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»When I'm 33, I quit.« – Mick Jagger
Unaufhaltsam rocken, tanzen und posieren die Rolling Stones – wirklich Siebzigjährige oder ewig Dreißigjährige? Ihr Sound und ihre Einstellung scheinen lauter und einflussreicher denn je zu sein. Doch wie wurden die ultimativen Anti-Establishment-Außenseiter zu der globalen Marke, die wir heute kennen? Lesley-Ann Jones verfolgt die Entwicklung dieser widersprüchlichen Band von den Anfängen bis zur Gegenwart, wo die Stones mehr denn je mit den Werten, gegen die sie immer rebelliert haben, im Widerspruch zu stehen scheinen. In ihrem Buch zeigt sie die Stones, wie man sie noch nie gesehen hat.
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Cover & Impressum
Widmung
Kapitel eins Karma
Kapitel zwei Joner
Kapitel drei Mick ’n’ Keef
Kapitel vier Drum ’n’ Bass
Kapitel fünfGerangel
Kapitel sechsGlanz und Gloria
Kapitel siebenReaktion
Kapitel achtMarianne
Kapitel neunAnita
Kapitel zehnRedlands
Kapitel elfMouche
Kapitel zwölfChristopher Robin
Kapitel dreizehnAltamont
Kapitel vierzehnExil
Kapitel fünfzehnKrise
Kapitel sechzehnMoloch
Kapitel siebzehnMandy
Kapitel achtzehnClíodhna
Kapitel neunzehnResonanz
Kapitel zwanzigSo Long
Wurzeln
Aus der Zeit gefallen
Die Dreißigerjahre
Die Vierzigerjahre
Die Fünfzigerjahre
Die Sechzigerjahre
Die Siebzigerjahre
Die Achtzigerjahre
Die Neunzigerjahre
Die Nullerjahre
Die Zehnerjahre
Die Zwanzigerjahre
Die Frauen der Stones
Papa was a Rolling Stone
Anführung, Abführung
Bildteil
Ausgewählte Bibliografie
Empfohlen
Danksagung
Bildnachweis
Stichwortverzeichnis
Anmerkungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Register
Im Gedenken an:
Christopher Robin Milne, 1920–1996
Ahmet Ertegun, 1923–2006
Ronald Schatt: Ronnie Scott, 1927–1996
Giorgio Sergio Alessandro Gomelsky, 1934–2016
Ian Andrew Robert Stewart: »Stu«, der »sechste Stone«, 1938–1985
Charles Robert Watts: Charlie Watts, 1941–2021
Lewis Brian Hopkin Jones: Brian Jones, 1942–1969
Jimmy Miller, 1942–1994
Anita Pallenberg, 1942–2017
Robert Henry Keys: Bobby Keys, 1943–2014
Roger Scott, 1943–1989
Nicholas Christian »Nicky« Hopkins, 1944–1994
Richard Roman Grechko: Ric Grech, 1945–1990
Ian Patrick McLagan, 1945–2014
William Everett Preston: Billy Preston, 1946–2006
James Aaron »Jim« Diamond, 1951–2015
Meredith Curly Hunter, 1951–1969
James »Jimmy« McCulloch, 1953–1979
David Bolton, 1956–2020
Laura »Luann« Bambrough: L’Wren Scott, 1964–2014
Gavin Thomas Martin, 1961–2022
Tara Jo Jo Gunne Richards, 1976–1976
Judy Elizabeth Totton, 1952–2021
»Ihre Rätselhaftigkeit macht sie lebendig. Magie darf nicht ans Tageslicht.«
Walter Bagehot, 1826–1877
»Ein neuer Trupp von Pierrots, die ›Rolling Stones‹, trat gestern in der Queen’s Hall in Erscheinung. Ihre Darbietung bezeichnet sich als ›eine Reihe pierrotischer Fantasien‹. Hauptsächlich sind diese wohl für Kinder bestimmt, wobei das eine oder andere darin Kinder durchaus verwundern und deren Eltern nicht wenig beunruhigen dürfte. Das Programm enthält ein Dutzend Dinge, von denen die Hälfte darauf abzielt, den besten Kindern Vergnügen zu bereiten, während die anderen eher zur Belustigung kultivierter, älterer Männer geeignet sind. Viele der anspruchsvolleren Dinge sind äußerst klug, und allesamt sind amüsant. Die einzige Kritik ist, dass sie irgendwie nicht im richtigen Programm gelandet zu sein scheinen.«
The Times, 28. Dezember 1921
»Allmählich wird es langweilig, gefragt zu werden, ob die nächste die letzte Stones-Tour ist. Das werde ich seit 1964 gefragt.«
Mick Jagger
»Fünf Saiten, drei Töne, zwei Finger, ein Arschloch, mehr braucht man nicht.«
Keith Richards
»Die westliche Zivilisation hat psychisch gesehen aus so vielen von uns Schwächlinge gemacht.«
Brian Jones
