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»Dieser Thriller wird Ihnen den Schlaf rauben!«KARIN SLAUGHTER ----- Was tust du, wenn dein Kind nicht heimkommt? Dein jugendlicher Sohn will seine bestandenen Prüfungen feiern. Du lässt ihn mit seinen Freunden ziehen. Um Mitternacht wird er wieder zu Hause sein, so die Abmachung. Du vertraust ihm, warum auch nicht? Am nächsten Morgen verändert sich dein Leben für immer. Denn fünf Teenager sind letzte Nacht in den Wald gegangen, doch nur vier sind wieder herausgekommen. Und die Wahrheit zu sagen, könnte bedeuten, alles zu verlieren ... Ein dichter und beklemmender Thriller mit einem unglaublichen Gespür für Angst. Opfer werden zu möglichen Tätern und besorgte Eltern geschickt gegeneinander ausgespielt. ----- »Dieses Buch ist vollgepackt mit Wendungen, die Sie wachhalten werden.« Heat Magazine »Ein Thriller, der genau auf den Punkt bringt, was es bedeutet, eine Familie zu sein.« Gillian McAllister »Beklemmung hoch drei.« Linwood Barclay »Spannungsgeladen und dicht, taucht ›The Parents‹ tief in den Albtraum aller Eltern ein.« BA Paris »Verzwickt und scharfsinnig, mit einem überwältigenden Gespür für das Grauen.« KL Slater »Fesselnd!« Bella
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© Piper Verlag GmbH, München 2024
Aus dem Englischen von Sonja Rebernik-Heidegger
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Redaktion: René Stein
Covergestaltung: zero-media.net, München, nach einem Entwurf von Emma Rogers
Covermotiv: Getty Images und Shutterstock.com
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe
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Cover & Impressum
Widmung
Zitat
Prolog
Sonntag, 12. Juni
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Emily
Beacon Hill
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
Zac
Beacon Hill
21
22
Rob
Montag
23
24
25
26
27
28
Harriet
29
30
31
32
33
Drew
Beacon Hill
34
35
36
Dienstag
37
38
39
40
41
Harriet
42
43
44
Connor
Beacon Hill
45
46
47
48
Mittwoch
49
50
51
52
53
Olivia
Fußweg hinter dem Haus der Familie King
54
55
56
57
58
Donnerstag
59
60
Harriet
61
62
63
Emily
The Avenue
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
Freitag
75
76
Drei Monate später
77
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für meine großartige Frau Sally,
vom glücklichsten Mann der Welt.
Alles Liebe zum 25. Hochzeitstag!
»Das ist ein weiser Vater, der sein eigenes Kind kennt.«
William Shakespeare,Der Kaufmann von Venedig
Loslassen ist schwer.
Vielleicht das Schwerste überhaupt.
Manchmal scheint es gar unmöglich.
Denn manchmal bedeutet Loslassen, alles zu gefährden, was du liebst. Alles, was du bist.
Aber anders zu handeln würde bedeuten, einen Teil deines Selbst zu verlieren. Für immer.
Ich weiß nicht, was besser ist.
Ich schätze, deshalb sind wir am Ende hier gelandet.
Ich hätte wissen müssen, dass etwas nicht stimmt.
Ich hätte es spüren sollen. Die Spannung und die seltsame Ruhe in der Luft, bevor das Gewitter hereinbricht.
Immerhin war ich sein Vater. Seine erste Verteidigungslinie. Und seine letzte.
Aber in diesem Moment, ein paar Minuten nach drei Uhr morgens, weiß ich nur, dass ich wach im Bett liege.
Vielleicht hat mich ein Geräusch vor dem offenen Fenster aus dem Schlaf gerissen, ein Fuchs oder eine Katze. Mittlerweile ist die Stille in die samtige Dunkelheit des Schlafzimmers zurückgekehrt. Es ist warm, und ich habe selbst die dünne Sommerdecke zurückgeschlagen. Mein stummgeschaltetes Handy liegt auf dem Nachttisch, und das Leuchten des Displays lässt mich beinahe erblinden, als ich nachsehe, ob eine Nachricht von meinem Sohn eingegangen ist.
Es gibt in unserem Haus drei goldene Regeln. Die erste lautet: Schreib uns, damit wir wissen, wo du bist. Dicht gefolgt von: Halte dich an den Zapfenstreich. Und drittens: Bleib immer in der Nähe deiner Freunde. Wir sagen Connor nicht, dass er keinen Alkohol trinken soll, weil es, ehrlich gesagt, sinnlos ist, einem Teenager diesen Rat mit auf den Weg zu geben. Ganz egal, was wir vorgeben, er wird es tun, also kann er auch gleich einen vernünftigen Umgang damit erlernen.
Ich habe keine neue Nachricht von meinem Sohn.
Allerdings schreibt er sonst auch eher meiner Frau.
Laura schläft tief und fest neben mir, und ihr leiser, gleichmäßiger Atem verleiht der Dunkelheit eine angenehme Ruhe. Ich lege das Handy wieder beiseite und schließe die Augen. Eigentlich habe ich von uns beiden den tieferen Schlaf, und Laura ist meistens diejenige, die hört, wenn Connor nach Hause kommt. Sein Zapfenstreich war um zwölf. Früher als bei manchen anderen, später als bei einigen seiner Freunde. An einem normalen Samstag ist es eine Stunde früher, aber es ist das erste Wochenende nach den Prüfungen zum Ende des Schuljahres, und wir haben beschlossen, etwas nachsichtiger zu sein.
Wahrscheinlich ist er schon seit Stunden zu Hause, beruhige ich mich.
Trotzdem kann ich nicht wieder einschlafen. Meine Gedanken nehmen Fahrt auf, drehen sich im Kreis und reißen mich mit sich. Außerdem muss ich auf die Toilette. Die Freuden des Älterwerdens. Ich stehe auf und tappe über den Flur ins Badezimmer.
Auf dem Rückweg fällt mir auf, dass es heller ist, als es sein sollte. Das Licht auf der Veranda wirft Schatten auf das untere Ende der Treppe.
Connor sollte es ausmachen, wenn er nach Hause kommt. Das sagen wir ihm ständig: Wenn das Licht auf der Veranda aus ist, wissen wir, dass du zu Hause bist, okay? Dass das Licht noch brennt, heißt also … vermutlich gar nichts. Er hat es sicher bloß vergessen. Sechzehnjährige vergessen solche Dinge.
Ich tappe ins Erdgeschoss und spüre die kalten Fliesen unter meinen nackten Füßen, während ich das Licht ausmache. Nun ist alles dunkel. Ich bleibe einen Moment lang stehen und klammere mich an das vertraute hölzerne Treppengeländer, bis sich meine Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt haben.
Zurück im Obergeschoss, trete ich vor die schmale Wendeltreppe, die unters Dach und zu Connors Zimmer führt, und lausche.
Es ist nichts zu hören.
Er hat bloß das Licht angelassen. Das vergisst er andauernd. Genauso, wie Türen zu schließen, sein Geschirr abzuwaschen, die Toilettenpapierrolle auszutauschen und nasse Handtücher nicht auf seinem Zimmerboden liegen zu lassen. So sind Teenager nun mal.
Aber … ich bin wach, also kann ich sicherheitshalber gleich nachsehen, ob er zu Hause ist.
Ich steige die Treppe hoch, wobei ich die knarrende Stufe kurz vor dem Ende absichtlich auslasse. Unter dem Dach befinden sich zwei Zimmer: ein Gästezimmer und Connors Reich, das etwa zwei Drittel der gesamten Fläche einnimmt.
