Zwillingsblut - Die Magie der Elben - Hendrik Lambertus - E-Book

Zwillingsblut - Die Magie der Elben E-Book

Hendrik Lambertus

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Beschreibung

Die Zwergen-Zwillinge Gorin und Galdra und die Elben-Geschwister Elyami und Elyamur haben beim Versuch, die Welt vom Joch des Kettenfürsten zu befreien, einen Rückschlag erlitten. Doch aufzugeben kommt nicht infrage. Gemeinsam fassen sie den Plan, eine mächtige Waffe zu schmieden. Dafür müssen die Geschwister zu den vier Quellen der Elemente reisen, um dort jeweils eine Aufgabe zu erfüllen und so die Essenz des Elements zu gewinnen. Eine jede dieser Aufgaben wird einen der Helden besonders auf die Probe stellen ...

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

PROLOG

KARTE RAVIKRA

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

KARTE SCHLUND DES MEERES

FÜNFTES KAPITEL

KARTE SWERTENGUND

SECHSTES KAPITEL

SIEBTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

KARTE AZUSSRA

ZEHNTES KAPITEL

KARTE SKOVRIK

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

DREIZEHNTES KAPITEL

VIERZEHNTES KAPITEL

FÜNFZEHNTES KAPITEL

SECHZEHNTES KAPITEL

SIEBZEHNTES KAPITEL

KARTE NORD-MAKHURA

ACHTZEHNTES KAPITEL

NEUNZEHNTES KAPITEL

KARTE MAKHURA

ZWANZIGSTES KAPITEL

KARTE HIMMELSKAISER

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL

ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL

FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL

KARTE MALYÚN

SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL

SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL

ACHTUNDZWANZIGSTES KAPITEL

NEUNUNDZWANZIGSTES KAPITEL

DREISSIGSTES KAPITEL

EINUNDDREISSIGSTES KAPITEL

ZWEIUNDDREISSIGSTES KAPITEL

DREIUNDDREISSIGSTES KAPITEL

KARTE GARHITA

VIERUNDDREISSIGSTES KAPITEL

FÜNFUNDDREISSIGSTES KAPITEL

SECHSUNDDREISSIGSTES KAPITEL

SIEBENUNDDREISSIGSTES KAPITEL

ACHTUNDDREISSIGSTES KAPITEL

EPILOG

Danksagung

Anhang A: Wichtige Personen

Anhang B: Glossar

Über das Buch

Die Zwergen-Zwillinge Gorin und Galdra und die Elben-Geschwister Elyami und Elyamur haben beim Versuch, die Welt vom Joch des Kettenfürsten zu befreien, einen Rückschlag erlitten. Doch aufzugeben kommt nicht infrage. Gemeinsam fassen sie den Plan, eine mächtige Waffe zu schmieden. Dafür müssen die Geschwister zu den vier Quellen der Elemente reisen, um dort jeweils eine Aufgabe zu erfüllen und so die Essenz des Elements zu gewinnen. Eine jede dieser Aufgaben wird einen der Helden besonders auf die Probe stellen …

Über den Autor

Hendrik Lambertus wurde 1979 geboren und lebt heute mit seiner Familie in Norddeutschland. Er studierte in Tübingen Skandinavistik, ältere Germanistik und Indologie und widmete sich nach dem Abschluss seiner Doktorarbeit, die er zur spätmittelalterlichen Literatur Islands schrieb. Noch heute dient ihm die Auseinandersetzung mit alten Texten aus den unterschiedlichsten Kulturräumen im Zuge seiner wissenschaftlichen Lehrtätigkeit als Inspiration für das eigene Schreiben.

HENDRIK LAMBERTUS

ZWILLINGSBLUT

DIE MAGIE DER ELBEN

BAND 2

Mit handgezeichneten Karten des Autors

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AGCopyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Katharina RundenUmschlaggestaltung: Kim Hoang, Guter Punkt, München | www.guter-punkt.deunter Verwendung von Motiven von © Thinkstock: Top Photo Group venimo | Andreyuu | AndreaAstes | Igorad | Dynamic Graphics | vladimir_n | MaYcaL | nevarpp | PicsfiveE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-6089-9

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Für Konradin

PROLOG

Der Tod kam durch die Luft ins heilige Malyún.

Die weißen Türme und Kuppeln des Silberklosters erhoben sich auf einem kühnen Brückenbogen, der sich über einen Abgrund spannte. Ein zu Eis erstarrter Wasserfall glitzerte unterhalb des Klosters in der Schlucht und verschwand nach vielen Hundert Metern in den Schatten. Aus der Entfernung sah es so aus, als würde Malyún in der klaren Bergluft schweben, ein filigranes Traumbild mitten im Nichts. Tatsächlich ruhte der Brückenbogen des Klosters an zwei Stellen auf dem Fels der Berge, während seine Gebäude sich frei über dem Abgrund erstreckten.

Dank dieser Lage hatte das Festungskloster seit den alten Tagen der Silber-Elben jedem feindlichen Heer standgehalten. Vor dunkler Magie und dem Zorn geflügelter Drachen war Malyún durch ein machtvolles Zaubersiegel geschützt. Doch nun hatte jemand dem Tod die Tore geöffnet.

Thuramur, Priester der göttlichen Weberin Iyanuri, bemerkte erst spät, dass etwas nicht in Ordnung war. Der Silber-Elb hatte auf einer der Turmplattformen unter dem Vollmond meditiert und war durch ein Gefühl von nahendem Unheil ins Hier und Jetzt zurückgerufen worden. Nun schritt er beunruhigt den westlichen Wandelgang entlang.

Zu seiner Linken schauten zahllose offene Bogenfenster über die Eisgipfel der Gletscherberge. Schnee lag in jedem einzelnen Fensterrahmen und bedeckte auch den gekachelten Boden. Unter einem der Fenster erblickte Thuramur rote Flecken im reinen Weiß des Schnees. Er hielt inne. Einige Meter entfernt lag eine reglose Gestalt am Boden. Es war Hvitbjörn, einer der Tempelwächter. Sein bleiches Gesicht war zu einer Maske des Schreckens mit weit aufgerissenen Augen verzerrt. Der blonde Menschenmann hatte dem Kloster Malyún sein Leben lang gedient, so wie seine Eltern, seine Großeltern und seine Urgroßeltern vor ihm. Thuramur hatte sie alle gekannt.

Blut quoll aus einer Wunde an Hvitbjörns Hals und färbte den Schnee rot. Eine Gestalt in einer grauen, zerfetzten Kutte hockte über ihm und saugte gierig den Lebenssaft in sich hinein. Als der Kuttenträger Thuramurs Präsenz erspürte, hob er den Kopf. Ein bleicher Schädel grinste unter der Kapuze hervor. Die scharfen Eckzähne waren grotesk verlängert und glänzten rötlich. Eine Lamia, ein blutgieriger Schrecken der Unterwelt.

Frohlockend streckte die Lamia Thuramur ihre Knochenarme entgegen und schwebte auf ihn zu. Jeder Geschichtenerzähler wusste, dass die ruhelosen Toten das immerjunge Blut der Elben mehr als jede andere Beute begehrten. Rasch zog Thuramur ein Amulett unter seiner Robe hervor. Es war eine kleine Silberspindel, das Zeichen der göttlichen Weberin Iyanuri. Der Priester hob den Anhänger und rezitierte einen Segensspruch in der ehrwürdigen Sprache seines Volkes.

Die Lamia zischte wütend und schnappte nach ihm, doch sie vermochte ihn nicht zu berühren. Iyanuris Segen beschützte ihren Diener. Thuramur spürte einen Hauch von Erleichterung, denn in der letzten Zeit war es für die Priesterinnen und Priester immer schwieriger geworden, die Macht der Weberin anzurufen. Er war sich keineswegs sicher gewesen, dass der Schutzsegen wirken würde.

Dann hörte er ein grabkaltes Zischen von der Seite. An sechs oder sieben Bogenfenstern des Wandelganges krallten sich knöcherne Hände in den Stein, während grinsende Schädel mit Fangzähnen hereinschauten. Weitere Kuttengestalten zogen sich in den Gang. Thuramur sog scharf die Luft ein. Eine einzelne Lamia war bereits ein schrecklicher Gegner, selbst für einen erfahrenen Priester. Gegen eine ganze Horde der Unterweltlichen konnte er nicht bestehen.

Thuramur wich zurück, fort von den todbringenden Töchtern der Unterwelt. Er wandte sich um und hastete schnellen Schrittes tiefer ins Kloster hinein. Hinter ihm zischten die Lamiae gierig, wagten es aber nicht, den von Iyanuri Gesegneten zu verfolgen.

Auf den Gängen und Treppen fand er weitere blutleere Leichen. Der Anblick erfüllte ihn mit Grauen. Einige trugen die einfache, weiße Kluft der Tempeldiener und Wächter, andere die feinen Regenbogenroben der Priesterschaft. Dort lag die Silbersängerin Uyandri, dort Gamring, der Küchenbursche, der erst im dritten Jahr auf Malyún war.

Einmal begegnete er einer Lamia, die mit wehender Kutte auf der Suche nach Opfern durch das Kloster schwebte. Seine Silberspindel ließ sie zurückweichen.

Thuramur war von einer Sorge erfüllt, wie er sie seit vielen Hundert Wintern nicht mehr gespürt hatte. Nicht um sich oder sein ewiges Elbenleben. Er war sich dessen bewusst, ein Relikt vergangener Tage zu sein. Die Zeit der Silber-Elben war vorüber. Doch bangte er um das Herz des Silberklosters Malyún, das im großen Gewebe unersetzlich war. Dunkle Vorahnungen waren seine Begleiter, während er durch die verschachtelten Gänge eilte. Es war unmöglich, dass Untote von außen in das Kloster eindrangen. Es sei denn, jemand hatte das Schutzsiegel gebrochen.

Niemand von den Priesterinnen und Priestern kam dafür infrage. Sie alle dienten der Weberin treu, die meisten seit ewigen Zeiten. Auch die menschlichen Tempeldiener waren über jeden Zweifel erhaben, sie entstammten alten Familien der Nordleute, die seit vielen Generationen ihre Kinder dem Kloster überantworteten.

