Zwillingsblut - Der Zorn der Orks - Hendrik Lambertus - E-Book

Zwillingsblut - Der Zorn der Orks E-Book

Hendrik Lambertus

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Beschreibung

Der Kettenfürst wurde von seinen ewigen Fesseln befreit. Mit seiner neugewonnenen Macht stürzt er die Zwergen-Zwillinge Gorin und Galdra sowie die Elben-Geschwister Elyami und Elyamur in den tiefsten Abgrund der Unterwelt. Als sie endlich von dort entkommen, müssen die Zwillingspaare feststellen, dass sich die Sterblichen Lande auf schreckliche Weise verändert haben - die Welt unterliegt fast vollständig dem Kettenfürsten. Doch aufgeben kommt nicht infrage! Um den Kettenfürsten besiegen zu können, benötigen sie allerdings die Hilfe ihrer alten Feinde, der Ork-Zwillinge ...

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

PROLOG

KARTE UNTERWELT

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

DREIZEHNTES KAPITEL

VIERZEHNTES KAPITEL

FÜNFZEHNTES KAPITEL

KARTE TOKROND

SECHZEHNTES KAPITEL

KARTE GARHITA

SIEBZEHNTES KAPITEL

ACHTZEHNTES KAPITEL

NEUNZEHNTES KAPITEL

ZWANZIGSTES KAPITEL

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL

KARTE TANNENBINGEN

ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

KARTE LHO

VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL

FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL

SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL

SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL

ACHTUNDZWANZIGSTES KAPITEL

NEUNUNDZWANZIGSTES KAPITEL

DREISSIGSTES KAPITEL

EINUNDDREISSIGSTES KAPITEL

KARTE KTA LUN

ZWEIUNDDDREISSIGSTES KAPITEL

DREIUNDDREISSIGSTES KAPITEL

VIERUNDDREISSIGSTES KAPITEL

FÜNFUNDDREISSIGSTES KAPITEL

KARTE NORD-MAKHURA

SECHSUNDDREISSIGSTES KAPITEL

SIEBENUNDDREISSIGSTES KAPITEL

KARTE PHÖNIXSTEPPE

ACHTUNDDREISSIGSTES KAPITEL

NEUNUNDDREISSIGSTES KAPITEL

VIERZIGSTES KAPITEL

KARTE MONDENHEIM

EINUNDVIERZIGSTES KAPITEL

KARTE SWERTENGUND

ZWEIUNDVIERZIGSTES KAPITEL

KARTE SORLETTA

DREIUNDVIERZIGSTES KAPITEL

KARTE LIRAYA

VIERUNDVIERZIGSTES KAPITEL

FÜNFUNDVIERZIGSTES KAPITEL

SECHSUNDVIERZIGSTES KAPITEL

SIEBENUNDVIERZIGSTES KAPITEL

ACHTUNDVIERZIGSTES KAPITEL

NEUNUNDVIERZIGSTES KAPITEL

FÜNFZIGSTES KAPITEL

EINUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL

ZWEIUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL

DREIUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL

VIERUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL

EPILOG

Danksagung

ANHANG A: Personen

ANHANG B: Glossar

Über das Buch

Die Tore der Unterwelt stehen weit offen. Dunkelheit überzieht das Land, und der Kettenfürst gebietet über die einst freien Völker. Die letzte Hoffnung ist eine Prophezeiung: Sie berichtet von Zwillingen, die den dunklen Herrscher besiegen werden. Doch auch der Kettenfürst kennt den Orakelspruch und stößt seine gefährlichsten Gegner – die Zwergenzwillinge Gorin und Galdra und die Elben Elyami und Elyamur – in den tiefsten Abgrund der Unterwelt. Als sie endlich von dort entkommen, haben sich die Sterblichen Lande auf schreckliche Weise verändert. Doch aufzugeben kommt nicht infrage …

Über den Autor

Hendrik Lambertus wurde 1979 geboren und lebte heute mit seiner Familie in Norddeutschland. Er studierte in Tübingen Skandinavistik, ältere Germanistik und Indologie und widmete sich nach dem Abschluss seiner Doktorarbeit, die er zur spätmittelalterlichen Literatur Islands schrieb. Noch heute dient ihm die Auseinandersetzung mit alten Texten aus den unterschiedlichsten Kulturräumen im Zuge seiner wissenschaftlichen Lehrtätigkeit als Inspiration für das eigene Schreiben.

HENDRIK LAMBERTUS

ZWILLINGSBLUT

DER ZORN DER ORKS

BAND 3

Mit handgezeichneten Karten des Autors

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Friederike Haller, BerlinUmschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.deUnter Verwendung von Motiven von © Guter Punkt; Thinkstock: Jupiterimages; Dash_med; Eachat; Vitalii Gaidukov; alexsalcedo; RusN; Yingko; SandraMatic; 623196018; Picsfive; ve-nimo; AfaveteE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-7395-0

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Für Heide

PROLOG

Eine schwarz verhangene Kutsche ratterte über das Straßenpflaster von Sorletta. Aus den Tavernen ringsum drangen Musik und raues Gelächter. Laternen hingen an den Vordächern und malten schummrige Lichtkreise in das Abenddunkel. In ihrem Schein trieben sich zahllose zerlumpte Gestalten herum. Manche beredeten fragwürdige Geschäfte, andere trafen sich zum Glücksspiel, prahlten beim Branntwein mit ihren Diebestaten oder folgten grell geschminkten Frauen, die mit dem Fächer winkten.

Die Kutsche jedoch war unberührt von allem. Obgleich ihre vergoldeten Radkappen vornehm glänzten und keine Söldner oder Leibwächter sie zu begleiten schienen, wurde sie ignoriert, als wäre sie gar nicht da – selbst, als sie schließlich zum Stehen kam.

Vielleicht hatte sie genau deswegen die Aufmerksamkeit des Jungen erregt, der sich ihr vorsichtig von der Seite näherte, den Fremdkörper in diesem götterverlassenen Teil der Stadt misstrauisch beäugte. Er war schmutzig und trug eine zerschlissene Tunika, eines von vielen Kindern der nächtlichen Gassen.

Ein schwarzer Vorhang wurde zur Seite geschlagen.

»Komm doch heran«, sprach eine Frauenstimme. Sie klang kühl, aber nicht unfreundlich. Der Junge näherte sich mit zögerlichen, misstrauischen Schritten. Dabei runzelte er die Stirn, als wäre ihm selbst nicht klar, warum seine Beine sich bewegten.

»Was interessiert dich meine Kutsche?«, fragte die Stimme.

»Sie … sie ist irgendwie anders«, erwiderte der Junge verwirrt.

Nun stand er direkt vor dem Fenster in der Kutschentür. Die Stimme lachte.

»Anders. So kann man es wohl nennen.«

»Den meisten würde das nicht auffallen«, sagte eine zweite Frauenstimme. »Um genau zu sein, haben die ganzen anderen Tölpel hier die Kutsche gar nicht erst bemerkt.«

»Dann hat es sich also gelohnt, hierherzukommen«, sprach eine dritte.

Im dämmrigen Inneren der Kutsche saßen drei Damen nebeneinander. Ihre Gesichter waren mit schillernden Schleiern verhüllt, die nur die Augen sichtbar ließen. Diese waren von einem tiefen, stechenden Grün und wirkten merkwürdig alt, auch wenn die Stimmen der Damen jung klangen.

»Was soll das heißen?«, fragte der Junge. »Warum gelohnt?«

»Weil ich dich gefunden habe«, sagte die erste Dame.

»Du bist der, der die Zeichen gemalt hat«, ergänzte die zweite. »Die Zeichen aus dem Büchlein, das du in deinen Besitz gebracht hast.«

»Es ist selten und von großer Macht«, sprach die dritte bedeutungsvoll. »Die Runen, die in ihm verzeichnet sind, vermögen Gewaltiges, wenn sie erwachen.«

Unwillkürlich fasste der Junge an eine Stelle unter seiner zu kurzen Tunika. Dann verzog er ärgerlich das Gesicht, als ihm klar wurde, dass er sich damit verraten hatte. Die drei Damen lachten perlend.

»Keine Sorge«, sprach die erste. »Wir nehmen es dir nicht weg. Es ist dein Eigentum, genommen nach deinem eigenen Recht.«

»Ich habe nur eine Frage«, ließ sich die zweite vernehmen und beugte sich vor.

»Warum hast du die Zeichen gemalt?«, fragte die dritte.

»Das ist meine Sache«, erwiderte der Junge trotzig. Alle drei Damen schauten ihn an. Eindringlich, jedoch nicht ungeduldig. Die Lippen des Jungen begannen zu zittern.

»Ich … Nun, ja«, stammelte er. »Ich weiß selbst nicht, warum ich sie aus dem Buch abgemalt habe. Ich verstehe die Zeichen nicht. Aber sie sind sehr machtvoll, das fühle ich. Darum habe ich sie gezeichnet. Als Schutz, für mein Nachtlager.«

»Dein Nachtlager?«, fragte die erste Dame interessiert.

»Ja.« Der Junge senkte den Kopf. »Es liegt unter einem Vordach, in einem versteckten Winkel zwischen zwei Lagerhäusern. Der Regen kommt dort meist nicht hin. Mehr habe ich nicht.«

»Du hast die Zeichen also zum Schutz gemalt«, stellte die zweite Dame fest. »Nur zum Schutz?«

»Nein.« Der Junge schüttelte den Kopf. »Nicht nur zum Schutz. Auch weil sie mir gefallen. Weil ich mich besser fühle mit ihnen. Mächtiger. Als würde ich über ihr Geheimnis gebieten.«

Wieder lachten die Damen auf.

»Oh, das tust du nicht, mein Junge«, sagte die dritte Dame.

»Noch nicht«, ergänzte die erste vielsagend.

»Was meint Ihr damit?« Ein seltsamer Glanz trat in die Augen des Jungen.