Die Tür steht einen Spaltbreit offen, und ich drücke sie auf und sehe mich um. Der vertraute Geruch nach sommerlichem Schweiß, Turnschuhen und einem Hauch Deodorant steigt mir in die Nase. Außerdem riecht es nach ungewaschenen Klamotten und dem halb aufgegessenen Sandwich unter dem Bett. Auf dem Boden liegen Jeans, Schuhe, Teller und Becher wild durcheinander und bilden undeutliche Umrisse in der Dunkelheit.
Ich kneife die Augen zusammen und versuche, etwas in den Schatten zu erkennen. Hätte ich bloß nicht die Brille auf dem Nachttisch liegen gelassen. Im nächsten Moment entdecke ich die wohlbekannte Silhouette. Lange Arme und Beine, die unter der Decke hervorstechen, dunkle Haare auf dem Kissen. Kein kleiner Junge mehr, aber auch noch kein Mann. Die Anspannung weicht aus meinem Körper, und Erleichterung macht sich breit. Connor liegt in seinem Bett. Er ist zu Hause. In Sicherheit. Natürlich ist er das.
Eine plötzliche Wehmut überkommt mich, als ich daran denke, wie ich ihm jeden Abend eine Gutenachtgeschichte vorgelesen habe und er mir wie ein kleiner Schatten überallhin gefolgt ist. Wir waren unzertrennlich. Fußball spielen im Garten, Videospiele, Mr. Bean und Star Wars und sämtliche Geschichten von Roald Dahl, bis wir sie alle auswendig kannten. Mittlerweile verbringt er seine Zeit lieber mit seinem Cousin und seinen Freunden und vertraut sich hauptsächlich seiner Mum an, vermutlich, weil sie unvoreingenommener ist. Sie sieht auch seinen Standpunkt und urteilt nicht. Sie nimmt zwar nicht alles stillschweigend hin, aber sie hört zu, ohne ihm ständig ins Wort zu fallen, wie ich es gerne tue. Ich nörgle ständig an ihm rum, und in letzter Zeit sind wir allzu oft wie zwei Schiffe, die einander nachts auf offener See passieren, und es können Tage vergehen, ohne dass wir mehr als ein paar Worte wechseln. Er ist entweder auf seinem Zimmer, schließt sich ins Badezimmer ein, hockt mürrisch und einsilbig am Esstisch oder ist einfach nicht da.
Doch an diesem Sonntagmorgen um neun Minuten nach drei spielt das alles keine Rolle, denn mein Junge ist zu Hause. Er liegt in seinem Zimmer im Bett, wo er hingehört. Alles ist gut. Ich bleibe einen Moment lang in der Tür stehen und betrachte die Umrisse meines schlafenden Sohnes.
Mir ist nicht klar, wie sehr ich mich irre.
Denn ich hätte wissen müssen, dass etwas nicht stimmt. Ich hätte es spüren sollen.
Aber ich tat nichts dergleichen.
Bis es zu spät war.
Ich habe schlecht geschlafen und von einer offen stehenden Haustür geträumt. Doch jedes Mal, wenn ich hinging, um sie zu schließen, wurde der Flur immer länger und länger, und die Klinke befand sich immer gerade so außerhalb meiner Reichweite.
Als ich geduscht und angezogen in die Küche komme, ist Laura bereits vom Joggen zurück. Ihre Wangen glühen, sie trägt das Handy am Oberarm und hat die langen, rotbraunen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie reicht mir eine Tasse Nespresso und nimmt einen Schluck von ihrem Kaffee.
»Das ist ein Doppelter«, sagt sie. »Du siehst aus, als könntest du ihn gebrauchen.«
»Danke.« Der Kaffee ist stark und schwarz, der Koffeinboost erfolgt unmittelbar. »Sehe ich echt so schlimm aus?«
»Aber nicht doch. Du siehst aus wie das blühende Leben.«
»Das bezweifle ich«, schnaube ich. »Hast du gehört, wann Connor letzte Nacht nach Hause gekommen ist?«
Sie setzt sich an den Küchentisch und schlüpft aus ihren Laufschuhen. »Er hat eine Nachricht geschrieben. Du hast geschlafen. Warum?«
»Er wird immer leiser, wenn er sich durchs dunkle Haus schleicht. Ich habe absolut nichts gehört.«
»Weil du wieder mal geschnarcht hast.«
»Hab ich nicht.«
»Ich wollte dir gerade einen kleinen Tritt verpassen, da hast du dich zur Seite gedreht.«
Sie grinst. Wir sind seit mehr als zwanzig Jahren zusammen, aber ich weiß manchmal immer noch nicht, ob sie mich veräppelt. Vor allem morgens. Ich nehme einen weiteren Schluck Kaffee, umfasse den Becher mit beiden Händen und lehne mich an die Frühstückstheke. Laura hat die Doppelflügeltür auf die Terrasse geöffnet, und eine warme Brise trägt den Duft von frisch geschnittenem Gras und Blumen ins Zimmer. Der Himmel ist blau und wolkenlos. Ein weiterer perfekter Sommertag steht bevor.
»Egal«, meine ich schließlich. »Connor war jedenfalls pünktlich zu Hause, sagst du?«
»Ja, er hat um zwölf geschrieben, dass er wieder da ist.«
»Aber du hast nicht gehört, wie er zurückgekommen ist?«
Sie wirft mir einen seltsamen Blick zu. »Er hat den Zapfenstreich doch noch nie versäumt. Die Nachricht, dass er zu Hause ist, kam um zwölf. Genau, wie wir es verlangt haben. Ich vertraue ihm.« Sie schüttelt den Kopf. »Das sollten wir beide, Andy.«
Unser Cavapoo Toffee trottet mit der Leine im Maul in die Küche und legt sie wie eine Opfergabe vor meinen Füßen ab. Dann setzt er sich mit heraushängender Zunge vor mich und sieht mit seinen großen schokobraunen Augen zu mir hoch, während sein Schwanz langsam über den Küchenboden wischt. Ich kraule die strohfarbenen Locken hinter seinen Ohren.
»Ich weiß«, sage ich an meine Frau gewandt. »Schon klar. Ich vertraue ihm ja. Aber er hat das Licht auf der Veranda angelassen.«
»Wenn das alles ist, worüber wir uns Sorgen machen müssen, ist es wohl halb so schlimm.«
Dagegen lässt sich nichts sagen. Und ich kann schwer zugeben, dass ich um drei Uhr morgens im Zimmer unseres Sohnes war, um nach ihm zu sehen, denn das würde einigermaßen paranoid klingen. »Wo haben sie sich letzte Nacht eigentlich herumgetrieben?«
»Im Wald am Beacon Hill vermutlich.«
Toffee verschwindet einen Moment lang und kommt im nächsten Augenblick mit einem angekauten Tennisball wieder, den er neben der Leine ablegt.
»Gleich, mein Junge.« Ich kraule ihn unterm Kinn. Ich kenne das Naherholungsgebiet Beacon Hill ganz gut – es ist einer von Toffees liebsten Orten zum Gassigehen –, aber ich war bisher nur tagsüber dort.
»Was, um alles in der Welt, macht man nachts am Beacon Hill?«, will ich wissen, was im Grunde allerdings eine rhetorische Frage ist. Connor und sein Cousin Zac sind noch zu jung, um in einem Pub etwas zu trinken zu bekommen, aber schon zu alt und ruhelos, um den Samstagabend zu Hause zu verbringen. Einige Freunde haben gefälschte Ausweise, aber die sind eher die Ausnahme. Die anderen feiern zu Hause, treffen sich spontan, wenn die Eltern nicht da sind, oder gehen zum Beacon Hill.