Es musste jemand anderes gewesen sein. Und es gab zurzeit nur eine Person von außerhalb im Kloster. Eine einsame Pilgerin, eine Purpur-Elbin. Thuramur misstraute dem Purpurvolk mit seinem Streben nach Zaubermacht. Doch Malyún war ein gemeinsames Erbe aller Elbenvölker, ebenso wie das Schwesterkloster Ilyún im fernen Blütenmeer von Beyân. Keinem Pilger durfte der Zutritt verwehrt werden.

An einer Treppe traf er auf Hroskarl, den Stallknecht. Er hatte sich in eine Ecke gekauert und zitterte am ganzen Körper. Entschlossen half Thuramur dem verängstigten Hroskarl auf, und gemeinsam eilten sie weiter. Als eine Lamia aus einem Seitengang heranschwebte, wehrte Thuramur sie mit seiner Silberspindel ab.

Der Silber-Elb hastete mit dem Menschenmann einen langen, von matt leuchtenden Mondquarz-Statuen gesäumten Gang entlang und erreichte schließlich die große Kuppelhalle auf dem höchsten Scheitelpunkt des Brückenklosters. Dies war das zentrale Heiligtum von Malyún, die Halle des Silberwebstuhls.

Thuramurs Befürchtungen wurden zur Gewissheit. Cylandri, die hohe Hierophantin, war bereits hier, zusammen mit Jandramur, dem Sternenmeister, der Bibliothekarin Ryndri und dem Kantor Gyrandur. Drei der ältesten Priester, die schon Diener der Weberin gewesen waren, als Thuramur einst den Regenbogenschleier genommen hatte. Sie hatten sich vor dem Webstuhl versammelt, um ihn mit ihren Leben zu verteidigen. Doch sie waren kaum in der Lage, sich selbst zu beschützen. Mehr als ein Dutzend Lamiae in grauen Kutten streiften gierig vor ihnen auf und ab und streckten immer wieder begehrlich die Knochenarme nach ihnen aus. Die Priesterinnen und Priester hatten ihre Silberspindeln erhoben, um die Angreifer abzuwehren, die einen Kreis um sie und den Webstuhl geschlossen hatten.

Die Hierophantin rief die machtvollen Worte eines Bannfluchs. Ein Strahl aus silbernen Flammen entsprang ihrer Spindel und ergoss sich über eine der Kapuzengestalten. Heulend verbrannte die Untote zu Asche, doch sofort schwebten zwei weitere Lamiae an ihre Stelle. Cylandri ließ erschöpft den Arm sinken. Hroskarl kauerte sich ängstlich hinter Thuramur.

Das große Schutzsiegel war tatsächlich durch einen unheiligen Zauber gebrochen. Daneben stand die Pilgerin. Sie hatte ihren Regenbogenumhang achtlos zu Boden geworfen. Nun konnte Thuramur erkennen, dass sie darunter eine schwarze Lederrüstung und purpurfarbene Gewänder voller Zauberglyphen trug. Das lange brünette Haar der Purpur-Elbin wurde durch einen Silberreif aus feinen Kettengliedern gebändigt. Eine gewundene Kette auf rostrotem Grund zierte auch ihre Rüstung. Thuramur erinnerte sich. Pilger hatten das Wappen erwähnt. Das war das Zeichen des Kettenfürsten, dessen Kriegshorden schon viele Reiche überrannt hatten. Die Amethystaugen der Purpur-Elbin funkelten spöttisch, als sie Thuramur am Portal der Halle bemerkte.

»Ah, noch ein fähiger Priester, der die Macht seiner Spindel zu erwecken vermochte«, sagte sie mit einem zufriedenen Katzenlächeln. Dann klatschte sie energisch in die Hände. »Lamiae! Treibt ihn zu den anderen.«

Drei der Kuttengestalten lösten sich von ihren Schwestern und schwebten auf Thuramur zu. Er trat einen Schritt zurück. Selbst eine Meisterin der Nekromantie konnte vielleicht zwei, höchstens drei der machtvollen Untoten zugleich kontrollieren. Durch das Kloster jedoch schienen ganze Horden von Lamiae zu streifen. Wer war diese Frau, dass sich die Pforten der Unterwelt so bereitwillig für sie öffneten?

Thuramur wusste, dass er der schrecklichen Macht von drei Lamiae zugleich nichts entgegensetzen konnte. Doch er war einst ein passabler Krieger gewesen, bevor er nach Jahrhunderten sinnleerer Kämpfe in Malyún seine Heimat gefunden hatte.

Mit einer fließenden Bewegung griff er an seinen Gürtel, zog eine versilberte Wurfscheibe voller Zauberglyphen hervor und schleuderte sie nach der Purpur-Elbin. Sie versuchte auszuweichen, doch sie war nicht schnell genug. Die Wurfscheibe streifte ihre Schulter, zerschnitt ihren Schutzzauber so mühelos wie ihre Rüstung und hinterließ eine blutende Wunde.

Die Purpur-Elbin schrie schmerzerfüllt auf. Mit erstaunlicher Entschlossenheit ignorierte sie die Verletzung und griff nach ihrer Gürteltasche, während sie einige Worte der Macht zischte. Eine schimmernde Schneeflocke aus Kristall surrte plötzlich auf Thuramur zu. Seine Glieder erstarrten zur Reglosigkeit, als die Flocke seine Priesterroben berührte und Kälte sich in seinem Körper ausbreitete. Hilflos musste er mit ansehen, wie die Lamiae sich mit ihrem toten Grinsen näherten, während die Purpur-Elbin voller Genugtuung zuschaute. Eine der Untoten stürzte sich auf Hroskarl und grub ihre Fangzähne in seinen Hals. Der Stallknecht sank mit einem ersterbenden Wimmern zu Boden. Die beiden anderen umkreisten Thuramur immer enger.

Erst als Knochenfinger zärtlich über Thuramurs Wange strichen, hob die Purpur-Elbin die Stimme. »Genug! Ich brauche ihn lebend, so wie die anderen Priester, die Iyanuris Macht zu rufen verstehen.«

Thuramur wehrte sich mit aller Kraft gegen den Eiszauber der Purpurfrau, doch er vermochte den Bann nicht zu brechen. Plötzlich trat ein Orkkrieger selbstgefällig grinsend ins Allerheiligste von Malyún. Die Untoten mussten ihn eingelassen haben. Seine Plattenrüstung war rot-schwarz lackiert und mit silbernen Kettenmustern verziert. Auf dem Brustpanzer prangte das Symbol eines Wolfsschädels, an der Seite trug er einen mächtigen Knochensäbel, der mit unheilvollen Runen bedeckt war. Er nickte der Purpur-Elbin zu, ehe er die eingekesselten Priester betrachtete.

»Scheint so, als hätte Euer Plan Erfolg gehabt, Statthalterin«, brummte der Ork. »Eine einfache Eroberung. Diese Elben sind noch schwächer, als die Lieder der Orks berichten.«

»Euer Frevel wird Folgen haben!«, rief die Hierophantin Cylandri, während sie zugleich die Lamiae auf Abstand hielt. »Im großen Gewebe hängt alles zusammen. Nichts bleibt ohne Wirkung!«

Die Purpur-Elbin schaute zu ihr: »Gewiss, Hierophantin! Dieser Tag wird eine große Wirkung haben.« Dann wandte sie sich an ihren orkischen Begleiter.

»Khurdran Serkai, ich brauche Euch und Euren Säbel momentan nicht. Schwingt Euch auf die Fledernatter und fliegt zu unserer Heerschar. Macht Euren Orks Beine und jagt sie über den Pass! Ich will unsere Truppen so schnell wie möglich hier im Kloster haben.«

»Ganz wie Ihr wünscht«, sagte der Ork mit der höhnischen Parodie einer Verbeugung. Er grinste die Silber-Elben am Webstuhl an, ehe er mit wehendem Umhang aus der Halle stiefelte. Die Purpur-Elbin schaute ihm missbilligend hinterher. Dann wandte sie sich an die grauen Reihen der Lamiae.

»Durchstreift das ganze Kloster, ihr Kinder der Unterwelt!«, befahl sie ihnen. »Schwebt durch alle Gänge und Kammern! Treibt die verbleibenden Priester in den Eiskerkern zusammen. Die Tempeldiener und Wächter benötigen wir nicht. Ihre Lebenskraft ist für euch, ihr Immerhungrigen.«

Die Lamiae zischten verzückt. Dann machten sie sich auf den Weg, ihr grausiges Werk zu verrichten. Die Purpur-Elbin jedoch trat ganz dicht an Thuramur heran und betrachtete ihn mit ihren kalten Amethystaugen.

»Ihr Regenbogenträger werdet noch gebraucht«, sagte sie leise. »Denn ihr werdet den Silberwebstuhl für die höhere Macht des Kettenfürsten einsetzen, wenn es an der Zeit ist.«

Thuramurs Körper war noch immer durch die Macht des Eiszaubers gelähmt. Er konnte nicht einmal den Kopf schütteln. Dennoch schien Widerstand in seinem Blick zu liegen, denn die Purpur-Elbin sprach lächelnd: »Oh ja, das werdet ihr. Ganz besonders du.« Sie rieb sich die Schulterwunde. »Dafür werde ich sorgen. Deine Hand wird dem Kettenfürsten den Weg zur absoluten Herrschaft ebnen.«

ERSTES KAPITEL

Das Lager der Phönixkinder am SonnenaugeTief in der Phönixsteppe

Träge erhob sich eine rote Sonne über den Horizont der Steppe. Noch war ihre Glut matt und schläfrig, doch sie strahlte schon einen Hauch von jener staubigen Hitze aus, die bald die Kühle der Nacht vertreiben würde. Das Morgenlicht spiegelte sich auf dem Sonnenauge, wie die Rot-Elben das abgelegene Wasserloch nannten. Als eine Herde grauer Phantomgazellen sich aus der Dämmerung schälte, um zu trinken, sah es so aus, als würde das bewegte Wasser Elyami aus tausend Lichtaugen zuzwinkern. War es ein aufmunterndes Zwinkern? Oder verspottete sie das Wasserloch? Elyami war sich nicht sicher. Die Melodie dieses fremden Landes war noch immer unvertraut für sie.