»Als du die Zeichen maltest«, erklärte die zweite Dame, »hast du ihnen Kraft gegeben. Nur einen lächerlichen Bruchteil von Kraft natürlich. Aber genug, um eine Saite im magischen Gefüge anzuschlagen.«

»Das hätte nicht jeder gekonnt«, sagte die dritte Dame. »Nur wer eine offene Aura für den Fluss der Magie besitzt und eine gewisse … Begabung für ihre Wege, vermag Zeichen mit Kraft zu versehen.«

»Darum kannst du die Kutsche sehen, die für gewöhnliche Augen verborgen ist«, schloss die erste Dame.

»Heißt das … ich kann Magie wirken?«, fragte der Junge ungläubig.

»Noch nicht«, wiederholte die zweite Dame.

»Jedoch bilde ich zu meinem Vergnügen Zauberschüler aus«, sagte die dritte. »Und es heißt, ich sei nicht schlecht darin.«

»Ich könnte dich gewissen Tests unterziehen«, sprach die erste Dame. »Wenn du dich als würdig erweist, nehme ich dich an meiner Akademie auf, und du wirst zusammen mit den Besten lernen, das Gefüge der Welt nach deinem Willen zu formen. Allerdings sind diese Tests außerordentlich fordernd, und du könntest leicht …«

»Testet mich!«, rief der Junge laut. Die drei Damen schauten sich überrascht an. Sie waren es offenbar nicht gewohnt, unterbrochen zu werden. Dann nickten sie bedächtig.

»Sehr vielversprechend«, flüsterte die erste Dame.

»Was muss ich tun?«, fragte der Junge ungeduldig.

Die Tür der Kutsche sprang von selbst auf.

»Mitkommen und alles zurücklassen«, sprach die zweite Dame.

Ohne auch nur nachzudenken, stieg der Junge auf die Stufe der Kutsche – und hielt doch inne, ehe er sich ganz hineinschwang.

»Ich bin aber niemand«, sagte er leise. »Keine Herkunft, keine Familie, kein Wappen. Sind Zauberer nicht hohe Herren und Damen?«

»Nicht immer von Geburt an«, sagte die dritte Dame.

»Es ist egal, was du bist«, sprach die erste. »Es zählt nur, was du werden kannst.«

Der Junge nickte langsam. Im Blick seiner dunklen Augen funkelte ein entschlossener Wille. Ohne ein weiteres Wort stieg er zu den drei Damen in die Kutsche. Das schwarze Gefährt setzte sich polternd in Bewegung, ließ die Gassen von Sorletta schon nach wenigen Herzschlägen hinter sich und rauschte schließlich über den Nachthimmel davon.

ERSTES KAPITEL

AM BODEN DES ABGRUNDS VAKTRATIEF IN DER UNTERWELT

Rezkai war gestürzt. Er erinnerte sich an ein Gefühl von endgültiger Machtlosigkeit, als sich der Abgrund unter ihm aufgetan hatte, an den verzweifelten Rausch des Fallens und den grimmigen Trotz eines Ork-Kriegers, der zu sterben bereit war. Dann an gar nichts mehr.

Dumpfe Schwärze umgab ihn wie eine Felldecke im Schutz eines Zeltes unter dem weiten Himmel von Komashtu. Nie hätte er sich das ewige Nichts so friedlich vorgestellt. Friedlich – und eines Kriegers nicht würdig, der gelernt hatte, Qualen und Tod entgegenzulachen!

Wütend spannte er seine Muskeln an. Stechender Schmerz jagte seinen Rücken entlang und von dort aus durch den ganzen Körper. Körper … Warum hatte er einen Körper?

Knurrend rollte er sich auf die Seite. Und schlug die Augen auf.

Rezkai war nicht tot, nicht getilgt aus dem Gefüge der Welt. Er lag auf hartem, schwarzem Felsboden, dahingestreckt, als hätte ihn ein siegreicher Feind achtlos zum Sterben zurückgelassen. Ein dämmriges, grünliches Licht, von dem er nicht wusste, wo es herkam, hing über allem. Langsam richtete er sich auf. Jede Bewegung wurde von neuen Schmerzwellen begleitet, die er grimmig begrüßte. Schmerz bedeutete Kampf. Und wer kämpfte, war am Leben.

Sein Blick fiel auf einen stolz gekrümmten Knochensäbel, der neben ihm mit der Spitze voran im nackten Fels steckte. Zwillingsblut, die mächtigste Waffe, die ein Ork jemals geführt hatte, von ihm selbst geschmiedet aus den Knochen des gefallenen Gottes Nidhanas, des alten Königs der Unterwelt. Die Klinge war so scharf und gierig, dass sich der Säbel mühelos ins Gestein gefressen hatte, nachdem er zusammen mit seinem Besitzer in den Abgrund gestürzt war. Der Anblick verlieh Rezkai Zuversicht. Er kämpfte sich auf die Beine und zog Zwillingsblut mit einem entschlossenen Knurren aus dem Fels. Die Waffe lag so gut und vertraut in der Hand, als wäre sie ein Teil seines Armes.

Mit diesem Säbel hatte er gegen die Wächter der elementaren Quellen gekämpft und gegen die verfluchten Zwillingsseelen. Er hatte Bestien in der Wildnis von Komashtu erschlagen und Feinde des Kettenfürsten niedergestreckt.

Den Kettenfürsten selbst allerdings hatte er nicht getötet, als er die Waffe zuletzt vor dem Thron seines alten Meisters führte. Ein unwürdiger Meister, für den Ork-Krieger nicht mehr als nutzlose Sklaven waren! Rezkai hatte das erkannt. Zu spät. Er hatte sich auf den Kettenfürsten gestürzt, um ihm sein verdammtes Herz rauszuschneiden, seiner Herrschaft ein Ende zu machen. Der Kettenfürst jedoch hatte ihn in den Abgrund geschleudert, ehe Rezkais Klinge auch nur seine verfluchte, milchblasse Haut geritzt hatte.

»Du bist nicht mehr mein Bruder!«

Die Stimme von Rekut, seiner Zwillingsschwester, hallte durch seinen Schädel. Das hatte sie ihm zugerufen, bevor die Dunkelheit ihn verschlang. Sie hatte dem Meister die Treue gehalten – und sich von Rezkai losgesagt. Alles, was einmal sein Leben ausgemacht hatte, war zerschmettert wie der Schädel eines Feindes.

Sein Arm zitterte, während er Zwillingsblut mit aller Kraft umklammert hielt, seine Faust zusammenpresste, als wollte er den Knochensäbel zerquetschen. Dann richtete er die Klinge entschlossen gegen sich selbst, bereit, sein Blut auf dem Fels der Unterwelt zu vergießen. Er hob die Arme zum Stoß – und ließ sie wieder sinken.

Nein. Das würde er nicht tun. Er mochte am Ende sein. Doch es würde das Ende eines Kriegers werden. Ein Ende im Kampf.

Rezkai schnaubte wütend und vertrieb alle Gedanken an früher. Er straffte sich, bis er schließlich aufrecht stand. Langsam schaute er sich um.

Er befand sich an einem felsigen Ufer. In einigen Schritten Entfernung zog ein Fluss vorüber, von dem ein dumpfes Leuchten ausging. Statt Wasser führte er eine dicke, tiefgrüne Flüssigkeit, die von innen heraus zu glühen schien. Sie zischte und brodelte, während sie über die Felsen floss. Als eine kopfgroße Blase schmatzend zerplatzte, wehte ein trockener, ätzender Geruch zu Rezkai herüber, und er hatte das Gefühl, er würde eine Handvoll Sand einatmen.

Rekut hatte ihm einst von diesem Ort erzählt. Das musste Shukta, der Allesfressende, sein, einer der vier großen Ströme der Unterwelt. Sein Bett führte reine Säure, die selbst Seelen zu zersetzen vermochte, und seine zahlreichen Nebenströme erstreckten sich weit durch die tiefen Klüfte der Unterwelt. Der Shukta schien an dieser Stelle nicht besonders breit zu sein, vielleicht fünfzehn oder zwanzig Orkschritte. Doch das andere Ufer war eine massive, glatte Steilwand, die sich in beide Richtungen und nach oben weiter erstreckte, als Rezkai blicken konnte. Er nickte grimmig. Damit hatte er halb gerechnet. Er befand sich am Grunde des Abgrunds Vaktra, der die inneren Bereiche der Unterwelt beschirmte. Seine Wände waren unerklimmbar und schleuderten jeden in die Tiefe, der es dennoch versuchte. Von hier gab es kein Entkommen.

Rezkai wandte sich vom Ufer des Shukta mit seinen erstickenden Dünsten ab und suchte sich seinen Weg über den unebenen Felsboden. Jeder seiner Schritte schmerzte, doch das war ihm ganz recht. Schmerz hielt einen Krieger wach. Schon nach kurzer Zeit bemerkte er vor sich einen neuen grünlich glühenden Streifen im Dunkeln. Unheilahnend bewegte er sich darauf zu.

Seine Befürchtungen wurden zur Gewissheit: Vor ihm wälzte sich ein weiterer Arm des gierig brodelnden Shukta durch die Unterwelt, diesmal mehr als vierzig Orkschritte breit. Auf der anderen Seite ragte schwarz und unnahbar die Steilwand des Vaktra auf. Rezkai knurrte resigniert. Er befand sich offenbar auf einem schmalen Landstreifen inmitten des Säurestromes, der zu beiden Seiten an die Wände des Abgrunds stieß. Vielleicht sogar eine Insel. Und vermutlich wussten nicht einmal die Ahnengeister, warum er gerade hier aufgeschlagen war – noch dazu, ohne zerschmettert zu werden –, statt einfach direkt in den Allesfressenden zu fallen …

Rezkai wandte sich ab. Grübeleien brachten niemanden weiter. Stattdessen machte er sich wieder auf den Weg und schritt den Landstreifen seiner Länge nach ab, immer am Ufer entlang. Falls sich herausstellen sollte, dass er gleich an das Ende einer Insel stieß, konnte er sich immer noch in die Säure stürzen. Doch noch gab er nicht auf.

