronte ein starrendes Auge mitten in einem flammenden Dreieck.

»Welche Geheimnisse verbirgst du?«, fragte Tim unwillkürlich und schaute zum Ziffernblatt hinauf. »Was fand Dad an dir?« Die Uhr antwortete mit einem gleichmäßigen, kraftvollen Ticken. Es klang wie der Herzschlag der Welt.

»Mr. Walker?« Der kurzatmige Sekretär war wieder in der Tür erschienen. »Der Rektor erwartet Sie nun.«

Tim folgte ihm einen weiteren Gang entlang. Schließlich hielten sie vor einer Tür aus glänzendem Holz. Respektvoll klopfte der Sekretär an. »Dr. Longbow?«

»Herein, bitte«, tönte es sofort von innen. Der Schulsekretär öffnete die Tür und schaute Tim auffordernd an. Dieser musste einmal schlucken. Dann betrat er das Büro des Rektors.

Es war ein heller Raum, dessen Fenster weit über das Tal und die Alpengipfel schauten. An den Wänden hingen goldgerahmte Porträts, die – natürlich! – Mozart zeigten. Die Mitte des Raumes wurde von einem mächtigen Schreibtisch eingenommen, der fast so groß war wie Tims Zimmer in London. Dahinter war die hohe, ledergepolsterte Lehne eines Bürostuhls zu sehen. Bevor Tim sich weiter im Zimmer umschauen konnte, wirbelte der Stuhl herum und offenbarte den Blick auf Dr. Longbow.

Er war ein hagerer Mann mit Halbglatze und einem Schnauzbart, der ebenso makellos gepflegt war wie sein Anzug. Seine Augenbrauen glichen pelzigen Raupen. Wache, intelligente Augen blitzten darunter hervor. Er warf dem Schulsekretär, der in der Tür stand, einen auffordernden Blick zu, woraufhin dieser sich zurückzog und die Tür hinter sich schloss.

»Wir können den aktuellen Zustand des Universums als den Effekt seiner Vergangenheit betrachten«, sagte Dr. Longbow mit einer tiefen Stimme, »und als die Ursache seiner Zukunft.«

Tim verstand kein Wort davon. »… Sir?«

Dr. Longbow wandte sich um und deutete auf ein Porträt an der Wand, das ausnahmsweise einmal nicht Mozart zeigte. Stattdessen war darauf ein Mann mit einer spitzen Nase und pfiffigem Blick zu sehen, der eine altmodische Uniform trug.

»Pierre-Simon, Marquis de Laplace«, erklärte der Rektor. »Der Vater des Determinismus.«

Determinismus … Dieses Wort hatte Tim noch nie zuvor gehört. Sein Blick wanderte wie von selbst zum Fenster hinaus, zu den Dächern von Bad Auer unten im Tal.

»Er glaubte«, fuhr Dr. Longbow fort, »dass, wenn wir die Position und die Bewegungsrichtung jedes einzelnen Atoms im Universum am heutigen Tag kennen würden … wir auch voraussagen könnten, wo diese Atome morgen sein werden.«

Beiläufig betrachtete Tim das Dach der Konzerthalle bei der Kirche. Schon cool, dass solch eine kleine Stadt so etwas hatte. Er hatte davon gelesen: Das war die Milanesi-Halle, und der König der Oper hatte sie über eine Stiftung dem Ort geschenkt, wo einst sein Weg zum Ruhm begonnen hatte.

»Und was für die Atome gilt, das gilt auch für die Menschen. Alles ist aufgrund unserer Natur vorherbestimmt. Das bedeutet Determinismus. Langweile ich Sie, Mr. Walker?«

Tim fuhr zusammen. Schuldbewusst wandte er sich wieder dem Rektor zu. »Äh …«

»Hier am Mozart-Internat sehen wir davon ab, irgendeinem unserer Schüler eine Sonderbehandlung zukommen zu lassen«, stellte Dr. Longbow fest und legte die Fingerspitzen zu einem Dreieck zusammen. »Das gilt auch für jene, die mit einem Stipendium hier sind. Für gewöhnlich würden wir keine neuen Schüler so spät im Schuljahr aufnehmen. Doch angesichts der Umstände …«

Tims Hände verkrampften sich um Dads Buch, das er in der Jackentasche trug.

»… haben wir entschieden, dass in Ihrem Fall eine Ausnahme angebracht ist. Mein Beileid, Mr. Walker.«

Tim schluckte. »Danke, Sir.«

»Ich hatte tatsächlich mehrmals die Gelegenheit, Ihren Vater auf der Bühne zu hören«, erzählte der Rektor und lehnte sich nachdenklich zurück. »Genau hier, in diesen heiligen Hallen, wo wir beide unsere Karriere begonnen haben. Und obgleich er einige Jahrgänge unter mir war … erinnere ich mich gut an seinen kraftvollen und doch nuancierten Idomeneo.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Ihr Vater war ein hervorragender Sänger. Doch um wahre Größe zu erreichen, benötigt man Disziplin. Man benötigt Regeln.«

Dr. Longbow griff hinter sich und warf schwungvoll ein dickes Buch auf seinen Schreibtisch. Schulregeln stand unter der unvermeidlichen Mozart-Büste auf dem Einband. Mit mäßiger Begeisterung nahm Tim das Buch entgegen.

»Arbeiten Sie hart an sich«, sagte Dr. Longbow fest, »und halten Sie sich an die Regeln. Dann kann diese Schule Ihr Weg in die Zukunft sein. Sie haben dieselbe Chance, die auch einst Ihr Vater hatte. Und ich hoffe, dass Sie sie nutzen, Mr. Walker.«

Tim schaute den Rektor misstrauisch an. War das eine verborgene Kritik an Dad? Nahm Dr. Longbow ihm übel, dass er eine Familie gegründet hatte, statt alles für seine Karriere zu opfern?