Die Elbin saß allein auf einem Felsen etwas abseits vom Lager der Rot-Elben. Über den Zelten wehte das kunstvolle Banner der Phönixkinder-Sippe im Morgenwind. Rot verschleierte Wächter mit geschwungenen Elbenschwertern und Kurzbögen auf den Rücken streiften in der Umgebung umher. In der Nähe grasten zottelige Steppenpferde.

Langsam erwachte das Lager aus seiner nächtlichen Ruhe. Bald würde alles erfüllt sein von Stimmen, Liedern und den Gerüchen der Kochstellen. Elyami aber war schon seit Stunden auf. Sie hatte den Sonnenaufgang am Wasserloch erwartet und dabei sanft auf ihrer Inyura gespielt, deren Schallkörper sie auf dem Schoß balancierte. Die elbische Streichlaute hatte nur zwei Saiten, doch Elyamis Bogen vermochte ihr Melodien von klagender Schönheit zu entlocken.

Dies war ihr letzter Morgen in der Steppe, der Tag des Aufbruchs. Elyami wollte so viel wie möglich von den Melodien des Landes um sie herum in sich aufnehmen, ehe sie mit den anderen für ihre große Aufgabe weiterzog. Das hatte sie sich jedenfalls eingeredet. Doch wenn Elyami ehrlich zu sich war, dann hatte sie einfach nicht schlafen können, weil sie aufgeregt war.

Zum ersten Mal seit sie und ihr Zwillingsbruder Elyamur ihre große Mission angetreten hatten, wussten sie, was zu tun war. Sie hatten eine Möglichkeit gefunden, den Kettenfürsten vom Thron zu stürzen! Elyami seufzte unbehaglich. Den Kettenfürsten, der die Macht eines leibhaftigen Gottes an sich gerissen und mit seinen endlosen Heerscharen bereits so viele freie Länder überrannt hatte. Angesichts dieses Gegners erschien ihr ein Scheitern ungleich wahrscheinlicher als ein Triumph. Sie straffte sich – Zweifel brachten sie nicht weiter.

Elyami starrte auf die spielenden Sonnenstrahlen über dem Wasserloch, während sie den Stachel eines vertrockneten Steppenkaktus abpflückte und sich in den Schläfenzopf einflocht. Sie trug ihr kupferfarbenes Haar kurz und praktisch, nur eine einzelne Strähne fiel ihr bis weit über die Schulter. Elyami sammelte gerne kleine Erinnerungsstücke und band sie dort ein. Manche steckten schon ewig in ihrem Haar, andere wechselten immer wieder. Der Stachel war ein würdiger Repräsentant für die karge Schönheit der Steppe.

Etwas regte sich an einem kleinen Zelt am Rande des Lagers. Elyami kniff die Augen zusammen. Jemand kroch aus der Öffnung, stellte sich aufrecht hin und reckte sich der Morgensonne entgegen. Es war Elyamur. Ein Lichtreflex verriet ihr, dass ihr Bruder seine Rüstung aus stahlhartem Adamantglas angelegt hatte. Elyamur wandte sich um und kam zielstrebig auf den Felsen zu, auf dem Elyami sich niedergelassen hatte. Er war bereits daheim in Liráya unschlagbar darin gewesen, sie zu finden.

Elyami schaute ihm mit gerunzelter Stirn entgegen, während sie ihre Inyura einpackte. Normalerweise freute sie sich, ihren Bruder zu sehen. Heute allerdings war sie verstimmt. Das lag gewiss daran, dass vor einiger Zeit schon einmal eine Gestalt aus jenem abgelegenen Zelt geschlüpft und im Lager verschwunden war. Elyami wusste genau, dass es sich dabei um Chasri handelte, die stolze Rot-Elbenkriegerin, die ihren Bruder bei ihrer ersten Begegnung beinahe umgebracht hätte. Und sie war immer mehr davon überzeugt, dass die Rot-Elben das abseitsstehende Zelt nur zu einem einzigen Zweck mit vieldeutigen Liedern auf den Lippen aufgebaut hatten, während das Lager am Sonnenauge errichtet worden war.

Als Elyamur sie fast erreicht hatte, hob er grüßend den Arm. Sein zu drei Kriegerzöpfen gebundenes Kupferhaar flatterte im Steppenwind. Er wirkte überaus aufgeräumt. Über seinen Handrücken jedoch zogen sich mehrere lange rote Striemen, als hätte er sich mit einer Wildkatze angelegt.

»Oh, eine neue Kriegsverletzung?«, rief Elyami ihm ohne Begrüßung entgegen und zeigte auf seinen Arm. »Die war mir noch gar nicht aufgefallen. Benötigst du einen Verband, Bruder?«

Elyamur ließ seine Hand rasch unter seinem Reisemantel verschwinden. Er schaute an Elyami vorbei zu den trinkenden Phantomgazellen hinüber. »Schwestern brauchen nicht alles zu wissen«, entgegnete er und schien dabei gelassen wirken zu wollen. Doch Elyami kannte ihn zu gut, um die Röte auf seinen Wangen zu übersehen. Elyamur präsentierte sich gerne als edler, kultivierter Elbenkrieger. Die Kehrseite davon war, dass man ihn leicht verlegen machen konnte.

»Sollten wir uns nicht lieber auf unsere Mission und die Abreise konzentrieren?«, fügte Elyami spitz hinzu. Sie wusste, dass das gemein war, denn ihr Bruder hatte seine Aufgabe stets deutlich ernster genommen als sie. Aber sie wollte sich streiten.

»Hast du überhaupt schon alles zusammengepackt?«, gab Elyamur gekränkt zurück.

»Natürlich«, erwiderte Elyami, sprang vom Felsen und lief in Richtung Lager. Sie war nicht in der Stimmung, sich von ihrem Bruder erziehen zu lassen.

Der Lagerplatz war inzwischen von Leben erfüllt. Die Rot-Elben gingen zwischen den Zelten ihren täglichen Verrichtungen nach. Sie waren allesamt mit roten Tüchern verschleiert, die mit den komplexen Mustern ihrer Sippe bestickt waren. Selbst ihre Kinder folgten bereits diesem Brauch. Mittendrin hockten Gorin und Galdra, die Zwergenzwillinge, vor einem der Zelte und überprüften ihr Reisegepäck.

»Ah, Elyami«, rief Gorin und lächelte sie an. Sein blonder Bart war zu borstigen Zöpfen geflochten. Obgleich er Runenschmied und kein Krieger war, trug er den typischen Kettenmantel reisender Eisenzwerge und führte neben der obligatorischen Handaxt stets eine leichte Armbrust mit sich. Wehrhaftigkeit war eine der wichtigsten Tugenden der Zwerge.

»Hast du die Rot-Elben gefragt, ob wir noch mehr von diesen Kräuterumschlägen bekommen können?«, fragte er Elyami in der Hochsprache der Menschenreiche.

»Schon geschehen«, nickte sie und spürte, dass sie sich besser fühlte. Sie mochte Gorin. Obwohl Elben und Zwerge traditionell nicht unbedingt als beste Freunde galten, hatte sie den stillen Runenschmied während der letzten Wochen voller gemeinsam durchgestandener Gefahren zu schätzen gelernt. Wie er alles gewissenhaft zu planen und zu kontrollieren versuchte, fand sie fast rührend.

Seine Schwester Galdra hingegen interessierte sich nicht für Kräutervorräte und war ganz damit beschäftigt, ihre mächtige Kristallaxt zu schärfen. Offenbar konnte sie es gar nicht erwarten, endlich wieder ein paar Orkschädel zu spalten. Die Höhlengängerin hatte dicke blonde Zöpfe, und ihre Wangen waren nach Art der Zwergenfrauen von Flaum bedeckt. An ihrem Kinn war der Frauenbart zu zwei dünnen Zöpfchen geflochten. Mit ihrer forschen Art und ihrem sturköpfigen Kampfgeist entsprach sie viel eher dem Bild, das Elyami bislang von Zwergen gehabt hatte. Doch sie hatte auch erfahren, dass Galdra eine unerschütterliche Freundin war und Missstände stets direkt anging. Selbst Elyamur, der gerne mit ihr aneinandergeriet, gab das inzwischen zu.

»Elyami, hilfst du mir mal?«, rief eine Stimme quer durch das Lager. Sie kam von dort, wo jenseits der Zelte die beiden Fledernattern lagerten. Die Flügelschlangen mit dem schimmernden Schuppenkleid wanden sich unruhig am Boden und zuckten immer wieder mit ihren ledrigen Fledermausflügeln, als spürten sie die Aufregung des nahen Aufbruchs. Entsprechend schwer fiel es Jha Rudra, die Flugsättel der fliegenden Reittiere mit Proviant zu beladen. Die Priesterin der Diebesgöttin Zelja trug Wickelkleidung im tiefen Rot der Phönixkinder-Sippe, was einen reizvollen Kontrast zu ihrer dunklen Haut und ihren schwarzen Locken bildete. Wie es bei ihrem Volk, den Jhalai, üblich war, bedeckte eine Maske ihr Gesicht. Zurzeit war es eine leichte Halbmaske aus weichem Leder, die sie mit roten Karos verziert hatte.

Elyami lief rasch zu ihr und kniete sich vor den beiden Reitschlangen auf den Boden. Dann begann sie leise zu singen. Es war ein Gesang voller Ruhe und Gleichmut, in dem die träge, dösende Gelassenheit eines Sommernachmittags in den Wäldern von Liráya lag. Die Fledernattern entspannten sich sichtlich, und ihre mächtigen Körper schmiegten sich behaglich ins Steppengras.

»Besten Dank!«, rief Jha Rudra Elyami mit einer kleinen, gekünstelten Verbeugung zu und lächelte breit. Elyami freute sich immer, dieses besondere Lächeln zu sehen. Es war seltener geworden, seit die Graue Ratte zerschlagen worden war, jene Widerstandsgruppe gegen die Herrschaft des Kettenfürsten, der die Diebespriesterin einst vorgestanden hatte. Elyami eilte an Jha Rudras Seite, um ihr beim Verladen des Proviants zu helfen.

Die Flugsättel der Fledernattern waren eigentlich als Zweisitzer ausgelegt, mit Platz für einen Schützen hinter dem Reiter. Doch da sie heute zu sechst aufbrechen würden, hatten sie mithilfe der Sattlerkünste der Rot-Elben die Gepäckplattform der Sättel jeweils zu einem zusätzlichen Sitzplatz umfunktioniert. Entsprechend weniger Raum blieb natürlich für die notwendige Reiseausrüstung.