Stoisch setzte er einen Schritt vor den anderen. Seine Muskeln schmerzten bei jedem Schritt mehr, und seine Kehle brannte vor Durst. Wasser war hier, wo die Flüsse Säure führten, nur eine ferne, unwirkliche Erinnerung. Schließlich ließ sich Rezkai auf einen Felsen sinken und schnaufte ein wenig durch. Doch brachte die Rast ihm keine Erholung. Schmerzen und Erschöpfung blieben, als gehörten sie untrennbar zu ihm. Dann war das eben so!

Mit einem verächtlichen Schnauben erhob sich Rezkai und schleppte sich weiter voran.

Nach einiger Zeit entdeckte er vor sich im Halbdunkeln längliche Umrisse. Sie durchbrachen die Einförmigkeit und sahen dadurch seltsam unwirklich aus. Rezkai beschleunigte seine Schritte. Nun erkannte er, dass die Umrisse Pflanzen mit armdicken Stängeln waren, die ihre Wurzeln direkt in den öden Felsboden geschlagen hatten. Sie ragten höher auf als sein Kopf und waren gitterartig miteinander verflochten. Die grotesken Gewächse trugen weder Blätter noch Blüten, stattdessen entsprossen ihnen gebogene Dornen, die Rezkai an schwarze Sensenklingen erinnerten, jeder einzelne so lang wie ein Kurzschwert. Die Sensenbäume standen schräg in verschiedenen Winkeln geneigt, sodass sie sich zu einem tückischen Geflecht aus Dornen und Stämmen verbanden.

Rezkai streckte die Hand aus und fuhr prüfend über einen der Sensendornen. Scharf wie eine Klinge aus Stahl schnitt er ihm in die Haut. In den Steppen von Komashtu war es stets ein gutes Zeichen, wenn man auf Bäume oder eine Buschgruppe stieß. Sie waren Boten des Lebens und verkündeten, dass sich gutes Trinkwasser in der Nähe befand. In diesen Unterweltspflanzen jedoch lag keine Hoffnung. Sie waren genauso tödlich und unnachgiebig wie alles hier, schienen Rezkais Überlebenswillen regelrecht zu verhöhnen.

»Ihr werdet mich nicht aufhalten«, knurrte Rezkai und bahnte sich seinen Weg durch das Gesträuch der Sensenbäume. Er ignorierte die Dornen, die immer wieder blutige Striemen in seine Haut rissen, und schlug sich mit Zwillingsblut den Weg frei, wenn die Stämme besonders dicht beieinanderstanden. Grünliche Flüssigkeit, ähnlich der Säure des Shukta, quoll aus den Stümpfen der abgehackten Stämme. Es verschaffte Rezkai keine Befriedigung, sie umzusäbeln. Sie waren nicht lebendig, konnten nicht sterben. Am Grunde des Vaktra bedeuteten solche Unterschiede nichts mehr. Vielleicht war er selbst auch nur noch ein wandelnder Toter.

Rezkai wusste nicht, wie lange er sich schon durch das Sensendickicht voranarbeitete. Er spürte Müdigkeit und Schmerz, und sein Hunger und Durst erinnerten ihn daran, dass er immer noch da war. Doch alles fühlte sich seltsam dumpf und bedeutungslos an.

Als Rezkai schließlich die Stimmen hörte, fuhr er zusammen, als hätte ein Signalhorn ihn aufgeschreckt. Er horchte auf. Sofort war ihm klar, dass diese Stimmen nicht hierhergehörten – sie klangen zu lebendig. Es waren die Stimmen von Kindern der Sterblichen Lande. Und sie mussten sich irgendwo dort vor ihm befinden, wo das Gesträuch langsam lichter wurde.

Geduckt schlich Rezkai sich an. Hier konnte er sich durch das Geflecht der Stämme schieben, ohne sie niederzuhacken. Ein Ork war nicht nur ein furchtloser Krieger, sondern stets auch ein geschickter Jäger – in den Steppenlanden bestand da kaum ein Unterschied. Er ließ die letzten Ausläufer der Sensenpflanzen hinter sich und kauerte sich in den Schutz eines Felsens. Vorsichtig warf er einen Blick auf den Ursprung der Stimmen.

Vor ihm lag eine Art Bucht, wo der Säurestrom des Shukta ein breites Becken am Ufer gebildet hatte. Dort hockten mehrere Gestalten und redeten miteinander in der Hochsprache: zwei Elben mit kupferroten Haaren und zwei Zwerge in stählernen Kettenmänteln. Rezkai unterdrückte ein Knurren. Das waren die verfluchten Zwillingsseelen! Seine Gegner in mehr als einem Kampf. Insbesondere der Zwergenfrau schuldete er einen schmerzvollen Tod. Auf ihrer Wange prangte eine blutige, notdürftig versorgte Wunde, die sein Säbel ihr vor dem Rostroten Thron zugefügt hatte. Eigentlich hätte dieser Schlag sie zweiteilen müssen, doch ihre Bronzehaut hatte sie wie eine mächtige Rüstung geschützt.

Sein zentaurischer Lehrmeister Kaltos hatte Rezkai erklärt, dass die Zwillinge die Essenz der vier Elemente in sich aufgenommen hatten. Anscheinend wurde die Zwergin jetzt wohl von der Kraft der Erde geschützt, der Elb konnte Feuer schleudern, und die anderen beiden hatten gewiss auch irgendwelche Kräfte gewonnen. Rezkai war es hingegen nicht gelungen, die vier Quellen erfolgreich zu plündern. Er empfand Scham über dieses Versagen, auch im Kampf gegen die Zwillinge, die er nicht hatte besiegen können. Allerdings war das in einem anderen Leben gewesen, als der Kettenfürst noch sein Meister gewesen war …

»… und ich stand so kurz davor!«, sagte gerade der drahtige Elbenkrieger mit dem Flammenmal im Gesicht. »Ein Schritt weiter und ich hätte ihn niedergestreckt und der Welt die Freiheit gebracht.« Seine Stimme klang gramvoll, fast schon weinerlich. Eines Kriegers unwürdig.

»Wir hätten der Hexe von Anfang an nicht trauen dürfen!«, bellte die Zwergin mit der bronzeschimmernden Haut. Rezkai umklammerte seinen Säbel fester, als er ihre Stimme hörte. »Sie hat uns im entscheidenden Augenblick verraten und gezeigt, wo ihre wahre Loyalität liegt.«

»Die Winterseherin hat ihn noch immer geliebt«, sagte die Elbin mit dem Schläfenzopf so leise, dass Rezkai sie kaum verstehen konnte. »Sie wollte den Kettenfürsten besiegen, ohne Dáman zu vernichten.« Trauer hatte sich tief in ihr graues Gesicht gegraben.

Rezkai blähte geringschätzig die Nüstern. Diese Zwillinge waren zu weichlich für Krieger! Wie hatten sie überhaupt gegen ihn und Rekut im Kampf bestehen können?

»Dann hat die Winterseherin das Wohl eines Einzelnen über den Rest der Welt gestellt«, erwiderte der Elbenmann bitter. »Jeder von uns wäre bereit gewesen, für die Aufgabe Opfer zu bringen, alles aufzugeben – sogar den, den er am meisten liebt. Das haben wir einander versprochen.«

Die Elbin zupfte an ihrem Zopf und schaute an ihm vorbei. »Ich glaube, ihr war selbst nicht bewusst, dass sie so handeln würde«, sagte sie. »Manchmal tut man etwas einfach, weil man es tun muss.«

Rezkai ballte grimmig die Fäuste.

»Ja!«, rief die Zwergin wütend und sprang auf die Füße. »Und die Winterseherin musste den verfluchten Kettenfürsten besiegen! Das war ihre Aufgabe! Unsere Aufgabe. Stattdessen hocken wir jetzt hier, in der tiefsten Unterwelt, neben einer stinkenden Kloake von einem Fluss …«

»Wir sind hier gefangen«, sagte nun der männliche Zwerg mit den blonden Bartzöpfen, der bislang geschwiegen hatte. Rezkai erinnerte sich gut an die Armbrustbolzen, die der Zwerg ihm ins Bein gefeuert hatte. Ein paar Stahlsplitter steckten noch immer in seinem Fleisch. Eine weitere Schuld, die es zu begleichen galt.

»Aber wir sind noch am Leben«, fuhr der Zwerg fort. »Wir sind den Wolfsreitern des Kettenfürsten und dem Zorn seiner Orkhorden entkommen, den Kerkern der Purpur-Elben von Yamaaz und den Feuern von Kyklopia! Da werden wir auch hier einen Ausweg finden.«

»Was gäbe ich dafür, so schnell wie möglich wieder vor dem Kettenfürsten aufzutauchen und ihm den überraschten Ausdruck aus dem Gesicht zu fegen!«, schnaubte die Zwergin.

»Wie denn?«, fragte der Elb bitter. »Der Kettenfürst läuft frei herum und ist mächtiger denn je – und wir haben den Vierzack nicht mehr, der seine Macht zu brechen vermag.«

»Eins nach dem anderen«, erwiderte der Zwerg. »Erstmal finden wir einen Weg zurück in die Sterblichen Lande. Dann sehen wir weiter.«

Die Elbin lächelte matt. »Zwerge geben niemals auf, wie?«

»Wenn eine Zwergin irgendwo rauskommen will«, sagte die Bronzehäutige, »braucht sie einen Tunnel. Graben würde wohl etwas zu lange dauern. Aber der da drüben wäre ein Anfang.«

Sie deutete quer über den Säurefluss zur steilen Felswand des Abgrunds auf der anderen Seite. Nun erst bemerkte Rezkai eine Unregelmäßigkeit im Felsgestein. Seine Schatten waren an einer Stelle etwas tiefer als ringsum. Dort gab es tatsächlich eine Höhlenöffnung, direkt oberhalb des Shukta und kaum erkennbar in der Schwärze des Gesteins! Wahrscheinlich brauchte man Zwergenaugen, um sie zu entdecken.

Der Elb sprang auf. »Das ist immerhin etwas!«, rief er.

Rezkai umklammerte Zwillingsblut fester. Seine Feinde hatten nicht nur den Sturz in den Abgrund Vaktra überlebt – sie gaben nicht das Geringste darauf, dass sie Gefangene der Unterwelt waren, sondern planten sogar schon wieder ihr weiteres Vorgehen! Er konnte ein verächtliches Fauchen nicht unterdrücken.