»Ich habe lange vor dem Rock ’n’ Roll Musik gehört.«
Bill Wyman
»Mir fällt es schwer, alt zu werden und Nein zu sagen.«
Ronnie Wood
»Dafür sind wir berühmt. Wir machen weiter … komme, was wolle. Als Band sind wir eigentlich furchtbar. Aber wir sind die älteste. Das ist doch auch ein Verdienst, oder? Der einzige Unterschied zwischen der Westminster Abbey und uns ist, dass wir nicht für Hochzeits- und Krönungsfeiern zur Verfügung stehen.«
Charlie Watts
Samstag, 5. März 2016
Die Braut mit den hellen Augen strahlt und wirkt triumphal, sie trägt das kühle Blau einer Eiskönigin bei Disney. Das Kleid aus Seide und Tüll, eine Sonderanfertigung von Vivienne Westwood im Wert von achttausend Pfund, umschmeichelt ihre im klassischen Sinne schöne Figur. Auf flachen silberfarbenen Pumps von Roger Vivier, die sie wählte, um ihren kleineren Ehemann nicht zu überragen (sonst bevorzugt sie hohe Schuhe von Manolo Blahnik), gleitet sie am Arm ihres Sohnes über den Marmorboden des Kirchenschiffs zum Altar.
Ihr Kopf nickt wie der eines Wackeldackels auf der Hutablage. Ihr gelbliches Haar fällt locker unter dem feinen Netzschleier. Sie hat noch nie großen Wert auf die Hilfe von Visagisten gelegt und sich auch heute wieder selbst geschminkt. Sie lächelt breit, Lachfältchen zeigen sich, ihr mattfarbener Preiselbeermund rahmt ihre leicht schiefen Schneidezähne, die sie nie richten ließ. Mit einem weißen Brautstrauß in der Hand schwebt sie so dicht an mir vorbei, dass ich ihre Zahnpasta riechen kann. Ihr Verlobungsring glitzert betörend. Der riesengroße Stein, ein Marquise-Diamant[1] mit zwanzig Karat im Wert von lässigen 2,8 Millionen Pfund, wirkt ein bisschen zu groß an ihrem Finger und ist zur Seite gerutscht.
Eigentlich findet hier keine Hochzeit statt. Die Ehe wurde bereits am Vortag in Spencer House[2] geschlossen, im Anschluss daran speiste man nobel bei Scott’s of Mayfair. Heute hat man sich hier versammelt, um der Segnung des ehelichen Bundes zwischen dem bereits dreimal verheirateten, vierundachtzigjährigen Medienmogul Rupert Murdoch[3] und der ein Vierteljahrhundert jüngeren, ehemaligen Rockstar-Freundin Jerry Faye Hall beizuwohnen.
Da alle vier gemeinsamen Kinder von Jerry Hall und Mick Jagger anwesend sind, lassen sich ringsum zwar Gesichter erkennen, die starke Ähnlichkeit mit den Zügen des Rockstars aufweisen, doch Jerrys größte Liebe lässt sich erwartungsgemäß nicht persönlich blicken. Umso pikanter wirkt der elegante Auftritt seiner ersten und einzigen Ehefrau Bianca, die er einst wegen des langbeinigen texanischen Supermodels verließ, das heute vor den Altar tritt. Micks Ex-Frauen haben ihre Differenzen längst begraben und sind eng befreundet.
Wen haben wir noch? Ungefähr einhundert geladene Gäste, darunter Kabinettsmitglied Michael Gove und seine Frau, die Kolumnistin Sarah Vine; Star-Fotograf David Bailey, der mit Turnschuhen, karierter Jacke und einer Wollmütze sehr leger gekleidet erscheint, er wird den Clan im Verlauf der Veranstaltung fotografieren; Rebekah Brooks, die berüchtigte ehemalige Redakteurin der News of the World und der Sun, inzwischen Vorsitzende von MurdochsBritish Newspapers, die im Zusammenhang mit den Ermittlungen zum News-International-Skandal eine sehr fragwürdige Rolle spielte, wirkt matronenhaft am Arm ihres Ehemannes Charlie; Sir Michael Caine und seine wunderbare Frau Shakira, Lord Lloyd Webber und Lady Madeleine, Bob Geldof und Jeanne Marine, die Künstlerin Tracey Emin (berühmt für ihr ungemachtes Bett) und der Bühnenschriftsteller Tom Stoppard. Außerdem Karis Hunt Jagger, Micks Tochter mit der Schauspielerin Marsha Hunt, deren Vaterschaft Mick lange abgestritten, schließlich aber doch anerkannt und so sparsam wie möglich für ihren Unterhalt gesorgt hatte. Sie ist bildschön.