»Heute Morgen hat die Winterseherin mich angewiesen, ihren Platz mit weiteren Vorräten zu beladen«, erzählte Jha Rudra, während sie eine Seilrolle festzurrte. »Offensichtlich hat sie ernsthaft vor, selbst zu fliegen.«

Elyami seufzte. »Darüber haben wir doch schon gesprochen.«

»Natürlich«, sagte Jha Rudra und warf beiläufig eine Münze hoch, um sie in der Luft verschwinden zu lassen. »Aber du kennst sie doch. Sie würde auch den ganzen Weg auf dem Bauch robben, wenn es für den Kampf gegen den Kettenfürsten erforderlich wäre. Naja, Charamur redet gerade mit ihr.«

Elyami schaute zu dem Zelt unter der Phönix-Standarte, das dem Sippenältesten der Phönixkinder und seinem Ältestenrat für ihre Versammlungen diente. Die Tuchbahnen waren vertraulich geschlossen. Sie bemerkte, dass Elyamur und Chasri, Charamurs Nichte, nahe beim Ratszelt zusammenstanden und leise miteinander redeten. Elyamis Augen verengten sich. Jha Rudra schenkte ihr einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter und ein aufmunterndes Grinsen, sagte aber nichts.

Als Elyami gerade den nächsten Proviantsack hinaufwuchtete, wurde die Plane des Ratszeltes zurückgeschlagen und die Winterseherin trat neben dem Ältesten Charamur auf den Vorplatz. Einige Rot-Elben hielten bei ihren Tätigkeiten inne, um sie verstohlen aus dem Augenwinkel zu beobachten. Elyami und Jha Rudra verluden noch eine Tasche und gingen dann zu den anderen hinüber. Auch Gorin und Galdra kamen hinzu.

Die Alte mit den Schwanenfedern, wie die Grün-Elben die Winterseherin gerne nannten, hielt sich wie immer trotzig aufrecht. Sie trug ihren Reisemantel mit weißem Pelzbesatz und stützte sich auf einen langen Knotenstab, in dessen Kopf zahlreiche Saphire in der Farbe ihrer tiefblauen Augen eingelassen waren. Ihre weißen Haare waren mit fein geschnitzten elbischen Holznadeln zu einem Dutt hochgesteckt.

Doch etwas an der Zauberin irritierte Elyami. Die Alte hielt den Stab mit der rechten Hand, während ihr linker Arm – eigentlich der stärkere – krampfhaft angewinkelt war. Zudem wirkten ihre Züge verhärmter als noch vor einigen Wochen. Bittere Spuren ihrer Gefangenschaft in den Händen der Orkkrieger des Kettenfürsten, aus der die Zwillinge sie erst vor Kurzem mithilfe von Jha Rudra und den Rot-Elben befreit hatten. Es machte Elyami wütend, ihre Mentorin in diesem Zustand zu sehen.

»Ist alles bereit zum Aufbruch?«, fragte die Alte mit ihrer dunklen, leicht rauen Stimme. Sie musterte die beiden Fledernattern. Die Tiere verhielten sich still, als hätten sie Respekt vor ihrem strengen Blick.

»Wie ich sehe, warst du vorausschauend genug, mir ein Plätzchen freizulassen«, sagte sie zu Jha Rudra, als sie die nur halb beladene Gepäck-Plattform bemerkte.

»Zumindest, bis Euer Arm ausgeheilt ist«, erwiderte die Diebespriesterin diplomatisch. Elyami bemerkte das leichte Lächeln, das sich dabei auf Jha Rudras Gesicht schlich.

»Gut«, brummte die Winterseherin. Bei ihrer Flucht vor den Orks war sie in der Ruinenstadt Turquara von einem Pfeil in die Schulter getroffen worden. Seitdem war eine gute Woche vergangen. Die Fliehenden hatten sich zunächst zusammen mit den Rot-Elben vor den marodierenden Orks in die Steppe zurückgezogen. Anschließend hatten sie hier, am Ufer des Sonnenauges, gerastet. Nun würden die nomadischen Rot-Elben weiterziehen, und auch Elyami und die anderen mussten sich wieder auf den Weg machen.

Dank der beeindruckenden Heilkünste der Rot-Elben waren alle Verletzungen und Blessuren rasch ausgeheilt. Nur der Arm der Winterseherin war immer noch steif. Elyami befürchtete langsam, dass es vielleicht an der erschreckenden Gebrechlichkeit der Menschen im Alter lag und er nicht mehr komplett in Ordnung kommen würde. Dann müsste die Winterseherin auch ihre liebste Reisemethode aufgeben. Die Alte flog für gewöhnlich in der Gestalt eines Schwans durch die Reiche der bekannten und unbekannten Welt. Es war allerdings ohnehin fraglich, ob dafür zurzeit ihre Zaubermacht ausreichen würde, denn Elyami spürte deutlich, wie sehr die Gefangenschaft die Aura der Seherin geschwächt hatte, auch wenn sie sich äußerlich stoisch gab.

»Lasst uns also aufbrechen«, sagte die Alte ungeduldig. »Meine Unpässlichkeit hat uns genug Zeit gekostet. Wir haben eine Welt zu befreien.«

»Wohin genau reisen wir?«, fragte Gorin mit einem unbehaglichen Blick auf die Fledernattern.

»Nach Südwesten«, gab die Winterseherin lakonisch zurück. Galdra schnaubte unwillig. Die Alte behielt wie immer ihre Ratschlüsse für sich und gab nur das Nötigste preis. »Unterwegs erkläre ich Euch alles Weitere«, fügte die Seherin versöhnlich hinzu. »Aber jetzt verstaut den restlichen Proviant und dann los.«

Stumm luden sie ihre Habe auf die Sättel, während sich immer mehr Rot-Elben um die Fledernattern versammelten. Als die Flugsättel voll bepackt waren, herrschte für einen Moment beklommenes Schweigen. Charamur, der Älteste der Phönixkinder, ergriff schließlich das Wort. Seine falkenhaften Züge waren mit einem Muster aus Granatsteinen auf seiner Stirn geschmückt. »Wir werden uns vorerst weiterhin in der Steppe verborgen halten und den anderen Sippen des Rotvolks von Eurer Mission berichten«, erklärte er. »Doch sobald der Kampf gegen den Kettenfürsten es erfordert, werden unsere Lanzen und Bögen bereit sein. Unser Segen wird Euch auf der Reise begleiten wie der nimmermüde Wind.«

Die Winterseherin verbeugte sich vor dem Ältesten. »Habt Dank, Charamur. Ich fürchte, dass bald eine Zeit kommen wird, in der wir die Lanzen der Rot-Elben nur zu nötig haben werden. Bis dahin zieht mit dem Segen der Steppengeister.«

»Moment!«, rief Elyami, der plötzlich bewusst wurde, dass sie tatsächlich kurz vor dem Aufbruch standen. Alle Blicke wandten sich ihr zu. »Ich bin gleich wieder da …« Ihre Sachen fehlten auf den Gepäckplattformen der Fledernattern. Sie hatte noch nicht gepackt. Elyamur zog nicht einmal tadelnd eine Augenbraue hoch, als Elyami losrannte. Zu sehr war er damit beschäftigt, seinen Blick nicht von Chasri lösen zu können, die ihrerseits betont gelassen mit einem Dolch spielte. Aus dem Augenwinkel bemerkte Elyami noch, dass die Winterseherin die Rot-Elbin musterte und dabei nachdenklich nickte.

Der Wind schlug Elyami kräftig entgegen, als sie keine Stunde später auf dem Rücken einer Fledernatter über der Steppe dahinglitt. So durch die Luft zu reiten war für sie die reine, atemlose Freiheit! Sie saß ganz vorne, an den Zügeln, denn sie konnte am besten mit den fliegenden Reptilien umgehen. Sie hatte das Tier Yà Myrlion genannt. Guter Wind. Elyamur lenkte die zweite Fledernatter. Sie hieß Yà Syndri. Gute Reise.

Während der letzten Tage bei den Phönixkindern hatten sich die beiden Grün-Elben mit den Flügelschlangen vertraut gemacht und waren immer wieder zu Übungsflügen aufgebrochen. Sie hatten auch den Eisenzwergen angeboten, einmal die Zügel zu ergreifen. Doch diese hatten sehr bestimmt abgelehnt, auch wenn Gorin immerhin nachdenklich auf die Schlange geschaut hatte. Jetzt saßen die beiden Zwerge jeweils im Sitz des Schützen, Galdra hinter Elyami und Gorin im Rücken von Elyamur. Jha Rudra hatte sich auf den improvisierten Platz auf der Gepäckplattform hinter Gorin gehockt, die Winterseherin saß bei Galdra. Sie hielt sich im Flugwind stolz aufrecht, doch es war nicht zu übersehen, dass sie ihren Arm schonend umklammerte. Alle Reisenden hatten sich Ledergurte um die Hüften geschlungen, sodass auch in steilen Kurven niemand herunterfallen konnte.

Elyami genoss es, die geschmeidige Kraft ihres Reittiers unter sich zu spüren, während sein Schatten in der Tiefe dunkel über die Steppe glitt. Die Fledernatter ließ sich vor allem auf günstigen Winden treiben, die Rippen ihres länglichen Körpers ausgebreitet, und korrigierte nur gelegentlich ihren Kurs mit einem Schlag der Fledermausflügel.

Fasziniert beobachtete Elyami, wie sich das Land unter ihnen langsam wandelte. Aus der staubigen rötlichen Steppe wurde gelblich-grünes Grasland, das gelegentlich von Karawanenstraßen durchzogen war. Immer öfter passierten sie Dörfer und kleine Städte: Ansammlungen von weiß getünchten, würfelförmigen Gebäuden, die sich an Wasserlöcher und Flussläufe drängten. Das Gebiet um sie herum war bewässert und von Palmenhainen durchsetzt. Sie näherten sich dem Kernland des Menschenreichs Tar Uzar. Als am Horizont die Umrisse scharfer Felsengrate auftauchten, spürte Elyami eine plötzliche Woge der Freude in ihrem Herzen. Sie brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass das Gefühl von der Fledernatter ausging.

