The Never King - Nikki St. Crowe - E-Book

The Never King E-Book

Nikki St. Crowe

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Beschreibung

Zwei Jahrhunderte lang verschwanden alle Darling-Mädchen an ihrem 18. Geburtstag. Manche für einen Tag, andere für eine Woche oder einen Monat. Aber sie kamen immer gebrochen zurück. Heute, am Nachmittag meines 18. Geburtstags, vergewissert sich meine Mutter, dass alle Fenster im Haus verriegelt und alle Türen abgeschlossen sind. Vergeblich. Sobald es dunkel wird, kommt er zu mir. Und diesmal lassen mich der Nimmerkönig und die Verlorenen Jungs nicht gehen.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Nikki St. Crowe

 

THE NEVER KING

Vicious Lost Boys

Band 1

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

The Never King

 

 

 

Copyright © 2022. The Never King (Vicious Lost Boys) by Nikki St. Crowe

Published by Arrangement with Nikki St. Crowe

 

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH,

30161 Hannover.

 

Deutschsprachige Ausgabe © 2024. The Never King

VAJONA Verlag GmbH

 

 

Übersetzung: Ronja Waehnke

Korrektorat: Alexandra Gentara und Patricia Buchwald

Coverumschlagsrechte liegen bei Nikki St. Crowe

 

Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz

unter Verwendung von Motiven von Canva

 

VAJONA Verlag GmbH

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

 

 

 

Lass niemals zu,

dass er dich mitnimmt!

 

 

 

 

 

Ich habe seit über zwei Jahren keine normale Highschool mehr besucht, aber ich finde mich immer noch auf der Rückbank seines Geländewagens mit dem Star-Quarterback wieder.

Er ist schlecht im Bett – auf dem Fußballplatz ist er großartig. Wenn ich nur Fußball mögen und Sex hassen würde …

Anthony stößt in mich hinein und ich mache das Pornostar-Gesicht für ihn, weil ich weiß, dass es ihm gefällt, und tue so, als würde er mich zum Orgasmus bringen. Ich bin zwar kein Pornostar, aber ich bin die Tochter einer Prostituierten, also denke ich, das ist nah genug.

»O fuck, ja! Winnie. Oh, Baby.« Sein Griff um mich ist locker, seine Hände sind feucht. Er zittert wie der Junge, der er ist. Wir sind im gleichen Alter, aber Jahrzehnte voneinander entfernt.

»Fuck«, sagt er und sein heißer Atem trifft meine nackte Brust. »Das war so gut. War das gut?« Dieser Mangel an Selbstvertrauen ist unerträglich. Ich wüsste nicht, dass ich jemals mit einem selbstbewussten Mann geschlafen hätte. Oder vielleicht sehe ich das falsch. Vielleicht sind sie selbstbewusst, was das Empfangen angeht.

»So gut, Baby. Du bist unglaublich.« Und ich bin so gut im Lügen. Er lächelt mich an, während ich mich weiter auf ihm räkle, dann erhebt er sich und gibt mir einen Kuss auf den Mund. Ich spüre nichts als einen dumpfen Schmerz in meinem Körper und pochende Kopfschmerzen hinter meinen Augen.

Ich bin innerlich tot.

Und so verdammt gelangweilt.

Und das Einzige, worauf ich mich freuen kann, ist, von einem Mythos entführt zu werden.

Happy fucking birthday to me.

 

 

 

 

 

Anthony zieht seine Jeans an und fährt mich dann nach Hause.

Ich starre aus dem Fenster, während sich der Geländewagen durch meine Nachbarschaft schlängelt. Als er an den Bordstein fährt, will ich die Tür öffnen, aber er ergreift meinen Arm und beugt sich vor, um mich zu küssen.

Ich gebe ihm nur widerwillig, was er will.

»Kommst du am Wochenende zur Party?«, fragt er hoffnungsvoller, als mir lieb ist. Ist man extrem großzügig, wenn es um Sex geht, wird man immer zu den Partys eingeladen. So viele Partys – und alle sind gleich. Aber ich mag vertraute Dinge. Das Vertraute hat mir immer gefehlt.