Toffee verfolgt mittlerweile jede meiner Bewegungen, und seine Ohren zucken jedes Mal, wenn ich mich unbewusst der Haustür zuwende. Als ich endlich nach seiner Leine greife, stößt er ein einzelnes, zustimmendes Bellen aus. Auf dem Weg durchs Wohnzimmer fällt mein Blick auf unsere Tochter Harriet. Sie sitzt im Schneidersitz in ihrem Gryffindor-Schlafanzug auf dem Sofa, isst Schoko-Pops und trägt wie immer Kopfhörer. Neben ihr steht ihr geöffneter Laptop, auf ihrem Schoß liegt unsere Katze Pablo und streckt die Pfoten in die Luft.
»Harry? Ich gehe mit Toffee raus. Kommst du mit?«
Sie macht keine Anzeichen, dass sie mich überhaupt bemerkt, ihre Kopfhörer dämpfen sämtliche Geräusche. Sie kommt bald ins Teenageralter, aber sie ist immer noch wahnsinnig klein und zart und wurde bereits von allen Mädchen in ihrer Klasse überholt. Noch zeigt sie keinerlei Interesse an Klamotten, Make-up, TikTok oder dem ganzen anderen Kram, an dem Mädchen in ihrem Alter langsam Gefallen finden. Vielleicht kommt das aber auch erst. Im Moment steht sie jedenfalls auf IT, Minecraft und ihre Haustiere, trägt am liebsten Jeans und T-Shirts; sie hat sich von klein auf geweigert, Röcke zu tragen, und schneidet ihre roten Haare jungenhaft kurz, damit sie sich nicht zu sehr einkringeln. Sie scheint glücklich in ihrer Haut, und mehr will ich gar nicht. Meine Frau bezeichnet Harriet als Mysterium, meine Mum nennt sie exzentrisch.
»Harry?«, frage ich erneut, dieses Mal lauter.
Sie hebt den Kopfhörer von einem Ohr und sieht zu mir auf. »Hast du etwas gesagt?«
»Ich gehe raus. Kommst du mit?«
»Ich will Pablo nicht stören«, erklärt sie und streichelt den Bauch des Katers. Jedem anderen hätte er die Hand mit seinen Krallen zerfetzt, aber bei Harriet schnurrt er bloß sanft und drückt den Rücken durch, um noch mehr Streicheleinheiten einzufordern.
Ich deute auf den Laptop. »Was siehst du dir an?«
»So Zeugs. Auf YouTube.«
»Zeugs. Klingt interessant.«
»Wenn du es unbedingt wissen willst: Es geht um einen weltberühmten Hacker, der erklärt, wie er in eine streng geheime russische Datenbank eindringen konnte.«
»Oh.« Ich halte an der Tür inne. »Echt?«
»Nein, Dad«, antwortet sie seufzend. »Ist bloß ein TED-Talk.«
Während Harry die Kopfhörer wieder zurechtrückt und das Video weiterlaufen lässt – sie liebt diese Vorträge zu den verschiedensten Themen, die im Internet übertragen werden –, drückt Laura mir eine dicke Scheibe Toast mit Brombeerkonfitüre in die Hand. »Hier hast du dein Frühstück«, sagt sie. »Ich spring unter die Dusche.«
»Danke.« Ich nehme einen Bissen und lege Toffee mit der freien Hand die Leine an. »Wir sind in einer Stunde wieder da.«
Ich gehe die gepflasterte Auffahrt zum Nachbarhaus hoch, in dessen Vorgarten das Gras und der Löwenzahn wuchern. Ich werde irgendwann in den nächsten Tagen mal mit dem Rasenmäher vorbeikommen. Ich klingle, und es folgt eine kurze Pause, während derer das Haus scheinbar die Luft anhält, dann dringt eine dünne Stimme irgendwo aus dem Inneren.
»Wer ist da?«
Ich lehne mich näher an das blau-rote Glas der Eingangstür heran. »Hallo, Arthur, ich bin’s nur.«
Eine verschwommene Silhouette schlurft langsam auf die Tür zu, die sich erst nach einiger Zeit knarrend öffnet. Es gab eine Zeit, da waren Arthur und ich etwa gleich groß, doch mittlerweile steht er über seinen Gehstock gebeugt vor mir und sieht zu mir hoch. Der ehemalige Juraprofessor ist seit mehr als zwei Jahrzehnten in Pension, aber seine blassblauen Augen blitzen wie eh und je.
»Guten Morgen, junger Mann.« Trotz der morgendlichen Hitze trägt er eine lange Hose, ein langärmeliges Hemd und einen Pullover.
»Guten Morgen, Arthur«, erwidere ich, und Toffee lässt sich artig neben meinen Beinen nieder. »Wir gehen in den Park, und ich dachte, Chester würde uns gerne begleiten?«
Offiziell ist Arthur einer meiner Patienten, doch wie viele alte Männer geht er ungern zum Arzt, weshalb ich auf diesem Wege ein Auge auf ihn habe. Seine Frau Marjorie konnte ihn noch zu dem einen oder anderen Termin überreden, aber seit ihrem Tod weigert er sich, Hilfe anzunehmen, was die für seine achtundachtzig Jahre üblichen Beschwerden angeht. Schlaflosigkeit ist Gottes Art, dir zu sagen, dass du das meiste aus der verbleibenden Zeit herausholen sollst, meint er immer. Weshalb Connor und ich uns angewöhnt haben, nachmittags nach der Arbeit oder nach der Schule Arthurs Hund auf einen Spaziergang zu entführen. In letzter Zeit bin allerdings eher ich für diese tägliche Routine zuständig.
»Haben Sie noch genug Milch, Brot und Tee?«, frage ich und deute in die Küche. »Ich kann Ihnen auf dem Rückweg etwas mitbringen.«
»Nein, ich bin versorgt. Danke, Andrew.«
»Und wie sieht’s mit Whisky aus?«, fahre ich grinsend fort.
»Der reicht bis zum Jüngsten Gericht.« Er zwinkert mir zu. »Oder bis Southend United die Premier League gewinnt. Je nachdem, was zuerst passiert.«
Er wendet sich um, stößt einen Pfiff aus, und im nächsten Augenblick klacken Krallen über den Holzboden. Ein schwarz-weißer Collie trabt schwanzwedelnd auf uns zu. Chester ist größer und älter als Toffee, und die beiden freuen sich wie immer sehr, einander zu sehen.
»Also gut, Chester.« Der Hund setzt sich gehorsam, damit sein Besitzer mit den von Altersflecken übersäten Händen die Leine an seinem Halsband befestigen kann. »Sei ein braver Junge und mach Dr. Boyd keine Schwierigkeiten.«
»Das übernimmt schon Toffee.« Ich greife nach Chesters Leine. »Wenigstens ist er nicht schnell genug, um irgendetwas zu erwischen.«
Wir verabschieden uns, und ich will mich gerade abwenden, als Arthurs dünne Stimme noch einmal an mein Ohr dringt.
»Wie geht es eigentlich Ihrem Jungen?«
»Connor? Sehr gut, danke. Er ist froh, dass die Schule vorbei ist.«
»Er schläft heute vermutlich länger, nehme ich an?«, fährt mein Nachbar beiläufig fort, als wäre es keine große Sache. »Nachdem er gestern so spät nach Hause gekommen ist?«
Er klingt nicht bösartig oder abfällig, aber irgendetwas in seiner Stimme lässt mich innehalten. Als wüsste er mehr als ich.
Entspann dich. Das ist lächerlich.
»Es ist nun mal das erste Ferienwochenende, Arthur«, erwidere ich und ringe mir ein weiteres Lächeln ab. »Die Prüfungen sind vorbei, und niemand muss mehr früh aufstehen.«
Er bleibt im Türrahmen stehen, während ich die Hunde in den Kofferraum lade. Als ich losfahre, hebe ich die Hand zum Gruß.
Auf dem Weg zum Park klingelt mein Handy. Es ist mein Bruder.
