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Dunkelheit überzieht das Land. Die Horden des Kettenfürsten marschieren, um auch noch die letzten freien Länder der Menschen, Elben und Zwerge zu unterwerfen. Letzte Hoffnung ist eine Prophezeiung: Sie berichtet von Zwillingen, die die Ketten des Fürsten sprengen werden, um ihn zu besiegen.
Im unterirdischen Zwergenreich Tokrond leben der stille Runenschmied Gorin und seine draufgängerische Zwillingsschwester Galdra. Sie ahnen nichts von ihrer möglichen Bestimmung, bis ihnen die geheimnisvolle Winterseherin davon erzählt. Doch nicht nur Gorin und Galdra könnten die angekündigten Erlöser sein — und die Zeit arbeitet gegen sie ...
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Seitenzahl: 765
Cover
Über das Buch
Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
PROLOG
KARTE TOKROND
ERSTES KAPITEL
KARTE LIRÁYA
ZWEITES KAPITEL
DRITTES KAPITEL
VIERTES KAPITEL
FÜNFTES KAPITEL
SECHSTES KAPITEL
SIEBTES KAPITEL
ACHTES KAPITEL
NEUNTES KAPITEL
ZEHNTES KAPITEL
KARTE SWERTENGUND
ELFTES KAPITEL
ZWÖLFTES KAPITEL
DREIZEHNTES KAPITEL
KARTE SWERTENBURG
VIERZEHNTES KAPITEL
FÜNFZEHNTES KAPITEL
SECHZEHNTES KAPITEL
SIEBZEHNTES KAPITEL
ACHTZEHNTES KAPITEL
NEUNZEHNTES KAPITEL
ZWANZIGSTES KAPITEL
EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
KARTE GARHITA
VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL
KARTE QUOLÛR
FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL
SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL
KARTE PHÖNIXSTEPPE
SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL
ACHTUNDZWANZIGSTES KAPITEL
NEUNUNDZWANZIGSTES KAPITEL
DREISSIGSTES KAPITEL
EINUNDDREISSIGSTES KAPITEL
ZWEIUNDDREISSIGSTES KAPITEL
DREIUNDDREISSIGSTES KAPITEL
VIERUNDDREISSIGSTES KAPITEL
FÜNFUNDDREISSIGSTES KAPITEL
EPILOG
DANKSAGUNG
ANHANG A: Wichtige Personen
ANHANG B: Glossar
Über das Buch
Dunkelheit überzieht das Land. Die Horden des Kettenfürsten marschieren, um auch noch die letzten freien Länder der Menschen, Elben und Zwerge zu unterwerfen. Letzte Hoffnung ist eine Prophezeiung: Sie berichtet von Zwillingen, die die Ketten des Fürsten sprengen werden, um ihn zu besiegen.
Im unterirdischen Zwergenreich Tokrond leben der stille Runenschmied Gorin und seine draufgängerische Zwillingsschwester Galdra. Sie ahnen nichts von ihrer möglichen Bestimmung, bis ihnen die geheimnisvolle Winterseherin davon erzählt. Doch nicht nur Gorin und Galdra könnten die angekündigten Erlöser sein — und die Zeit arbeitet gegen sie ...
Über den Autor
Hendrik Lambertus wurde 1979 geboren und lebt heute mit seiner Familie in Norddeutschland. Er studierte in Tübingen Skandinavistik, ältere Germanistik und Indologie und widmete sich nach dem Abschluss seiner Doktorarbeit, die er zur spätmittelalterlichen Literatur Islands schrieb. Noch heute dient ihm die Auseinandersetzung mit alten Texten aus den unterschiedlichsten Kulturräumen im Zuge seiner wissenschaftlichen Lehrtätigkeit als Inspiration für das eigene Schreiben. Mehr über den Autor auf seiner Homepage: www.ah-lambertus.de
HENDRIK LAMBERTUS
ZWILLINGSBLUT
DER KAMPF DER ZWERGE
BAND 1
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Sabine Biskup, KölnTitelillustration: © Jupiterimages/thinkstock; RichardALock/thinkstock; will_iredale/thinkstock; DuxX/thinkstock; Lawkeeper/thinkstock; rustamank/thinkstock; MikeyGen73/thinkstock; sv-time/thinkstock; Jana Kopilova/thinkstock; venimo/thinkstockUmschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.deE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-5678-6
www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de
Für meine Familie
Der Gott fühlte Schmerz. Zum ersten Mal in seiner ewigen, unsterblichen Existenz fühlte er beißenden, verzehrenden Schmerz. Alles tat ihm weh. Vom stechenden Pochen hinter seiner Stirn bis zu dem wütenden Brennen seiner Fußsohlen.
Erst im nächsten Augenblick wurde dem Gott die schreckliche Konsequenz dieses Gefühls bewusst: Er hatte einen Körper. Einen festen Körper aus Fleisch und Blut. Einen Körper, der sterblich war!
Er betrachtete seine Hände und bewegte die Finger. Sie waren zum Greifen da. Hektisch betastete er seine Arme, den Bauch, den Brustkorb. Er befühlte seine Gesichtszüge und fuhr sich durch die Haare.
Bloße Materie. Vergängliches Fleisch. Er spürte, wie sein Körper zerfiel. Jeder Atemzug brachte ihn dem Ende näher, das nur noch wenige Jahrzehnte entfernt lag.
Weitere neue Gefühle stiegen in ihm auf: Hilflosigkeit. Verletzlichkeit. Angst.
Kraftlos lehnte sich der Gott an eine Hauswand. Neben ihm huschten Ratten um eine Regentonne, Unrat lag auf dem schlammigen Boden der Gasse. Der Gestank ließ ihn würgen.
Mit einem Stöhnen schloss er die Augenlider, und Bilder flammten wie Lichtblitze vor seinem geistigen Auge auf. Er sah einen schrecklichen Speer mit vier Spitzen, der auf seine Brust gerichtet war, und hörte das Klirren von schweren Ketten, geschmiedet, um ewig zu halten.
Der Blick seines Widersachers ruhte triumphierend auf ihm. Der Widersacher, der ihn gestürzt hatte. Der sterbliche Widersacher, der jetzt auf seinem ewigen Thron saß.
Voller Wut brüllte der Gefallene auf. Sein ganzer begrenzter Atem floss in diesen Schrei. Es war ein hässlicher, unartikulierter Laut, würdig eines Sterblichen. Er ballte die Fäuste und bündelte seine Willenskraft, konzentrierte sich darauf, diesen Körper abzustreifen und wieder in seinem Thronsaal zu erscheinen, an seinem angestammten Platz. Nichts geschah. Er stand immer noch als Ansammlung von Fleisch, Blut und Krankheitskeimen in einer schmutzigen Gasse zwischen abgewrackten Hauswänden.
Der Gefallene riss die Augen weit auf und versuchte, mit seinem Blick die Welten zu durchdringen, durch die Schöpfung hindurchzuschauen und überall zugleich zu sein, losgelöst von allem. Doch er sah nichts außer dem abbröckelnden Putz an der Wand gegenüber. Die Grenzen seines Körpers waren die Grenzen seiner selbst. Diesmal war es kein Spiel.
Er war schon öfter in die Lande der Sterblichen hinabgestiegen und hatte sich einen Körper wie eine Verkleidung um sein göttliches Selbst gelegt. Es war stets ein makelloser Körper gewesen, dessen Perfektion seine wahre Natur angedeutet hatte. Die begrenzten Möglichkeiten der Sterblichen waren für ihn eine nette Abwechslung gewesen im Vergleich zum Ernst seiner ewigwährenden Aufgaben.
In einem solchen Körper hatte er sie getroffen.
Ihr Bild schob sich wie von selbst in seine Erinnerung. Er hatte ihre Sterblichkeit genossen. Sie hatte der Schönheit ihrer klarblauen Augen den besonderen Reiz verliehen: wie der Duft einer Blume, die bald verwelken würde. Solch hübsche Torheiten hatte er ihr zugeflüstert, wenn er ihr erschienen war, gekleidet in einen besonders anziehenden Körper. Jetzt war er so wie sie. Genauso machtlos. Genauso endlich.
Sie war der Grund für seinen Sturz geworden.
Der Gefallene gab einen schrecklichen Laut von sich, der vielleicht ein Lachen, vielleicht ein Stöhnen und vielleicht etwas ganz Anderes war. Er sank auf die Knie nieder.
»He, wen ha-haben wir denn hier?«
Eine raue Stimme drang zu ihm durch. Ein Mensch bewegte sich durch die Gasse auf ihn zu. Er war schmutzig und roch nach Schweiß und anderen Dingen. In seinem bärtigen Gesicht klaffte ein breites Grinsen. Sein linker Arm endete am Ellenbogen in einem Stumpf, in der Rechten trug er einen Trinkschlauch aus Leder. Mit unsicheren Schritten schwankte er auf den Gefallenen zu. Dieser konnte seinen Blick nicht von dem Armstumpf abwenden. Sterbliche waren so zerbrechlich. Der Mann musste seinen Arm in einem ihrer unzähligen Kriege verloren haben.
Dunkle Vorahnungen stiegen in ihm auf. Stahl kracht auf Stahl, Klingen schneiden in Fleisch, Städte brennen brüllend nieder. Die Ordnung der Welt würde in Krieg untergehen, weil die Ordnung der Götter untergegangen war. Weil ein Sterblicher nun auf dem Thron eines Gottes saß.
Ein Sterblicher, der alles wollte.
»Du siehst ja noch fertiger aus als ich«, lallte der bärtige Mann mit schwerer Zunge, und es verwirrte den Gefallenen, seine Stimme bloß mit den Ohren zu hören. Er war es gewohnt, dass die Herzen der Sterblichen zu ihm sprachen, während er direkt in ihre Seele blickte. Diesem Mann konnte er nur in sein Gesicht schauen. War er ein Freund? War er ein Feind?
»Hier, nimm einen Schluck«, brummte der Bärtige. »Du kannst es brauchen.«
Mechanisch nahm der Gefallene den Trinkschlauch entgegen und führte sich die Öffnung an den Mund. Ein scharfes Brennen ergoss sich in seinen Rachen und raubte ihm für einen Moment den Atem. Er musste husten. Dann folgten angenehm weiche Nebel, die den Schrecken der Bilder trübten. Er nahm noch einen Schluck, während der Fremde ihn grinsend beobachtete.