»Das sind die Dolchklippen«, rief die Winterseherin nach vorne, als hätte Elyami ihre Irritation laut ausgesprochen. »Dort sammeln sich die Fledernattern im Frühjahr zum Brüten, und dort ist auch Yà Myrlion aus dem Ei gekrochen. Die Menschen von Tar Uzar beherrschen seit Jahrhunderten die Kunst, Fledernattern als fliegende Reittiere auszubilden. Es gibt nur fünf Bergdörfer, deren Bewohner es wagen, in die Klippen zu klettern und Eier aus den Schlangenhorsten zu bergen. Jedes einzelne ist sein Gewicht in Gold wert. Früher war es das Privileg des herrschenden Malik und seiner Würdenträger, auf einer Fledernatter zu reisen. Jetzt ist es ein Vorrecht der mächtigsten Kettendiener.«

Elyami nickte grimmig. Vieles hatte sich verändert, seit die Kettenheere ein freies Reich nach dem anderen unterworfen hatten.

»Halte auf die Klippen zu!«, wies die Winterseherin Elyami an. »Und lande auf einem ihrer Ausläufer. Es ist Zeit zum Reden.«

Elyami korrigierte ihren Kurs und gab Elyamur ein Zeichen, es ihr gleichzutun. Die Dolchklippen wurden rasch größer, während das Land unter ihnen dahinzog. Zu Fuß hätten sie viele Tage für die Strecke gebraucht, die die Fledernattern in wenigen Stunden zurücklegten. Die rötlichen Felsengrate ragten steil vor ihnen auf und liefen nach oben hin scharf zu. Elyami fand, dass sie irgendwie wie die gewaltigen Klingen von Titanen aussahen.

Schließlich steuerte sie einen vorgelagerten Bergrücken an, der genügend Raum zum Landen bot. Eine Herde Bergziegen stob in alle Richtungen davon, als die mächtigen Leiber der Fledernattern auf dem Felsen niedergingen. Die Reiter stiegen ab. Mit angewinkeltem Arm quälte sich die Winterseherin sichtlich unter Schmerzen aus dem Sattel, lehnte jedoch Elyamurs Hilfe unwirsch ab. Die Zwerge wirkten erleichtert, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Das war insbesondere ihrer Gesichtsfarbe anzusehen, die nach den langen Flugstunden einen leicht grünlichen Ton angenommen hatte.

Während sich die Fledernattern zusammenrollten, streckte Elyami sich und schaute sich um. Am Horizont ragten die schlanken Türme einer Stadt auf.

»Das ist schon Zandram Uzar, oder?«, fragte Jha Rudra, die ebenfalls in die Ferne schaute.

»Ja«, brummte die Winterseherin hinter ihr. »Die Hauptstadt von Tar Uzar. Vor uns liegt zunehmend dichter besiedeltes Gebiet. Das ist ungünstig.«

»Befürchtet Ihr, dass wir gesehen werden?«, fragte Gorin besorgt, während sich alle auf den Felsen niederließen und rot-elbische Gewürzfladen teilten.

»Nicht unbedingt«, erwiderte die Winterseherin. »Bestimmt hat man uns in diversen Dörfern schon entdeckt. Aber die Leute sind es inzwischen gewohnt, dass immer wieder mal Kettendiener für ihren Meister durch die Luft reisen. Sie werden es einfach als Angelegenheit hoher Herrschaften abtun.«

»Aber das gilt nicht mehr, sobald wir irgendwelche Städte passieren«, ergänzte Jha Rudra.

»Gewiss«, bestätigte die Winterseherin. »Dort gibt es Garnisonen der Kettenheere mit Hordenführern, Statthaltern und sogar Kettenträgern. Jemand von ihnen könnte bemerken, dass wir keine Kettendiener sind. Vielleicht kursieren auch schon Vermutungen, dass dies hier die beiden Fledernattern sind, die ihr bei meiner Befreiung erbeutet habt. Der Kettenfürst ist nicht dumm und seine höheren Diener sind es auch nicht. Ihr dürft nie vergessen, dass er durch ihre Augen sieht.«

Die Erinnerung daran, dass der Kettenfürst ausgewählten Gefolgsleuten eine Seelenkette umlegen und so durch sie wirken konnte, machte Elyami beklommen. Sie hatte ihm selbst schon in dieser erschreckenden Form gegenübergestanden.

»Was also tun wir?«, fragte Elyamur ungeduldig.

»Wir werden direkt nach Süden bis an die Aquamarin-See fliegen«, entgegnete die Winterseherin. »Dann folgen wir der Küste nach Westen und halten uns draußen über den Wogen, um die Hafenstädte zu vermeiden. Auf dieser Route können wir neugierigen Blicken am besten ausweichen. Werdet ihr mit dem Seewind zurechtkommen?«

»Das hoffe ich«, sagte Elyami, nachdem sie einen Blick mit Elyamur gewechselt hatte. Sie kannte das Meer und seine launischen Winde nur aus Erzählungen.

»Gut«, brummte die Winterseherin.

»Und wohin genau soll es gehen?«, fragte Galdra.

Die Seherin starrte nachdenklich vor sich hin. »Ich habe gezögert, euch den ganzen Plan zu verraten, um dieses Wissen nicht mit den Rot-Elben teilen zu müssen und sie damit in Gefahr zu bringen«, sagte sie. »Doch nun können wir frei sprechen. Uns bleibt nicht viel Zeit. Wenn wir den Kettenfürsten stürzen wollen, müssen wir die vier Quellen der Elemente aufspüren, und zwar so schnell wie möglich. Unsere Gegner sind gewiss schon zu ihnen unterwegs, während wir noch nicht einmal wissen, wo wir suchen müssen.«

»Das ist uns bewusst«, knurrte Galdra.

Die Winterseherin seufzte tief. »Unsere begrenzte Zeit lässt es nicht zu, dass ich aus eigener Kraft nach den verborgenen Orten der Quellen forsche. Darum müssen wir nun einen Schritt gehen, den ich nicht gerne tue: Wir werden die Dreikopf-Akademie an den Klippen der Plankenbrecherküste aufsuchen, in der Grenzprovinz Ravikra zwischen Lorvia und Tar Uzar. Dort lehrt eine große Meisterin der Elementar-Magie. Ich werde sie um Hilfe bitten.«

»Ihr meint Kurangra?«, fragte Elyami halb neugierig und halb mit einem flauen Gefühl im Bauch. Sie hatte die Dreikopf-Akademie schon einmal gesehen, in einer nächtlichen Traumvision.

»Ja«, bestätigte die Winterseherin mit einem finsteren Blick. »Wir besuchen meine alte Lehrmeisterin, die Drachin Kurangra.«

»Drachin?«, wiederholte Galdra mit blitzenden Augen.

»Eine Drachin«, sagte die Alte grimmig. »Und zwar eine echte. Keiner der mickrigen Lindwürmer, die du aus den Tokrond-Bergen kennst. Denk nicht einmal daran, irgendwelchen Drachentöter-Ambitionen nachzugehen, Höhlengängerin. Die Drachen sind das älteste und mächtigste Volk neben den Riesen. Reize sie nicht – sie sind stolz und grausam in ihrem Zorn.« Sie wandte sich an Jha Rudra. »Das gilt übrigens ebenso für dich.«

»Was?«, fragte die Diebespriesterin unschuldig, während ihre Finger rastlos die Falten ihrer Kleidung nachfuhren. »Dass ich mich nicht als Drachentöterin betätigen soll? Ich habe nichts gegen Eure Lehrmeisterin.«

»Du weißt genau, was ich meine, Rudra«, schnaubte die Winterseherin. »Natürlich hast du von den Schätzen gehört, die alle Drachen als Hort zusammenrauben oder sich als Tribut von den sterblichen Völkern zahlen lassen. Aber du wirst deine geschickten Hände davonlassen. Ein Drache hat ein intuitives Gespür für jeden einzelnen Kupferpfennig seines Hortes. Es gereicht einem Dieb stets zum Unglück, aus einem Drachenhort zu stehlen, auch wenn seine Finger von Zeljas Dreistigkeit geleitet werden. Also wirst du bitte nichts Dummes tun, Priesterin der Schattenhaften.«

»Schon gut«, erwiderte Jha Rudra beschwichtigend. »Ich verspreche, dass ich vernünftig sein werde.«

»Schön«, brummte die Winterseherin und schenkte Jha Rudra noch einen misstrauischen Seitenblick. »Leider muss ich Kurangra gegenübertreten, ohne über meine vollen Kräfte zu verfügen. Das lässt sich nicht ändern. Darum werde ich nicht auch noch auf euch aufpassen können. Ihr werdet vor den Pforten der Akademie auf mich warten.«

In Galdras und Elyamurs Blick glomm gleichzeitig Widerspruch auf. Jha Rudra sprach es aus: »Wir lassen Euch nicht allein. Gerade jetzt könnt Ihr unsere Rückendeckung gut gebrauchen.«

Die Alte seufzte tief. »Kurangra war mir eine gute Lehrerin, aber sie ist auch gefährlich«, sagte sie widerstrebend. »Es gab in letzter Zeit einige Unstimmigkeiten zwischen uns. Ich weiß nicht, wie sie auf mich reagieren wird.«

»Was für Unstimmigkeiten meint Ihr?«, warf Gorin ein. Der Runenschmied war zwar zurückhaltend, zeigte sich aber hartnäckig, wenn er etwas wissen wollte.

»Es ging um Kurangras Umgang mit ihrem Hort«, gab die Alte vage zurück.

»Ihr habt um Gold und Geschmeide gestritten?«, fragte Elyamur ungläubig.

Die Winterseherin lachte auf. »Nicht alle Drachen horten nur materielle Reichtümer. Manche entwickeln auch einen besonderen Geschmack für spezielle Schätze, die sie dann mehr als alles andere begehren. Einige sammeln Bücher, andere Kunstwerke oder entführen hübsche Jünglinge und Maiden. Kurangra sammelt Meisterzauberer.«

»Ihr meint, sie verschleppt mächtige Magier?«, staunte Elyami.