»Hey, Rob, wie läuft’s?«
Er verschwendet keine Zeit mit Höflichkeiten. »Ist Zac bei euch?«
»Zac? Nein. Ist er nicht …?«
»Hat er nicht bei euch geschlafen?«
»Nein. Stimmt etwas nicht?«
Unsere Söhne standen sich immer schon nahe, sind zusammen aufgewachsen, auf dieselben Schulen gegangen und spielen im selben Fußballteam. Connor, der verlässliche Verteidiger, solide, ernst und keinem Zweikampf abgeneigt. Sein Cousin Zac der wieselflinke Stürmer, schnell und technisch versiert, mit einem Riecher für sich ergebende Torchancen. So unterschiedlich die beiden sind, sie gehören zusammen wie zwei Seiten einer Medaille. Sie sind – auch dem Aussehen nach – wie Geschwister. Nur ohne die Streitereien.
»Das heißt, du hast ihn heute noch gar nicht gesehen?«, fragt mein Bruder. »War er nicht bei euch?«
»Er und Connor waren gestern Abend zusammen unterwegs, aber ich habe Zac heute noch nicht gesehen, nein.«
»Scheiße«, murmelt Rob leise.
Unbehagen steigt in mir hoch. »Was ist denn los?«
Ich höre, wie mein Bruder am anderen Ende der Leitung tief Luft holt und sie zitternd wieder entweichen lässt.
»Zac ist vergangene Nacht nicht nach Hause gekommen.«
Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, was Rob gerade gesagt hat. Wir sind weniger als zwei Jahre auseinander, und ich habe immer zu ihm aufgesehen. Er ist mein ruhiger, verlässlicher älterer Bruder, der Fels in der Brandung, der immer für mich da ist. Aber jetzt klingt seine Stimme tonlos, und er redet so schnell, dass er sich beinahe verhaspelt.
»Hast du’s auf dem Handy probiert?«
»Hältst du mich für blöd, oder was?«, schnauzt er, und die Spannung ist selbst durchs Telefon beinahe greifbar. »Er hat gestern geschrieben, dass sie vielleicht noch am Beacon Hill feiern, aber jetzt klingelt es nur, und niemand geht ran. Als ich heute Morgen aufgestanden bin, waren seine Schuhe nicht da. Ich bin in sein Zimmer, aber das Bett war leer und unberührt. Wann ist Connor nach Hause gekommen?«
Ich überlege, was meine Frau gesagt hat. »Um zwölf.« Ich räuspere mich. »Wie vereinbart.«
»Hat er etwas über Zac gesagt?«
»Ich habe ihn heute noch nicht gesehen.« Ich überlege, ob irgendetwas, was letzte Nacht oder heute Morgen passiert ist, einen Aufschluss über den Verbleib meines Neffen geben könnte. »Ich sage Laura, dass sie Connor wecken und ihn fragen soll. Er taucht sicher wieder auf, Rob. Wahrscheinlich ist er bei jemandem untergekommen und hat vergessen, dir zu schreiben.«
»Ich habe es bei einigen Eltern versucht, aber es hat ihn niemand gesehen. Hast du die Nummern von Isaacs Dad und Wills Mum?«
Ich halte an einer Bushaltestelle. »Laura hat sie vermutlich. Ich sage ihr, dass sie dir die Nummern schicken soll.«
»Ich fahre zum Beacon Hill und sehe mich um.«
»Wir können uns dort treffen, ich bin gerade …«
Doch er hat bereits aufgelegt.
Ich rufe meine Frau an, aber niemand geht ran. Als auch der zweite Versuch erfolglos bleibt, fällt mir ein, dass sie ja duschen wollte. Ich hinterlasse ihr eine Nachricht und bitte sie, sich unter den Eltern umzuhören und Rob die Telefonnummern zu schicken.
»Ich bin am Beacon Hill, um ihm zu helfen. Ruf an, wenn du das hörst. Und weck Connor. Vielleicht weiß er etwas.«
Ich lege auf, wende und mache mich auf den Weg zum Beacon Hill. Als ich die Hauptstraße verlassen habe, geht es eine von Schlaglöchern übersäte Straße am Friedhof vorbei nach oben, wo ich schließlich neben dem schlammbespritzten Mazda meines Bruders parke und die Hunde aus dem Kofferraum lasse. Ich führe sie an der langen Leine, und nach einigen Hundert Metern verlassen wir den asphaltierten Weg und wandern einen ausgetretenen Pfad entlang über ein Weizenfeld. Die hüfthohen Ähren wogen sanft im Wind. Am anderen Ende befindet sich der Eingang zum Wald am Beacon Hill, wo sich die Stämme alter, gewaltiger Eichen, Eschen und Buchen in den blauen Sommerhimmel recken.
Am Eingang teilt sich der Weg. Ein Teil verläuft geradeaus, der andere geht nach links. Ich entscheide mich für die direkte Variante, und die Hunde huschen vor mir von Baum zu Baum. Es ist kühl und ruhig hier oben, nur ab und zu ist hoch in den Bäumen eine Drossel zu hören. Der Pfad besteht lediglich aus festgetretener Erde, und schon nach wenigen Schritten fühlt man sich wie in einer anderen Welt, weit weg von der Stadt, den Straßen, den Häusern – und von der Normalität. Vermutlich gefällt es den Jugendlichen deshalb so gut hier.
Ich befinde mich bereits tief im Wald, als ich meinen Bruder entdecke.
Er ist neben dem Weg in die Hocke gegangen und stochert in einem abgebrannten Lagerfeuer herum, das immer noch raucht und in dessen Mitte ein dicker Ast steckt, der noch nicht abgebrannt ist. Äste knacken, als ich mich nähere, und er fährt hoch und zu mir herum.
»Hey, Rob«, begrüße ich ihn. »Hast du schon etwas von Zac gehört?«
Er schüttelt den Kopf. »Noch nicht. Hast du mit Connor geredet?«
»Er hat tief und fest geschlafen, als ich weg bin, aber Laura weckt ihn und telefoniert mit den anderen Eltern. Hast du es schon bei den Leuten aus dem Fußballverein versucht?«
»Ich habe es bei allen versucht, die mir eingefallen sind.«
Er wendet den Blick ab und beißt die Zähne aufeinander. Er versucht, stark zu sein, doch seine Stirn ist sorgenvoll gerunzelt, die Augen sind hinter einer Sonnenbrille verborgen, und er hat sich nicht rasiert. Wir sind keine sehr gefühlsbetonte Familie, trotzdem lege ich ihm eine Hand auf die Schulter und drücke sie.
»Es wird alles gut, Rob«, versichere ich ihm. »Ehe du dich versiehst, ist er wieder zu Hause und futtert den Kühlschrank leer. Und du musst mir versprechen, ihm keine große Szene zu machen, okay?«
»Okay«, antwortet er mit belegter Stimme. Seine Schultermuskeln sind zum Zerreißen gespannt.
»Vielleicht schläft er bei einem Freund seinen Rausch aus? Oder bei einem Mädchen?«, überlege ich laut.
»Hat Connor etwa erwähnt, dass Zac eine Freundin hat?«
»Ich wäre der Letzte, mit dem er über so etwas spricht.«
»Ebenfalls. Er macht sofort zu, wenn ich etwas in diese Richtung wissen will.« Rob sieht in die Bäume hoch. »Hat er mal von einer Emily Ruskin gesprochen?«
Ich folge seinem Blick. »Der Name kommt mir bekannt vor. Warum?«
»Zac hat neulich von ihr gesprochen, aber ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang. Hast du die Nummer ihrer Eltern?«
Ich schreibe meiner Frau eine Nachricht und leite die Frage an sie weiter. Sie ist viel besser vernetzt, was die Schulbekanntschaften unserer Kinder betrifft. Danach lasse ich die beiden Hunde von der Leine. Toffee zischt sofort schnüffelnd und schwanzwedelnd ins Unterholz, während Chester in meiner Nähe bleibt und aufmerksam nach Eichhörnchen Ausschau hält. Mein Bruder und ich kehren auf den Weg zurück und begeben uns hintereinander immer tiefer in den Wald. Wir suchen nach Hinweisen wie leeren Flaschen oder Dosen, die Teenager eventuell nach einer Party hiergelassen haben.