Brautjungfern? Gleich ein ganzer Schwarm. Auftritt der Töchter in unterschiedlichen Blautönen. Dear Prudence, Murdochs älteste Tochter, trägt ein elegantes Petrol. Seine zweite Tochter Elisabeth erstrahlt glockenblumenfarben. Micks dritte Tochter Lizzy, die erste mit Jerry, in Azur. Ihre Schwester Georgia May in Rittersporn. Die Blumenmädchen Chloe und Grace, Ruperts Töchter mit seiner letzten Verflossenen Wendi Deng, erscheinen in züchtigem Himmelblau.
Schauplatz ist die St. Bride’s Church, die Kirche mit dem an eine Hochzeitstorte erinnernden Turm aus fünf übereinandergesetzten Oktogongeschossen am Ende der Fleet Street, unweit des Ludgate Circus, seit 1703 ein vertrautes Markenzeichen der Londoner Skyline. Nach wie vor ist hier die geistige Heimat der britischen Medien, auch wenn die Zeitungsbranche bereits vor dreißig Jahren abgewandert ist. Ich erinnere mich noch gut daran. Damals arbeitete ich für die Daily Mail als Musik- und Showbiz-Journalistin in der sogenannten »Street of Shame«. Rupert Murdoch, der heute über achtzigjährig heiratet, war für die Verlagerung verantwortlich. Er wollte einen Teufel tun und sich von überholten Druckergewerkschaften erpressen lassen, weshalb er, gestärkt durch Margaret Thatchers gewerkschaftsfeindliche Politik, kurzerhand sechstausend streikende Drucker entließ und Hunderte von Journalisten auf die Straße setzte, die sich weigerten, seine technischen Neuerungen zu übernehmen. Anschließend verlegte er den Hauptsitz seiner Zeitungen – TheSun,The Times, The Sunday Times und die inzwischen eingestellte News of the World – in die Docklands. Wapping wurde zum Epizentrum erbitterter Auseinandersetzungen, die 1986 schließlich zu Massendemonstrationen, blutigen Aufständen, dem gewaltsamen Tod eines jungen Arbeiters und einer vernichtenden Niederlage der Gewerkschaften führten. Innerhalb von zwei Jahren folgten die meisten überregionalen Zeitungen seinem Beispiel, verlegten ihre Stammhäuser in günstigere Bezirke und stellten die Produktion auf Computertechnologie um.
Zuvor war die Fleet Street knapp dreihundert Jahre lang das Mekka der schreibenden Zunft gewesen. Vor der Erfindung der Fernsehnachrichten, des Internets und der sozialen Medien gelangten neunzig Prozent aller Informationen über Zeitungen an die Öffentlichkeit. Dank Murdochs Maßnahmen wurde unser lebendiges Zentrum eingedampft, der Schmelztiegel unserer Träume, die wir alle mit dem Wunsch aufgewachsen waren, Journalisten zu werden.
Man mag es allen, die sich noch daran erinnern, nachsehen, wenn sie sich fragen, woher Murdoch die Frechheit nimmt, sich an diesem heiligen Ort – der wahlweise auch »Journalisten-Kirche«, »Kathedrale der Fleet Street« oder »Pfarrkirche des Journalismus« genannt wird – blicken zu lassen. Einige empfinden es als »dreist«, dass er zurückkehrt, um den Segen der Straße zu erbitten, die er einst zerstörte. Andere sprechen von einer »Läuterung«, einem Reinwaschen der Geschichte, einem schamlosen Verlangen nach Absolution für seine »Schandtaten«. Zyniker ergänzen dies mit der Bemerkung, Murdoch habe schon immer allen gerne eine lange Nase gezeigt. Warum sollte er also jetzt damit aufhören? »Vergleichbar wäre nur«, meint jemand, »wenn Dracula in einer Blutbank heiratet.«
Stunden vor dem Gottesdienst gehen Sicherheitsbeamte das Gelände mit Spürhunden ab. Demonstranten bringen anstößige Transparente an den Fenstern eines Gebäudes gegenüber dem Kircheneingang auf der Nordseite an, scheitern aber letztlich mit ihrer Aktion, da der Eingang geschlossen wird. Die Hochzeitsgäste werden über eine Seitenstraße umgeleitet und betreten die Kirche durch einen anderen Eingang. Ladies and Gentlemen, bitte erheben Sie sich.