»Nein. Das wäre ihr zu banal«, erwiderte die Alte. »Kurangra unterrichtet Zauberschüler aus allen möglichen Völkern in den magischen Künsten. Sie nimmt nur die Begabtesten zu sich und ist dabei nicht zimperlich in der Wahl ihrer Unterrichtsmethoden. Mit all ihrer Macht holt sie das Beste aus ihnen heraus, sei es mit uraltem Zauberwissen als Anreiz, sei es mit gnadenlosem Drill oder einem gelegentlichen Flammenstoß. Wer das übersteht, gehört zu den Fähigsten der magischen Zunft. Das ist ihre Sammlung und ihr ganzer Stolz.«

»Und welche Probleme gab es dabei?«, hakte Gorin vorsichtig nach.

Die Winterseherin zögerte kurz, ehe sie weitersprach: »Was einmal Teil eines Drachenhorts war, wird es für immer bleiben. Wenn ihre Schüler die Akademie verlassen und in die Welt hinausziehen, betrachtet Kurangra sie weiterhin als ihr Eigen. Der Ruhm, den sie sich durch ihre Kunstfertigkeit verschaffen, fällt auf Kurangra und ihre Akademie zurück.«

»Ihr gehört zum Schatz eines Drachen?«, fragte Elyami. Die Winterseherin ignorierte den Einwurf.

»Von jedem Schüler behält sie eine Haarlocke zurück, eingeschlossen in kostbaren Kristall. Damit kann sie ihn jederzeit herbeizitieren«, erklärte sie. »Ja, auch von mir. Und sogar von ihm, wenn er auch inzwischen außerhalb ihrer Macht steht.«

Elyami wusste genau, über wen die Winterseherin sprach. Dáman, aus dem später der Kettenfürst wurde, hatte ebenfalls die Dreikopf-Akademie besucht. Der Mann, den die alte Seherin einst geliebt hatte.

»Immer wieder greift Kurangra auf ihre ehemaligen Schüler zurück, um sie auf Missionen zu schicken«, fuhr die Winterseherin fort. »Mal gilt es, ein seltenes Zauberbuch für sie zu besorgen, mal eine Ruine der Nephilim-Schattenriesen zu erforschen oder einen vielversprechenden Schüler eindringlich davon zu überzeugen, zur Dreikopf-Akademie zu wechseln. Am Anfang habe ich mich darauf noch eingelassen. Später hatte ich wichtigere Dinge zu tun, zum Beispiel diese Welt zu retten. Kurangra hat das gar nicht gefallen. Drachen mögen keine Zurückweisung.«

»Verstehe«, murmelte Gorin.

»Und darum werden wir Euch begleiten«, insistierte Elyamur.

»Nein, werdet ihr nicht«, schnaubte die Winterseherin bestimmt. »Ich werde Kurangra allein aufsuchen und sie über die Orte der vier Quellen der Elemente befragen. Wir können nur hoffen, dass der Preis für ihr Wissen nicht zu hoch sein wird. Anschließend reisen wir so schnell wie möglich zu den Quellen, um ihre Essenz zu sammeln.«

Sie schaute streng in die Runde. Niemand wagte mehr, ihr zu widersprechen.

»Das war alles«, sagte die Seherin grimmig. »Lasst uns aufbrechen.« Sie erhob sich umständlich, wobei sie sich auf ihren Stab stützte. Elyami beobachtete sie besorgt. Sie mochte sich nicht vorstellen, dass diese Menschenfrau in ihrem geschwächten Zustand bald einem leibhaftigen Drachen gegenübertreten würde. Einem Drachen, der ihr womöglich alles andere als wohlgesonnen war.

»Wir können die Dreikopf-Akademie noch heute erreichen«, erklärte die Winterseherin, während alle wieder auf die Fledernattern stiegen. »Allerdings will ich auf keinen Fall Kurangras Gastfreundschaft für die Nacht in Anspruch nehmen. Je unverbindlicher, desto besser. Darum werden wir im Hinterland der Plankenbrecherküste kampieren. Ich werde die Akademie morgen früh aufsuchen.«

Elyami nickte abwesend, schon halb damit beschäftigt, Yà Myrlion auf den Flug einzustimmen. Noch heute würden sie das Meer erreichen. Und morgen den Hort einer dreiköpfigen Drachin.

ZWEITES KAPITEL

An der PlankenbrecherküsteIm Grenzland zwischen Lorvia und Tar Uzar

Die Luft war erfüllt vom Geschrei der Seevögel und schmeckte salzig. Gorin schnaubte. Der Geruch war fremd für den Bewohner eines unterirdischen Bergkönigreichs, und zudem war es entschieden zu nass. Der Runenschmied stapfte zusammen mit seinen Gefährten durch ein windzerfurchtes Heideland, wo Gräser, Strandhafer und lila bekrönte Disteln für einen Zwerg mehr als kopfhoch wuchsen. Immer wieder rutschte Gorin auf glitschigen Steinen aus, die von rötlichem Moos bedeckt waren.

Doch er fand es immer noch angenehmer, sich lästige Kletten aus dem Bart zu klauben, als auf dem Rücken einer Fledernatter über das Meer zu reiten. Gorin dachte nur ungern an die letzte Reiseetappe zurück.

Die fliegenden Reptilien und ihre Reiter waren von den rauen Seewinden wie Spielbälle herumgewirbelt worden. Mehrmals hatten die Elben beinahe die Kontrolle über die Tiere verloren. Einmal waren sie von einer plötzlichen Böe so tief heruntergedrückt worden, dass sie sich fast in der Takelage eines Handelsseglers verfangen hatten. Galdra hatte bei dieser Gelegenheit ganz neue Schimpfwörter ausgepackt, für die Gorin beim besten Willen keine Entsprechungen in der Hochsprache fand.

Doch schließlich hatten sie auf Geheiß der Winterseherin die Küste angesteuert und die Nacht im Schutz einiger Felsen verbracht. Die Gegend ringsum wirkte öd und wenig besiedelt. Es war unwahrscheinlich, dass sie hier unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich ziehen würden. Als die Winterseherin am nächsten Morgen zu Kurangra aufgebrochen war, waren Gorin und die anderen bei den Fledernattern zurückgeblieben. Schwer auf ihren Stab gestützt war die Alte allein durch das hohe Gras gewandert. Einige weiße Haarsträhnen hatten sich im Seewind aus ihrem Dutt gelöst. Sie hatte Gorin an einen Baum mit wehenden Zweigen erinnert, gebeugt und doch trotzig aufgerichtet. Alle hatten ihr nachgeschaut, bis sie hinter einer flachen Hügelkuppe verschwunden war.

»Und ich fände es trotzdem sinnvoll, wenn sie auf Rückendeckung zurückgreifen könnte«, hatte Jha Rudra missbilligend gemurmelt.

»Eine starke Zwergenaxt kann gegen einen Drachen nie schaden«, hatte Galdra grimmig ergänzt. Elyamur hatte nichts dazu gesagt, sondern einfach sein Schwert gegürtet. Und so hatten sie alle ihre Ausrüstung bereitgemacht, die Fledernattern im Schutz der Felsen zurückgelassen und waren der Winterseherin einvernehmlich in einigem Abstand gefolgt.

Im hohen Gras war es nicht schwierig, ihre Spur auszumachen. Sie führte ein oder zwei Meilen durch das Ödland und einen weiteren Hügel hinauf, dessen Kuppe von moosbewachsenen Felsen bekrönt wurde. Von hier oben konnten sie bis zur nahen Steilküste blicken. Einige Hundert Meter vor ihnen fielen die Klippen jäh ins Meer ab. Jenseits der Bruchkante erstreckte sich das Blaugrau der Aquamarin-See bis zum Horizont, durchsetzt von kleinen Inseln. Zwischen ihnen lagen jene tückischen Sandbänke und Riffe, die den Erzählungen der Winterseherin zufolge der Plankenbrecherküste ihren Namen verliehen hatten. Möwen kreischten, die Brandung brach sich brüllend am Fels. In einiger Entfernung stürzte ein Bach als dünner grauer Wasserfall ins Meer.

Am Rande der Klippen erhoben sich mehrere kleine Gebäude aus Feldsteinen. Sie hatten reetgedeckte Dächer und wirkten schlicht, beinahe heruntergekommen. Gorin musste bei ihrem Anblick an die Nester von Seevögeln denken. In der Nähe der Häuser führte eine breite Rampe direkt in den Fels der Klippen hinab. Nach einigen Metern endete sie an einem mächtigen, eisenbeschlagenen Tor. Gorin erkannte schon aus der Entfernung, dass es eine solide Konstruktion mit runenbewehrten Stahlbändern war, die eher zu einer Festung als zu einem Küstendorf gepasst hätte.

Gerade schritt die Winterseherin zum Tor hinab, eine dünne, weiße Gestalt vor der Dunkelheit des Ganges. Die Flügel schwangen wie von selbst auf, und die Alte verschwand im Schlund des Tores.

Gorin erwartete halb, dass die Flügel sich ebenso selbstverständlich hinter ihr schließen würden. Doch sie blieben einladend geöffnet.

»Dort drüben regt sich etwas«, sagte Elyamur, dessen Elbenaugen weiter blickten als die von Menschen oder Zwergen. »An den Fenstern und Türen der Häuser stehen Leute und haben wohl die Ankunft der Alten mit den Schwanenfedern beobachtet. Sie tragen Roben in verschiedenen Farben.«

»Das sind Kurangras Zauberschüler«, erklärte Elyami leise und setzte sich auf einen großen Stein. »Die mit den weißen Roben sind Mentalisten, die in Schwarz sind Beschwörer und die in Rot Elementaristen.«

Gorin nickte nachdenklich. Das Wissen der Grünsängerin war ihm ein wenig unheimlich. Sie hatte es in einer jener nächtlichen Visionen gewonnen, die Elben zuweilen von der Träumenden Königin empfingen. Für einen Zwerg hingegen war der Schlaf zum Ausruhen von der Arbeit da, nicht für geheimnisvolle Bilder.

»Der Fels ist von Grotten durchzogen«, brummte Galdra fachkundig, die gerade mit dem Schaft ihrer Kristallaxt auf dem Boden herumklopfte. »Das Wasser hat sich weit vorgearbeitet und hier alles ausgehöhlt.«

»Ja«, bestätigte Elyami. »So habe ich es gesehen. Die Gebäude oben sind nur die Schlafstätten. Die Akademie liegt unter unseren Füßen.«

Jha Rudra ging unruhig auf und ab. »Ich frage mich, ob es hier irgendwo Eingänge zu Nebenhöhlen gibt, die vielleicht bis in die Akademie führen«, murmelte sie mit einem vielsagenden Blick zu der Höhlengängerin. »Dann könnten wir ungesehen näher herankommen.«

»Ich hoffe nur, dass die Drachin das nicht als Angriff auslegt, wenn sie es bemerkt«, erwiderte Gorin skeptisch.