»Na also«, sagte der und nahm den Schlauch wieder an sich.
Der Gefallene horchte in sich hinein. Sein begrenzter Körper gierte nach Vergessen, nach der Flucht in den Augenblick, ins Hier und Jetzt. Es machte seine Vergänglichkeit etwas weniger unerträglich. Er spürte, wie seine Erinnerung schwächer wurde. Der Rostrote Thron, die ewigen Ketten, sein göttlicher Blick, der weit über die Schöpfung hinausging – das alles wurde zu einem Traum, aus dem er nun langsam erwachte.
TOKROND, DAS FESTUNGSREICH DER EISENZWERGE DIE ÄUSSEREN HÖHLEN
Die Königreiche der Zwerge waren tief in die Herzen der Berge gegraben. Generationen von Baumeistern hatten immer neue Stollen und Hallen angelegt, Schächte und Treppen, die in die Tiefe führten, Verteidigungswerke und gewundene Passagen. Zahllose Steinmetze hatten die Stollenwände mit Runentafeln geschmückt, die Hallen mit grimmigen Wächterstatuen versehen und jede einzelne Säule zu einem Kunstwerk gemacht, in dessen Details man sich stundenlang verlieren konnte.
Doch zwergische Kunstfertigkeit war nichts gegen die Pracht, mit der Dwaldarin, der göttliche Schmied, die natürlich gewachsenen Höhlen im Fels bedacht hatte. Hier gab es ganze Wälder von Tropfsteinen, Wände aus Sintergestein, die wie weiß erstarrte Wasserfälle schimmerten, und zwergengroße Kristallgebilde, in denen alle Farben des Regenbogens spielten. Manchmal weiteten die Höhlen sich wie die Kuppel eines Doms, manchmal musste man sich durch einen engen Durchgang zwängen, um plötzlich am Ufer eines Höhlensees zu stehen, in dem sich bleiche Wassergeschöpfe tummelten.
Gorin schaute sich prüfend um, während er zusammen mit den anderen Zwergen des Wachtrupps durch die äußeren Höhlen von Tokrond marschierte. Gelegentlich blieb er kurz stehen, um einen besonders schönen Tropfstein genauer zu betrachten, während er sich andächtig über den geflochtenen Bart strich. Doch sie befanden sich nicht auf einem Vergnügungsausflug, und so zwang er sich immer wieder, zu den anderen aufzuschließen.
Die Kettenmäntel der Zwerge rasselten im Takt ihrer schweren Schritte, gelegentlich durchsetzt von einem Klirren, wenn eine Streitaxt oder ein Kriegshammer beim Gehen gegen eine Rüstung stieß. Sie waren viel zu laut, fand Gorin, für den in den Höhlen einzig heilige Stille angemessen war.
Es war etwas Besonderes für ihn, in den äußeren Höhlen unterwegs zu sein. Seine Arbeit als Runenschmied band ihn für gewöhnlich an die inneren Hallen, weshalb er nur selten hierherkam, in die Welt der Tropfsteine und Kristalle. Doch es oblag allen Zwergen von Tokrond gleichermaßen, die Grenzen des Königreichs zu bewachen, und heute war die Gilde der Runenschmiede an der Reihe, einen Teil des Wachtrupps zu stellen.
Wie alle Zwerge war auch Gorin geübt im Kampf mit der Streitaxt und an das Tragen einer schweren Kettenrüstung gewöhnt, wenn auch beides nicht gerade seine Stärke war. Für den Wachrundgang hatte er sich extra Eisenringe in seinen blonden Bart geflochten, um kriegerischer zu wirken. Seine Schwester Galdra hatte breit gegrinst, als er so zum Dienst erschienen war.
Gorin warf ihr beim Marschieren einen Seitenblick zu. Sie gehörte der Gilde der Höhlengänger an, deren Angehörige die Wachtrupps stets anführten. Mit dem kompakten Rucksack, den sie über dem Kettenpanzer trug, konnte sie zur Not für Wochen in den Höhlen überleben. Zudem war sie mit Streitäxten und Wurfbeilen von unterschiedlicher Form und Größe behängt, die jeweils perfekt an die Schwachstellen verschiedener Höhlen-Ungeheuer angepasst waren. Ihre dunkelblonden Haare hatte sie zu dicken, praktischen Zöpfen gebunden, ihre Wangen waren von feinem Bartflaum bedeckt. Lediglich am Kinn trug sie den Frauenbart länger und zu zwei neckischen Zöpfchen geflochten. Als sie Gorins Blick spürte, lächelte sie ihm aufmunternd zu. Obwohl er nur eine leichte Armbrust und eine Handaxt am Gürtel mit sich führte, setzte ihm der Fußmarsch deutlich stärker zu als seiner voll ausgerüsteten Schwester.
Der Trupp durchquerte im Gänsemarsch einen engen, besonders steil ansteigenden Gang und betrat nun das Gebiet der Irrlichtgrotten. Hier wuchsen spiegelglatte, vielarmig verzweigte Kristalle aus Boden, Wänden und Höhlendecke, zwischen denen blassviolette Lichter umherhuschten. Manche sagten, dass diese Lichter die Seelen armer Zwerge seien, die sich einst in den Höhlen verirrt hatten. Gorin glaubte eher an die Erklärung, dass es sich um verspielte Naturgeister der Berge handelte, die zwischen den Kristallen zu Hause waren. Ihr Anblick war jedenfalls erfreulich schön, ganz im Gegensatz zu dem brennenden Gefühl in seinen Fußsohlen.
»Halt machen zur Essensrast!«, kommandierte schließlich Naribran, der Obmann der Höhlengängergilde. Ein glatzköpfiger Veteran mit langem grauen Bart, dessen Augenklappe stolz von einem vergangenen Kampf gegen einen Häuptling der Höhlentrolle kündete.
Mit einem erleichterten Schnaufen setzte sich Gorin auf einen Felsabsatz und legte seine Armbrust neben sich ab. Die anderen Zwerge des Trupps, insgesamt zwölf an der Zahl, ließen sich ringsum ebenfalls niedersacken. Sie befanden sich in einer größeren Höhle der Irrlichtgrotten, in deren Zentrum eine mächtige Kristallformation von besonders vielen Lichtern umtanzt wurde. Ihr Flackern war die einzige Lichtquelle. Die Augen der Zwerge sahen im Dunkel unter den Bergen so gut wie im hellen Sonnenlicht, sodass sie keine Laternen mit sich zu führen brauchten.
»Wurde auch Zeit«, brummte Gorin, während er seine Fladen aus gebackenen Höhlenpilzen auspackte.
»Du brauchst mehr Übung, kleiner Bruder«, sagte Galdra grinsend. »Jeder Zwerg sollte sein eigenes Gewicht an Waffen und Ausrüstung in die Schlacht tragen können!«
Gorin zog eine Grimasse. Er war am selben Tag wie seine Schwester zur Welt gekommen, doch da sie vorwitzig den Anfang gemacht hatte, betrachtete sie ihn seit jeher als ihren kleinen Bruder.
»Gorin ist mit dem Schmiedehammer genauso ausdauernd wie du mit der Streitaxt, Galdra«, warf Onkel Barudrin ein, der sich zu ihnen gesellte. Der rundliche Zwerg trug seinen Bart zu zahllosen schwarzen Zöpfen geflochten, über denen fröhlich eine dicke rote Nase leuchtete. Gorin nickte ihm dankbar zu. Onkel Barudrins beste Eigenschaft war es gewiss, dass er jeden so nahm, wie er war. Er hatte sich sichtlich gefreut, als Gorin sich für das Handwerk des Runenschmieds entschieden hatte und bei ihm in die Lehre gegangen war. Doch er freute sich genauso über Galdra, die schon als Mädchen begeistert hundsgroße Grottenspinnen gejagt hatte und schließlich der Kriegergemeinschaft der Höhlengänger beigetreten war.
»Sie hat ja recht, Duroscha«, meinte Gorin, während er sich den Bart glattstrich und die Bartspitze ordentlich in seinen Gürtel steckte. So nannten die Zwillinge Barudrin von Kindheit an: Duroscha. Onkelchen. »Man sollte in Übung bleiben. Wer weiß, welche Aufgaben einen noch erwarten.«
Galdra schaute auf und nickte ihm kaum merklich zu. Sie hatte verstanden.
»Die äußeren Höhlen zu sichern ist ganz gewiss eine wichtige Aufgabe!«, polterte Nurdrin, der Sohn von Obmann Naribran. Er war ein stattlicher Zwerg mit mächtigem Lockenbart, der immer etwas zu laut sprach. »Nach außen hin ist Tokrond durch den undurchdringlichen Fels der Berge geschützt, aber nach innen, in die Tiefen der Höhlen hinein, müssen wir wachsam bleiben! Schon mehr als einmal hat die Bergbau-Gilde zu tief gegraben und alte Schrecken im Berg geweckt.« Er wiederholte sehr gerne die langen Monologe seines Vaters über die Wichtigkeit der Höhlengänger.
»Den Schutz der Berge werden wir brauchen«, warf Pordra ein, eine junge Runenschmiedin, die im letzten Jahr zusammen mit Gorin die Gildenprüfung abgelegt hatte. Sie trug die Wangen nach der neumodischen Art der Menschenfrauen glattrasiert, doch ihr Kinn zierte ein einzelner roter Bartzopf. »Mein Vetter hat mir erzählt, dass am Nordtor wieder Flüchtlinge eingetroffen sind: Kristallzwerge, diesmal einige hundert. Die Truppen des Kettenfürsten rücken immer schneller vor. Sie haben nun auch das Herzogtum Swertengund und Teile des nördlichen Menschenreichs Skovrik überrannt und belagern seit Neuestem die Tore von Kurrond, dem Reich des Kristallvolks. Bald werden wir vom Eisenvolk die letzten freien Zwerge sein.«
Gorin bemerkte, wie Galdra unwillkürlich die Fäuste ballte. Sein Magen fühlte sich plötzlich wie ein Klumpen kalter Schlacke an. Seit vielen Jahren überzog der Kettenfürst die freien Länder mit Krieg. Seine Söldner und dunklen Geschöpfe hatten fast die gesamte bekannte Welt eingenommen. Gorins und Galdras Eltern waren im Kampf gegen ihre Übermacht gefallen und hatten nur schmerzliche Erinnerungen zurückgelassen. Glücklicherweise hatte sich Onkel Barudrin der Zwillinge angenommen.