Sofort fuhr der Elbenkrieger herum, die Augen misstrauisch zusammengekniffen. »Was war das?«

So schwächlich das verfluchte Elbenvolk auch sein mochte – seine Sinne waren schärfer als die der Orks. Umso besser. Sie würden es hier und jetzt zu Ende bringen!

Rezkai stieß ein Brüllen aus, in dem alle Wut und aller Frust seiner Verbannung lagen. Dann sprang er auf den Felsen, der ihn bislang gedeckt hatte. Hoch aufgerichtet stand er über den Zwillingsseelen, die ihn mit geweiteten Augen anstarrten.

»Ich bin Rezkai, Khugasha-Meister und Khurdran der Blutketten!«, rief er ihnen entgegen. »Ich fordere euch heraus zum letzten Kampf!«

Mochte er seinen Meister auch verraten haben – Feinde blieben Feinde. Ein Ork focht seine Kämpfe stets bis zum Äußersten aus. Dies war seine Gelegenheit, bespritzt vom Blut seiner Gegner zu sterben!

Er spannte alle Muskeln an und spürte sogleich den heiligen Schmerz des Knochenmeisters, als die Dornen seiner Knochenrüstung von innen seine Haut durchstießen. Der Zwerg riss die tückische Armbrust hoch, mit deren Bolzen-Salven er Rezkai in der Stadt der Geflügelten das Bein zerfetzt hatte. Aber diesmal konnte er ihn nicht überraschen!

Ein scharfes Brennen zuckte durch Rezkais Arm, als er eine beinerne Wurfscheibe aus seinem Handballen schleuderte. Das Geschoss zersplitterte an der glänzenden Rüstung des Zwergs, doch er stolperte zurück und verriss den Schuss, sodass seine Bolzen nutzlos zwischen den Sensenbäumen verschwanden. Rezkai sprang vom Felsen herab und rannte brüllend auf seine Feinde zu.

»Komm nur her, Ork!«, rief ihm die Zwergin entgegen und ließ ihre Kristallaxt kreisen. »Wir sind noch nicht fertig miteinander!«

Sie schien ähnlich begierig, ihren Zorn in Blut zu ertränken, wie Rezkai selbst. Doch es war der Elb, der sich als Erster auf ihn stürzte. Mit weiten Sprüngen kam er durch die Luft herbeigelaufen, die Klinge seines Schwertes umspielt von elementaren Flammen. Rezkai riss seinen Säbel hoch. Der Elb geriet ins Stolpern, schien keinen sicheren Stand zu finden … Sofort stieß Rezkai begierig nach ihm! Urplötzlich fand der Elb sein Gleichgewicht wieder, sprang einen Schritt zur Seite und schlug in Rezkais Flanke. Er konnte nur knapp parieren und musste nach hinten zurückweichen, wo schon die Zwergin mit ihrer Axt heranpreschte …

Rezkai war auf eine Finte hereingefallen! Brüllend vor Zorn warf er sich nach vorne und rammte dem Elb seine Schulter entgegen, wobei er den Schmerz ignorierte, als die Schwertklinge seine Knochenrüstung streifte. Diesmal stolperte der Wolkentänzer wirklich. Rezkai setzte direkt nach und riss ihn zu Boden. Er umfasste Zwillingsblut mit beiden Händen und ließ die Knochenklinge auf den Hals seines Gegners heruntersausen. Mit einem klirrenden Geräusch wurde der Schlag von der Kristallaxt der Zwergin abgelenkt, die sich wütend dazwischendrängte.

Rezkai wirbelte herum. Zwillingsblut fauchte durch die Luft und suchte gierig nach der Kehle der Zwergin. Diese wich aus und rammte ihre Axt in die Lücke seiner Deckung. Mit einem hässlichen Knirschen zersplitterten zwei Dornen von Rezkais Knochenrüstung. Seine Gegnerin grinste höhnisch. Ein wütender Hieb gegen die Brust, der sie auf den Rücken schleuderte, wischte ihr das Grinsen aus dem Gesicht. Doch inzwischen war auch der Wolkentänzer wieder auf den Beinen.

Rezkai musste dem Kampf endlich seine Regeln aufzwingen! Er hechtete am Elb vorbei, ehe dieser ihn attackieren konnte. Sein Ziel war die Elbenfrau, die sich bislang zurückgehalten hatte. Mit einem seltsam leeren Blick stand sie abseits. Er schleuderte eine Knochen-Wurfscheibe nach ihr. Eine Feuerkugel brauste heran und verbrannte das Geschoss kurz vor der Elbin in der Luft.

»Wage es nicht!«, rief der Elbenkrieger und sprang Rezkai in den Weg. Dieser schnaubte zufrieden. Das hatte er erreichen wollen. Der Elb war nun um seine Schwester besorgt, würde sie mit aller Macht verteidigen. Und dabei Fehler machen.

Die Elbin aber blinzelte und wandte sich den Kämpfenden zu.

»Hört auf!«, rief sie. »Etwas kommt. Ihr habt es geweckt!«

Auch der verdammte Armbrustschütze sagte irgendetwas. Rezkai hörte es kaum. Denn die Zwergin stampfte entschlossen heran und musterte ihn mit mörderischem Zorn im Blick. Sein Hieb hatte Stücke aus ihrem Kettenmantel gerissen, während ihre verfluchte Bronzehaut nicht einmal einen Kratzer abbekommen hatte.

Angespannt konzentrierte Rezkai sich darauf, beide Gegner zugleich im Auge zu behalten, die ihn wie lauernde Raubtiere mit ihren Waffen umschlichen. Beständig ließ er Zwillingsblut durch die Luft sausen, um sie auf Distanz zu halten. Der Wolkentänzer stieß sich vom Boden ab, stürmte heran, während Flammen aus seiner Klinge schlugen …

Und hielt mit geweiteten Augen inne. Auch Rezkai erstarrte in der Bewegung. Ein Geräusch hallte plötzlich durch den Abgrund. Es war ein tiefes, brodelndes Gurgeln, schwerfällig und zäh, als würde der Säurestrom selbst zu sprechen versuchen. Unheilahnend wandte er sich um. Eine riesenhafte Gestalt erhob sich aus den zersetzenden Fluten des Shukta, größer noch als ein Oger oder Troll, eher mächtig wie die Hügelriesen in den Heeren des Kettenfürsten.

Das Wesen stand aufrecht auf zwei Beinen, die von den Fluten des Shukta umspült wurden. Damit endete auch schon seine Ähnlichkeit mit den Kindern der Sterblichen Lande. Das Ding glich einem hünenhaften Skelett, auf dessen Knochen zähflüssiger, grünlich glühender Schleim klebte. Säure brodelte in seinem fassgroßen Schädel und ergoss sich schäumend aus seinem Mund und seinen Augenhöhlen. Seinen Schultern entspross gleich ein rundes Dutzend lange Arme, die in krallenartigen Knochenhänden endeten.

Das Säureskelett stieß ein triumphierendes Gurgeln aus – und ließ einen seiner langen Knochenarme vorschnellen, direkt auf den Zwergenmann zu. Dieser versuchte auszuweichen, doch die Unkreatur war zu schnell für ihn. Die Knochenklauen schlossen sich um seine Hüften.

»Zurück, du stinkende Klappergestalt!«, brüllte die Zwergin, während sie an die Seite ihres Bruders eilte und einen mächtigen Hieb mit ihrer Streitaxt austeilte. Knochen splitterten und gaben den Zwerg frei. Das Säureskelett erzitterte, doch für Rezkai brachte das nur kurze Erleichterung. Mit einem knirschenden Geräusch griff ein Knochenarm nach ihm. Er schlug ihn mit Zwillingsblut zurück – und schon schloss sich die beinerne Klaue eines weiteren Armes um seinen Unterschenkel, sodass er nur mit Mühe das Gleichgewicht behielt. Er verbiss sich den brennenden Schmerz, wirbelte herum und ließ seinen Säbel mit aller Kraft auf den Knochenarm herabfahren. Knirschend zerbarsten die Armknochen zu Splittern. Die abgeschlagene Klaue fiel kraftlos von Rezkais Bein.

Mit einer raschen Bewegung wandte er sich wieder dem Elbenkrieger zu. Dieser war inzwischen jedoch damit beschäftigt, vor der grotesken Kreatur durch die Luft zu tänzeln und ihre Arme mit seiner flammenden Klinge zurückzutreiben. Das Säureskelett stieß ihn mit einem Hieb seiner Knochenarme beiseite und langte ruckartig nach der Elbenfrau, die verzweifelt zurückstolperte. Dabei öffnete es seine Deckung! Rezkai nutzte die Gelegenheit und schlug mit Zwillingsblut zu. Ein zersplitterter Knochenarm verstreute sich über den Steinboden, die Knochenhand erschlaffte kurz vor der Elbenfrau.

Der Wolkentänzer wandte sich in der Luft um. Für einen Herzschlag verharrte sein Blick ernst auf Rezkai. Dann nickte er ihm zu.

Plötzlich weiteten sich seine Augen. »Achtung!«, rief er. »Zurück!«

Rezkai konnte gerade noch rechtzeitig zur Seite springen, als eine Knochenklaue von hinten nach ihm schlug.

»Du hilfst dem Ork?! Geht’s noch, Elb?«, brüllte die Zwergin, die gerade eines der Beine der Kreatur mit ihrer Streitaxt attackierte. Auch Rezkai schnaubte irritiert.

»Gegen dieses Ding müssen wir gemeinsam vorgehen!«, erwiderte der Wolkentänzer, während er den Klauen des Skeletts auswich.

Die Axtkämpferin schnaubte kopfschüttelnd und stieß einen Fluch aus. »Dann steh da nicht rum wie ein Baumstumpf mit Hauern – schlag lieber noch ein paar Arme ab!«, rief sie Rezkai entgegen, der seine Feinde immer noch ungläubig anstarrte.

Er knurrte in sich hinein. Es gefiel ihm nicht, wie die Bronzehäutige mit ihm sprach. Doch es würde ihn vor den Ahnen seines Clans beschämen, wenn diese Zwerge und Elben den Unterweltlichen entschlossener bekämpften als er!