»Schick mir ne SMS«, sage ich ihm, weil ich nicht weiß, wo ich dieses Wochenende sein werde. Heute ist mein 18. Geburtstag und jede Darling-Frau, die vor mir da war, ist an diesem Tag verschwunden. Manche sind nur einen Tag lang weg, andere eine Woche oder einen ganzen Monat. Und auch, wenn sie wieder auftauchen, kommen sie immer gebrochen zurück, mit mehr oder weniger intaktem Verstand. Ich will nicht verrückt werden. Im Großen und Ganzen mag ich mich, wie ich bin.

Als ich durch die Seitentür hereinkomme, steht Mom plötzlich vor mir. »Wo bist du gewesen, Winnie? Ich dachte, er hätte dich schon geholt und –« Ihre Aufmerksamkeit schweift ab, dann rennt sie zum nächsten Fenster und prüft dessen Riegel.

Sie murmelt etwas vor sich hin.

Piraten und verlorene Jungen und Feen.

Und er.

Wenn sie wach ist, spricht sie seinen Namen nicht aus, aber nachts, wenn sie träumt, wacht sie manchmal schreiend auf.

Peter Pan.

Mom war sieben Mal im Krankenhaus. Es heißt, sie sei schizophren, genau wie Grandma und meine Urgroßmutter und alle Darling-Frauen vor ihr. Ein Vermächtnis des Wahnsinns, das ich zu erben habe.

»Winnie!« Mom stürmt plötzlich auf mich zu, ihre spindeldürren Hände legen sich um meine Handgelenke. Ihre Augen sind groß. »Winnie, was machst du da? Geh in dein Zimmer!« Sie schubst mich in den Flur.

»Es ist noch Tag. Und ich bin hungrig.« »Ich werde dich holen, wenn er ... okay, hör zu.« Ihr Blick geht in die Ferne und sie runzelt die Stirn, ihr Griff lockert sich und mir dreht sich der Magen um.

Bitte, um aller Götter willen, ich will nicht so enden wie meine Mutter.

»Er kommt!«, schreit sie mich an.

»Ich weiß.« Ich rede mit meiner beruhigenden Stimme auf sie ein. »Ich weiß, dass er kommen wird, aber du hast das Haus besser gesichert als einen Luftschutzkeller. Ich glaube nicht, dass da jemand reinkommen kann.«

»Oh, Winnie.« Ihre Stimme stockt. »Er kann überall eindringen.«

»Wenn er überall reinkommen kann, warum verschließt du dann die Fenster? Wieso soll ich in diesem Zimmer bleiben?« Sie schiebt mich über die Schwelle und ignoriert meinen Einwand.

Der besondere Raum ist ein Kunstwerk, das vom Terror angeheizt wird. Man kann den Irrsinn in den groben Pinselstrichen lesen, die die Wand zieren. Runensymbole, gemalt wie Graffiti und noch mehr in den Türrahmen geritzt.

Es gab eine ganze Reihe von sogenannten Hexen, Schamanen und Voodoo-Priestern, die in unser Leben und durch unsere Häuser kamen und meiner Mutter die Geheimnisse des Schutzes vor ihm verkauften. Wir hatten zwar nicht das Geld dafür, aber sie hat es trotzdem ausgegeben. »Ich hole dir etwas zu essen«, sagt Mom. »Was willst du denn?«

»Ist schon okay. Ich kann selbst ...«

»Nein! Ich hole es. Du bleibst im besonderen Raum. Bleib drin, Winnie!« Sie rennt zurück in den Flur, ihr hauchdünnes weißes Kleid weht hinter ihr her und lässt sie wie ein Gespenst aussehen.

Ein paar Sekunden später klappern Töpfe und Pfannen in unserer Küche, obwohl ich mir absolut sicher bin, dass wir nichts haben, was in einen Topf müsste.

Dies ist das neunzehnte Haus, in dem wir wohnen. Ich kenne zwar die Anzahl der Häuser, aber an die meisten kann ich mich nicht mehr erinnern. Und wenn die Wände miteinander verschmelzen, ist es schwer, sich jemals wie zu Hause zu fühlen.

Mom meinte, sie könnte ihn vielleicht abhängen – Peter Pan –, wenn wir nur immer weiterziehen. Wir reisen mit leichtem Gepäck. Ich habe zwei Taschen und einen Koffer, den ich von meiner Ururgroßmutter Wendy geerbt habe. Er ist kleiner, als er von außen aussieht, und etwa doppelt so schwer, wie er sein sollte. Ich werde diesen Wahnsinn einfach nicht los.