»Tokrond wird der Kettenfürst jedenfalls nicht kleinkriegen!«, bellte Turidran, ein altersgebeugter Runenschmied mit bodenlangem Bart, der den Wachtrupp nur begleitete, weil er vehement darauf bestand, weiterhin seine Pflicht zu tun. »Wir können die Tore unbegrenzt geschlossen halten und uns von dem ernähren, was die Gilde der Pilzhüter in ihren Farm-Höhlen anbaut!«
»Wenn nur der Gilde der Bierbrauer nicht der Hopfen aus den Menschenlanden ausgeht«, setzte Galdra mit gezwungener Leichtigkeit nach. Erschrockenes Gemurmel kam unter den Zwergen auf.
»Dann brauen wir eben Stollenbier aus Höhlenpilz-Sporen wie unsere Vorfahren«, entgegnete Onkel Barudrin, der in allem etwas Gutes finden konnte. Gorin erschauderte bei dem Gedanken an das bittere Zeug, das zuweilen bei feierlichen Anlässen in mächtigen Zinnhörnern ausgeschenkt wurde. Die zwergische Bierbraukunst war in der Tat auf das Getreide der Oberflächenbewohner angewiesen.
»Stollenbier verleiht den Kriegern Stärke«, brummte der einäugige Obmann Naribran, wozu sein Sohn Nurdrin heftig nickte. »Es heißt, dass die Zwergenheere der alten Tage immer große Kessel voll Stollenbier auf gepanzerten Wagen mit sich führten. Es wurde mitten im Schlachtgetümmel ausgeschenkt, und die Bierwagen wurden heftiger verteidigt als die Standarte des Königs, man sagt …«
Ein mächtiges Knirschen und Poltern hallte durch die Höhle und unterbrach ihn. Selbst die Lichter zwischen den Kristallen schienen innezuhalten.
»Was war das?«, hörte Gorin sich selbst fragen und ärgerte sich, dass seine Stimme ängstlich klang.
»Der Fels arbeitet«, entgegnete Galdra leichthin. Es gefiel ihr sichtlich, die erfahrene Höhlengängerin zu geben. »Hier draußen in den äußeren Höhlen merkt man das deutlicher als in unseren gemauerten Hallen. Einmal habe ich …«
Wieder ertönte ein Poltern, diesmal so laut, dass die ganze Höhle bebte. Einige kleinere Brocken lösten sich von der Decke und zerbarsten auf dem Felsboden. Die tanzenden Lichter flackerten auf und huschten zwischen den Kristallen davon.
»Waffen bereitmachen!«, bellte Obmann Naribran, sprang auf die Füße und befreite seine mächtige Doppelaxt aus dem Rückengurt.
Gorin brauchte einen Moment, um den Befehl zu realisieren, während die Höhlengänger sich schon für den Kampf rüsteten. Dann ließ er seinen halb gegessenen Fladen fallen und nahm hastig seine Armbrust auf.
Mit einem erderschütternden Krachen brach eine der Höhlenwände ein. Riesige Felsbrocken rumpelten durch die Halle und zerschmetterten beiläufig jahrtausendealte Kristalle. Hinter einer Wolke aus Gesteinsstaub konnte Gorin einen gewaltigen Kopf erkennen, der aus einem neu entstandenen Gang in die Höhle schaute. Der Kopf war mit bleichen Panzerplatten bedeckt. Zwei winzige schwarze Augen glänzten hinter schützenden Wulsten. Als Maul dienten der Kreatur gleich drei Paare insektenartiger Kieferzangen, die gierig klackerten und Gesteinsbrocken in sich hineinschaufelten. Ihr walzenförmiger Leib war dicker als das mächtigste Fass in den Hallen der Bierbrauer und verlor sich in der Dunkelheit des Ganges, den sie fast ganz ausfüllte. Lange Fühler tasteten suchend in der Luft umher.
»Ein Felsenwyrm!«, keuchte Galdra, die ihre Stabaxt fest umklammert hielt.
»Zu groß für einen Felsenwyrm«, knurrte Obmann Naribran neben ihr.
Gorin musste ihnen beiden recht geben. Die Kreatur sah eindeutig aus wie einer jener blassen Wühlwürmer, die sich auf chaotischen Bahnen durch den Fels der Berge fraßen und vor allem für die Gilde der Bergleute eine rechte Plage waren, deren Stollen sie gelegentlich zum Einsturz brachten. Allerdings waren ausgewachsene Felsenwyrmer zwei, bestenfalls drei Meter lang und ließen sich problemlos mit einigen Axthieben erledigen. Die Kreatur, die sich da gerade vor ihnen in die Höhle gefressen hatte, war mehr als zehnmal so groß. Es musste die Urmutter aller Felsenwyrmer sein!
Und sie trug Zügel. Gorin konnte stählerne Haken erkennen, die direkt an den Gelenken ihrer empfindlichen Fresskiefer angebracht waren. Von ihnen führten lange Ketten nach hinten in die Dunkelheit des Ganges. Noch ehe Gorin seine Beobachtung mitteilen konnte, hob der riesige Felsenwyrm den Kopf, schien fragend mit den kleinen Augen zu blinzeln und schob sich rückwärts in den Gang. Schon wenige Herzschläge später war er nicht mehr zu sehen.
»Er zieht sich zurück!«, brüllte Nurdrin so stolz, als hätte er den Wyrm höchstpersönlich in die Flucht geschlagen. Er ging einige Schritte vor und ließ seinen Stahlsturm kreisen, eine leichte Handaxt an einer Kette, die man in weiten Schwüngen herumwirbeln konnte. Tödlich für die Gegner, wenn man die traditionelle Zwergenwaffe beherrschte – und tödlich für die Gefährten, wenn man sich beim Führen der Waffe ungeschickt anstellte.
»Warte!« Obmann Naribran hielt seinen Sohn von der Gangmündung zurück. »Es ist noch nicht vorbei! Hört ihr nicht …«
Noch ehe er ausreden konnte, ergossen sich Dutzende bleicher Gestalten aus dem Gang. Sie liefen völlig lautlos über den Höhlenboden, nur ihre Rüstungen aus dunklem Leder knarrten leise. Die Gestalten waren nicht viel größer als Zwerge, aber deutlich schlanker und feingliedriger. Sie bewegten sich leicht gebückt vorwärts, sodass ihre dünnen, überlangen Arme fast den Boden berührten. Ihre Haut war so blass, dass bläuliche Adern darunter hervorschimmerten, doch am verstörendsten fand Gorin den Anblick ihrer haarlosen Köpfe, die gedrungen zwischen den Schultern saßen. Sie hatten keine Augen, nur glatte Haut, wo man die Augen vermutet hätte. Dafür wiesen sie ausgeprägte spiralförmige Ohröffnungen auf, und an ihren Wangen prangten lange Barteln, die eifrig umhertasteten, wie bei einem Wels. Ihr Mund war so breit, dass er den Kopf regelrecht in zwei Hälften zu teilen schien, und besetzt mit Reihen von dünnen, nadelspitzen Zähnen.
Es waren Lichtlose, uralte Bewohner der Tiefen Höhlen, die zuweilen in abgelegene Hallen der Zwerge einfielen, um sie zu plündern. Gorin hatte noch nie einen Lichtlosen mit eigenen Augen gesehen, aber er kannte die Geschichten um sie. Er wusste, dass sie sich trotz ihrer Blindheit hervorragend mit Gehör- und Tastsinn zu orientieren vermochten. Sie galten als gnadenlose Jäger, die alles als Nahrung ansahen, was ihre scharfen Zähne zerteilen konnten.
»Zum Angriff!«, brüllte Obmann Naribran. »Barukh kara Dwaldarin! Barukh kara Tokrond!«
»Barukh kara Tokrond!«, fielen die übrigen Zwerge in den Schlachtruf ein und warfen sich der Übermacht der bleichen Lichtlosen entgegen.
Gorin realisierte besorgt, dass Galdra ganz vorne lief und als Erste ihre Stabaxt in den Körper eines Lichtlosen versenkte. Sofort war sie von bleichen Gestalten umringt. Sie trugen merkwürdige Waffen aus verholzten Pilz-Stämmen, die vorne wie Speere zugespitzt und hinten zu einer Keule verdickt waren.
Dann verlor Gorin seine Schwester aus den Augen. Rasch legte er die Armbrust auf einen der heranstürmenden Lichtlosen an. Mit einem scharfen Klacken löste sich der Bolzen von der Waffe. Und prallte von einem Tropfstein neben dem Ziel ab. Er musste besser zielen, durfte nicht hektisch werden … Gorin griff einen weiteren Bolzen aus dem Seitenköcher und spannte die Armbrust mithilfe des Schnellspannhebels erneut. Seine leichte Waffe hatte nicht die gewaltige Durchschlagskraft der Windenarmbrüste, mit denen die Zwerge ihre Bastionen zu verteidigen pflegten, doch dafür ließ sie sich dank der genialen Konstruktion der Mechaniker-Gilde so schnell nachladen, dass sie auch im offenen Kampf etwas taugte.
Gorin legte auf einen Lichtlosen an, der gerade Nurdrin von der Seite attackieren wollte. Er ließ sich Zeit, bedachte die Bewegungen des Ziels – und drückte ab. Die Armbrust klackte, und der Bolzen schlug ins weiche Fleisch des Lichtlosen ein. Die Kreatur wand sich mit zuckenden Barteln am Höhlenboden, ehe sie ganz erschlaffte. Gorin hatte seinen ersten Gegner im Kampf besiegt! Sein Herz pochte wie ein Dampfhammer, seine bärtigen Wangen glühten in einer seltsamen Mischung aus Stolz und Abscheu.
»Barukh kara Tokrond!«, brüllte er, um sich selbst Mut zu machen.