»Glaubst du wirklich«, frage ich Rob, »dass Zac die ganze Nacht hier draußen war?«
Mein Bruder zuckt mit den Schultern. »Es ist warm, die Nacht kurz und die Schule vorbei.«
»Schon klar, aber hätte er dir nicht zumindest Bescheid gegeben?«
Mein Bruder nimmt die Sonnenbrille ab und putzt sie gedankenverloren mit dem Saum seines T-Shirts, und ich erkenne erst jetzt, wie abgekämpft er aussieht. Er hat dunkle Ringe unter den blutunterlaufenen Augen und ist trotz des schönen Wetters kalkweiß. Er sieht aus, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen.
Er setzt die Sonnenbrille wieder auf und blickt in die Bäume. »Er war schon einmal hier«, sagt er. »Im April.« Er muss nicht weiterreden, ich verstehe ihn auch so.
Im April. Nach der Beerdigung.
»Über Nacht?«, frage ich leise.
Mein Bruder nickt mürrisch.
»Er hat sich mit Ästen und Zweigen eine Art Verschlag gebaut, dazu ein Messer, einen Schlafsack und etwas zu essen mitgenommen. Um vier Uhr morgens war er schließlich wieder da. Durchnässt und halb erfroren. Ich habe ihm die Hölle heißgemacht, und am Ende haben wir einander angeschrien. Er wollte alleine sein, wo ihn niemand finden kann. Ich dachte, vielleicht …« Er schluckt und ballt die Hände zu Fäusten. »Seit er seine Mum verloren hat, ist er nicht mehr derselbe, Andy. Er redet nicht mit mir und tut, als könnte ihm nichts etwas anhaben. Ich habe keine Ahnung, wie ich zu ihm durchdringen kann.«
»Hast du an der Stelle nachgesehen, wo er damals seinen Unterschlupf gebaut hat?«
Mein Bruder nickt langsam. »Da war nichts.«
»Wir finden ihn, das verspreche ich dir.«
»Was, wenn er nicht gefunden werden will?« Er senkt die Stimme, als hätte er Angst, die Worte laut auszusprechen. »Er könnte überall sein.«
»Hast du es mit dieser Handyortungsapp versucht? Damit kann man sofort den Standpunkt des Geräts feststellen. Ich habe sie schon ein- oder zweimal bei Connor benutzt.« Ein- oder zweimal. Oder vielleicht auch öfter.
»Er hat die Ortungsfunktion abgeschaltet. Er fand es freaky, dass ich immer genau weiß, wo er ist. Als wäre ich ein Stalker.«
Ich würde ihn gerne mit Floskeln beruhigen, aber mir ist klar, dass er so etwas nicht will. Er will einfach seinen Sohn zurück. Genau wie ich, wenn ich in seiner Situation wäre.
Wir gehen weiter und rufen dabei Zacs Namen.
»Nachts ist es doch sicher stockdunkel hier«, murmle ich.
»Ich glaube, genau das macht den Reiz aus.« Rob deutet auf eine weitere erloschene Feuerstelle neben dem Weg. »Aber sie haben Feuer gemacht. Und vermutlich ihre Handytaschenlampen benutzt.«
Toffee kommt mit einem Ast aus dem Unterholz, der beinahe doppelt so groß ist wie er selbst. Er legt ihn vor meinem Bruder ab und setzt sich hechelnd. Rob bricht ein kleineres Stück ab und wirft es, woraufhin Toffee sofort wieder losflitzt.
»Ich mache mir Sorgen, Andy. Was, wenn er etwas Dummes angestellt hat?«
Ich greife nach meinem Handy. »Sollen … sollen wir die Polizei rufen?«
»Nein«, erwidert er schnell. »Noch nicht.«
»Dann sehen wir uns noch weiter hier um, okay? Und anschließend überlegen wir, wie wir weitermachen.« Ich deute den Weg entlang. »Du gehst am besten da lang und den Hügel hinauf. Und ich gehe hier lang, dann treffen wir uns am Ende ganz oben.«
»Klingt gut.«
Er macht sich auf den Weg und beginnt schon nach wenigen Schritten, erneut den Namen seines Sohnes zu rufen.
»ZAC!«
Seine tiefe Stimme hallt durch den Wald, wird immer leiser und verklingt irgendwann zwischen den Bäumen.
Wenig später finde ich den Schlüssel.
Der Weg teilt sich, und ich gelange auf eine Lichtung. Zwei Holzstämme liegen einander gegenüber, dazwischen entdecke ich mehrere Dosen und Flaschen. Chester trottet hinüber und riecht an der Asche eines weiteren Feuers, in der auch verkohlte Stofffetzen zu erkennen sind. Es ist schon lange eine inoffizielle Tradition, dass die Schüler und Schülerinnen nach Erreichen der Mittleren Reife am letzten Schultag hierherkommen, die Jacken ihrer Schuluniformen ins Feuer werfen und zusehen, wie der dunkelblaue Stoff in Flammen aufgeht.
Es grenzt an ein Wunder, dass sie nicht schon vor Jahren den ganzen Wald abgefackelt haben.
In einiger Entfernung ruft mein Bruder wieder den Namen seines Sohnes. Ich verlasse die Lichtung, schlage mich durch den Wald in seine Richtung und beginne ebenfalls zu rufen.
Toffee bricht erneut schwanzwedelnd aus dem Unterholz und legt einen Stock vor meinen Beinen ab. Er sieht hechelnd zu mir hoch, nach unten auf den Stock und wieder zu mir.
Ich greife nach dem Holzstück, und in diesem Moment fällt mein Blick auf einen roten Gegenstand neben einem Baumstamm, der teilweise von Brennnesseln und violetten Wildblumen verdeckt wird. Es ist ein Schlüsselanhänger in der Form eines Fußballshirts von Manchester United, an dem zwei normal große und zwei kleinere Schlüssel befestigt sind, wie sie etwa zu einem Vorhängeschloss oder einer Schreibtischschublade passen.
Ich nehme den Schlüsselbund an mich und sehe mich um, ob noch etwas herumliegt. Dann werfe ich den Stock für Toffee und gehe weiter.
Connor hat einen Schlüsselanhänger von ManU, und er verliert ihn ständig. Aber warum sollte er ausgerechnet hier sein? Und wie, zum Teufel, ist er gestern Nacht ohne Schlüssel ins Haus gekommen?
Ich finde meinen Bruder auf einer weiteren kleinen, von alten Eichen umschlossenen Lichtung. Er hockt auf dem Boden und hat mir den Rücken zugewandt. Als er mich hört, steht er eilig auf.
»Hast du etwas gefunden?«, fragt er hoffnungsvoll.
Ich strecke ihm den Schlüsselbund entgegen. »Der lag neben dem Weg.«
Rob nimmt ihn mir ab.
»Ich glaube, er gehört Connor«, fahre ich fort. »Keine Ahnung, wie er gestern Abend …«
»Das ist Zacs Schlüsselbund«, unterbricht mich mein Bruder mit tonloser Stimme.