Diese Koffer sind so ziemlich das Einzige, das wir besitzen und das einen Wert hat. Das Einzige, das sich real anfühlt.

Unser derzeitiges Zuhause ist ein verfallenes viktorianisches Haus mit bröckelnden Putzwänden, abgenutzten und eingekerbten Dielenböden und vielen leeren Zimmern. Wir besitzen nicht einmal eine Couch. Möbel sind zu schwer zum Umziehen.

Ich lasse mich auf das aufblasbare Bett fallen, das in die Ecke meines besonderen Raums geschoben wurde, und starre an die Decke, an der ein blutiges Graffiti klebt. Das war die Hexe aus Edinburgh, die sagte, nur Blut würde wirken. Und es musste meines sein.

Vielleicht sind wir alle verrückt, auf unsere eigene Art und Weise.

 

 

 

 

 

Mom macht mir ein Erdnussbutter-Marmeladen-Sandwich und bringt mir ein Glas Leitungswasser. Sie sieht zu, wie ich es esse und zuckt jedes Mal zusammen, wenn das Haus knarrt.

»Erzähl mir von ihm«, bitte ich sie, während ich die Kruste von der Oberseite des Sandwichs abziehe und es wie eine lange Spaghetti esse. Mom zuckt zusammen.

»Ich kann nicht.«

»Warum nicht?« Sie tippt mit dem Zeigefinger an ihre Schläfe. Soweit ich weiß, glaubt sie, dass eine Art Magie sie davon abhält, im Detail über ihn zu sprechen, sodass ich nur Bruchstücke erfahre. Sie sagt mir, dass die Magie bei Neumond nachlässt, aber wir haben bald wieder Vollmond.

Es sind die Gezeiten und der Vollmond, die alle Monster hervorbringen. Die Wölfe und die Feen und die verlorenen Jungen. Das hat sie gesagt.

»Was kannst du mir denn sagen?«, frage ich.

Sie kauert in einer Ecke des Zimmers auf ihrer Pritsche, die Knie an die Brust gezogen, und denkt ein paar Sekunden lang darüber nach. Ich stelle mir vor, dass sie einmal wunderschön war, aber ich kenne sie nur als verrückt. Ihr Haar ist dunkel und struppig wie meines, aber es ist wegen der vielen Medikamente, die sie nimmt, dünner geworden. Ihre Haut ist rötlich, ihre Wangen hohl. Ihre Fingernägel sind rissig, und unter ihren Augen hat sie dunkle Ringe. Sie arbeitet nicht mehr, ist arbeitsunfähig, aber davon kann sie kaum die Rechnungen bezahlen. Und je stärker sie isoliert ist, desto schlechter geht es ihr, glaube ich.

»Ich erinnere mich an den Sand«, sagt sie und lächelt.

»Der Sand?«

»Es ist eine Insel.«

»Was ist eine Insel?«

»Wo er dich hinbringen wird.«

»Und du warst dort?«

Sie nickt. »Das Nimmerland ist auf seine eigene Art schön.« Sie schlingt die Arme um ihre Beine und zieht sich in sich zusammen. »Alles ist Magie, so viel davon, dass man sie auf der Haut spürt und auf der Zunge schmeckt. Wie Heckenkirschen und Moltebeeren.« Sie hebt den Kopf und macht große Augen. »Ich vermisse die Moltebeeren. Er vermisst die Magie.«

»Wer? Peter Pan?«

Sie nickt. »Er verliert seinen Einfluss auf das Herz der Insel und glaubt, dass wir ihm helfen können.«

»Warum?« Ich reiße eine Ecke des Sandwiches ab und zerdrücke das Brot zwischen meinen Fingern, um es zu einem Pfannkuchen zu formen. Marmelade quillt über den Rand. Ich versuche, es in die Länge zu ziehen, meinem Bauch vorzugaukeln, er bekäme ein Fünf-Gänge-Menü.

Mom legt ihre Wange auf die Knie. »Sie haben ihr Versprechen gebrochen«, murmelt sie. »Sie haben ihr Versprechen mir gegenüber gebrochen.«

»Welches Versprechen?«

»Ich weiß nicht, wie ich ihn aufhalten soll«, flüstert Mom und ignoriert mich. »Ich weiß nicht, ob es genug ist.«

»Es wird schon gutgehen«, versichere ich ihr. »Ich mache mir keine Sorgen.« Nichts von all dem ist real. Bis auf den Wahnsinn. Darüber bin ich besorgt.