Sein Schlachtruf zeigte sofort Wirkung. Zwei der Lichtlosen fuhren herum und kamen nun mit angelegten Speeren direkt auf ihn zugestürmt. Ihre Barteln peitschten gierig umher, ihre breiten Münder waren klaffend geöffnet.
Mit zitternden Fingern legte Gorin einen neuen Bolzen ein und zog den Hebel durch, während die Lichtlosen immer näher kamen. Er schoss auf den vorderen Angreifer, und der Bolzen bohrte sich in dessen bleichen Schädel. Bläuliches Blut spritzte hervor, als die Kreatur zusammenbrach. Der zweite Gegner stürmte ungerührt weiter vorwärts. Panisch realisierte Gorin, dass er keine Zeit mehr hatte, die Armbrust noch einmal nachzuladen. Er ließ die Waffe fallen und zog seine Handaxt aus der Gürtelhalterung. Leider war der Nahkampf mit der Axt alles andere als seine Stärke.
Schon stand der Lichtlose direkt vor ihm und stieß mit dem Speer zu. Gorin versuchte auszuweichen, wobei ihn die Spitze an der Seite erwischte. Die Glieder des Kettenpanzers hielten stand, aber der Stoß in die Rippen ließ Gorin taumeln. Er hob die Axt und schlug grimmig in Richtung des Angreifers zu. Mit einem dumpfen Geräusch blieb das Axtblatt in einer der ledernen Schulterplatten stecken. Der Lichtlose stieß ein zischendes Fauchen aus, wirbelte den Speer herum und riss Gorin mit dem Keulenende von den Füßen.
Gorin sah plötzlich die Höhlendecke über sich und spürte den harten Boden unter seinem Rücken. Er tastete hektisch nach der Handaxt, die er beim Sturz verloren hatte. Schmerz zuckte durch seinen Körper, als der Lichtlose mit beiden Füßen auf seinem Brustkorb landete. Jetzt ragte er über ihm auf, wirkte auf einmal riesig groß, schien die ganze Welt einzunehmen. Eine dicke blaue Zunge fuhr zufrieden an den klingenscharfen Zahnreihen entlang. Dann hob der Lichtlose mit beiden Händen den Speer, um die Spitze direkt in Gorins ungeschütztes Gesicht zu stoßen. Gorin versuchte verzweifelt, sich aufzurichten, doch das Gewicht des Lichtlosen presste ihn an den Boden. Er zischte triumphierend – und kippte plötzlich mit einem leisen Stöhnen zur Seite. Aus seinem geborstenen Schädel ragte der Schaft einer Wurfaxt.
Gorin atmete aus und kämpfte sich auf die Beine. Diese Wurfaxt kam ihm bekannt vor.
»Du brauchst mehr Übung, kleiner Bruder!«, rief ihm Galdra über den Kampflärm hinweg zu, ehe sie sich wieder ihren Gegnern zuwandte.
Gorin schloss kurz die Augen und zwang sich, ruhig zu werden. Er wäre eben beinahe umgekommen. So etwas konnte passieren in einem Kampf. Er musste weitermachen, durfte nicht nachdenken, musste die anderen unterstützen …
Er bückte sich, um seine Waffen wiederaufzunehmen. Dabei fiel sein Blick auf den Lederpanzer des toten Lichtlosen vor ihm. Auf Brusthöhe war in die Rüstung ein Emblem eingeprägt. Es zeigte eine schwere, gewundene Eisenkette auf rostrotem Grund – das Feldzeichen des Kettenfürsten. Gorin schnaubte. Diese Lichtlosen waren keine einfachen Plünderer. Es waren Tunnelkämpfer der Kettenheere! Plötzlich fielen ihm wieder die Zügel des Felsenwyrms ein. Umso wichtiger, dass sie zurückgeschlagen wurden!
Obwohl die Lichtlosen in der Überzahl waren, hielt die Reihe der Zwergenkrieger ihnen stand, wie kleine stählerne Klippen, an denen sich ein bleiches Meer brach. Ihre Meisteräxte und festen Rüstungen waren den primitiven Waffen der Angreifer überlegen. Obmann Naribran schmetterte gerade zwei Angreifer zugleich mit seiner Doppelaxt zu Boden. Nurdrin trieb eine ganze Gruppe der bleichen Gestalten mit seiner Stahlsturm-Kettenaxt vor sich her, ohne dabei in die Reichweite ihrer Speere zu geraten.
Galdra wütete mit ihrer Stabaxt unter ihnen, ganz dicht an der Gangmündung. Gerade stürmten sechs weitere Lichtlose daraus hervor und hielten auf sie zu. Galdra, die mit zwei Gegnern zugleich beschäftigt war, bemerkte sie nicht. Und niemand war dazwischen, um sie aufzuhalten. Mit so vielen Gegnern auf einmal dürfte selbst seine wilde Schwester Probleme bekommen.
Ohne nachzudenken griff Gorin in den Köcher und suchte mit den Fingern das Seitenfach mit den besonderen Bolzen. Es waren Runenbolzen, die er selbst unter Onkel Barudrins Anleitung mit Zauberzeichen versehen hatte. Wofür war er ein Runenschmied! Er wählte einen Bolzen, der die Zeichen Adrakh und Nuraz trug. Stahl und Zerstörung. Dann spannte er die Armbrust, legte auf einen der Lichtlosen in der Sechsergruppe an und rief seiner Schwester eine Warnung zu. Galdra wandte den Kopf ab und duckte sich. Die Spannvorrichtung klackte, und der Bolzen fand sein Ziel. Als er in der Brust des Lichtlosen einschlug, explodierte er in einer Wolke aus Stahlsplittern, die in alle Richtungen flogen. Vier von sechs Angreifern gingen zu Boden. Die zwei Verbleibenden humpelten angeschlagen auf Galdra zu, die sie mit ihrer Axt schon erwartete.
»Guter Schuss!«, brüllte Nurdrin Gorin zu. Der grinste erleichtert. Nurdrin war einer der stärksten Kämpfer von Tokrond in seiner Generation, einer jener Zwerge, die mit der Streitaxt umgehen konnten wie die Helden der alten Lieder, die fässerweise Bier vertrugen und sich in den Höhlen auskannten wie in ihrer eigenen Werkzeugkiste. Und er hatte Gorin im Kampf gelobt! Er hatte …
Die Lichtlosen sprangen plötzlich zur Seite. Ein Schneesturm ergoss sich heulend aus der Gangmündung und beharkte die Zwergenkrieger in der Nähe mit fingerlangen Eissplittern. Galdra ging unter seiner Wucht in die Knie. Der Sturm endete so plötzlich, wie er gekommen war, und ließ die Zwerge mit hässlichen Schnittwunden im Gesicht, Raureif in den Bärten und klammen, steifen Gliedern zurück. Auch Galdra schien verletzt zu sein, war aber schon dabei, sich wieder aufzurappeln.
»Hexerei!«, schnaufte Nurdrin empört.
»Das kam aus dem Gang«, ergänzte Gorin.
»Den greifen wir uns! Komm mit, Runenschmied!«
Er stürmte voran und bahnte sich einen Weg durch die Lichtlosen. Gorin blieb mit seiner Armbrust dicht hinter ihm. Sie rannten an Galdra und den anderen vorbei, die schon wieder in Nahkämpfe mit den bleichen Geschöpfen verwickelt waren, und hielten auf die Gangmündung zu. Drei weitere Lichtlose kamen ihnen entgegen. Zwei fielen der Kettenaxt zum Opfer, einer ging mit einem Bolzen im Schädel zu Boden.
Dann drangen Nurdrin und Gorin direkt in den Gang ein. Er war rund und einigermaßen röhrenförmig, so wie die Körpermaße des Felsenwyrms, der ihn gefressen hatte. Vom Wyrm selber war vor ihnen nichts zu sehen, auch tauchten keine Lichtlosen aus dem Dunkel auf. Vielleicht war der schlimmste Ansturm schon vorbei?
In dem Moment sahen sie die beiden Gestalten im Gang vor sich. Beide waren hochgewachsen. Die eine war eine blasse Frau, die eine benietete Lederrüstung unter einem purpurfarbenen Umhang trug. Ihre langen brünetten Haare wurden von einem Silberreif bekränzt, der aus filigranen Kettengliedern geformt war. Sie hatte feine, aber scharf geschnittene Gesichtszüge und große amethystfarbene Augen. Die spitzen Ohrmuscheln zeigten, dass sie zum Elbenvolk gehörte, die arkanen Symbole auf ihrem Umhang wiesen sie als Zauberin aus.
Die Gestalt neben ihr war ein leibhaftiger Ork. Er trug eine Rüstung, die aus Plattenteilen und Kettenzeug zusammengesetzt war, allesamt lackiert in blau-grünen Mustern. Seine Haut war grau und lederartig, die wettergegerbten Gesichtszüge wurden dominiert von zwei mächtigen Hauern, die aus seinem Mund ragten. Die schwarzen Haare trug er zu einem Kriegerzopf gebunden, und in jeder Hand führte er einen gekrümmten Säbel aus einem merkwürdigen gelblichen Material.
Gorin erinnerte sich, dass Orks Knochenschmiede waren. Sie vermochten mit geheimen Ritualen die Knochen ihrer gefallenen Gegner zu Waffen von erstaunlicher Härte zu formen. Zudem galten ihre Horden als die gefürchtetsten Elite-Truppen des Kettenfürsten. Und dass man Elben nicht trauen durfte, war ja allgemein bekannt.
»Barukh kara Tokrond!«, brüllte Nurdrin und stürzte sich direkt auf den Ork-Krieger.
»Az rârg Kettanfuurst!«, bellte der Ork und sprang mit erschreckender Behändigkeit vor. Der Säbel in seiner Linken parierte die heransausende Axtklinge des Stahlsturms, der rechte Säbel schlug die Kette der Waffe beiseite. Dann stand er auch schon ganz dicht vor Nurdrin, der dem Ork mit seinem Panzerstiefel gegen die Beine trat. Dieser stöhnte auf und schlug nach dem Zwerg. Nurdrin ließ den Stahlsturm fallen, zog einen Handhammer mit langer Dornenspitze aus dem Gürtel und attackierte damit die Brustplatte des Orks. Die beiden verschmolzen zu einem Gewirr aus Klingen und Hieben.