»Sicher?«
Er nickt. Er dreht das rote Shirt, um den Spielernamen und die Nummer zu lesen. »Connor hat Bruno Fernandes. Zac hat Marcus Rashford, weißt du nicht mehr? Sie diskutieren doch ständig, wer besser ist.«
Immer wieder wird mir der seltsame Umstand bewusst, wie sehr das Verhältnis zwischen Connor und Zac dem Verhältnis zwischen mir und meinem älteren Bruder ähnelt. Rob war immer der talentiertere Sportler, selbstbewusster, offener und beliebter bei den Mädchen. Und auch wir haben darüber diskutiert, welche Spieler besser sind. Zac und Connor sind nur einen Monat auseinander und nicht zwei Jahre, aber es scheint, als hätten wir die Dynamik an unsere Söhne weitervererbt.
Rob wischt etwas Erde von dem Schlüsselanhänger. »Wie hätte er ohne seinen Schlüssel ins Haus kommen sollen?«, fragt er leise.
In diesem Moment sehe ich, dass Rob auch etwas in der anderen Hand hält. Es scheint sich um ein weiches weißes Stoffstück zu handeln. Ich deute darauf. »Was ist das?«
Er öffnet die Hand beinahe zögernd und hält das Stoffstück hoch. Es ist ein dünnes weißes Oberteil, eine Art bauchfreie Strickweste, die sicher nicht wärmt, unpraktisch aussieht und vermutlich einem Teenagermädchen gehört. Der ehemals weiße Stoff ist schmutzig und zerknittert, auf einem Ärmel und am Rücken sind rötlich braune Schmieren zu sehen.
»Das habe ich dort hinten gefunden.« Rob deutet auf einen dicken Baumstamm am Rand der Lichtung.
»Das könnte schon seit Wochen hier rumliegen, Rob«, erkläre ich. »Oder sogar schon seit Monaten.«
»Riech mal dran«, sagt er leise.
»Wie bitte?«
»Mach schon.«
Ich zögere einen Moment, dann senke ich den Kopf und schnuppere. Ein intensiver, frischer Duft nach Beeren, Vanille und weißem Moschus steigt mir in die Nase. Er ist noch nicht alt, und er kommt mir irgendwie bekannt vor.
»Das riecht noch frisch, oder?«, fragt Rob. »Vermutlich von letzter Nacht. Vielleicht hattest du recht, und Zac ist mit einem Mädchen nach Hause gegangen.«
Ich lächle beruhigend. Er klammert sich an Strohhalme, aber es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um ihn darauf hinzuweisen. »Wo auch immer er ist, wir finden ihn bald.«
Er blickt in den Wald, als könnte sein Sohn jeden Moment daraus hervortreten. Dann steckt er das Oberteil in die Tasche seiner Cargo-Shorts und wirft einen neuerlichen Blick auf sein Handy.
»Du solltest nach Hause«, beschließe ich. »Zac könnte längst dort sein und auf dich warten.«
»Es gibt noch einen Ort, wo ich nachsehen möchte.«
Wir kehren zu unseren Autos zurück, und ich folge ihm mit meinem Wagen in die Stadt, wo wir die Hauptstraße entlangkriechen und nach Zac Ausschau halten. Einmal tritt Rob derart abrupt auf die Bremse, dass ich beinahe in seinen Kofferraum krache, doch die Jugendlichen vor dem Supermarkt sind zu jung. Wir fahren weiter zu McDonald’s, parken und betreten den Laden ohne ein weiteres Wort. Es ist genauso viel los wie immer, und wir lassen die Blicke über die jungen Familien, Pärchen, Mädchengruppen und den einen oder anderen jungen Mann schweifen wie zwei Kaufhausdetektive auf der Jagd nach einem Ladendieb.
»Ich dachte echt, er wäre hier«, murmelt Rob. »Er hat gefühlt sein halbes Leben hier verbracht.«
»Fahren wir doch zurück zu dir, und …«
Er geht mit großen Schritten auf einen Tisch zu, an dem vier Mädchen im Teenageralter sitzen. Sie lachen laut, halten die Handys in den Händen und trinken Diätcola. Rob zeigt ihnen sein Handy, und die Belustigung auf ihren Gesichtern weicht Misstrauen und schließlich Schock, als er es einem Mädchen nach dem anderen vor die Nase hält. Sie schütteln alle den Kopf.
Ich stelle mir Connors Reaktion vor, wenn ich als Mann mittleren Alters auf eine Gruppe Mädchen zuginge, ihnen ein Bild von ihm zeigte und fragte, ob sie meinen Jungen gesehen hätten. Solche Dinge verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Aber eine brodelnde Gerüchteküche kümmert meinen Bruder scheinbar nicht mehr.
»Die waren im selben Jahrgang«, erklärt er mir, während er die schwere Glastür öffnet, um nach draußen zu treten. »Aber sie haben ihn nicht gesehen.«
Wir fahren zu ihm nach Hause, und er sprintet die Einfahrt hoch und stürzt ins Haus, wo er sofort mit hoffnungsvoller Stimme nach seinem Sohn ruft.
»Zac?« Rob tritt an den unteren Treppenabsatz und ruft erneut.
Es kommt keine Antwort.
Ich bleibe im Flur, während er eilig sämtliche Räume im Erdgeschoss absucht und nicht einmal die Toilette auslässt. Dann läuft er nach oben, und ich höre seine polternden Schritte über mir. Das Haus fühlt sich leer an – und das schon seit einer ganzen Weile. Es ist zu groß für die beiden, wie ein übergroßer Mantel auf zu schmalen Schultern. Rob hat es zwar noch nicht angesprochen, aber ich weiß, dass er sich insgeheim vor dem Tag fürchtet, wenn Zac zur Uni geht und er alleine zurückbleibt. Auf dem Schuhregal stehen die Schuhe meines Bruders neben den um zwei Nummern größeren Schuhen seines Sohnes, doch die linke Seite ist leer. Die Schuhe meiner verstorbenen Schwägerin haben eine Lücke hinterlassen, die nicht gefüllt werden kann.
Ich betrachte das gerahmte Bild auf dem Fensterbrett, auf dem Rob, Vanessa und Zac in die Kamera lächeln. Vater und Sohn haben die Mutter in die Mitte genommen. Es wurde an Vanessas fünfundvierzigstem Geburtstag im vergangenen Jahr gemacht. Auf dem Tisch vor ihnen stehen Gläser, Teller und eine Flasche Sprudel. Es war, bevor sie krank wurde. Vor den Behandlungen.
Vor der Chemo, den Bestrahlungen, den Operationen und dem unaufhaltsamen Voranschreiten der Krankheit, die sie von innen aufgefressen hat.
Rob tritt zurück auf die Treppe und sieht, wie ich das Foto betrachte. »Irgendetwas gefunden?«, frage ich.
Er schüttelt den Kopf und kommt frustriert nach unten. Sein Blick huscht von seiner Uhr zu seinem Handy und hinaus in die Auffahrt, wobei er stets darauf achtet, dass er nicht auf das Foto fällt.
Ich deute in Richtung Küche. »Hör mal, wieso gehen wir nicht …«
»Ich schaffe das nicht«, platzt es aus ihm heraus. »Ich ertrage das nicht. Nicht jetzt. Nicht nach allem, was passiert ist.«
Ich lege eine Hand auf seinen Arm und drücke ihn sanft. »Wir werden ihn finden.«
»Er ist alles, was ich noch habe, Andy«, sagt er mit kalkweißem Gesicht. »Ich kann ihn nicht auch noch verlieren.«
Rob starrt geradeaus und blinzelt mehrmals hintereinander. Er kann mir nicht in die Augen sehen und scheint genauso überrascht wie ich über das, was er gerade gesagt hat. Als wäre ein Damm in seinem Inneren gebrochen. Er hat seine schlimmste Angst in Worte gefasst.