Wird es wie ein Lichtschalter sein? In der einen Minute bin ich bei Verstand, in der nächsten nicht mehr? Der Gedanke, die Beherrschung über meine Sinne zu verlieren, macht mir mehr Angst als ein Schattenmann.

 

 

 

 

 

Als Mom später einschläft, schleiche ich mich langsam aus dem Zimmer. Ein Gewitter ist aufgezogen, Blitze zucken vor dem Fenster und verlängern die Schatten des alten viktorianischen Hauses. Ich gehe auf die Toilette im Flur und betrachte mich im Spiegel.

Ich erkenne mich selbst nicht wieder. Es ist, als ob ich einen Fremden anschaue. An manchen Tagen mache ich mir Sorgen, dass, wenn ich nach meinem Spiegelbild suche, dort nichts zu sehen sein wird.

Ich fange an, ihr ähnlich zu werden.

Wie aus dem Gesicht geschnitten. Erschöpft.

Ich will nicht verrückt sein. Und ich bin einfach so verdammt müde. Meine Strickjacke rutscht von meinen Schultern und ich sehe eine aufgerissene Narbe. Eine, die zu den an die Decke gezeichneten Runen passt. Ich ziehe den Saum wieder hoch.

Dem Medikamentenschrank fehlt eine halbe Tür, sodass die linke Seite offen ist und mehrere Reihen von Pillendöschen enthüllt. Wähl aus.

Ich will nicht verrückt sein.

Ich greife nach einer Flasche Ibuprofen. Im Laufe der Jahre habe ich so viele genommen, dass ich kaum noch spüre, ob sie helfen.

Der Boden knarrt jenseits des Flurs. Ich ziehe meine Hand zurück.

Wieder zuckt Blitzlicht durch das Haus und der Donner verfolgt sie. Als das Grollen aufhört, höre ich, wie sich eine Tür schließt. Mom.

Ich renne den Flur hinunter und eile ins Zimmer, aber sie liegt immer noch auf dem Feldbett und schläft tief und fest. Mein Herz klopft mir bis zum Hals.

Eine weitere Diele knarrt.

Vielleicht ist jemand eingebrochen, weil er dachte, das Haus sei verlassen? Wir können uns kaum die Miete leisten, geschweige denn die Nebenkosten für ein Haus dieser Größe. Wir benutzen das Licht kaum.

Langsam schließe ich die Schlafzimmertür hinter mir und drehe das Schloss zu. Wir haben keine Waffen, nichts Praktisches. Wir haben unser ganzes Geld für nutzlose Magie ausgegeben.

Ich halte den Atem an und beiße die Zähne zusammen. Der Türknauf dreht sich.

Langsam weiche ich von ihm zurück.

Hat es schon angefangen? Habe ich schon den Verstand verloren? Ein Donner kracht über den Himmel.

Das Schloss springt wie von Geisterhand auf und ein Stiefel schiebt sich in die Tür. Die Scharniere ächzen.

Ich schaue Mom wieder an. War an ihren Geschichten mehr dran, als ich zu glauben bereit war? Das kann doch nicht wahr sein.

Kann es das?

Mom schreckt auf. »Baby, was ist los?«

»Pssst.« Ich eile an ihre Seite und schüttle sie.

Aber es ist zu spät. Die Tür ist offen und er füllt die Leere aus. Ich kann verdammt noch mal nicht atmen.

Das Geräusch des Aufklappens eines Feuerzeugs ist deutlich zu hören, dann das raue Drehen des Metallrads. Die Flamme fängt an zu brennen und wirft Licht auf sein Gesicht, während er sich das Ende einer Zigarette anzündet.

Silberne Ringe an seinen Fingern reflektieren den Feuerschein. Dunkle Tätowierungen bedecken seine Hände. Um seine Handgelenke sind mehrere Bänder aus Schnüren und Leder gebunden. Er ist groß, breitschultrig und trägt einen langen Mantel mit einem steifen Kragen, der um sein scharfes Kinn herum hochsteht. Obwohl sein Körper unter dem Mantel verborgen ist, kann ich erkennen, dass er muskulös ist, allein durch die Andeutung seines Bizeps unter dem Stoff.