Gewandt duckte er sich unter einem weiteren Arm hinweg und sprang vor, zum zweiten Bein der Kreatur. Er ließ seinen Säbel tanzen und hackte Kerben in die Knochen, bis das Bein erzitterte und langsam einzuknicken begann.

»Aufpassen!«, brüllte der Zwerg von hinten. »Der Kopf!«

Das unterweltliche Wesen beugte sich vor, um mit seinem Knochenschädel zuzuschnappen. Ein wahrer Wasserfall an dickflüssiger Shukta-Säure quoll aus seinen Kiefern hervor. Rezkai warf sich zeitgleich mit der Zwergin zur Seite. Zischend platschte die stinkende Masse auf den nackten Felsboden. Seine Haut brannte mörderisch, wo vereinzelte Tröpfchen ihn trafen.

»Nicht herumliegen!«, rief er seiner Feindin höhnisch zu, während er auf die Füße sprang. »Kämpfen!«

Er nahm einige Schritte Anlauf, stieß sich mit einem Kriegsschrei ab und warf sich gegen den Brustkorb des Knochenwesens. Seine Finger bekamen eine der Rippen zu fassen und klammerten sich entschlossen daran fest. Er konnte ein schmerzerfülltes Knurren nicht unterdrücken, als sich grüner Schleim in seine Finger und Handflächen ätzte. Rezkai ignorierte den Schmerz und schwang sich hinauf zum Schädel, der noch immer weit vorgebeugt war. Mit einem Arm klammerte er sich an dem knochigen Nacken fest. Mit dem anderen schwang er Zwillingsblut mit Macht gegen das Genick der Unkreatur. Es gab ein schreckliches Krachen, als die Klinge die Knochen zerteilte. Der Schädel stürzte auf den Felsboden und zersprang in mehrere Bruchstücke, aus denen sich eine Säurepfütze ergoss.

Mit Befriedigung registrierte Rezkai, dass seine Feinde eilig in alle Richtungen fortliefen. Dann ging ein Beben durch den kopflosen Knochenkörper, an den er sich noch immer klammerte.

Rezkai ließ los und sprang zu Boden, wo er sich mit dem Säbel in der Hand abrollte. Keine drei Herzschläge später schlug der Körper des Wesens auf den Uferfelsen auf, während seine Beinknochen noch immer in der Säure lagen und fast bis zur Felswand am anderen Ufer reichten. Ein Zucken lief durch seine groteske Gestalt. Kurz darauf regte sie sich nicht mehr.

Für einen Moment sagte niemand etwas. Alle atmeten schwer nach der Anspannung des Kampfes. Der Zwerg eilte zu seiner Schwester und musterte besorgt die dunklen Flecken, die vereinzelte Säurespritzer auf ihrer Bronzehaut hinterlassen hatten. »Alles in Ordnung?«

»Abgesehen davon, dass hier immer noch ein Ork mit Göttertöter-Säbel herumläuft«, brummte sie und starrte Rezkai finster an.

Dieser sagte nichts. Die Art, wie der Zwerg seine Schwester ansah, berührte etwas in ihm. So ähnlich hatte er schon oft Rekut betrachtet, wenn sie sich wieder mal an einer viel zu mächtigen Beschwörung versucht hatte und halb tot aus ihrem Ritualkreis gekrochen war. Sie hatte es gehasst, denn sich um jemanden zu sorgen, kam für sie einem Vorwurf der Schwäche gleich. Rezkai verstand das, es wäre ihm wohl ähnlich gegangen. Aber er konnte nicht anders. Für Rekut hätte er sich jederzeit in jede beliebige Gefahr geworfen und sich bedenkenlos Teile seines Körpers herausgerissen.

Die Zwergin hatte ihren Zwilling noch … Im Gegensatz zu ihm. Seine Schwester war oben geblieben, beim Kettenfürsten, dem sie die Treue hielt.

Doch der Kettenfürst würde ihr nicht die Treue halten, sondern sie weiterhin wie ein Werkzeug behandeln – und fortwerfen, wenn er sie nicht mehr brauchte. Rekut, mit der er alles geteilt hatte, selbst seine Würde als Khurdran!

Brennender Zorn stieg in Rezkai auf. Zorn auf den Kettenfürsten, Zorn auf Rekut – aber auch Zorn auf sich selbst. Alles, was bisher sein Leben gewesen war, hatte er in jenem Moment zertreten, als er sich gegen seinen Meister wandte. Er hatte sich selbst vernichtet. Und doch getan, was er tun musste. In hilfloser Wut ließ er seinen Säbel durch die Luft sausen.

»Rezkai!«, rief plötzlich die Elbenfrau mit heller Stimme. »Halte ein.«

Rezkai schaute zu ihr hinüber. Es fühlte sich merkwürdig an, dass sie ihn mit seinem Namen angesprochen hatte.

»Was soll denn das jetzt?«, knurrte die Zwergin und fixierte Rezkai, wobei sie ihre Axt umklammert hielt. »Wir haben hier immer noch einen Feind im Rücken!«

»Das stimmt wohl«, sprach nun der Elb, und seine Stimme klang nachdenklich. »Aber dieser Ork-Krieger hat Elyami verteidigt.«

»Das war Zufall«, knurrte Rezkai. »Ich habe gegen dieses Knochending gekämpft. Deine Schwester ist mir egal, Elb.«

»Es war jedoch kein Zufall, dass du mich vor dem Rostroten Thron aus den Fängen des Kettengolems befreit hast«, widersprach der Elbenkrieger. »Und genauso wenig war es Zufall, dass du die Klinge gegen deinen Meister erhoben hast.«

»Und dafür in den Abgrund verbannt wurdest«, ergänzte der Zwerg. »Wir sind Schicksalsgenossen. Wir sollten uns nicht bekriegen.«

»Wir sollten uns vielmehr beistehen«, sagte die Elbin leise.

»Ich brauche eure Hilfe nicht!«, rief Rezkai und spuckte auf den Boden. Die Zwergin hob drohend ihre Axt.

»Und wir brauchen dich nicht, Khurdran der Blutketten«, sagte der Elb. »Hier und jetzt werde ich allerdings keinen Feind des Kettenfürsten bekämpfen. Bist du sein Feind, Rezkai?«

»Ja«, presste er zwischen den Hauern hervor. »Das macht mich aber nicht zu eurem Freund!«

Abrupt wandte er sich ab und stapfte hinab zum Shukta-Ufer. Vielleicht war es wirklich nicht sinnvoll, wenn er gegen die Feinde des Kettenfürsten kämpfte und damit seinem alten Meister einen Gefallen tat. Doch diese schwächlichen Elben und Zwerge sollten nicht denken, dass sie seinesgleichen waren! Er konnte hören, wie sie in seinem Rücken ratlos diskutierten.

»Hat jemand eine Idee, wie wir diese Höhlenöffnung auf der anderen Seite des Säurestroms erreichen können?«, fragte der Zwerg.

»Könntest du uns nicht nacheinander durch die Luft hinübertragen, Elyamur?«, überlegte die Elbin.

»Dich wahrscheinlich schon«, erwiderte der Elb. »Aber bei vollgerüsteten Zwergen bin ich skeptisch. Wahrscheinlich würde mich das Gewicht nach unten ziehen.«

»Und ich habe mein Seil mit Wurfhaken nicht mehr«, murmelte die Zwergin unzufrieden. »Ohne Ausrüstung ist der beste Höhlengänger machtlos.«

Rezkai schnaubte verächtlich. Sollten sie doch reden. Orks handelten. Er verstaute Zwillingsblut in seinem Wehrgehänge und trat an den niedergestreckten Körper der Kreatur heran, der halb auf dem Felsenufer ausgestreckt lag. Entschlossen packte er mit beiden Händen einen der Knochengreifarme. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf Khugasha, die orkische Kunst der Knochenmeisterschaft. Rezkai grunzte angestrengt, als über seine Fingerspitzen Teile seiner Kraft in die toten Knochen flossen und sie nach seinem Willen formten. Es knackte und knirschte, während sich das Knochengerüst in den Säurefluten des Shukta zu einer neuen Gestalt ordnete.

»Was tust du da?«, rief der Elb misstrauisch.

Rezkai ignorierte ihn und machte weiter. Seine Knie zitterten, denn das Knochenschmieden forderte all seine Stärke. Doch Rezkai ließ nicht nach. Ein Khugasha-Meister musste bereit sein, alles zu geben und sein Werk mit seiner Lebenskraft zu bezahlen.

Schließlich ließ er den Arm los und öffnete die Augen. Zufrieden betrachtete er, was er geschaffen hatte: eine Brücke aus grün verschmierten Knochen, die einmal das Rückgrat der Unkreatur gewesen waren. Sie führte vom Ufer des Landstreifens bis zur Höhlenöffnung in der Felswand auf der anderen Seite, ein kruder Steg, buckelig und ohne Geländer, doch ausreichend, um zur anderen Seite zu balancieren. Man musste sich nur etwas beeilen, um nicht im ätzenden Schleim stecken zu bleiben, der noch immer daran klebte.

Rezkai blickte sich um. Die Elben und Zwerge starrten misstrauisch die Brücke an. Mit einem Schulterzucken ließ er sie stehen und lief über den Knochensteg hinüber zur Höhlenöffnung. Noch während er in den dunklen Gang eindrang, konnte er hören, dass sich auch die Zwillingspaare an der Brücke zu schaffen machten. Sollten sie doch. Er folgte einem gewundenen Tunnel in den schwarzen Fels hinein. Bis er schon nach kurzer Zeit auf eine Abzweigung stieß.

Prüfend sog Rezkai die Luft ein. Beide Richtungen rochen gleich – nach Tod, Verzweiflung und Ärger. Während er sich hinkniete, um den Gangboden genauer zu untersuchen, näherten sich von hinten Schritte.

»Es ist nicht einfach, sich in Höhlen zu orientieren«, sagte der Zwerg, als die Zwillinge herankamen.

»Ihr schon wieder«, knurrte Rezkai.