»Hör mal.« Ich ziehe ihn in eine ungelenke Umarmung, seine Arme hängen zu beiden Seiten herab. »Du wirst ihn nicht verlieren. Wir werden ihn nicht verlieren, das verspreche ich dir. Setzen wir uns doch eine Minute lang hin und legen uns einen Plan zurecht.«
Wir gehen in die Küche, und ich reiche ihm ein Glas mit kaltem Wasser. Er hält es gegen die Brust gedrückt, als wüsste er nicht so recht, was er damit anfangen soll.
»Trink«, fordere ich ihn auf. »Und du musst auch etwas essen.«
Ich bestreiche mehrere dicke Scheiben Toast mit Butter und Marmite – die braune Gewürzpaste ist laut unserer Mum einfach das beste Trostessen der Welt –, während er mir alles erzählt, was er über letzte Nacht weiß. Ich hole Stift und Papier, um alle Leute aufzuschreiben, mit denen er bereits gesprochen hat. So können wir besser überlegen, wer noch etwas wissen könnte.
Ich lehne an der Arbeitsplatte, scrolle durch mein Telefonbuch am Handy und nenne Namen, die er notiert. Als Nächstes folgt eine Liste mit Orten, an denen Zac stecken könnte. Parks, Sportstätten und Plätze, wo er sich im Sommer gerne mit Freunden trifft.
Während wir arbeiten, höre ich die ganze Zeit über eine leise Stimme in meinem Kopf, deren Worte ich nicht ganz verstehe. Es ist wie ein Jucken, an das man nicht rankommt.
Connor, der das Licht auf der Veranda anlässt.
Arthurs Bemerkung. Er schläft heute vermutlich länger, nehme ich an. Nachdem er gestern so spät nach Hause gekommen ist? Ist Mitternacht tatsächlich so spät? Vielleicht, wenn man achtundachtzig ist.
»Ich verstehe einfach nicht, warum Connor nicht bei ihm ist«, meine ich schließlich und blinzle die Gedanken fort. »Sie machen doch sonst auch alles zusammen.«
Mein Bruder schüttelt den Kopf und kaut lustlos auf seinem Toast herum. »Vielleicht hatten sie Streit.«
»Die beiden? Niemals.«
Aber noch während ich es sage, wird mir klar, dass es gar nicht so unwahrscheinlich ist. Sie sind in diesem Jahr schon einmal aneinandergeraten und haben sich sogar geprügelt, sodass Rob und ich sie voneinander trennen mussten. Beide hatten sich mit hochroten Gesichtern geweigert, sich zu entschuldigen, und behauptet, der andere habe angefangen. Doch nach einer Woche Abkühlungsphase schlossen sie plötzlich einen Waffenstillstand, und im nächsten Moment war alles wieder wie immer. Sie gingen zusammen zur Schule, spielten stundenlang X-Box und Fußball im Park, als wäre nichts passiert. Erst später gelang es Laura, unserem Sohn den Grund für den Streit zu entlocken. Offenbar ging es um ein Mädchen, in das einer der beiden verschossen war.
Rob ist anzusehen, dass er gerade ebenfalls daran denkt. »Ich frage mich, ob der Grund auch dieses Mal ein Mädchen ist«, sagt er und pult an der Haut um seinen Daumennagel, bis er zu bluten beginnt. Mir fällt auf, dass die Haut an sämtlichen Finger schorfig und entzündet ist. »Bist du sicher, dass Connor nie eine Emily Ruskin erwähnt hat?«
»Über solche Sachen redet er nicht mit mir, aber ich frage Laura.«
Ich schreibe ihr, und dieses Mal antwortet sie sofort.
Tut mir leid, war unter der Dusche. Ich klemme mich jetzt hinters Telefon. Connor hat nie eine Emily R erwähnt.
Ich bitte sie noch mal, Connor zu wecken, und sie schickt ein Daumenhoch. Ich will das Handy schon weglegen, da sehe ich, dass sie erneut schreibt.
Warte. Meinst du Cathy Ruskins Tochter?
Ich schreibe, dass ich mir nicht sicher bin, und stecke das Handy weg.
Mein Bruder versucht gerade, Zacs in einer roten Manchester-United-Hülle steckendes iPad zu entsperren, doch nachdem er einige Male das falsche Passwort eingegeben hat, ist das Gerät für fünf Minuten blockiert.
Er springt auf, geht zum Küchenschrank neben der Spüle und öffnet ihn. »Scheiße.« Er schließt langsam die Tür.
»Was ist los?«
»Da war eine zu zwei Dritteln gefüllte Wodkaflasche drin. Die ist jetzt weg.« Er schlägt mit der flachen Hand auf die Arbeitsplatte. »Dabei sage ich ihm immer, dass es mir lieber ist, er redet offen mit mir, als Dinge hinter meinem Rücken zu tun.«
»Zumindest weißt du, was er trinkt. Und es ist besser, als Drogen zu nehmen, nicht wahr?«
Ich erinnere mich noch, wie wir beide als Teenager nach unten geschlichen sind, wenn unsere Eltern Gäste zum Abendessen hatten. Wir haben immer die hintersten Flaschen aus dem Barschrank geholt, die nie jemand vermissen würde, und sie heimlich in unser Zimmer geschmuggelt. Ich versuchte, mit meinem Bruder mitzuhalten und nicht zu husten oder mich zu übergeben. Mum und Dad hatten keine Ahnung. Wie der Vater, so der Sohn.
Rob lutscht das Blut von seinem Daumen. »Vielleicht waren sie auf einer Party«, sagt er, und ich sehe wieder einen Hoffnungsschimmer in seinen Augen. »Bei irgendjemandem zu Hause. Vielleicht sogar in einer anderen Stadt? Du weißt schon, eine dieser Partys, die sie auf Facebook stellen, und plötzlich kommen wildfremde Leute, und alles ist gratis. Vielleicht versucht er immer noch, irgendwie nach Hause zu kommen.«
»Vielleicht.« Ich bin mir ziemlich sicher, dass Jugendliche im Alter unserer Söhne keinen Bock auf Facebook haben, aber ich bringe es nicht über mich, es ihm zu sagen. »Aber in diesem Fall hätte doch sicher einer seiner Freunde Bescheid gewusst, oder?«
Der Hoffnungsschimmer verblasst.
»Irgendetwas ist hier faul, Andy.«
Ich setze mich ihm gegenüber und reiche ihm ein Taschentuch für den blutenden Daumen. Mein Blick fällt auf ein Bild von Zac. Es ist das neueste Schulfoto, und er trägt eine blaue Jacke und ein weißes Hemd, dessen oberster Knopf offen steht. Die Krawatte sitzt nicht wirklich stramm, er lächelt peinlich berührt, und seine dunklen Haare fallen ihm in Locken in die Stirn, während sie an der Seite kurz geschoren sind. Auf dem Bücherregal in unserem Wohnzimmer steht ein beinahe identisches Foto von Connor.
»Rob, ich frage dich das jetzt einfach, weil du mein Bruder bist. Du bist meine Familie, genau wie Zac.«
»Was fragst du mich?«
»Zac hat doch nicht davon geredet, davonzulaufen, oder? Ich meine, abgesehen von der Nacht am Beacon Hill vor ein paar Monaten?« Als er den Kopf schüttelt, fahre ich leise fort: »Und er hat auch nie davon geredet … sich selbst zu verletzen?«
»Nein.« Sein Kopf fährt hoch. »Natürlich nicht. Das würde er niemals tun.«
Aber du dachtest auch, er würde niemals alleine eine Nacht fortbleiben, meint die Stimme in meinem Kopf.