»Was sollen wir denn sonst tun?«, maulte Galdra.

»Abwarten und beobachten?«, gab Gorin zurück, wohl wissend, wie ungerne sie das hören würde.

»Seht ihr das auch?«, fragte plötzlich Elyamur, der hinter Elyami aufrecht auf dem Stein stand und über die Heide ins Inland deutete. Gorin folgte seinem Fingerzeig.

Ein bläulicher Feuerschein kam mit großer Geschwindigkeit von landeinwärts auf sie zu. Mehr als ein Feuerschein – eine Kette von Flammen. Gorin zählte insgesamt sieben feurige Umrisse, die sich ihrem Hügel in einem weiten Halbkreis näherten.

»Höllenhunde!«, rief Elyami alarmiert. Jetzt erkannte es auch Gorin: Die Umrisse waren Kreaturen, die an übergroße Wolfshunde mit grotesk verbreiterten Kiefern und langen Fleischermesser-Zähnen erinnerten. Ihre muskulösen Körper waren von pechschwarzem Fell bedeckt, über das blaue Flammen tanzten, ohne es zu verbrennen. Die Bestien hetzten mit großen Sprüngen durch das Gras auf sie zu. Aus ihren Nüstern schnaubten sie blaues Feuer.

Einer der Höllenhunde warf den Kopf in den Nacken und stieß ein lang gezogenes Heulen aus, das zugleich wie das Knistern eines gierigen Feuers klang. Der Rest der Meute fiel mit ein. Triumph lag in ihren Stimmen, der Triumph, eine sichere Beute gestellt zu haben.

»Wo kommen die denn her?«, raunzte Galdra halb verwundert und halb empört, während sie auf die Füße sprang und ihre Kristallaxt aus der Rückentrage riss. Gorin verzichtete auf eine Antwort. Er war ganz damit beschäftigt, seine Armbrust durchzuladen. Doch Galdras Frage war sehr berechtigt. Höllenhunde waren Geschöpfe der Unterwelt, die nur durch die Sterblichen Lande streiften, wenn ein Beschwörer sie in seine Dienste zwang. Dass dieses Rudel ausgerechnet hier, mitten im Heideland, Jagd machte, war kein Zufall. Jemand hatte es auf sie abgesehen, gewiss ein Kriegszauberer in den Diensten des Kettenfürsten.

Gorin legte mit seiner Armbrust auf den Höllenhund an, der das Triumphgeheul begonnen hatte. Es war eine besonders massige Bestie mit kleinen, pupillenlosen Augen. Trotz der Entfernung konnte Gorin erkennen, dass sie bedrohlich glühten. Gerne hätte er einen der magischen Runenbolzen verwendet, die er selbst hergestellt hatte, doch gegen eine Kreatur des Feuers waren seine Flammenbolzen wirkungslos. Gorin zielte sorgfältig und schoss. Sein Kriegsbolzen fauchte auf den Höllenhund zu. Doch als er in die Flammenaura der Kreatur eintauchte, verbrannte er binnen eines Herzschlags zu Asche, ohne auch nur das schwarze Fell berührt zu haben.

Nicht anders erging es den Pfeilen, die Elyami und Elyamur mit ihren Kurzbögen auf zwei andere Höllenhunde schossen.

Der große Höllenhund riss das Maul auf. Ein blauglühender Feuerball zischte zwischen seinen Zahnreihen hervor, schlug in die Hügelflanke ein und hinterließ einen mächtigen Brandfleck im Moos. Die anderen Höllenhunde taten es ihm gleich. Weitere Flammenbälle fauchten durch die Luft.

»Fort von hier!«, rief Elyamur und sprang von seinem Stein. »Wir brauchen Deckung!«

Sie packten ihre Waffen und stürmten den Hügel hinab. Gorin sah Ärger auf Galdras Gesicht. Sie hasste Rückzug.

Allen war klar, dass es in der Umgebung nur einen Ort gab, der Schutz vor der flammenden Wut der Höllenhunde versprach: die steinerne Rampe, die in den Bauch der Klippen hinabführte. Das Portal der Dreikopf-Akademie.

Gorin lief, so schnell es seine Zwergenbeine und der Kettenmantel zuließen. Zwerge hielten großen Belastungen stand, doch Geschwindigkeit war nicht ihre Stärke. Jha Rudra und Elyami kamen deutlich rascher voran. Elyamur jedoch ließ sich bis auf Galdras Höhe zurückfallen. Offensichtlich wollte der Elbenkrieger sich nicht vorwerfen lassen, noch vor der Zwergin geflohen zu sein. Gorin warf einen besorgten Blick über die Schulter.

Die sieben Höllenhunde kamen hinter ihnen den Hügel hinabgeprescht. Die größte Bestie lief etliche Körperlängen voraus. Wieder riss sie den Rachen auf, und ein weiterer Feuerball fegte über die Köpfe der Fliehenden hinweg und explodierte vor ihnen auf dem Boden. Jha Rudra schlug einen kühnen Haken, um den umherzüngelnden Flammen auszuweichen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auf diesem freien Gelände getroffen wurden – wenn die Höllenhunde sie nicht schon vorher einholten und mit ihren Reißzähnen zerfetzten.

Die Feldstein-Häuser waren inzwischen deutlich näher herangekommen. Gorin konnte hinter den Fenstern Umrisse von Personen erkennen, die erregt gestikulierten. Anscheinend verfolgte man drinnen gespannt ihre Flucht.

»Die könnten ruhig rauskommen und helfen, statt uns beim Wegrennen zuzugucken!«, schnaubte Galdra.

»Keine Zeit für gekränkten Stolz«, rief ihr Jha Rudra zu. Dann bremste sie plötzlich ab und änderte ein wenig die Richtung. Elyami tat es ihr gleich.

Gorin sah, dass sie einer großen Öffnung im Boden auswichen, die er zunächst für eine Art Brunnen hielt. Doch dann erkannte er, dass es ein gähnendes Loch im Gestein des Kliffs war. Von unten hörte er das Brüllen der Brandung. Dort ging es direkt ins Meer hinab. Gorin machte ebenfalls einen Bogen um den Schlund. Das war die Verzögerung, die der vorderste Höllenhund brauchte, um sie einzuholen. Schon spürte Gorin eine Hitzewoge, die von hinten heranrollte. Etwas hechelte gierig in seinem Nacken.

Jha Rudra wandte sich in einer fließenden Bewegung beim Laufen um, zog ihre Wurfeisen aus den Gewändern und warf beide Waffen zugleich. Die vielfach verzweigten Eisen, ausufernd wie stählerne Hirschgeweihe, durchfurchten die Luft und bohrten sich in den Körper des Höllenhundes. Für einen Herzschlag befürchtete Gorin, dass sie in Flammen aufgehen würden wie sein Armbrustbolzen. Doch die magischen Klingen leuchteten strahlend-blau auf und rissen breite Wunden in die brennenden Schultern der Bestie. Sie stieß ein Jaulen aus, mehr empört als schmerzerfüllt. Surrend kehrten die Wurfeisen in die Hände ihrer Meisterin zurück.

In diesem Moment sprang Galdra auf den Höllenhund zu und schwang ihre Axt aus Aidios-Kristall gegen den Unterweltlichen. Lange Fleischerzähne schnappten nach ihr, doch Galdra duckte sich darunter weg. Ihr Axtblatt fraß sich tief in den Brustkorb der Kreatur. Der Höllenhund brüllte auf und versuchte sich loszureißen. Galdra hielt ihre Axt eisern umklammert und riss den Schaft ruckartig herum. Der Höllenhund kippte zur Seite und blieb am Rande des Lochs liegen. Mit einem Kriegsschrei stieß sich Elyamur vom Boden ab und stürmte durch die Luft auf die Bestie zu. Blaue Flammen fraßen sich in den Mantel des Wolkentänzers, als er der Kreatur einen Tritt versetzte. Galdra konnte gerade noch ihre Axt zurückziehen, während der Höllenhund über den Rand der Öffnung kippte. Jaulend stürzte er dem Meer entgegen und wurde von der gierig rauschenden Flut verschlungen.

Galdra stieß einen Triumphschrei aus. Dann schlug ein Feuerball direkt neben ihr im Gras ein. Die sechs anderen Höllenhunde hatten sie fast erreicht, und der Verlust des Rudelführers schien sie eher noch mehr anzuspornen.

»Kommt! Weg von hier!«, brüllte Elyamur und schlug beim Rennen die Flämmchen an seinem Mantelsaum aus. Gemeinsam liefen sie die letzten Meter auf die Rampe zu, dann den steingepflasterten Weg ins Innere des Felsens hinab. Feuerbälle schlugen links und rechts von ihnen ein, als sie die offenen Flügel des stahlbeschlagenen Tores passierten. Gorin hoffte, dass sie hinter ihnen zuschlagen würden. Doch die Torflügel rührten sich nicht. Sie standen weiterhin offen und schienen auch die Höllenhunde willkommen zu heißen. Das Hecheln der Bestien hallte hinter den Fliehenden durch das Gewölbe. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als dem Gang tiefer ins Herz der Klippe zu folgen, während die tödliche Hitze der Unterweltlichen heranwallte. Sie hetzten den Tunnel entlang, bis dieser in eine große Grotte mündete.

Tageslicht fiel durch eine breite Öffnung zum Meer hin in die Höhle.

Das Licht reflektierte sich auf Gebirgen aus aufgetürmten Goldmünzen, zwischen denen edelsteinbesetzte Kelche und kunstvolle Schmuckstücke schimmerten, runenverzierte Klingen, vergoldete Rüstungsteile und zahllose weitere Kostbarkeiten. Inmitten der Reichtümer ruhte eine Drachin.