*
Damals dachte ich – und denke immer noch –, dass nicht Rupert Murdoch eine Eroberung gemacht hat, sondern Jerry. Immerhin ist Rache ein Gericht, das am besten kalt serviert wird. Als sie Bryan Ferry, den Sänger von Roxy Music, 1977 wegen Jagger verließ, geschah dies aus Liebe. Sie schenkte dem Stone vier Kinder und zweiundzwanzig Jahre ihres Lebens. Mit einer an Heimtücke grenzenden Herzlosigkeit belog und betrog er sie während der gesamten Dauer ihrer Beziehung, schlief mit Dutzenden von Frauen und hin und wieder auch mal einem Mann, wann immer und wo immer er wollte, ohne auch nur einen Gedanken an sie zu verschwenden. Jerry fühlte sich gedemütigt und schlug zurück. Als sie 1982 eine kurze Affäre mit dem steinreichen königlichen Pferdezüchter Robert Sangster einging, einem persönlichen Freund von Frank Sinatra, der sie Mick »zehnmal« hätte abkaufen können, gab sie Letzterem dessen eigene Medizin zu kosten. Sie hatte den Spieß umgedreht. Wie vorauszusehen war, setzte Mick nun alles daran, sie zurückzugewinnen. »Das war das einzige Mal, dass er mich je vom Flughafen abgeholt hat«, beklagte sie sich, nachdem das Paar wieder zusammengefunden hatte.
Sie heirateten 1990 auf Bali und blieben weitere neun Jahre zusammen. Als herauskam, dass er erneut ein Kind mit einer Geliebten gezeugt hatte – Lucas Morad Jagger mit dem brasilianischen Model Luciana Gimenez Morad –, und zwar nur siebzehn Monate nachdem seine vermeintliche Frau ihr jüngstes gemeinsames Kind Gabriel zur Welt gebracht hatte, war es aus. Jerry reichte die Scheidung ein. Als sie Jagger auf ihren persönlichen Unterhalt und den der Kinder sowie einen Anteil seines Vermögens verklagen wollte, stellte sie jedoch entsetzt fest, dass sie nie verheiratet gewesen war.
Der legendär knausrige Jagger ging vor Gericht gegen sie an. Sein Kontostand gewann. Die »Ehe«, die im Rahmen einer hinduistischen Zeremonie geschlossen worden war, galt sowohl in Indonesien wie auch in Großbritannien als juristisch nicht bindend und wurde für null und nichtig erklärt. Und was sollte das mit den schönen Hochzeitsfotos, Mick? Auf Grundlage dieses Urteils gelang es ihm, Jerrys Abfindung in den Keller zu drücken. Der sonst so unbekümmerte Jagger verlor jedoch selbst unter eingefleischten Stones-Fans, die davon überzeugt waren, er könne über Wasser wandeln, gewaltig an Respekt. Seit der sorglosen Glanzzeit des Rock ’n’ Roll, als Frauen jederzeit verfügbar und nur für eine Sache gut waren und sein ungezügelt lüsterner Lebensstil noch als erstrebenswert galt – zumindest in den Augen gewisser sexuell perspektivloser Männer, die man später als »Incels« bezeichnete –, hatte sich die Welt verändert.
Mick setzte damit dem ausschweifenden und egoistischen Verhalten, das er im Lauf der Jahre an den Tag gelegt hatte, die Krone auf. Jerry Hall trug seine Ringe, dritter Finger, linke Hand, und hatte seine Kinder zur Welt gebracht. Ihre Zurückweisung zeitigte katastrophale Folgen; ihre vier geliebten Kinder galten nun als unehelich und hatten dies dem eigenen Vater zu verdanken.