Gorin wandte sich der Elbin zu, die immer noch auf der Stelle stand und ihre Amethystaugen halb geschlossen hatte. Ihre Lippen bewegten sich tonlos, mit den Fingerspitzen zeichnete sie Muster in die Luft. Offensichtlich bereitete sie erneut irgendeine Hexerei vor. Doch Gorin ließ ihr keine Zeit für weitere Untaten und feuerte seine Armbrust auf sie ab. Der Bolzen traf die Elbin am Oberkörper – und prallte von ihrem purpurfarbenen Umhang ab, als wäre es ein massiver Stahlharnisch. Ein verdammter Schutzzauber, elbische Hinterlist!
Die Elbin schlug die Augen auf und schaute Gorin direkt an, die Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln verzogen. Gorin griff hastig nach dem Seitenköcher mit den Runenbolzen, während seine Gegnerin mit spitzen Fingern eine Art Schneeflocke aus Kristallglas aus einer ihrer Gürteltaschen zog. Sie warf die Flocke sanft, fast nachlässig, in Gorins Richtung.
Eine Woge aus Kälte traf ihn, als sich seine Finger gerade um einen Bolzen schlossen. Von einem Herzschlag auf den anderen fror er wie im tiefsten Winter. Sein Körper zitterte, seine Knochen schienen zu Eis zu erstarren. Die Finger wurden so steif, dass er sie kaum noch bewegen konnte – genauso wenig wie seine Arme, seine Beine, den Kopf … Gorin war ein hilfloser Gefangener im eigenen Körper, umhüllt von Winterstarre.
Nurdrin hatte inzwischen den Ork-Krieger zu Boden gezwungen. Sein Hammer sauste immer wieder auf den blau-grün lackierten Panzer des Gegners nieder, schlug Dellen hinein, durchstieß ihn schließlich. Ein Knochensäbel klapperte auf den Boden. Der Arm des Orks erschlaffte.
Nurdrin ließ von seinem Gegner ab und rannte brüllend auf die Elbenzauberin zu. Diese zog mit einem müden Lächeln eine weitere Schneeflocke hervor und warf sie nach ihm. Entsetzt musste Gorin mit ansehen, wie auch sein Kampfgefährte immer langsamer wurde und schließlich mitten im Laufen erstarrte. Die Elbin trat an ihn heran.
Verzweifelt befahl Gorin seinen Fingern, sich um den Armbrustbolzen zu schließen. Langsam, ganz langsam kamen sie dem Geschoss näher, berührten schließlich seinen Schaft. Er spürte den Umriss einer Rune unter den Fingerkuppen. Indraz. Feuer. Leider war er viel zu steif, um den Bolzen aus dem Köcher zu ziehen, geschweige denn die Armbrust durchzuladen. Aber vielleicht gab es noch eine andere Möglichkeit … Gorin konzentrierte sich.
Die Elbin hatte inzwischen Nurdrin erreicht. Sie kniete sich hin, sodass sie auf Augenhöhe mit dem Zwerg war, dann fasste sie sich an den Hals und hantierte mit den Fingern. Plötzlich hielt sie eine Kette in den Händen, eine wuchtige Kette mit dicken Gliedern, wie auf dem Wappen des Kettenfürsten, aber geformt aus reiner schwarzer Dunkelheit. Sie wand sich zwischen den Fingern der Elbin wie eine Schlange aus Schatten. Die Zauberin legte Nurdrin die schwarze Kette um den Hals, behutsam, fast liebevoll.
»Gnarrh!«, stöhnte Gorin, als es ihm endlich gelang, die Feuer-Rune auf dem Bolzen zu aktivieren. Hitze schoss ihm durch die Finger, seinen Arm hinauf, bis in die Schulter und den Oberkörper hinein. Sie vertrieb den Fluch der Kälte aus seinen Knochen. Seine Finger schmerzten infernalisch. Die Entladung hatte ihm gewiss ein paar Brandblasen verpasst, aber das war jetzt egal!
Gorin ignorierte den Schmerz und zog den Bolzen mit den mächtigsten Runen hervor. Es hatte ihn Tage an Arbeit gekostet, das Geschoss zu fertigen. Auf seinem Schaft war dreimal die Rune Gorkh eingraviert. Stein.
Während Gorin die Armbrust spannte, zog sich die schattenhafte Kette immer enger um Nurdrins Hals zusammen; als er die Waffe hob, lagen die wuchtigen Glieder hauteng an dessen Kehle. In dem Moment, als er den Abzug drückte, verschwammen die Umrisse der Kette und schienen mit Nurdrins Hals zu verschmelzen.
Gorins Bolzen traf wieder den Oberkörper der Elbin, die sich gerade aufrichtete. Seine Spitze scheiterte am Schutzbann ihrer Gewänder, aber der Zauber seiner Runen tat dennoch seine Wirkung. Die Elbin verfärbte sich plötzlich grau. Ihre Haut, ihre Haare, ihre Kleidung, ihre Amethystaugen: Alles nahm die Farbe von Gestein an. Ihre Bewegungen wurden langsamer, als sich ihre Glieder nach und nach zu Fels verhärteten. Mit steifen Fingern berührte sie einen Ring an ihrer linken Hand und drehte ihn einmal herum – eine Woge aus grünlichem Licht flutete über ihren Körper und verblasste wieder. Jede Spur von Grau war verschwunden.
Die Zauberin stand wieder aus Fleisch und Blut vor Gorin. Sie nickte ihm spöttisch zu. Dann verschwammen ihre Umrisse, verdichteten sich und formten schließlich die Gestalt einer mächtigen Libelle von der Länge eines Unterarms. Ihr dicker Leib schillerte purpurfarben. Das riesige Insekt schwebte für einen Moment auf der Stelle und verschwand dann surrend in der Dunkelheit des Ganges.
Stöhnend sackte Nurdrin zusammen, als der Kältezauber von ihm abfiel. Gorin eilte an seine Seite. Von der schwarzen Kette war nichts mehr zu sehen.
»Alles in Ordnung?«
»Denke schon«, brummte Nurdrin grimmig, doch seine Gesichtsfarbe verriet etwas anderes.
»Was war das für eine Kette?«, hakte Gorin nach. »Was hat sie mit dir gemacht?«
Nurdrin schüttelte unwillig den Kopf. »Weiß nicht. Irgendeine Hexerei. Hat aber nicht geklappt. Wir Zwerge haben eben einen dicken Schädel, auch gegenüber Magie. Komm jetzt, zurück zu den anderen!«
Sie verließen den Gang im Laufschritt. Draußen in der Höhle stand inzwischen keiner der Lichtlosen mehr auf den Beinen. Ihre blassen Körper waren auf dem Felsboden verstreut. Doch auch viele der Zwerge waren verletzt und atmeten schwer. Sie hatten sich um etwas versammelt, das auf dem Boden lag. Als Gorin und Nurdrin zu ihnen stießen, sahen sie, dass es ein Körper im Kettenmantel war.
Der alte Turidran sah auch im Tod noch grimmig und entschlossen aus. Das Bild des gestandenen Zwergenkriegers wurde nur von dem Keulenspeer eines Lichtlosen gestört, der in seinem Hals steckte, weshalb der graue Bart mit Blut durchtränkt war.
»Barudrin?«, fragte Obmann Naribran gerade auffordernd. Als ältester anwesender Runenschmied oblag es Gorins Onkel, die Sterbestrophe für seinen Gildenbruder zu sprechen.
Er räusperte sich unbehaglich und rieb sich den linken Arm, der offenbar einen Keulenhieb abbekommen hatte. Seine Stimme klang rau:
»Des Schicksals Hammerschlag hat dich geformt,
verlieh dir Kanten und Gestalt.
Nun wird geschmolzen, was einst war.
Der Schmied gibt neue Form dir bald.
Tandrakh Dar-Dwaldarin.«
»Tandrakh Dar-Dwaldarin«, murmelten alle Zwerge bestätigend. Es folgte beklommenes Schweigen.
Als Nurdrin schließlich zu reden ansetzte, klang es wie üblich viel zu laut: »Wir haben im Gang einen Ork-Krieger ausgeschaltet und eine Kriegszauberin vertrieben! Das waren keine Plünderer aus den Tiefen Höhlen. Das war ein Stoßtrupp der Kettenheere!«
Grimmiges Nicken in der Runde. Es gab wohl keinen Zwerg, dem die Abzeichen der lichtlosen Tunnelkämpfer nicht aufgefallen wären.
»Und habt ihr gesehen, dass der Felsenwyrm Zügel trug?«, setzte Gorin leiser nach. »Er hat ihnen den Weg durch den Fels freigemacht.«
»Vielleicht ist der Schutz der Berge nicht so mächtig, wie wir gedacht haben«, murmelte Pordra.
»Unsinn!«, widersprach Galdra hitzig. Ihre Wangen trugen mehrere rote Striemen von den messerscharfen Eissplittern des Schneesturm-Zaubers. »Mit solchen Nadelstichen kriegen sie Tokrond nicht klein! Soll der Kettenfürst nur seine Stoßtrupps schicken, wir empfangen jeden einzelnen mit Hammer und Axt!«
Gorin kannte seine Schwester gut genug, um die Unsicherheit aus ihrer Stimme herauszuhören.
»Das war ein Jungtier«, stellte Obmann Naribran fest.
»Wie?« Galdra fiel zur Abwechslung keine Erwiderung ein.
»Ausgewachsene Felsenwyrmer haben sechs Grabkiefer«, erklärte Naribran. »Dieser hatte nur drei. Er wächst noch. Felsenwyrmer werden nur sehr langsam größer. Aber wenn dieses Monstrum seine volle Größe erreicht hat, wird es Tunnel fressen, durch die ganze Heere marschieren können.«
»Und die Hexer des Kettenfürsten haben bestimmt mehr als einen Felsenwyrm zu solcher Größe herangezüchtet«, ergänzte Pordra.