»Übrigens rückt unsere Weihnachtsvorstellung immer näher …«, fuhr Dr. Longbow ungerührt fort.

Tim wischte den Gedanken beiseite und folgte dem Blick des Rektors zu einem Ankündigungsposter, das über dem Schreibtisch hing. DIE ZAUBERFLÖTE stand dort in silbernen Buchstaben vor einem sternenübersäten Hintergrund. Große Jubiläumsaufführung in der Milanesi-Halle Bad Auer.

»Die Zauberflöte?«, fragte er aufgeregt. »Die Oper war Dads Lieblingsstück!«

»So?« Dr. Longbow zog die Augenbrauen hoch. »Für welche Rolle würden Sie sich denn entscheiden, wenn Sie die Wahl hätten, mein Sohn?«

»Prinz Tamino!«, erwiderte Tim ohne nachzudenken. »Dad hat sich immer mit ihm verbunden gefühlt und …«

In diesem Moment wurde er von einem Klopfen an der Tür unterbrochen.

»Herein, bitte!«, kommandierte Dr. Longbow.

Ein Mann in den Dreißigern steckte seinen Kopf in den Raum. Er hatte ein warmes Lächeln, dunkle Haut und neugierige Augen, die Tim von oben bis unten musterten.

»Ah, Herr Baumgartner«, sagte Dr. Longbow. »Wenn Sie so freundlich wären, unserem Spätankömmling hier sein Zimmer zu zeigen …«

»Mit Vergnügen.« Herr Baumgartner strahlte Tim an, als wollte er Dr. Longbows kühle Art damit ausgleichen. »Sollen wir?«

Er hielt die Tür für Tim auf, der das Büro des Rektors nur zu gerne verließ. Dieser Dr. Longbow schien ziemlich hart drauf zu sein!

Dann ging es wieder im raschen Schritt durch die Hallen und Gänge. Die Schule war ein wahres Labyrinth.

»Du bist also Tim Walker«, sagte Herr Baumgartner, während Tim sein Gepäck aus dem kleinen Nebenraum abholte. »Wir werden uns bald besser kennenlernen. Du bist nämlich in meiner Musikgeschichte-Klasse.«

Musikgeschichte als eigenes Schulfach! Nach solch einem Ort hatte Tim sich schon immer gesehnt. Schnaufend folgte er Herrn Baumgartner durch den Innenhof des Schlosses, vorbei an einem Springbrunnen, an dem bocksbeinige Faune aus Marmor Flöte spielten.

»Du hast einen guten Sinn für das Timing, mein junger Freund«, meinte Herr Baumgartner im Gehen, ohne außer Atem zu kommen. »Spät genug, um für Aufsehen zu sorgen – aber nicht so spät, dass du das Vorsingen verpasst.«

In Tims Bauch kribbelte es plötzlich vor Aufregung. »Sie meinen, die Rollen für die Weihnachtsaufführung …«

»… wurden noch nicht vergeben, genau«, erwiderte Herr Baumgartner. »Höre auf meine Worte: Für einen jungen Menschen mit einer Leidenschaft für die Musik gibt es keinen besseren Ort als das Mozart-Internat.« Er klopfte gegen eine der Wände. »In diesen Mauern schlummert wahrhaftige Magie.«

Tim hörte ihm kaum zu. Die Rollen waren noch nicht vergeben … also auch die Rolle des Prinzen Tamino noch nicht! Tim musste sie einfach bekommen. Für Dad. Als erster Schritt zu seiner Weltkarriere als Sänger.

Schließlich kamen sie in einen Flügel des Schlosses, wo sich zahllose Türen an langen Gängen entlangzogen.

»So, gleich wirst du deinen künftigen Mitbewohner kennenlernen«, sagte Herr Baumgartner voller Begeisterung. Tim spürte, wie sein Herz klopfte. In London war es ihm nie leichtgefallen, Anschluss zu finden. Die anderen Jugendlichen hatten nicht gerade Verständnis für seine Liebe zur Musik gehabt. Und dann hatte auch noch das Gesangstraining einen großen Teil der Zeit gefressen, die die anderen mit gemeinsamem Abhängen verbracht hatten. Aber am Mozart-Internat würde das hoffentlich anders laufen. Schließlich war jeder hier ein Musik-Freak!

Herr Baumgartner blieb vor einer Tür stehen und klopfte einmal an. Dann trat er ein, ohne auf eine Reaktion zu warten.

Es war ein kleiner Raum, und er sah genau so aus, wie Tim sich ein Internatszimmer vorgestellt hatte: zwei Betten, zwei Schränke, zwei Schreibtische. Doch das Fenster schaute weit über das Tal – mit diesem herrlichen Ausblick hatte er allerdings nicht gerechnet!

An den Wänden ringsum hingen verschiedene Musikinstrumente. Tim erkannte eine Akustik-Gitarre, zwei E-Gitarren, ein Banjo, eine Mandoline und diverse weitere Saiteninstrumente, die er spontan nicht benennen konnte. Einige waren im guten Zustand, andere wirkten angeschlagen und schienen nur noch Schrottwert zu haben. An dem einen Schreibtisch inmitten der Instrumente saß ein Junge mit dem Rücken zu ihnen.

»Hallo, Paolo«, begrüßte Herr Baumgartner ihn. »Erlaube mir, dir deinen neuen Zimmergenossen vorzustellen: Tim Walker. Tim – dies ist Paolo Tocci.«