Da lauert es, das Karma Chameleon, red, gold and green. Es kriecht hinter den Steinsäulen und schlängelt sich unter den Kirchenbänken durch. Während Ruperts Sohn James und Jerrys Sohn Gabriel aus dem ersten Korintherbrief und dem alten chinesischen Daodejing lesen, rührt es sich nicht. Als »Amazing Grace«, »Jerusalem« und William Waltons »Set Me As a Seal Upon Thine Heart« ertönen, schlägt es mit dem Schwanz. Dann hält es inne, verhält sich wieder still und wartet geduldig. In einem anderen Leben wäre es vielleicht »pleased to meet you«, ein »man of wealth and taste«. Denn was wir säen, werden wir ernten. Jetzt ist Jerry diejenige, die zuletzt lacht. Sie hat’s ihm gezeigt, dem Stone. Nicht nur für sich selbst, sondern für jede andere Stones-Frau, die erst verschlungen und dann ausgespuckt wurde. Jerry revanchiert sich hier, auch wenn sie ausgerechnet in diesem Moment gewiss nicht an Rache denkt. Sie hat das Karma auf ihrer Seite. Das Chamäleon ist wegen ihr hier, »hope you guess his name«.
*
Als Rupert Murdoch 1969 die News of the World kaufte, erbte er damit eine bereits über Jahre unvermindert andauernde Fehde zwischen dem Skandalblatt und den Rolling Stones. Die Autoren der Zeitung hatten die drogenverliebte Band in enger Zusammenarbeit mit korrupten Polizeibeamten ins Visier genommen, prangerten sie als Architekten der Verdorbenheit und Geißeln der Gesellschaft an und wollten ihren Einfluss auf die leicht beeinflussbare Jugend unterbinden. Die Journaille agierte lüstern und scheinheilig, missbilligte staunend die gesetzeswidrigen »Eskapaden« und das »verderbte Verhalten« der Stones, widmete der Berichterstattung darüber aber riesige Schlagzeilen und unendlich viele Artikel. Verlockung und Verdammnis gingen Hand in Hand. Ein verdeckt recherchierender Reporter erwischte Brian Jones beim Konsum illegaler Substanzen in einem Club, verwechselte ihn in dem später veröffentlichten Artikel aber mit Mick Jagger (aus Versehen oder absichtlich?). Jagger ging vor Gericht. Die legendäre Drogenrazzia in Redlands, dem Haus des Gitarristen Keith Richards in West Wittering (West Sussex), wo Jaggers nur mit einem Fellteppich bekleidete Freundin Marianne Faithfull angeblich Schokoriegel aus einem ungewöhnlichen fleischlichen Behältnis zum Verzehr anbot, war sozusagen die Retourkutsche.
Als die News of the World 2011 infolge des Abhörskandals[4] eingestellt wurde, was über zweihundert Arbeitsplätze kostete, erhob Mick zur Feier des Tages vermutlich sein Glas. Er konnte kaum ahnen, dass die Zeitung, sein alter Widersacher, in Gestalt ihres ehemaligen Inhabers zurückkehren und ihn verfolgen würde. Was nicht nur dazu führte, dass herrlich skurrile alte Stones-Geschichten noch einmal ausgepackt und in Leitartikeln aufbereitet wurden, sondern Jagger auch persönlich höchst öffentlich zurechtgestutzt wurde, da Murdoch nun die wunderschöne Frau vor den Altar führte, die Jagger selbst verschmäht hatte. Indem er die Bindung einging, der Jagger sich verweigert hatte, wurde Murdoch zum Sieger und machte den Verlierer zum Gespött. Geld regiert die Welt. In Jaggers Welt ist es das Einzige, was zählt. Rupert Murdochs Vermögen wird auf circa zwanzig Milliarden Dollar geschätzt. Mick darf sich auf gerade einmal fünfhundert Millionen ausruhen. Ein schwerer Schlag.
*
Ich hatte damit gerechnet, dass Jerrys Hochzeit eine Stones-freie Veranstaltung bleiben würde. Und natürlich sind weder Charlie und Shirley noch Ronnie und Sally, Keith und Patti oder Ronnies hübsche, quirlige Ex-Frau Jo erschienen. Aber Phantomen kann man schlecht den Zutritt verbieten. Und als solche sind sie hier, bilden eine kollektive Verbindung zu einer alles andere als glücklichen Vergangenheit, die Jerry möglichst schnell hinter sich lassen wollte. Ich entdecke sie erst, als die letzten Gäste schon wieder gehen, ihre Ankunft habe ich verpasst: eine verblühte Blondine im blauen Blümchenkleid, grünen Schuhen und einem schwarzen Mantel mit Pelzkragen am Arm eines älteren Mannes im dunkelblauen Anzug mit grauem V-Ausschnittpullover und offenem Hemdkragen. Nicht unbedingt passend für eine Hochzeit. Sie bleiben für die wartenden Pressefotografen stehen und wechseln ein paar Abschiedsworte. Der Alte zwinkert hinter seinem schwarzen Brillengestell. Er hat einen dicken Bauch und Hängebacken. Irgendwie kommt er mir entfernt bekannt vor. Sein schütteres graues Haar und der Schnurrbart könnten mal gestutzt werden. Unsere Blicke begegnen sich, und wir erkennen einander. Vor über dreißig Jahren geriet ich als junge Fernsehmoderatorin und Zeitungskolumnistin unfreiwillig in einen Skandal, der die Welt schockierte. Der Mann wurde als pädophil abgestempelt. Und der Vorwurf blieb wie Gestank an ihm haften. Letztlich führte er trotz aller Unschuldsbeteuerungen zu seinem Ausstieg bei den Rolling Stones.