»Aber wir wissen jetzt Bescheid!«, warf Onkel Barudrin ein, in dem Versuch, etwas Positives beizutragen. »Jetzt kennen wir die Bedrohung und können uns darauf einstellen! Die Baumeister-Gilde findet gewiss irgendeine Möglichkeit, Felsenwyrm-Sperren durch den Felsen zu ziehen.«
»Gut, dass wir gerade hier waren, als sie durchbrachen«, murmelte Nurdrin.
»Das war kein Zufall.« Obmann Naribran schaute düster drein. »Sie haben uns aufgelauert, warum auch immer. Wahrscheinlich wollten sie Gefangene machen.«
Gorin dachte an die merkwürdige Kette aus Schatten, die die Elben-Zauberin Nurdrin um den Hals gelegt hatte. Gut, dass das Ding verschwunden war! Er schaute Nurdrin an und erwartete, dass dieser etwas erwähnen würde. Doch der Höhlengänger schwieg und starrte vor sich hin.
»Genug Zeit verloren!«, grollte Naribran schließlich. »Galdra, du führst die Runenschmiede zurück in unsere Hallen. Ihr nehmt auch Turidrans Körper mit euch und überbringt ihn seiner Gilde. Gebt in den Höhlengänger-Hallen Bescheid, dass wir hier draußen Verstärkung brauchen, und informiert die Baumeister, dass es einen Gang zu verschließen gilt.«
Aus Galdras Blick sprach Protest, doch offenbar hatte sie gelernt, die Befehle des Obmanns nicht in Frage zu stellen. Gorin war beeindruckt.
»Die anderen Höhlengänger bleiben hier, bewachen den Gang und beginnen mit seiner Erkundung«, kommandierte Naribran weiter. »Wenn alle ihre Aufgabe erfüllen, kann uns niemand etwas anhaben. Barukh kara Tokrond!«
Es war ein trauriger Zug, der schließlich den Rückweg durch die Höhlen antrat. Sie führten Turidran auf einer improvisierten Bahre mit sich. Galdra marschierte schweigend neben Gorin her. Als sie seinen Blick spürte, schaute sie ihn fragend an.
»Wir müssen reden, Schwester«, sagte Gorin leise.
»Über unsere Aufgabe«, erwiderte Galdra. Es war eine Feststellung, keine Frage.
»Ja«, bestätigte Gorin. »Es ist bald an der Zeit.«
LIRÁYA, DAS WALDLANDREICH DER GRÜN-ELBENIN EINEM ULMENHAIN
Etwas Seltsames lag im Gesang der Wälder. Elyami konnte nicht benennen, was es genau war. Die Baumwipfel rauschten wie immer, das Holz der Stämme arbeitete gemächlich vor sich hin, die Bäche murmelten stetig ihr Reiselied. Unterholz strebte ehrgeizig dem Licht entgegen, Farne und Pilze gediehen im Schatten. Wälle von Brennnesseln beschirmten die Verstecke, wo Tierkinder heranwuchsen, und Käfer und Würmer am Waldboden verdauten das, was gestorben war, um neues Leben hervorzubringen.
Es war das immer gleiche Lied vom ewigen Kreislauf, das die junge Elbin von Kindheit an kannte. Und doch stimmte etwas nicht damit. Man bemerkte es nur in der Stille, wenn man ganz bei sich war, sich Zeit ließ und lauschte.
Elyami hockte in einer Astgabel hoch oben in der Krone einer Ulme und ließ die Beine baumeln. Um sie herum erstreckten sich die Wälder von Liráya, ein Muster aus grünen Blättern und Sonnenlicht, und leisteten ihr beim Zeitlassen Gesellschaft.
Eigentlich hätte sie jetzt Fechtunterricht, danach Unterweisungen in der Geschichte der Elbenvölker und schließlich Kalligraphie. Das war das Albernste von allem. Wofür sollte man einen schönen Tag dazu verschwenden, tote Tinte in affektierten Schnörkeln auf Papier zu schmieren? Elyami tauchte lieber in den lebendigen Gesang der Wälder ein. Und was sie wollte, das machte sie auch. Also war sie jetzt hier, auf der Ulme, und nicht auf der Klingentänzer-Lichtung. Das würde natürlich Konsequenzen haben, aber nicht hier und nicht jetzt.
Auf ihrem Schoß balancierte Elyami den Schallkörper ihrer Inyura, einer elbischen Streichlaute. Neben dem kleinen, runden Holzkasten bestand das Instrument vor allem aus einem schlanken Hals, dessen Kopf zu einer kunstvollen Spirale gedrechselt war. Nur zwei Saiten führten vom Kopf über den Hals zum Schallkörper hinab, doch eine erfahrene Musikerin konnte ihnen ganze Welten von sanften, klagenden Tönen entlocken, wenn sie mit dem Bogen darüberstrich. Und Elyami war erfahren. Sie war eine Grünsängerin, die es gelernt hatte, ihre Musik mit dem Lied der Wälder zu verschmelzen, daraus Kraft zu ziehen und die Töne zu Magie zu verweben. Vorsichtig führte sie den Bogen in einem bestimmten Winkel über die Saiten und lauschte auf das Echo der Wälder. Das Rauschen der Bäume antwortete auf ihr Saitenspiel, erzeugte eine Harmonie. Und doch fühlte es sich nicht richtig an. Was war nur los?
Ungeduldig warf Elyami den Kopf zurück. Früher hatte sie mit dieser Geste ihr Haar nach hinten geworfen, wenn es sie beim Spielen gestört hatte. Doch seit ihre Kalligraphie-Meisterin sich begeistert darüber ausgelassen hatte, wie standesgemäß und angemessen ihre schönen langen Haare doch für eine junge Elbin waren, trug Elyami einen kurzen Pagenschnitt. Lediglich eine einzelne Strähne ihrer kupferroten Mähne hatte sie als Erinnerung behalten und sie zu einem langen Schläfenzopf geflochten, in dem sie all jene Blätter, Blüten, Tierknochen und Stöckchen einband, die sie im Laufe eines Waldtages in die Finger bekam.
Elyami ließ den Bogen sinken und brachte ihre Inyura zum Schweigen. Sie schloss die Augen und summte leise vor sich hin, um ganz genau auf den Widerhall im Lied der Wälder zu lauschen. Hier irgendwo musste der Fehler liegen, die Dissonanz, die sie beunruhigte, das Stottern in der Harmonie.
»Elyami!« Die Stimme ihres Bruders riss sie aus der Konzentration. Sie wusste, dass es Elyamur war, noch bevor sie den Klang seiner Stimme richtig zuordnen konnte. Jedes Mal, wenn sie sich von ihren Pflichten zurückzog, ging sie einfach drauflos in den Wald hinein und wählte aus dem Bauch heraus einen beliebigen Baum als Versteck. Und jedes Mal gelang es ihrem Bruder, sie aufzutreiben, wenn er es wirklich darauf anlegte.
»Elyami!«
Seine Stimme kam näher.
»Hat es irgendeinen Zweck, wenn ich dir sage, dass ich tot bin und meine Ruhe haben will?«, rief sie nach unten.
»Nein!«, erwiderte Elyamur leichthin. Einige Herzschläge später tauchte er vor ihr auf. Er ersparte sich die Mühe, den Baumstamm zu erklettern, und lief einfach durch die freie Luft, als würde er eine unsichtbare Treppe besteigen. Elyami wusste natürlich, dass ihr Bruder die leichtfüßige Kampfkunst des Wolkentanzes erlernte, aber es war doch immer wieder beeindruckend, wie seine Füße mitten im Nichts Halt fanden.
Sie bemerkte, dass Elyamur seine Rüstung aus Adamantglas angelegt hatte. Das leichte Material aus elbischer Fertigung war milchig-durchsichtig und schützte mindestens so gut wie eine menschliche Rüstung aus schwerem Stahl. Elyamur besaß einen Brustharnisch, Armschienen und Beinschienen aus Adamantglas, die er mit einem tiefgrünen Umhang zu kombinieren pflegte. Sein kupferrotes Haar hatte er zu drei Zöpfen geflochten, die darauf ausgelegt waren, im Kampf nicht zu stören. Seine Waffe war ein schlankes elbisches Langschwert mit säbelartig gebogener Klinge. Er pflegte es einhändig zu führen, um seine linke Hand für die diversen Wurfsterne freizuhalten, die an seinem Gürtel glitzerten. Entwaffnender als seine Klingen aber waren sein breites Lächeln und die strahlend grünen Augen.
Er kam auf einem Ast in Elyamis Nähe zum Stehen und verbeugte sich beiläufig.
»Schwester, wir müssen los!«
»Hat Meister Lindramur dich geschickt? Du kannst ihm gerne sagen, wo er sich seinen Fechtunterricht hinstecken kann: genau dahin, wo Geschichte und Kalligraphie auch hingehören!« Elyami war ungehalten über die Störung. Sie stand so kurz davor, die Quelle der Dissonanz zu entdecken.
»Wo hast du nur diese menschliche Ausdrucksweise her?«, fragte Elyamur mit hochgezogenen Augenbrauen. Er hatte schon immer mehr Wert auf kultiviertes Betragen gelegt als seine ungestüme Zwillingsschwester. »Ich komme nicht wegen des Fechtens, Elyami. Ich wollte dir nur sagen, dass sie kommt.«
»Du meinst …?«, fragte Elyami mit plötzlicher Erregung.
»Ja. Sie kommt.«
»Ist sie schon da?«
Elyamur schüttelte den Kopf. »Die Grenzwächter haben gemeldet, dass sie sich nähert. Wenn wir uns beeilen, sind wir noch vor ihr am Versammlungsplatz.«
Elyami hatte den Impuls, sofort aufzuspringen und loszustürmen. Sie unterdrückte ihn erfolgreich und zuckte beiläufig mit den Schultern.
»Dann müssen wir wohl los.«
Sie schulterte ihre Inyura samt Bogen mit einem Trageriemen. Dabei war sie sich gar nicht sicher, wie glücklich sie über die Nachricht sein sollte.
»Willst du wirklich so zum Versammlungsplatz?«, fragte Elyamur stirnrunzelnd.