»Ich wollte nur sichergehen.«
»Er würde so etwas niemals tun«, wiederholt Rob aufgebracht. »Nicht nach allem, was passiert ist. Nicht, nachdem wir seine Mum verloren haben.«
Ich sehe zu, wie er gedankenverloren seinen Daumen mit dem Taschentuch säubert. Wenn Vanessa – meine verstorbene Schwägerin – jetzt hier wäre, hätte sie bereits die gesamte Nachbarschaft mobilisiert, Millionen Nachrichten an Freunde, Kollegen, andere Mütter geschickt und alle aufgefordert, ihre Kinder zu wecken und in sämtlichen Gästezimmern, Badezimmern, Schuppen und Garagen nachzusehen, bis Zac aufgespürt und nach Hause zurückgekehrt wäre.
Ich schätze, das weiß mein Bruder ebenfalls, aber er hat die Dinge immer schon gerne selbst geregelt, anstatt andere um Hilfe zu bitten. Er fährt lieber kilometerweit im Kreis, anstatt seine Niederlage einzugestehen und nach dem Weg zu fragen. Also behält er es auch jetzt lieber im kleinen Kreis, als Fremde zu bitten, nach seinem verschollenen Kind Ausschau zu halten.
Was auch immer Laura zu Hause gerade auf die Beine stellt, mein Handy schweigt. Ich bekomme keine Nachrichten und habe immer noch nichts von Connor gehört.
»Hör mal«, beginne ich behutsam. »Wir haben alle angerufen, die uns eingefallen sind, wir waren am Beacon Hill, und Zac geht immer noch nicht ans Telefon. Vielleicht sollten wir wirklich die Polizei verständigen?«
Rob stößt die Luft aus und vergräbt das Gesicht in seinen Händen. Ginge es hier um Connor, hätte ich schon längst mit der Polizei telefoniert. Aber wie vorhin im Wald scheint mein Bruder seltsam zögerlich, wenn es darum geht, die nächste Stufe zu erklimmen. Als wäre es ein schlechtes Omen und würde die schlimmste Befürchtung bestätigen, die keiner von uns anerkennen will. Nicht einmal für eine Sekunde.
»Muss jemand nicht zuerst einmal vierundzwanzig Stunden verschwunden sein?«
»Das sollen die Polizisten entscheiden. Ich kann sie auch für dich anrufen, wenn du möchtest?«
Er sitzt eine gefühlte Ewigkeit zusammengesunken auf seinem Stuhl und reibt sich die roten Augen. »Nein«, sagt er schließlich, und seine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. »Ich mache das schon.«
Er wählt, und ich ziehe einen Stuhl neben ihn, um mitzuhören. Der Anruf wird nach dem ersten Klingeln von einer ausdruckslosen männlichen Stimme entgegengenommen.
»Notrufzentrale. Mit wem darf ich Sie verbinden?«
Mein Bruder räuspert sich. »Mit der Polizei. Bitte.«
»Einen Moment.«
Es folgt ein Klicken, dann meldet sich eine ältere Frauenstimme.
»Polizei. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Rob gibt ihr eine kurze Zusammenfassung: Er hat seinen Sohn zum letzten Mal um acht Uhr abends gesehen. Seitdem hat er nichts mehr von ihm gehört, und er ist auch nicht nach Hause gekommen. Es folgen eine Menge Fragen, die sie vermutlich schon viele Male gestellt hat.
Haben Sie bereits mit allen Freunden gesprochen?
Nein, noch nicht.
Hat Ihr Sohn das schon einmal getan?
Einmal.
Gibt es einen Grund zu der Annahme, dass sich Ihr Sohn in unmittelbarer Gefahr befindet?
Nein.
Besteht das Risiko, dass er sich oder andere verletzt?
Nein.
Benötigt Ihr Sohn dringend Medikamente oder andere medizinische Behandlungen, die ein sofortiges Handeln erfordern?
Nein.
Es folgt eine kurze Pause, in der nur das Klappern einer Tastatur zu hören ist.
»Hallo, sind Sie noch dran?«, will mein Bruder wissen.
»Ich verbinde Sie mit der örtlichen Dienststelle, einen Moment, bitte.«
Rob will etwas erwidern, doch es klickt erneut, und eine weitere Frauenstimme meldet sich. Sie klingt jünger, sehr bedacht und unaufgeregt. Rob versucht, sich die Frustration nicht anmerken zu lassen, als er alles noch einmal erzählt. Er schreitet gestikulierend in der Küche auf und ab, ehe er das Handy an mich weiterreicht. Die Frau am anderen Ende der Leitung bittet mich um meinen Namen, die Adresse und die Telefonnummer, und wieder ist das Klicken der Tastatur im Hintergrund zu hören.
»Ihr Bruder Rob Boyd hat angegeben, dass Ihr Sohn und Zachary letzte Nacht gemeinsam unterwegs waren?«
»Das ist korrekt.«
»Und wann ist Ihr Sohn nach Hause gekommen, Sir?«
Ich zögere. »Um Mitternacht.«
Es ist jetzt das dritte Mal, dass ich das jemandem versichere. Zuerst mir selbst, dann meinem Bruder und schließlich der Polizei. Dreimal habe ich bisher das weitergegeben, was ich für die Wahrheit halte, und jedes Mal gelingt es mir, mich ein wenig mehr davon zu überzeugen. Aber ich verspüre immer noch ein seltsames Unbehagen, während die Polizistin meine Angaben in ihren Computer eingibt, damit sie irgendwo im System abgespeichert werden können. Vermutlich, um nie wieder hervorgeholt und nach einer vorgegebenen Zeit gelöscht zu werden. Vielleicht wird man sie aber auch zu einem anderen Zeitpunkt lesen, analysieren und zum Teil eines offiziellen Berichts machen.
Ich habe dreimal etwas behauptet, das ich nicht mit Sicherheit weiß. Ich schüttle den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Es ist keine Lüge.
Die Frau am Telefon wiederholt ihre letzte Frage.
»Tut mir leid«, erwidere ich. »Aber wie war das?«
»Haben Sie bereits mit Ihrem Sohn gesprochen, Sir?«
»Noch nicht. Er schläft noch. Aber meine Frau weckt ihn gerade.«
Ich gebe Rob das Handy zurück. Er notiert die Fallnummer, unter der unsere Angaben im System gespeichert werden.
»Ich fahre nach Hause und rede mit Connor. Melde dich, sobald es Neuigkeiten gibt.«
Mein Bruder nickt. »Und du erzählst mir, was er sagt?«
»Sicher.« Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter. »Wir bekommen das hin, okay?«
Doch ich erhalte keine Antwort.
Ich bringe zuerst Chester nach Hause, dann trete ich mit Toffee durch das seitliche Gartentor und mache mich auf den Weg zum Haus. Laura sitzt auf der Bank neben der Hintertür und trägt ein pastellfarbenes Tanktop, Shorts und einen riesigen Strohhut, um die Augen vor der Sonne zu schützen. Sie telefoniert und bittet ihr Gegenüber, sich zu melden, falls er oder sie etwas höre.
Sie legt auf, als Toffee sich in den Schatten unter der Bank fallen lässt. »Gibt es was Neues?«
»Er ist nach wie vor nicht zu Hause. Rob hat die Polizei verständigt.«
»Wie geht es ihm?«
»Nicht gut.« Ich werfe einen Blick durch das Küchenfenster. »Was hat Connor gesagt?«
»Ich war die letzte halbe Stunde am Telefon. Ich habe nach ihm gerufen und gesagt, dass er nach unten kommen soll, aber er reagiert nicht. Ich versuche es gleich noch mal.«
»Ich mach das schon«, erkläre ich.
Ich gehe gerade durch den Wintergarten in die Küche, als die Treppenstufen knarren. Mein Blick fällt auf Connor in einem Hoodie, der viel zu warm für die Jahreszeit ist. Na endlich. Er hat mir den Rücken zugewandt und will zur Eingangstür.
»Ah, endlich bist du wach!«, rufe ich. »Ich muss mit dir reden.«