»Wir haben den gleichen Weg«, sprach die Elbin.

»Wenn ihr meint. Aber denkt nicht, dass ihr mir in den Rücken fallen könnt!«

»Rezkai«, sagte die Elbin müde. »Wir wollen genauso heraus aus der Unterwelt wie du!«

»Um weiter gegen den Kettenfürsten vorzugehen«, ergänzte ihr Bruder.

Rezkai fauchte verächtlich. Diese Narren hatten immer noch nicht begriffen, dass sie verloren hatten!

»Fauch du nur«, knurrte die Zwergin finster. »Aber wenn du auch nur daran denken solltest, uns zu überrumpeln, werde ich dich töten, Ork!«

»Galdra!«, rief ihr Bruder. »Das bringt doch nichts.« An Rezkai gewandt sagte er: »Wir werden uns aus der Unterwelt herauskämpfen. Gehe du deinen eigenen Weg, wenn du musst. Aber wir sollten keine Kraft darauf verschwenden, uns misstrauisch zu umschleichen.« Er zögerte kurz. »Sinnvoller wäre es, zusammen zu kämpfen, wie wir es eben gegen dieses Unwesen getan haben. Das würde unsere Chancen beträchtlich erhöhen.«

Rezkai setzte zu einer Antwort an. Er wusste genau, was er sagen wollte: »Mir bleibt nur noch eins zu tun: mit dem Blut meiner Feinde auf der Klinge zu sterben!« Aber er sprach es nicht aus.

Denn der Zwerg hatte nicht unrecht. Gemeinsam würden sie länger überleben. Wahrscheinlich nur, um im Kampf gegen irgendeinen Schrecken des Abgrunds dann doch zu verrecken. Jetzt sterben oder später, das blieb sich gleich. Er hegte nicht die Hoffnung, hier herauszukommen. Oder Rekut aus den Klauen des Kettenfürsten zu befreien. Und doch: Er würde nicht eher aufgeben als seine Feinde!

Rezkai widerstand dem Drang, einfach wütend in eine der Gangöffnungen davonzustapfen. Stattdessen blickte er den Elben und Zwergen stolz entgegen.

»Zûr Grishok!«, sprach er fest.

»Was soll das heißen?«, fragte die Zwergin und hob misstrauisch ihre Axt.

»Zûr Grishok«, wiederholte Rezkai ungeduldig. »So nennen die Clans von Komashtu ein Waffenbündnis. Wenn man sich gegen einen gemeinsamen Feind zusammenschließt – etwa, wenn Kolosse aus dem Bestienland Drumagdhu in unsere Steppen eindringen oder ein Khurdran übermächtig zu werden droht. Man kämpft zusammen, bis der Gegner besiegt ist. Selbst wenn man eigentlich verfeindet ist. Danach ist alles wie vorher. Du wirst also meinen Säbel noch zu spüren bekommen, Zwergin.«

»Ich heiße Galdra«, knurrte diese unwillig.

»Und ich bin Gorin«, fügte ihr Bruder versöhnlich hinzu.

»Ich verstehe nichts von orkischen Waffenbündnissen«, sagte der Elbenkrieger. »Aber wenn du bei deiner Ehre schwörst, dass du dich daran halten wirst, dann hast du in uns zuverlässige Kampfgefährten, Rezkai.«

»Bei seiner Ehre«, schnaubte Galdra. »Die Ehre des Orks, der Patitas getötet hat! Der verdammte Säbel besteht aus seinen Knochen, hast du das vergessen?«

Rezkai erinnerte sich mit einem Gefühl der grimmigen Befriedigung. Er hatte jenen alten Ork niedergestreckt, in dem sich der gefallene Gott Nidhanas manifestiert hatte. Und er hatte dessen Arm als Trophäe gefordert, um Zwillingsblut aus seinen Knochen zu schmieden. Der Säbel war seine Beute, sein Ehrenpreis aus dem Kampf. Wenn die Zwergin das nicht verstand, wenn sie deswegen gar an seiner Ehre zweifelte, dann verstand sie gar nichts.

Wieder spürte Rezkai Zorn in sich aufsteigen. Er hatte nicht übel Lust, einfach seinen Säbel zu packen und die Sache zu Ende zu bringen. Doch er tat es nicht. Etwas, das er nicht benennen konnte, hielt ihn zurück.

»Kein Schwur oder sonstige Elbereien«, grollte er. »Mein Wort muss euch genügen. Wenn du es in Frage stellen willst, werden wir kämpfen. Ich fürchte dich nicht, Zwergin.«

Galdra fixierte Rezkai mit zusammengekniffenen Augen und erhobener Axt. Ihre Bronzehaut schien von innen heraus zu glühen. Schließlich ließ sie seufzend die Waffe sinken.

»Meinetwegen«, brummte sie.

Dann tat sich erst mal gar nichts. Sie hatten ein Zûr Grishok geschlossen. Doch niemand schien so recht daran zu glauben. Tatenlos standen sie an der Abzweigung herum, im Angesicht zweier finsterer Höhlenschlunde. Schließlich durchbrach Gorin, der Zwergenmann, das angespannte Schweigen: »Also gut! Dann sollten wir sehen, dass wir so schnell wie möglich vorankommen. Galdra, hast du eine Idee, welcher Weg uns nach oben bringt?«

»Diese Höhlen fühlen sich merkwürdig an«, brummte die Zwergin. »Aber wenn mich meine Höhlengänger-Nase nicht täuscht, würde ich sagen: dort entlang!« Sie zeigte auf den linken Gang. Höhnisch schnaubte Rezkai. Nach oben …

»Dann kommt! Je eher wir wegkommen, umso besser.« Die Elbin lief entschlossen voran. Rezkai nickte widerwillig. Er konnte nicht abstreiten, dass sie recht hatte.

ZWEITES KAPITEL

IN DEN KLÜFTEN DER UNTERWELT

Mechanisch setzte Gorin einen Schritt vor den anderen. Zwerge waren zäh und stolz darauf, und sie waren im Schoß der Erde zu Hause. Doch die Höhlen der Unterwelt fühlten sich so trostlos und lebensfeindlich an, wie er es noch in keiner anderen Kaverne erlebt hatte. Sie schienen sich endlos in alle Richtungen zu erstrecken. Egal, wie weit sie auch gingen – überall bot sich ihnen das gleiche Bild von nacktem schwarzen Gestein, zuweilen grünlich beleuchtet von Nebenarmen des allesfressenden Shukta, die sich weithin durch die Dunkelheit zogen. Mal waren es breite Ströme, die die Höhlen zerteilten und die Wanderer zwangen, die Richtung zu wechseln. Mal waren es dumpf brodelnde Tümpel von wenigen Schritten Durchmesser, aus denen üble Dünste aufstiegen.

Gorin konnte kaum noch ermessen, wie lange sie bereits unterwegs waren. Er war müde, hungrig und durstig, doch spürte er es seltsam gedämpft. Als wären solche Gefühle hier unten nur dazu da, sich im Körper festzusetzen, ohne jemals gestillt werden zu können. Er war erschöpft, aber nicht schläfrig, und er hatte nicht den Eindruck, dass es etwas bringen würde, wenn er sich einfach auf dem Felsboden ausstreckte und zu schlafen versuchte.

Also ging er weiter, an der Seite von Galdra, die verbissen daran arbeitete, einen Weg durch diese verfluchten Höhlen zu finden. Hinter ihnen folgten die beiden Elben, schweigsam und mit grauen Gesichtern. Als Letzter ging Rezkai, ihr widerwilliger Verbündeter. Es fühlte sich seltsam an, den Ork mit seinem schrecklichen Säbel im Rücken zu haben. Der Khurdran hielt sich abseits und warf ihnen immer wieder misstrauische Seitenblicke zu, als würden sie nur darauf lauern, über ihn herzufallen. Die Blicke, die Galdra ihm zuwarf, waren nicht weniger feindselig. Gorin seufzte in sich hinein, sagte aber nichts. Er war zu matt zum Reden und konzentrierte sich einfach nur auf den nächsten Schritt.

Gelegentlich durchbrachen merkwürdige Pflanzen die Eintönigkeit der Höhlen: Sensenbäume mit scharfen Dornenklingen. Krüppelbüsche, deren blutrote Blätter spitz wie Dolche waren. Und ledrige Ranken, die von der Höhlendecke baumelten und jeden mit ihrem klauenartigen Ende zu packen versuchten, der ihnen nahe kam. Zumindest waren ihnen bislang keine weiteren Unkreaturen wie das Knochending aus dem Säurestrom begegnet. Und auch sonst schien es so, als wären sie völlig allein in einer endlosen Abfolge trostloser Höhlen.

Kaum hatte Gorin den Gedanken beendet, als Galdra plötzlich warnend die Hand hob. Vor ihnen bewegte sich etwas durch die Dunkelheit. Gorin erkannte einen weißen Schemen, der lautlos über den nackten Felsboden dahinglitt. Er war annähernd menschenförmig, jedoch seltsam blass und durchscheinend wie ein Nebelhauch.

»Was ist das?«, fragte Galdra und umfasste ihre Kristallaxt fester.

»Nur ein Schatten«, knurrte Rezkai gleichgültig. »Viele ruhelose Tote irren durch die Unterwelt. Sie haben keine Kraft und keine Ziele mehr. Wertlos.«

Der Schemen zog langsam dahin. Als er näher kam, konnte Gorin seine Umrisse deutlicher erahnen. Es war eine weibliche Gestalt mit langen, offenen Haaren, offenbar von menschlicher Herkunft. Langsam glitt sie voran, den Blick zu Boden gesenkt, als würde große Sorge sie niederdrücken. Sie schwebte an ihnen vorüber, ohne die Lebenden zu beachten.

In diesem Moment hörte Gorin hinter sich ein ersticktes Geräusch. Er fuhr herum. Elyami sank stöhnend auf die Knie.

»Was ist los?«, fragte Elyamur alarmiert und beugte sich zu seiner Schwester hinunter. Sie gab keine Antwort. »Elyami!« Elyamur schüttelte sie. Langsam schlug die Grünsängerin die Augen auf.