Elyami schaute an sich hinab. Sie trug eine kurze tannengrüne Tunika mit maigrünem Besatz, dazu braune Beinkleider aus weichem Leder. Die Sachen waren vielleicht schon ein bisschen zerschlissen von ihren Streifzügen durchs Unterholz und wiesen ein paar Matschflecken und den einen oder anderen Riss auf. Aber sonst …
»Ja, will ich«, entgegnete sie mit einer Bestimmtheit in der Stimme, die ihr Bruder nicht überhören konnte.
Doch Elyamur blieb hartnäckig: »Findest du nicht, dass gerade für eine Grünsängerin ein Kleid aus Spinnwebseide für den Anlass angemessener …«
Elyami gab ihm einen kräftigen Stoß gegen den Brustpanzer, und der überraschte Elyamur kippte hintenüber vom Ast und aus ihrem Sichtfeld.
»Das bedeutet nein!«, rief sie ihm lachend hinterher. Als nach einigen Herzschlägen aber keine Antwort von ihrem Bruder kam, beugte sie sich besorgt vor. Vielleicht hatte sie seine Fähigkeiten doch überschätzt?
»Danke. Das hätte ich auch so verstanden«, sagte Elyamur und balancierte einige Meter unter ihr auf einem Ast, der kaum halb so dick wie sein Arm war. »Kommst du dann?«
Er sprang vom Ast, stieß sich vom Baum gegenüber ab und landete mit einer Luftrolle auf dem Waldboden.
»Angeber«, murmelte Elyami und machte sich an den Abstieg.
Die beiden Geschwister streiften schweigend durch die Wälder von Liráya in Richtung Versammlungsplatz. Beide waren mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, was ihre Ankunft bedeuten mochte. Elyami bemerkte, dass es ihr guttat, neben ihrem Bruder herzugehen. In den letzten Jahren waren die beiden so sehr mit ihrer Ausbildung beschäftigt gewesen, dass für Gemeinsames kaum Zeit geblieben war. Sie hatte sich ganz auf die Kunst des Grüngesangs gestürzt und sich eisern gegen alle Albernheiten gewehrt, die sie davon ablenken könnten. Elyamur dagegen war nicht nur ein Wolkentänzer geworden, sondern hatte auch den Unterricht in allen anderen Fertigkeiten wahrgenommen, die für ein Kind des Elbenvolks standesgemäß waren, offenbar mit Erfolg. Vielleicht war er wirklich weiser als sie. Oder einfach nur angepasster.
Als sie sich dem Versammlungsplatz näherten, trafen sie auf andere Elben, die in dieselbe Richtung unterwegs waren. Lindramur, der Fechtmeister, warf Elyami einen langen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen zu, sagte aber nichts. Elyami summte ungerührt vor sich hin und knuffte Elyamur in die Seite, als er sich entschuldigend in Lindramurs Richtung verbeugte.
Der Versammlungsplatz war eine große, annähernd kreisförmige Lichtung, die mit einem Meer bunter Blumen bewachsen war. Am hinteren Rand der Lichtung hatte man eine Holzplattform aus lebendigen Bäumen errichtet, durch alte Grün-Elben-Magie miteinander verflochten. Sie zog sich halbmondförmig am Waldrand entlang und wurde von einer pavillonartigen Laube aus üppigen Wildrosenhecken beschattet. Hier standen im Halbkreis die Throne der vier Jahreszeiten-Könige, die im Namen der Träumenden Königin über die Geschicke des Grün-Elbenreiches wachten.
Die eintreffenden Elben sammelten sich an den Rändern der Lichtung und ließen den Platz um die große Feuerstelle in der Mitte frei. Es waren Vertreter aller Sippen gekommen. Die meisten hatten ihre edelsten Gewänder angelegt.
Elyami und Elyamur gesellten sich zu ihren Angehörigen, den Birkenkindern. Es waren zumeist schlanke und etwas blasshäutige Elben, darunter auch ihre Lehrmeister. Jeder Grün-Elb wuchs als Spross der gesamten Sippe auf, er war ein Kind von allen und wurde von allen unterrichtet. Elyami spürte zahlreiche Blicke auf sich. Waren sie missbilligend, wegen ihrer Kleidung oder wegen ihres Fehlens vom Unterricht? Waren sie neugierig, weil sie wussten, dass ihr Kommen etwas mit Elyami zu tun hatte? Ehrfürchtig? Besorgt? Sie entschied sich, es zu ignorieren und sich lieber auf der Lichtung umzuschauen.
Den Birkenkindern gegenüber hatten sich die Eichenkinder versammelt: große und kräftige Elben, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden standen. Daneben tummelten sich rotwangig und fröhlich die Apfelkinder, weiter hinten standen die Tannenkinder mit ihren ernsten Mienen, gewandet in dunkelgrüne Umhänge. Die Holunderkinder rochen bis hierher würzig nach ihren Heilkräutern und Tinkturen, die Weidenkinder schienen sich selbst stehend im Tanz hin und her zu wiegen.
Elyami ließ den Blick zur Plattform mit den Thronsesseln wandern, wo der Rat der Jahreszeiten schon Platz genommen hatte. Ganz links saß Yurami, die Frühlingskönigin, auf einem blütengeschmückten Thron. Sie war eine kleine, feingliedrige Wildrosentochter in einem regenbogenfarbenen Seidenkleid und schien beständig vor sich hin zu lächeln. Ihre Aufgabe im Rat bestand darin, offen für neue Ideen zu sein und den Kontakt zu den Völkern außerhalb der Wälder zu pflegen.
Daneben saß Undramur, der Sommerkönig, auf seinem grünen Laubthron. Er war ein stattlicher Eichensohn mit sonnengebräunter Haut in einem reich verzierten Adamantglas-Harnisch. Es war seine Pflicht, das Bestehende zu bewahren und die Wälder zu verteidigen.
Rayamur, der Herbstkönig, stammte von den Ahornkindern, sein Thron war mit bunten Blättern und Beeren geschmückt. Der nachdenkliche Elb mit kantigem Kinn war dafür zuständig, die Fülle des Lebens über sein Volk auszuschütten und dafür zu sorgen, dass es mit Nahrung und allem Notwendigem versorgt war.
Ganz rechts saß Siyandri, die Winterkönigin, auf ihrem schwarzen Thron, an dessen Lehne Eiszapfen glitzerten. Die Tannentochter in schlichten weißen Seidengewändern war selbst für eine Elbin alt. In ihren hellen, gleichmütigen Augen schimmerten die Erinnerungen vieler hundert Winter. Ihr oblag es, offen für Visionen und Eingebungen zu sein und gute Beziehungen zu den zahlreichen Geistern der Wälder zu unterhalten. Vor ihr hatte Elyami am meisten Respekt. Sie sprach nur, wenn es etwas zu sagen gab, und verzichtete auf umständliche Blumigkeit.
»Ob Siyandri es schon bemerkt hat?«, murmelte Elyami.
»Was meinst du?«, flüsterte Elyamur.
»Mir ist heute Morgen etwas aufgefallen, als ich im Wald allein war. Mit der Harmonie stimmt etwas nicht.« Elyamur verstand nicht wirklich etwas von solchen Dingen, aber es tat Elyami gut, mit ihm darüber zu reden. »Es gibt da einen Missklang im Gesang der Bäume, der …«
»Sie kommt! Sie kommt!« Ein kleines Mädchen von den Apfelkindern lief aufgeregt im Kreis herum und deutete nach oben. Nun schauten auch die anderen hinauf.
Ein einzelner Schwan näherte sich der Lichtung im Flug, sein weißer Körper glänzte wie frischer Schnee in der Sommersonne. Lediglich an seinen Schläfen konnte Elyami mit ihren scharfen Augen graue Federn ausmachen, die sich als keilförmiges Muster um seinen Kopf zogen. Sie kannte dieses Muster gut.
Der Schwan landete auf dem freien Platz bei der Feuerstelle inmitten der wartenden Elben. Er reckte den Hals und schlug mehrmals mit den Flügeln, als müsste er sich nach der Ankunft erst ordnen. Dann verschwammen seine Umrisse, dehnten sich aus und zogen sich in die Länge. Drei Herzschläge später stand eine alte Menschenfrau an seiner Stelle auf dem Versammlungsplatz.
Obwohl der Tag warm war, trug sie einen schweren Mantel, der mit weißem Pelz besetzt war. Auch ihr Haar, das mit drei Silbernadeln zu einem Knoten aufgesteckt war, schimmerte weiß. Die knöchrigen Finger ihrer linken Hand umfassten einen mächtigen Knotenstab, der größer war als sie selbst. Elyami hatte nie ergründen können, von welchem Baum das dunkle, fast schwarze Holz eigentlich stammte. In die Furchen waren zahllose Edelsteine eingelassen, die wie bläuliche Sterne funkelten. Ansonsten war die Frau frei von jeglichem Schmuck. Unter dem Mantel trug sie einen einfachen grauen Kittel, an der Hüfte von einem Gürtel zusammengehalten, an dem allerlei Beutel und praktische Utensilien befestigt waren. Ihre klaren Züge waren faltenzerfurcht und wurden dominiert von großen tiefblauen Augen über einer steilen Nase.
Elyami schien es, als seien die Falten der Frau seit ihrem letzten Besuch noch tiefer geworden. Es hatte sie schon immer fasziniert und erschreckt zugleich, wie schnell die Menschen dahinwelkten. Wie es wohl war, in einem Körper zu stecken, der solchen Veränderungen ausgesetzt war? Die Vorstellung machte Elyami Angst, aber sie empfand absurderweise auch Neid. Sie mochte Veränderungen.
Yurami, die Frühlingskönigin, erhob sich vom Thron und begann zu sprechen, denn ihr oblag es, das Wort an Gäste zu richten.
»Yà Murián lao’yasá, Winterseherin. Der Rat der Jahreszeiten begrüßt Euch im Namen der Träumenden Königin, die über die Wälder wacht.«
»Yà Murián lao’yasá, Yurami-suya«, erwiderte die Alte die Begrüßung. »Ich danke dem Rat für seine Gastfreundschaft und erweise der Träumenden Königin meinen Respekt.«
Ihr Grünwort war tadellos, wenn auch ihre Menschenstimme nicht alle Obertöne der Elbensprache zu formen vermochte. Sie wandte sich nacheinander auch an die anderen Jahreszeiten-Könige und erbrachte knapp, fast ungeduldig ihren Gruß. Nur mit der Winterkönigin tauschte sie einen langen Blick.