Als er die Zigarette aus dem Mund nimmt, kann ich nicht anders, als die Adern, die sich über seine Fingerknöchel schlängeln, mit einem schnellen Augenaufschlag zu verfolgen. Er stößt den Rauch mit einem gezielten Atemzug aus.

»Meredith«, sagt er. »Es ist schon zu lange her.« Neben mir stockt Mom der Atem.

Passiert das wirklich?

»Du kannst sie nicht haben!«, kreischt sie.

»Als ob du mich aufhalten könntest.«

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals.

»Bitte«, fleht Mom.

Er nimmt einen langen Zug an der Zigarette, die Glut glüht hell. Ich höre das Knistern des Tabaks, während der Rauch sein Gesicht umspielt.

In meiner Brust spüre ich ein flatterndes Gefühl, das mir sofort ein schlechtes Gewissen macht. Ich fühle mich plötzlich so wach wie seit Jahren nicht mehr. Ich sollte in diesem Moment nichts anderes als Furcht empfinden. Das ist die Wirklichkeit. Mom hat die Wahrheit gesagt.

»Bitte«, wimmert sie wieder.

»Es ist keine Zeit zu betteln, Merry.« Er macht seinen ersten Schritt über die Schwelle. So viel zum Thema Magie. Ich atme tief ein und versuche, das schnelle Pochen meines Herzens zu unterdrücken.

Irgendwie hat er innerhalb eines Wimpernschlags die letzte Distanz zwischen uns überwunden. Er greift mit einer Hand nach meinem T-Shirt-Kleid und zerrt mich auf die Beine. »Wir können das auf die leichte oder auf die harte Tour machen, Darling. Was soll es sein?« Ich schlucke und versuche, den plötzlich wachsenden Kloß in meinem Hals zu verdrängen.

Er sieht zu, wie ich es tue, wie meine Zunge vorschnellt und über meine Lippen leckt. Das flatterhafte Gefühl sinkt tiefer und die Schuldgefühle schwinden, werden kalt. Er ist die lebendig gewordene urbane Legende meiner Mutter, und ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll, jetzt, wo er hier ist.

»Du hast drei Sekunden Zeit, um dich zu entscheiden«, sagt er zu mir.

Auf seinem Gesicht ist keine Spur von Verzweiflung zu sehen, aber ich spüre sie trotzdem. Als hätte er dieses Gespräch schon eine Million Mal geführt und wäre jedes Mal enttäuscht von seinem Ziel.

Mom erhebt sich neben uns und fängt an, versucht mich aus seinem Griff zu befreien, aber er ist schnell, fast zu schnell, um seiner Bewegung zu folgen, als er die Zigarette fallen lässt und sie an der Kehle packt.

»Nein«, sagt er leichthin. »Mach es nicht schwieriger, als es sein muss.« Er dreht sich wieder zu mir um. »Mach weiter, Darling.« Er kommt ganz nah an mein Gesicht heran, seine weißen Zähne schimmern im Mondlicht.

Er ist fast zu schön, zu traumhaft.

Vielleicht bin ich schon verrückt.

Und wenn ich den Verstand verloren habe, spielt das alles sowieso keine Rolle. »Ich warte«, droht er.

»Natürlich auf die einfache Art.« Er hebt amüsiert die Brauen.

»Natürlich?«

»Warum sollte ich die harte Tour wählen?«

Mom verliert ihren Kampf und wird still.

»Erste Lektion«, sagt er. »Es gibt keinen einfachen Weg.« Er wendet sich an Mom. »Ich bringe sie zurück, Merry. Du weißt, dass sie immer zurückkommen.«

Dann lässt er sie fallen, schnippt mit den Fingern, und alles wird dunkel.

 

 

 

Ich brauche doppelt so lange, um mit einer über die Schulter geworfenen Darling nach Nimmerland ins Baumhaus zurückzukehren. Sie ist leicht wie eine Feder. Ihre Rippenknochen sind so scharf, dass es wehtut. Dieser Darling geht es nicht gut. Vielleicht ist sie aufgrund ihrer spinnwebenfeinen Risse leichter zu knacken. Es ist nicht das Tragen von ihr, das die Reise erschwert, sondern der Wechsel zwischen zwei Welten und meine schwindende Magie. Ich habe nur noch so wenig zur Verfügung. Sie muss die Richtige sein. Ich weiß nicht, was passiert, wenn sie es nicht ist.