Bill Wyman war einst der Bassist der Band. Die verblühte Blondine ist seine Frau Suzanne. Damals war das Objekt seiner Begierde ein Schulmädchen, Mandy Smith. Sie kamen zusammen, als sie gerade einmal dreizehn Jahre alt war. Ich war dabei, als sie sich bei einer Preisverleihung im Londoner Lyceum Ballroom kennenlernten, verbrachte den Abend dort mit Bill und Midge Ure von Ultravox, mit dem ich bei Chrysalis Records zusammenarbeitete. Damals wusste ich nicht, dass ich wenig später in Bills Freundeskreis – alle unterschiedlichen Alters – aufgenommen werden würde, weil er damit von seiner Beziehung zu Mandy ablenken wollte. Laut ihrer Aussage schliefen sie miteinander, seit sie vierzehn Jahre alt war. Vier Jahre später heirateten sie.
Ich bin eingeladen, den Nachmittag in Spencer House zu verbringen, wo die Hochzeitsfeier fortgesetzt wird. Beschwingt durch kistenweise Moraga Bel Air, ein Erzeugnis aus Ruperts eigenem kalifornischen Weingut, amüsiert man sich den Berichten nach hervorragend dort. Stattdessen aber verlasse ich die Veranstaltung und besuche mit einigen guten Freunden und Kollegen das Two Brydges[5], einen kleinen Club in Soho. Bei einem bescheidenen Mahl und angeregten Gesprächen rücken die Verhältnisse wieder ins rechte Licht. Der Tag neigt sich dem Ende entgegen. Es wird dunkel.
*
Jerrys Verbindung zur größten Rock-’n’-Roll-Band der Welt war endlich Geschichte. Wobei sie wahrscheinlich nie ganz beendet sein wird, nachdem ihr Name so lange in einem Atemzug mit dem eines Superstars genannt wurde, mit dem sie gemeinsame Kinder und Enkelkinder hat, sodass es ein Leben lang Überschneidungen und Begegnungen geben wird, ob ihr das gefällt oder nicht. Familienbande reißen nie vollständig ab, auch wenn sie bis aufs Äußerste strapaziert werden. Im Vorfeld des sechzigsten Bühnenjubiläums der Rolling Stones hatte ich nun also Gelegenheit, einen Blick zurück auf das Leben der Band zu werfen, deren Einfluss und Kultur mich seit Langem stark faszinierten. Zur Zeit ihrer Gründung war ich noch nicht auf der Welt und musste daher weit in die Vergangenheit abtauchen, bis zu ihrem ersten Konzert am 12. Juli 1962 im Marquee Jazz Club in der Londoner Oxford Street. Mick Jagger sang, Brian Jones und Keith Richards spielten Gitarre, Ian Stewart saß am Klavier, und Dick Taylor bediente den Bass. Der Schlagzeuger? Darüber wird gestritten. Einige beharren darauf, Tony Chapman habe die Stöcke geschwungen, während Keith in seiner Autobiografie Lifeaus dem Jahr 2010 behauptet, es sei sein Freund Mick Avory gewesen, der spätere Schlagzeuger der Kinks: »Nicht Tony Chapman, wie es die Geschichte rätselhafterweise überliefert hat.«[6]
Wer auch immer es war, die aufstrebende Band bekam den Auftrag einzuspringen, als Alexis Korners Blues Incorporated – die jeden Donnerstag mit Jagger als Sänger in dem Club auftraten – zu einer Liveübertragung der BBC eingeladen wurden. Mick, der zwei Wochen später seinen neunzehnten Geburtstag feierte, sollte in der Sendung nicht mit dabei sein, und so überredete Brian den Betreiber des Marquee, Harold Pendleton, seine neue Band auftreten zu lassen. Sie liehen sich Geld von Jaggers Vater, um sich Equipment für den Abend zu leihen. Die Legende besagt, Brian habe die Veranstaltungszeitschrift Jazz News angerufen, um das Ereignis ankündigen zu lassen, und sei von der Mitarbeiterin am anderen Ende nach dem Namen der Band gefragt worden. Sie hatte keinen. Jones’ Blick fiel auf einen Plattenstapel auf dem Boden, der Titel des ersten Stücks auf The Best of Muddy Waters war »Rollin’ Stone«.