»Es … ist gut«, flüsterte sie. Mit tränenfeuchten Augen schaute sie ihre Gefährten an, die sich besorgt um sie versammelt hatten. Nur Rezkai stand mit verschränkten Armen abseits.

»Der Schatten«, sagte Elyami matt. »Ich habe einen Hauch ihrer Erinnerungen gespürt, von ihrem Schicksal … Sie ist bei einer Überschwemmung umgekommen, in den Fluss geraten. Und nun ist sie hier unten. Ganz allein.« Sie zwang sich zum Durchatmen. »Ich habe ihre Trauer gespürt. Ihre Verzweiflung …«

»Wir werden hier viele Schatten treffen, Elbin«, sagte Rezkai hart. »Wenn dich das jedes Mal in die Knie zwingt, springst du besser gleich in den Shukta, das ist einfacher.«

Elyamur fuhr wütend zu dem Ork herum, doch Elyami hielt ihn zurück.

»Lass«, sagte sie. »Jetzt weiß ich ja, womit ich rechnen muss … Ich werde mich abschirmen. Die Alte mit den Schwanenfedern hat es mich gelehrt.«

»Sicher, dass es dir gutgeht?«, fragte Elyamur und schaute sie forschend an. Elyami erhob sich energisch.

»Ja! Und nun lass uns nicht noch mehr Zeit verlieren.« Sie ignorierte den helfenden Arm ihres Bruders und ging weiter. Die anderen folgten ihr zögerlich.

»Ist das wirklich das Schicksal der Seelen in der Unterwelt?«, fragte Elyamur beklommen nach einigen Schritten. »Auf ewig durch die Dunkelheit zu irren?«

»Nein«, erwiderte Elyami, deren Stimme noch immer belegt klang. »Jedenfalls berichten die Sagen etwas anderes … Die Seelen halten sich in verschiedenen jenseitigen Gefilden auf, je nachdem, welches am besten zu ihnen passt, um sich zu reinigen und neue Kraft zu schöpfen. Irgendwann, wenn sie ihre alte Existenz vergessen haben, kehren sie auf dem Lebensstrom in die Sterblichen Lande zurück und manifestieren sich in einem neuen Körper.«

»Eine schöne Geschichte«, schnaubte Rezkai höhnisch. »Auf die Schatten, die hier unterwegs sind, trifft sie allerdings nicht zu.«

»Sie sind mehr als bedauernswert«, flüsterte Elyamur erschüttert. »Wie können die Götter das zulassen?«

»Der Gott, der sie behüten sollte, war Nidhanas«, erinnerte ihn Gorin ernst.

Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Gelegentlich drifteten ihnen weiße Schemen aus dem Dunkeln entgegen. Manche von ihnen waren so ausgedünnt, dass Gorin sie nur als kalten Hauch spürte. Bei anderen konnte er erahnen, ob sie im Leben einst Menschen oder Goblins gewesen waren, Zwerge oder Trolle. Sie alle glitten teilnahmslos an ihnen vorbei, als existierten die Wanderer gar nicht. Jeder für sich zogen sie dahin, gefangen in ihrer eigenen, endlosen Höhlenödnis, ewige Reisende, die niemals irgendwo ankamen. Immer wieder wandte Gorin sich besorgt zu Elyami um. Die Grün-Elbin schaute starr geradeaus und kämpfte sichtlich darum, sich abzuschirmen. Ihr Mund war eine schmale, verkniffene Linie.

Galdra ging der Gruppe mit grimmiger Entschlossenheit voraus, doch dieser Ort schien sie an die Grenze ihrer Fähigkeiten zu bringen. Ständig stießen sie auf verzweigte Arme des Shukta, auf ätzende Bäche und Säureseen, die sie zum Richtungswechsel zwangen. Gorin fühlte sich selbst immer mehr wie ein ruheloser Schatten, der auf ewig sinnleer einen Fuß vor den anderen setzte.

Als sie gerade wieder eine Höhlenhalle betreten hatten, hielt Galdra plötzlich an. Sie legte die Hände in die Hüften und schaute prüfend nach oben, wo Gorin nun die Mündung eines Schachtes in der Höhlendecke drei gute Zwergenlängen über ihnen erkannte.

»Diese Passage dürfte uns in höhere Regionen bringen«, brummte sie.

Gorin nickte skeptisch. »Wenn der Schacht passierbar ist«, sagte er.

Elyamur trat vor. »Ich schaue es mir mal an.« Er stieß sich vom Boden ab und lief einige Schritte durch die Luft, bis er sich unterhalb der Schachtmündung an einem Felsabsatz festklammern konnte.

»Es geht nicht allzu steil nach oben«, rief er hinunter, während er in den Schacht schaute. »Wenn ich euch an den schwierigen Stellen helfe, müsste es gehen.«

Rezkai knurrte etwas Unverständliches in sich hinein.

»Dann versuchen wir es«, entschied Galdra. Einer nach dem anderen zogen sie sich zum Schacht hinauf, wobei Elyamur ihnen gelegentlich helfend die Hand reichte. Lediglich Rezkai verzichtete darauf und kämpfte sich schnaubend aus eigener Kraft hinauf.

Im Schacht war es so eng, dass sie nur nacheinander vorankriechen konnten, über scharfkantiges Gestein, das in die Hände schnitt, wenn man nicht aufpasste. Galdra machte den Anfang, Gorin hielt sich dicht hinter ihr. Die Passage schien sich endlos durch den Fels zu ziehen. In seinem Rücken atmete Elyami flach und angestrengt. Gorin hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie sich dieser Schacht für jemanden anfühlen musste, der die Weite des freien Himmels über sich so sehr brauchte. Er beeilte sich voranzukommen und ignorierte trotzig den Schmerz der Überanstrengung in seinen Armen und Beinen. Jeder Meter, den er sich hinaufziehen musste, war gut, sehr gut sogar. Sie kamen der Oberfläche beständig näher!

Plötzlich knickte die Tunnelröhre vor Gorin scharf ab. Keuchend schob er sich um die Biegung. Dahinter ging der Schacht noch einige Schritte weiter, bevor er abrupt an einer konturlosen Felswand endete.

»Grakhu!«, fluchte Galdra.

»Was ist?«, fragte Elyami gepresst von hinten. »Warum geht es nicht weiter?« In ihrer Stimme lag ein Anflug von Panik.

»Der Schacht ist hier zu Ende«, erwiderte Gorin mutlos. Weiter unten hörten sie Rezkai heiser lachen. Ein unschönes Geräusch.

»Sagt dem Ork, wenn er nicht aufhört, stopfe ich ihm meine Axt ins Maul!«, tobte Galdra. Wütend kroch sie die letzten Schritte bis zum Ende des Schachtes vor und betastete ungläubig die nackte Wand. »Hier muss es einfach weitergehen!«, schnaubte sie.

»Aber das tut es nicht«, sagte Elyamur tonlos hinter ihnen.

Gorin schaute seine Schwester ernst an. »Könnte es irgendwo einen verborgenen Durchgang geben?«, fragte er ohne Hoffnung. Galdra schüttelte den Kopf.

»Nein«, knurrte sie zwischen den Zähnen hindurch. »Wir müssen zurück.«

Der Abstieg war noch quälender als der Aufstieg. Nicht nur, dass die Kletterei in die Knie ging – deutlich schlimmer war das Wissen darum, dass alle Mühe umsonst gewesen war. Sie waren einem Irrweg gefolgt, hatten sich die Handballen für nichts an den scharfen Graten des Schachts aufgeschürft.

Mit hängenden Schultern kamen sie schließlich wieder in der Höhle an, wo Galdra vor einer gefühlten Ewigkeit die Passage entdeckt hatte. Für einen Moment herrschte erschöpftes Schweigen. Elyami sah grau aus wie ein Schatten, Elyamur starrte finster vor sich hin. Nur um Rezkais Lippen lag ein höhnisches Lächeln.

»Sollen wir Rast machen?«, fragte Gorin nach einem kurzen Moment des Schweigens.

»Bringt doch nichts«, knurrte Galdra. »Oder hat einer von euch das Gefühl, dass man die Müdigkeit und den Durst an diesem Ort loswerden kann?«

Niemand gab eine Antwort. Langsam und schleppend setzten sie sich in Bewegung, um ihren Weg durch die Höhlen fortzusetzen, durch eine Ödnis aus scharfkantigen Messerbüschen und Säurebächen. Wenn ruhelose Schatten an ihnen vorüberzogen, um bald darauf wieder mit der Dunkelheit zu verschmelzen, hob Gorin schon gar nicht mehr den Kopf nach ihnen. Es hätte ihn nicht weiter gewundert, wenn auch er selbst langsam blass und durchscheinend geworden wäre.

Nach einiger Zeit erreichten sie eine große Höhle, deren Boden von Blumen bedeckt war – eine groteske Wiese mitten auf dem nackten Fels. Mit Schaudern erkannte Gorin, dass die blutroten Blüten wie Dämonenklauen mit winzigen Krallen geformt waren. Solch eine Blume hatte die Winterseherin dem Kettenfürsten gezeigt, als sie vergeblich versucht hatte, jenen Menschen in ihm wachzurufen, der er einst gewesen war. Denn Dáman hatte ihr wohl vor langer Zeit eine ebensolche Blume geschenkt, eigens für sie aus den Tiefen der Unterwelt beschworen.

»Verfluchte Höllengewächse!« Galdra ging schnaubend auf die Wiese los. Eine Dämonenblume nach der anderen zerknickte unter ihren schweren Stiefeln, während sie ihre Wut und ihren Frust in den Boden stampfte. Die anderen schauten ratlos zu. Rezkai grinste in sich hinein.