Ich bin diese Insel. Sie wird ohne mich nicht überleben.

Als ich durch die offene Haustür eintrete, warten die verlorenen Jungs schon. Ich habe aufgehört zu zählen, wie viele es mittlerweile sind, und ich kann mir nicht einmal die Hälfte ihrer Namen merken, aber die, auf die es ankommt, werden auf dem Dachboden unter dem Baldachin des Nimmerbaums auf mich warten. Ich führe die Darling die breite Treppe hinauf und halte mich mit der Hand am geschnitzten Geländer aufrecht. Schmiedeeiserne Laternen flackern an ihren geschnitzten Haken.

Ich bin so verdammt müde.

Ich komme ins Loft und finde Vane an der Bar, die Zwillinge in der Diele. Von den Ästen des Nimmerbaums fallen die Blätter herab. Er wird von Tag zu Tag dünner. Der Baum liegt im Sterben. Kleine Feenkäfer leuchten hellgelb zwischen den verbliebenen Blättern, und jedes Mal, wenn ich dieses Leuchten sehe, erinnert es mich an Tink und macht mich wieder wütend.

»Ist das Zimmer fertig?«, frage ich die Jungs. Kas nickt, seine Augen mustern die Darling, deren Arme schlaff hinter mir hängen.

Die Zwillinge folgen mir in den Flur und in das Gästezimmer. Vane kommt nicht mit. Vane ist nur daran interessiert, Darlings zum Weinen zu bringen.

Auf dem Tisch am Fenster brennt eine Laterne und das Fenster ist geöffnet, sodass die Meeresbrise hereinweht.

Ich lege die Darling auf das Bett. Der Rahmen nimmt keine Notiz. Bash schließt die Metallmanschette um ihr Handgelenk, die an einer Kette befestigt ist, die in der Wand verankert ist.

Ich lasse mich in den Ohrensessel fallen, ziehe die Stahlschachtel mit den Zigaretten aus meiner Tasche und zünde eine mit dem Schnipsen des Feuerzeugs an. Die Flamme tanzt in der Dunkelheit. Ich atme ein, die Flamme folgt dem Strom, und der Tabak knistert beim Brennen. Als der Rauch meine Lunge füllt, fühle ich mich unendlich viel besser.

»Wie war sie?« Kas bricht das Schweigen. Wenn einer von uns ein blutendes Herz hat, dann ist es Kas.

»Dickköpfiger, als mir lieb ist.«

Bash lehnt an der Wand in der Türöffnung, und das Licht aus dem Flur lässt ihn golden flackern. »Was ist mit Merry?« Die Meeresluft wird kalt.

Ich lehne meinen Kopf zurück gegen den Stuhl. »So verrückt, wie wir sie zurückgelassen haben.« Die Zigarette brennt bis zum Ende herunter. Ich schließe meine Augen, als die Sonne die Horizontlinie erreicht. Je näher sie kommt, desto weiter entfernt fühlt sich der Zauber an. Bei Tageslicht bin ich nichts – nichts als Asche.

»Pass auf sie auf«, befehle ich, während ich aufstehe und mich auf den Weg zur Tür mache. »Aber nicht anfassen.«

»Wir kennen die Regeln«, blafft Bash, ein wenig verärgert darüber, dass man ihm sagt, was er zu tun hat. Aber Bash hat hübsche Dinge schon immer geliebt, und diese Darling ist hübscher als alle anderen.

»Fick die Darlings nicht«, sage ich, nur um sicherzugehen, dass er mich hört. Das ist die einzige Regel, die wir haben. Wir ficken nicht mit den Darlings, denn das Ficken von Darlings hat uns in diesen Schlamassel gebracht. Wir ficken die Darlings nicht.

Wir machen sie einfach kaputt.