Schillernd wie im Märchen. Völlig egal, ob die Geschichte stimmt oder nicht. Den ganzen Sommer über spielten sie in den Clubs und Kneipen der Stadt. Wenig später zogen Mick, Keith und Brian zusammen. Ihr neues Heim war eine schmutzige, unmöblierte Wohnung im zweiten Stock des Hauses Edith Grove 102 in Fulham, es gab zwei Betten für drei Personen. Schmutziges Geschirr und Besteck wurde eher aus dem Küchenfenster geworfen als abgewaschen. Bald stieß der Schlagzeuger Charlie Watts dazu, dann wurde Bill Wyman engagiert. Da war sie, die klassische Besetzung der Stones, wie in Stein gemeißelt.
Sechzig Jahre später und drei Gründungsmitglieder weniger rollen sie immer noch. Um keine Band ranken sich mehr Legenden, nicht einmal um die Beatles. Mit Ausnahme von The Who, die nur noch über zwei ihrer ursprünglichen Mitglieder verfügen, hat keine andere Rockband so viele Jahre überdauert. Die Stones sind Veteranen, sie haben über zweitausend Konzerte auf dem Buckel und sind noch lange nicht fertig. Sie gelten als einer der beliebtesten Liveacts in der Geschichte der Unterhaltungsindustrie. Ihre ABigger Bang-Tour von 2005 bis 2007 war damals die umsatzstärkste Tournee aller Zeiten. Mit ihrem Gratis-Konzert am 18. Februar 2006 an der Copacabana in Rio de Janeiro, verfolgt von über zwei Millionen Zuschauern am Strand und in den umliegenden Straßen, brachen sie sämtliche Rekorde.
Mit geschätzten Plattenverkäufen von über zweihundertvierzig Millionen Exemplaren sind sie außerdem auch als Songwriter absolute Superstars. Sie wurden mit drei Grammys und einem Grammy für ihr Lebenswerk ausgezeichnet, hielten Einzug in die Rock and Roll Hall of Fame (1982) und die britische Music Hall of Fame (2004). 2008 belegten sie den zehnten Platz der besten Künstler aller Zeiten in den US Billboard Hot 100. Elf Jahre später schafften sie es in der Zeitschrift Billboard auf den zweiten Platz der Auflistung der erfolgreichsten Künstler in den amerikanischen Charts, direkt hinter den Beatles, aber vor Elton John, Mariah Carey, Madonna, Barbra Streisand, Michael Jackson, Taylor Swift und Stevie Wonder. Im Rolling Stone belegten sie in der Liste der größten Künstler aller Zeiten den vierten Platz hinter den Beatles, Bob Dylan und Elvis Presley, vor Chuck Berry, Jimi Hendrix, James Brown, Little Richard und Aretha Franklin.
Im September 2020 brachen sie erneut einen Rekord, als sie mit Goats Head Soup vor dem einundzwanzigjährigen Singer-Songwriter Declan McKenna den ersten Platz der britischen Charts belegten. Nach der Erstveröffentlichung 1973 war es bereits das zweite Mal, dass das Album dort an der Spitze stand. Die Stones waren damit die erste Band in der Geschichte der Charts, die in sechs verschiedenen Jahrzehnten den ersten Platz erreichten. Inzwischen haben sie dreizehn top platzierte Alben zu verzeichnen, darunter auch Neuveröffentlichungen von Exile on Main St., das vielen als ihr bestes gilt, und eben Goats Head Soup, wodurch sie mit Elvis Presley und Robbie Williams gleichzogen. Nur die Beatles hatten mehr Alben an der Spitze der britischen Charts. Bei Facebook haben die Stones achtzehn Millionen Follower, dreieinhalb Millionen bei Twitter. Mit knapp zwanzig Millionen Hörern pro Monat gehören sie zu den gefragtesten Bands bei Spotify. Knapp zwei Millionen Abonnenten folgen ihrem Youtube-Kanal, die Clips dort wurden bereits über sechshundertfünfzig Millionen Mal angeklickt. Obwohl die amerikanischen Konzerte ihrer jüngsten No Filter-Tournee aufgrund der weltweiten Pandemie zunächst verschoben werden mussten – und trotz des traurigen, aber nicht ganz unerwarteten Todes des achtzigjährigen Charlie Watts –, legten sie im Herbst 2021 wieder los und nahmen erneut die Geschäfte auf. Andeutungsweise wurde von einem neuen Album gesprochen, dem ersten seit Blue & Lonesome aus dem Jahr 2016, das seinerseits elf Jahre auf sich warten ließ.