»Mach nur die Blumen weg, Zwergin«, sagte der Ork. »Ohne solchen Unsinn hätte der Kettenfürst die Alte vielleicht nicht niedergestoßen – und ihr Zwillinge wäret nicht besiegt worden.«

»Du!« Galdra ließ die Blumen in Frieden und stapfte auf Rezkai zu. »Das ist eine dreckige Lüge, Ork!«, rief sie. »Niemand hat uns besiegt. Wir wurden vielleicht zurückgeschlagen. Aber die Zwillingsseelen werden weiterkämpfen!«

»Das könnt ihr gern versuchen«, höhnte Rezkai. »Nur dass ihr keine Zwillingsseelen mehr seid. Der Orakelspruch hat sich erfüllt, der Kettenfürst ist befreit. Jetzt seid ihr nur noch irgendwelche Sterblichen. Genau wie ich. Wir können gegen den Kettenfürsten kämpfen, aber wir sind genauso wenig auserwählt, ihn zu besiegen, wie irgendein Goblin aus dem hintersten Swertengund.«

»Nimm das sofort zurück, Ork!« Plötzlich hatte Galdra ihre Kristallaxt in der Hand. Auch Zwillingsblut blitzte knochenfahl im Halbdunkeln auf.

»Wollen wir es doch gleich austragen?«, fragte der Ork lauernd. »Ich freue mich darauf, aus deinen Knochen Haarnadeln zu machen, Zwergin.«

»Galdra!« Gorin trat an die Seite seiner Schwester. »Das bringt doch nichts.« Er seufzte tief. »Außerdem hat Rezkai recht. Alle Bedingungen des Orakelspruchs sind erfüllt. Und die Ketten wurden gesprengt – im Sinne des Kettenfürsten. Vermutlich betrifft uns die Prophezeiung nun nicht mehr.«

Galdra senkte schwer atmend die Axt. »Das kann doch gar nicht sein«, schnaubte sie. »Wir haben uns unser Leben lang auf die Aufgabe vorbereitet!«

»Und die Sache verpatzt«, ergänzte Rezkai schadenfroh.

»Das kann nicht sein …«, wiederholte Elyamur leise, und seine Schultern sackten mutlos herab. Gorin konnte nur erahnen, wie er sich fühlen mochte. Er war vermutlich derjenige der Zwillingsseelen, der sich am stärksten als ein Auserwählter des Orakelspruchs gefühlt hatte, sein ganzes Sein als Krieger auf diesen Weg hin ausgerichtet hatte. Elyami wandte sich ihrem Bruder besorgt zu. Grimmig schüttelte Elyamur den Kopf.

Galdra schaute trotzig zu der Grünsängerin. »Du bist doch eine Seherin«, sagte sie. »Sind wir noch die Zwillingsseelen des Orakelspruchs?«

Elyami schwieg. Das war Antwort genug. Mit einem zornigen Schnauben steckte Galdra ihre Axt in die Rückentrage zurück, ließ die zerknickten Dämonenblumen links liegen und stapfte weiter voran. Die anderen schlurften hinter ihr her.

»Egal, ob wir die Zwillingsseelen sind oder nicht«, schimpfte Galdra beim Gehen. »Wir werden den Kettenfürsten vom Thron stürzen – an unserer Aufgabe ändert dieser blödsinnige Spruch gar nichts!«

»Und wie wollt ihr das anstellen?«, höhnte Rezkai. »Der Einzige mit einer Waffe, die jemanden von der Macht des Kettenfürsten zu verwunden vermag, bin ich.« Er tätschelte den Griff seines Göttertöter-Säbels.

»Irgendeine Möglichkeit wird sich finden«, schnaubte Galdra. »Wenn wir nur erst einmal hier raus sind …«

Gorin war dankbar, dass seine Schwester ihren Kampfgeist nicht aufgegeben hatte. Zugleich war er aber auch besorgt. Er hatte tatsächlich keine Idee, wie sie gegen den Kettenfürsten vorgehen konnten, falls sie wirklich jemals wieder ins Sonnenlicht gelangen sollten …

»Und dann?«, fragte Elyami leise. »Wenn der Kettenfürst besiegt ist – ist dann alles wieder gut?«

Niemand gab eine Antwort. Es folgte ein langer, beklommener Marsch durch endlose Höhlen, vorbei an glühenden Säureseen und bodenlosen Schächten. Erst als sich der Gang, dem sie seit einer Weile folgten, vor ihnen weitete und ein Luftzug von einer ungewöhnlich großen Höhle kündete, schaute Gorin auf. Alle beschleunigten erwartungsvoll ihre Schritte. Dann blieb Galdra abrupt stehen.

»Was ist?«, fragte Gorin. Wortlos trat seine Schwester beiseite, sodass Gorin sehen konnte, was vor ihnen lag.

Tief unter ihren Füßen wand sich, mächtig und träge, ein Säurestrom dahin. Sein anderes Ufer war eine steile, glatte Felswand. Nach oben hin verlor sich die Höhle im Dunkeln.

Sie standen am Abgrund Vaktra, über dem allesfressenden Shukta. Nach einer zermürbenden Ewigkeit des Marschierens durch unwegsame Höhlen befanden sie sich wieder dort, wo sie aufgebrochen waren.

DRITTES KAPITEL

DIE SCHWEBENDEN GÄRTEN DES SILBERKLOSTERS ILYÚN

Ihr Körper lag auf Seidenstoff gebettet, die Hände gefaltet. Weiß wie der Winter glänzten ihre Haare, die fächerartig um ihr Haupt gebreitet waren. Die Augen in ihrem klaren, von Falten zerfurchten Gesicht waren geschlossen, doch noch immer trugen ihre Mundwinkel den Ausdruck bedingungsloser Entschlossenheit. Das Licht zahlloser Silberlaternen beschien ihre erstarrten Züge und verlieh ihnen trügerische Lebendigkeit, als würde sie sich jeden Moment ungeduldig erheben, verärgert über ihren langen Schlaf.

Blütenblätter waren auf ihrem Lager verstreut. Sie hatten dieselbe tiefblaue Farbe wie die Saphirsplitter auf dem Knotenstab, der in ihrer linken Armbeuge ruhte, einst das Zeichen ihrer Zaubermacht. Silberne Gewänder aus elbischer Spinnwebseide umhüllten ihren Leib. Gnädig verdeckten sie die schreckliche, vierfache Speerwunde, die sich in ihre Brust gegraben hatte. Alles war zu seiner Zufriedenheit hergerichtet worden.

Lange stand der Kettenfürst da und schaute mit unbewegtem Gesicht auf den Körper der Winterseherin, die einst Odrana, die Saphiräugige, gewesen war. Das Alter hatte ihre Schönheit ebenso wenig auszulöschen vermocht wie der Tod.

Er selbst hatte sich nur wenig verändert, seit Odrana die junge Frau an seiner Seite gewesen war. Noch immer prägten ihn die gleichen hageren Züge, umkränzt von schwarzen Locken, in denen seit einiger Zeit rostrote Strähnen schimmerten. Seine Gewänder aus schwarzer Seide bildeten einen Kontrast zu seiner fast weißen Haut. Dort, wo die Roben einen Ausschnitt seiner nackten Brust freigaben, waren krustige Narben zu erkennen, punktförmig und tief, wie von Stacheln oder Dornen. Auch über sein Gesicht zogen sich die Narben, verliehen seinen Zügen einen Makel, der sie definierte und ihnen Entschlossenheit verlieh. In der Rechten trug er einen langen Speer, bekrönt von vier grausamen Spitzen.

Ein armlanger Blütenpollen trieb von draußen durch den Pavillon und riss den Kettenfürsten aus seiner Betrachtung.

»Odrana«, sagte er leise. »Du bist schon zu lange fort. Ich werde dich nicht noch einmal verlieren …«

Er richtete sich auf und umfasste seinen Vierzack fester. Mit einer befehlsgewohnten Geste stieß er den Schaft der Waffe auf den Boden. Die Flammen der Laternen flackerten auf und erloschen allesamt. Dunkelheit breitete sich um das Totenlager aus, nur dämmrig durchbrochen von dem geisterhaften Licht, das nun um die Zacken des Vierzacks spielte.

»Komm zu mir!«, sprach der Kettenfürst fest. »Komm zu mir, weil ich dich rufe! Zurück aus der Dunkelheit der Höhle Dvar. Zurück aus den Schatten von Tamovat. Der Gebieter des Rostroten Throns befiehlt es!«

Dunkle Euphorie erfüllte ihn, als die Macht der Unterwelt durch seine Aura strömte und ihn zu etwas Größerem machte, als jemals ein Sterblicher vor ihm gewesen war. Sein Geist glitt am endlosen Strom der Seelen entlang, die aus den Sterblichen Landen der Unterwelt entgegenstrebten. Seinem Reich. Rasch fand er jene eine Seele, die er suchte, und hielt sie mit all der Kraft seines Willens fest. Es war eine starke Seele, und er spürte ihren machtvollen Widerstand.

»Kehre zurück!«, befahl er. »Zurück zu mir!«

Die Seele glitt stumm von ihm fort, dem natürlichen Pfad der Dinge folgend. Er musste seine ganze Kraft aufbieten, um sie dennoch zu halten. Für einen Moment drohte sie ihm zu entgleiten, sich in den Weiten der Unterwelt zu verlieren. Das durfte nicht sein!

»Sei wieder Odrana!«, rief der Kettenfürst mit den Lippen ebenso wie mit seinem Geist.

Plötzlich war der Widerstand verschwunden. Und sie kehrte zu ihm zurück. Der Kettenfürst lächelte.

Ihm fauchte der kalte Hauch der Unterwelt entgegen. Sterbliche pflegten Grauen zu empfinden, wenn Schatten aus der Tiefe aufstiegen und körperlose Schemen sich in ihrem Augenwinkel bewegten. Der Kettenfürst jedoch fühlte nichts als Triumph, denn die Mächte der anderen Seite waren seine Diener, und fürchten mussten sie nur jene, die sich gegen ihn stellten.

Der Grabeshauch verebbte. Über dem Körper der alten Frau erschien ein bleicher, nebelhafter Umriss in der Luft. Es war eine Weiße Frau mit langen, wehenden Haaren, durchscheinend und doch präsent. Der Kettenfürst nickte zufrieden. Weiße Frauen gehörten zu den mächtigsten Kindern der Nacht. Eine weniger ehrfurchtgebietende Erscheinung wäre nicht angemessen gewesen. Wohlwollend betrachtete er die Geisterfrau.