Wenn ich aufwache, habe ich das gleiche Gefühl wie damals, als ich auf dem Rücksitz von Moms altem Auto einschlief, während sie uns durch sechs Staaten nach Westen fuhr. Ich bin nicht da, wo ich sein sollte, alles tut weh, und nichts fühlt sich gleich an. Ich höre zuerst die Möwen. Wir wohnen seit sieben Jahren nicht mehr am Meer, aber ihr Kreischen weckt alte Erinnerungen an den Sand auf unseren Böden, das Rauschen der Wellen und den Geruch des Dünengrases. Ich habe das Wasser schon immer geliebt. Es macht mich glücklich.

Ich höre ein Einatmen nach den Möwen, aber es ist nicht mein Atem. Als ich die Augen öffne, sehe ich einen Jungen, der auf mich herabschaut. Nein, nicht gerade ein Junge. Er hat die Jugend eines Jungen, aber die Präsenz eines Mannes.

Sein langes schwarzes Haar ist am Hinterkopf zu einem Dutt gebunden. Sein Blick ist messerscharf und glitzernd, als er meinen Anblick in sich aufnimmt. Seine Haut hat die Farbe der hellen Seite eines Blutmondes und schwarze Tätowierungen ziehen sich über seine nackte Brust. Alle Linien sind präzise und symmetrisch auf beiden Seiten seines Körpers gestochen. Sie beginnen an seinem Hals und ziehen sich wie ein Labyrinth über den Rest seines Körpers, bis sie unter dem Bund seiner zerrissenen, schwarzen Jeans verschwinden. Er ist eine Vision dunkler Männlichkeit.

»Guten Morgen, Darling«, sagt er.

»Wo bin ich?« Langsam richte ich mich auf, nur um festzustellen, dass ich an eine Wand gekettet bin. Das ist pervers.

»Zu deiner Sicherheit«, sagt er und nickt auf die Kette.

»Wovor?«

»Davonzulaufen.« Er grinst. Er hat volle, geschwollene Lippen.

»Ist sie wach?«, ertönt eine andere Stimme vor der Tür. Ich folge dem Klang, und mein Gehirn stottert vor sich hin. Es ist, als sähe ich doppelt. Nur dass das dunkle Haar dieses Mannes viel kürzer geschnitten ist und ihm in Wellen über den Kopf wehen. Die Tätowierungen sind jedoch genau dieselben, soweit ich das beurteilen kann. Dieser hier trägt ein Hemd.

»Bevor du fragst«, sagt der Neue, »ja, du halluzinierst.«

Der andere grunzt. »Leg dich nicht mit ihr an, Bash. Davon kriegt sie später noch genug.« Derjenige namens Bash kommt herüber. »Wie geht es dir, Darling? Manchmal ist die Reise hierher hart für ein Mädchen.«

Mein Hals ist rau und trocken, meine Zunge ist wie Sandpapier in meinem Mund. Mir ist etwas mulmig zumute und ich bin benebelt, aber sonst scheint es mir gut zu gehen. Abgesehen von der Tatsache, dass ich von jemandem entführt wurde, den ich für einen Mythos oder eine Wahnvorstellung hielt, und jetzt an ein Bett am Meer gekettet bin. Zu Hause ist das nächste Meer mehrere hundert Meilen entfernt. Wie weit haben sie mich gebracht?

»Mir geht es gut«, antworte ich schließlich.

»Wasser?«, fragt der Mann an meinem Bett.

»Ja, bitte.« Mein ganzes Leben lang hat mich meine Mutter auf diesen Moment vorbereitet, manchmal auf die schmerzhafteste Art und Weise, und nichts davon war ausreichend. Sie hat mir wortwörtlich gesagt, dass das passieren würde, und jetzt, wo es passiert ist, kann ich es immer noch nicht richtig begreifen.

Ist das alles echt? Oder beginnt mit dieser Täuschung der Wahnsinn?

Das Bett unter mir fühlt sich echt an. Die warme tropische Luft, echt. Der Raum, den die Jungs im Zimmer einnehmen, die Energie, die ihn erfüllt – sehr, sehr real.

Diese Jungs haben etwas an sich, das stärker ist als alle Typen, mit denen ich bisher zusammen war, und ich war schon mit einigen zusammen. Hübsche Jungs lassen die Zeit immer schneller vergehen. Ich hasse es, mich zu langweilen. Aber am meisten hasse ich es, allein zu sein.

Bash verschwindet durch eine zweite Tür auf der anderen Seite des Raumes und kommt mit einem Glas Wasser zurück.

---ENDE DER LESEPROBE---