Ihr Körper war lang wie die Segelschiffe, die Gorin auf dem Meer gesehen hatte, und bedeckt von rötlich-grünen Panzerschuppen. Der Schwanz mit seinen ausladenden Stacheln erinnerte ihn an einen mächtigen Morgenstern, die Krallen an scharfe Säbel. Die zusammengelegten Lederschwingen hätten entfaltet gewiss die ganze Höhle durchmessen. Drei lange Hälse entwuchsen den Schultern der Drachin. Jeder trug einen hörnerbekrönten Kopf, dessen Lippen amüsiert gekräuselt waren und spitze Krokodilszähne offenbarten. Aus kleinen Reptilienaugen leuchtete gefährliche Intelligenz.

»Aaah«, zischte der rechte Drachenkopf zufrieden. »Da seid ihr ja endlich.« Nun erblickte Gorin die Winterseherin, die der Drachin gegenüberstand. Sie seufzte tief.

Gorin warf einen gehetzten Blick über die Schulter. Die Höllenhunde waren ihnen bis hierher gefolgt und hockten jetzt vor der Gangmündung in einer Reihe auf dem Boden. Ihre flammende Wut schien verflogen zu sein. Sie rührten sich nicht und beobachteten das Geschehen einfach nur mit ihren glühenden Augen.

»Es ist doch angenehmer, wenn kein Gast draußen vor der Tür warten muss«, grollte der linke Kopf der Drachin.

»Nun lerne ich euch Zwillingsseelen also persönlich kennen«, ergänzte der Mittlere. »Das wird gewiss … interessant.«

»Heißt das, diese Höllenhunde hat gar nicht der Kettenfürst auf uns gehetzt?«, fragte Galdra empört. Kurangras Köpfe lachten grollend.

»Niemand würde es wagen, auf meinem Gebiet gegen meinen Willen etwas zu beschwören, kleine Kriegerin«, sagte der rechte Kopf.

»Und niemand kann Kurangra vorwerfen, eine schlechte Gastgeberin zu sein«, ergänzte der linke. »Also habe ich euch hereingebeten.«

Die Winterseherin wandte sich stirnrunzelnd den Neuankömmlingen zu. »Haben euch diese Kreaturen etwa vom Lager bis hierher gehetzt?«, fragte sie misstrauisch. Gorin und die anderen schauten einander betreten an.

»Nein«, antwortete Jha Rudra so gleichmütig wie möglich. Ihre Stimme zitterte nur leicht ob Kurangras Nähe. »Wir haben die Umgebung des Lagers erkundet und sind dabei in Richtung der Klippen gewandert.«

Die Winterseherin schüttelte stumm den Kopf. Kurangra stützte genüsslich ihr rechtes Haupt auf eine Pranke.

»Du bist nicht streng genug mit ihnen, Odrana«, zischte sie. »Gelegentlich einen Schüler zu verschlingen, hilft ungemein, die anderen unter Kontrolle zu halten.«

»Ja, über etwas in der Art denke ich auch gerade nach«, murmelte die Winterseherin. Missbilligend verfolgte sie, wie Jha Rudras Blick über den Hort der Drachin wanderte und an einer bestimmten Stelle kurz zu verharren schien. Dann wandte sie sich wieder Kurangra zu.

»Also gut. Lasst mich Euch meine Schützlinge vorstellen. Das sind Elyami und Elyamur, Birkenkinder aus dem Waldlandreich Liráya, und Galdra von den Höhlengängern und Gorin von den Runenschmieden, Eisenzwerge aus dem Festungsreich Tokrond. Außerdem Jha Rudra, eine alte Freundin.«

»Zwei Zwillingspaare, wie ich sehe«, grollte Kurangras linker Kopf.

»In der Tat«, sagte die Winterseherin. »Und beide Paare erfüllen die Bedingungen des Orakelspruchs, den ich einst empfing. Sie haben das Potenzial, den Kettenfürsten zu stürzen. Es wird sich zeigen, wer von ihnen am Ende dazu ausersehen ist.«

»Was für eine interessante Konstellation«, sagte Kurangra nachdenklich zu sich selbst.

Ihr linker Kopf neigte sich an seinem langen Hals vor und pendelte plötzlich direkt über den Zwillingen. Kleine, goldgelb leuchtende Augen schienen sich in Gorins Seele zu bohren, als Kurangra ihn intensiv musterte. Dann zog die Drachin ihren Kopf zurück und wandte sich wieder der Winterseherin zu.

»Gut, dass sie hier sind, Odrana«, sagte sie. »Es macht unsere Unterredung einfacher, wenn alle, die es betrifft, sich in Reichweite befinden.«

»Das mag wohl so sein«, erwiderte die Alte mit einem besorgten Seitenblick auf die Zwillinge. Gorin fragte sich, ob sie einen schwerwiegenden Fehler gemacht hatten.

»Also«, fuhr die Winterseherin geschäftsmäßig fort. »Wie ich bereits erwähnte, habe ich endlich herausgefunden, wie Dáman die Macht des Gottes der Unterwelt an sich reißen konnte. Er hat Nidhanas mit einem vierzackigen Speer niedergestoßen, der aus den vier Elementen selbst in ihrer reinsten Form geschmiedet ist. Den Thron der Unterwelt hat er mit Ketten aus dem gleichen unzerstörbaren Metall gebunden. Wenn wir nun aber selbst …«

»Einen Moment, bitte«, fauchte Kurangras linker Kopf und schoss zur Winterseherin herab. »Deine Entdeckungen sind gewiss interessant, Odrana. Wir werden gleich darüber plaudern. Doch zuvor sprechen wir über die vier Aufträge, die ich dir durch diverse Boten erteilt habe, meine Schülerin. Du hast es in den letzten Jahren nicht für nötig befunden, dich bei mir zu melden. Aber ich nehme an, dass du mir heute deine Ergebnisse präsentieren wirst?«

»Nein«, sagte die Winterseherin fest und erwiderte den Blick der Drachenaugen. »Leider war ich mit dringenden Angelegenheiten beschäftigt.«

»Was könnte dringender sein, als deiner alten Lehrmeisterin dankbar Respekt zu erweisen?«, fragte der rechte Kopf lauernd.

»Den Kettenfürsten aufzuhalten, natürlich!«, gab die Winterseherin ungeduldig zurück.

»Ach, Odrana«, seufzte der linke Kopf und stieß eine schweflige Rauchwolke aus. »Streitest du dich immer noch mit Dáman herum? Ihr beiden wart so ein schönes Paar … Ihr hättet die Welt gemeinsam erobern sollen, statt euch ein Leben lang zu bekämpfen.«

»Ihr verkennt den Ernst der Lage, Kurangra!«, rief die Winterseherin mit Nachdruck. »Ein Gott ist gefallen. Ein Sterblicher gebietet nach seinen Launen über die Mächte der Unterwelt. Es geht nicht um irgendwelche Meinungsverschiedenheiten zwischen Dáman und mir. Euch ist in Eurer Abgeschiedenheit entgangen, wie sehr der Kettenfürst mit seiner wachsenden Macht die Ordnung bereits erschüttert hat! Noch mag er Euch ignorieren, vielleicht aus Respekt, vielleicht aus taktischem Kalkül. Doch sein Ziel ist die absolute Kontrolle, und er wird irgendwann danach streben, das Kettenbanner auch über der Dreikopf-Akademie wehen zu lassen. Ihr könnt Euch den Entwicklungen nicht ewig entziehen, Kurangra!«

Ein gefährliches Grollen stieg aus der gepanzerten Brust der Drachin auf.

»Wage es nicht, deine Lehrmeisterin zu belehren!«, schnaubte der rechte Kopf. Gorin spürte, wie die Wut der Drachin die Grotte erschütterte. Sie riss ihr Maul auf und blähte die Nüstern. Hilflos musste Gorin mitansehen, wie urgewaltiges Erdenfeuer aus dem Schlund der Drachin aufstieg und sich als fauchende Flammenwalze über den Körper der Winterseherin ergoss. Die Alte hob ihren Saphirstab. Eine silbern schimmernde Kuppel schien um sie herum aufzuleuchten. Mehr konnte Gorin nicht von ihr erkennen, denn die Wucht des Drachenfeuers riss sie von den Füßen und schleuderte sie hart zu Boden. Mit einem hässlichen Knirschen prallte der Körper der Winterseherin auf den Fels. Sie stöhnte schmerzerfüllt.

»Nein!«, brüllte Galdra und lief mit erhobener Kristallaxt auf Kurangra zu. Elyamur zog sein Schwert und stürmte ebenfalls vor. Auch Gorin lud mechanisch seine Armbrust durch, während sich kaltes Entsetzen in ihm ausbreitete.

Kurangras mittlerer Kopf neigte sich den Zwillingen entgegen und spie eine warnende Flammenlohe vor ihre Füße.

»Haltet ein!«, grollte der linke mit einer Stimme, die Gorins Seele zu durchdringen schien. Sofort war er nicht mehr in der Lage, auch nur einen Muskel zu rühren. Sein Körper war wie erstarrt, gelähmt durch den bloßen Willen Kurangras.

Mit einem zufriedenen Schnauben wandte sich die Drachin der Winterseherin zu. Die Alte kämpfte sich mühsam wieder auf die Füße. Ihre Magie schien sie vor der Wut der Flammen geschützt zu haben, doch ihr linker Arm hing herunter und wirkte schlimmer mitgenommen denn je.

Kurangras linker Kopf beugte sich zur Winterseherin hinab und betrachtete sie mit verengten Augen.

»Wer hat dich so zugerichtet?«, zischte die Drachin empört. Die Winterseherin schaute zu ihr auf. Weiße Haarsträhnen klebten an einer blutigen Platzwunde auf ihrer Stirn.

»Ihr selbst, Kurangra«, gab sie müde zurück. »Vor wenigen Herzschlägen.«

»Das meine ich nicht!«, polterte der rechte Kopf wütend. »Wie kommt es, dass eine Schülerin der Dreikopf-Akademie einen einfachen Flammenschlag nicht besser abgewehrt hat? Das hätte dir nicht passieren dürfen! Du warst die Zweitbeste deines Jahrgangs, Odrana. Was ist mit deiner Kraft geschehen?«

»Ich wurde für eine ganze Weile in einem Bannkäfig der Nephilim gefangen gehalten«, erwiderte die Winterseherin ruhig. »Erst vor Kurzem haben die Zwillinge mich befreit. Doch meine Aura ist noch geschwächt.«