Winterseherin und Winterkönigin. Man hatte Elyami erklärt, dass die Alte bei den Menschen Winterseherin genannt wurde, weil sie das ganze Jahr über rastlos durch die Lande zog und sich nur für den Winter in irgendeiner Stadt, einem Dorf oder an einem Königshof niederließ, um den Leuten mit ihrem Rat beizustehen. Die Winterkönigin hingegen hatte ihren Titel, weil sie in Liráya über diese Jahreszeit herrschte, die man bei den Elben traditionell mit der Gabe der Magie in Verbindung brachte. Trotzdem fragte sich Elyami, ob eine geheimnisvolle Verbindung zwischen den beiden Frauen bestand.
Schließlich wandte sich die Alte vom Rat der Jahreszeiten ab und ließ den Blick unruhig über die versammelten Elben schweifen. Als sie Elyami und Elyamur inmitten der Birkenkinder entdeckte, nickte sie zufrieden. Sie ging ein paar Schritte auf sie zu, wobei sie sich auf ihren Stab stützte. Die Zwillinge traten vor und verbeugten sich stumm.
»Elyamur Birkensohn«, sagte die Seherin. »Vor drei Sommern hast du geübt, beim Wolkentanz höher als die Schultern deiner Gegner zu laufen. Beherrschst du inzwischen diese Kunst?« Sie redete mit ihm, als wären sie nicht von Dutzenden Zuhörern umgeben. Elyamur nickte bescheiden.
»Inzwischen erreiche ich die Baumwipfel, Winterseherin.«
»Gut.« Sie wandte sich Elyami zu. »Elyami Birkentochter, du hast dich darin versucht, die Waldgeister mit deinem Grüngesang herbeizurufen. Folgen sie dir?«
»Das tun sie, Winterseherin.« Elyami zwang sich, der Alten in die großen, klaren Augen zu blicken. Ihr wurde schwindelig, aber sie hielt ihrem Blick tapfer stand.
»Gut. Und hast du inzwischen gelernt zu folgen, Elyami?«
»Was?« Nun musste sie doch blinzeln. Sie spürte, wie ihre Wangen rot und warm wurden. »Nein, Winterseherin«, antwortete sie schließlich verdattert.
Die Alte nickte. »Gut.«
»Was kann das Grünvolk von Liráya für Euch tun, Alte mit den Schwanenfedern?«, fragte nun Frühlingskönigin Yurami, um die Winterseherin daran zu erinnern, dass sie vor dem Rat sprach. Klang ihre Stimme nur amüsiert oder lag auch ein Vorwurf darin?
Mit einem ungeduldigen Knurren wandte sich die Seherin von den Zwillingen ab und dem Rat zu. »Ich bin gekommen, um wieder einmal die Gastfreundschaft der Elbenlande zu erbitten, Yurami-suya. Ich möchte mir einige Tage lang ein Bild davon machen, wie die Zwillingsseelen des Orakelspruchs heranwachsen.«
Elyami verzog das Gesicht. Sie hasste es, so genannt zu werden! Elyamur hingegen lächelte stolz vor sich hin.
»Die Bitte sei Euch gerne gewährt, Winterseherin«, antwortete Yurami. »Seid unser Gast, so lange Ihr es wünscht. Die Eichenhütte am Forellenfall soll wieder Euch gehören.«
»Habt dank, Yurami-suya.« Die Winterseherin verbeugte sich höflich, aber knapp. »Außerdem habe ich ein weiteres Anliegen. Wenn ich diesmal von Euch aufbreche, werde ich wandern und nicht fliegen, denn die Zwillinge werden mich begleiten. Es ist an der Zeit, dass ich sie der Aufgabe zuführe, für die sie ausersehen sind.«
Schlagartig wurde es so still auf dem Versammlungsplatz, dass man in der Ferne das Pochen eines Spechts hören konnte. Dann brach ringsum lebhaftes Gemurmel unter allen Elbensippen aus. Elyami tauschte einen Blick mit Elyamur, der seinen Schwertgriff fest umklammerte.
»Dieses Ansinnen kann der Jahreszeiten-Rat nicht gewähren, Winterseherin!« Nun sprach Undramur, der Sommerkönig. Seine Stimme war so fest wie das Adamantglas seiner Prunkrüstung. »Elyami und Elyamur von den Birkenkindern haben noch nicht genug Sommer gesehen. Sie haben viel zu lernen, bis sie für große Taten bereit sind. Solange werden sie im Schutz der Wälder von Liráya verbleiben.«
Auch Rayamur, der Herbstkönig, ergriff das Wort. Er sprach mit einem sanften Bariton: »Das Grünvolk braucht die Zwillingsseelen des Orakelspruchs. Sie geben den Sippen Hoffnung und Zuversicht in dunklen Tagen. Auf diesen Segen sind wir angewiesen, denn die Bande, die der Kettenfürst um die Welt legt, werden immer erdrückender. Die meisten Reiche der Menschen sind bereits gefallen, andere werden folgen. Niemand weiß das besser als Ihr, Winterseherin.«
Elyami schaute zwischen Undramur und Rayamur hin und her und wusste nicht, was sie davon halten sollte. Durften die Könige einfach so über sie bestimmen? Und tat die Winterseherin denn etwas anderes? Was wollte sie selbst? Sie warf Elyamur einen Seitenblick zu. Die Augen ihres Bruders funkelten mit einem seltsamen, stählernen Glanz, wie sie ihn noch nie gesehen hatte.
»Gerade, weil die Kettenheere immer weiter vorrücken, ist es für die Zwillinge an der Zeit, auszuziehen«, erwiderte die Winterseherin. »Der Kettenfürst muss aufgehalten werden, ehe er absolute Macht erlangt hat.«
»Zwei junge, halb ausgebildete Elben gegen den Kettenfürsten und seine endlosen Heere?«, fragte die Frühlingskönigin Yurami.
Die Winterseherin schnaubte ungeduldig: »Ja, aber keine zwei gewöhnlichen jungen Elben. Die Zwillingsseelen des Orakelspruchs!«
Sie stieß ihren Stab auf den Boden. Ein mächtiger, dumpfer Glockenton hallte durch den Wald und brachte jedes Gemurmel zum Verstimmen. In die Stille hinein sprach die Winterseherin mit klarer, kraftvoller Stimme:
»In mondloser Nacht, unter glühenden Schwingen des Phönix,
soll’n Zwillingsseelen kommen auf widrige Pfade des Lebens,
sich finden in Liebe und Streit vereint.
Die stählernen Bande vermögen sie kühn zu zersprengen,
den Fürsten vom Rostroten Thronsitz zu trennen,
und Freiheit zu bringen von der Ketten Gewalt.
Dies sind die Worte des Orakelspruchs, Volk und Könige von Liráya. Und ihr wisst, sie treffen auf die Birkenkinder Elyami und Elyamur zu: Sie wurden als Zwillingsseelen in einer Neumondnacht geboren, als der Phönixkomet über den Horizont zog. Sie werden auch den Rest der Weissagung erfüllen. Doch dafür müssen sie mit mir kommen und die Sicherheit ihrer Wälder verlassen.«
Elyami bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Elyamur heftig nickte. Das Gemurmel der anderen Birkenkinder um sie herum klang jedoch ängstlich und besorgt.
»Im Orakelspruch heißt es, dass die Zwillingsseelen all diese Dinge zu tun vermögen.« Nun sprach Siyandri, die Winterkönigin, zum ersten Mal mit leiser Stimme. »Es heißt nicht, dass sie es tun werden und dabei zwangsläufig erfolgreich sind. Dieser Unterschied ist Euch sehr wohl bewusst, Winterseherin. Ihr wisst, wie wandelbar die Zukunft ist. Die göttliche Weberin Iyanuri, die Mutter der Träumenden Königin, wirkt am Großen Webstuhl die Fäden immer weiter. Nichts ist festgelegt. Die Zwillingsseelen können Erfolg haben. Oder sie können scheitern und vernichtet werden.«
»Und genau darum werde ich sie begleiten!«, erwiderte die Winterseherin verärgert.
»Alte mit dem klingenden Stab«, sagte Sommerkönig Undramur, »wir Elben haben großen Respekt vor den Orakelsprüchen der Götter. Darum respektieren wir auch Euch als Seherin und bieten Euch die Gastfreundschaft der Wälder an. Wir haben Elyami und Elyamur mit all unserer Kunst erzogen und ausgebildet, um sie auf ihre große Aufgabe vorzubereiten, auch wenn sie unsere Mühen unterschiedlich angenommen haben.« Sein Blick streifte Elyami. »Aber gerade, weil wir den Orakelspruch respektieren, dürfen wir die Zwillingsseelen nicht vorschnell opfern! Sie müssen noch reifen, an Stärke gewinnen und sich in Taten beweisen. Wenn der Spruch sich nicht irrt, werden sie zu Helden unseres Volkes heranwachsen. Und wenn sie erst einmal ihr volles Potential erreicht haben, können sie der größten aller Aufgaben entgegenziehen. Und sie werden es selbstverständlich nicht allein tun: Ich selbst werde mit den Kriegsscharen von Liráya an ihrer Seite stehen!«
Die Alte trommelte mit den Fingern auf ihrem Stab.
»Ihr Elben denkt zu langfristig!«, setzte sie wieder an. »Die Welt wird jetzt von den Kettenheeren überrannt, nicht erst in ein paar Jahrzehnten oder Jahrhunderten! Wenn wir den Kettenfürsten nicht bald aufhalten, wird es zu spät sein!«
Sie starrte Undramur herausfordernd an. Der Sommerkönig schwieg würdevoll.
»Warum hören wir nicht die Zwillingsseelen selbst in dieser Sache an?«, fragte Frühlingskönigin Yurami in das unbehagliche Schweigen hinein. »Elyami? Elyamur?«
Noch ehe Elyami ihre durcheinanderwirbelnden Gedanken ordnen konnte, war ihr Bruder schon in die Mitte getreten und stand nun bei der Winterseherin an der Feuerstelle.