Die Kernbesetzung der Band – Mick, »Keef« und Ronnie, »der Neue«, der 1975 Brian Jones’ Nachfolger Mick Taylor abgelöst hatte – besitzt mit einem Alter von insgesamt zweihundertzweiunddreißig Jahren immer noch ungeheuren Einfluss. Und das trotz des Aufkommens der Cancel Culture, die viele als wichtiges Mittel zur Verbesserung der sozialen Gerechtigkeit betrachten, andere aber lediglich als sinnlose Form der Pöbelherrschaft in den sozialen Medien. Im Oktober 2021 gab die Band angesichts des feindlichen Sperrfeuers (nicht des ersten) gegen ihren Song »Brown Sugar« nach – Kritiker halten ihn für »abscheulich, sexistisch und auf widerliche Weise beleidigend gegenüber schwarzen Frauen«, der Text sei einer der »vulgärsten und anstößigsten, die je geschrieben wurden« – und nahm ihn von der Setlist ihrer Tournee. Der nach »Jumpin’ Jack Flash« am häufigsten live gespielte Stones-Song wurde mit einem Bann belegt. »Ich weiß nicht«, sinnierte Keith Richards. »Ich versuche dahinterzukommen, was die Sisters so schrecklich daran stört. Haben die nicht verstanden, dass es in dem Song um die Schrecken der Sklaverei geht? Aber die wollen ihn in der Versenkung verschwinden lassen … im Moment will ich keinen Stress mit dem ganzen Scheiß, aber ich hoffe, dass wir das Baby irgendwann in seiner ganzen Herrlichkeit wiederauferstehen lassen.«
»Wir haben ›Brown Sugar‹ seit 1970 jeden Abend gespielt«, erklärte Jagger zur Verteidigung seines Nummer-eins-Hits aus dem Jahr 1971. »Manchmal denkt man, wir nehmen das jetzt erst mal raus, dann sehen wir weiter. Vielleicht nehmen wir den Song auch wieder rein.« Ob es aber je dazu kommen wird?
Piers Morgan hat bereits den Wiedereinsatz gefordert. Der omnipräsente und inzwischen auf der ganzen Welt bekannte Journalist und Fernsehmoderator, nebenbei auch mein früherer Redakteur, bezeichnete die Stones als »Feiglinge«, weil sie den »woken Tyrannen« nachgaben und ausgerechnet den Song fallen ließen, der unter anderem von einem ghanaischen Sklavenschiff und einem Frauen auspeitschenden Sklavenhalter handelt. »An ›Brown Sugar‹ ist nichts rassistisch«, wetterte Morgan und erklärte, in dem Song würden schwarze Frauen verteidigt und Sklaverei keinesfalls verharmlost. Er führte Rap-Songs mit Texten an, die Frauen in der Tat diffamieren, und warnte: »Von nun an lautet das Narrativ der Wokehörigen, der Song sei rassistisch, weshalb auch die Stones rassistisch sind, und indem sie darauf verzichten, den Song live zu spielen, bestätigen sie diese Unterstellungen. Was für ein ausgewachsener Blödsinn!«
»Ich will dir sagen, wie rassistisch die Rolling Stones sind«, sagt Bernard Fowler, der gefeierte Musiker und Background-Sänger, der im Verlauf seiner langen Karriere mit einer ganzen Reihe von Größen im Showbusiness zusammengearbeitet hat und den Stones seit ungefähr fünfunddreißig Jahren auf der Bühne und im Studio treu ergeben ist. »Ich bin schwarz und in den Queensbridge Houses in New York aufgewachsen (benannt nach der Queensboro Bridge im Norden der Siedlung, die früher als ›Hölle auf Erden‹ verschrien war). Der Tod, das Böse und Drogen waren in Queensbridge Alltag. Ich wollte Basketball-Profi werden, damit ich um Gottes willen bloß da rauskomme. Stattdessen hab ich die Musik entdeckt. Mick? Ich liebe ihn. Es gibt nur einen Mick Jagger, und der ist eine echte Ausnahmeerscheinung. Er hat noch viel zu rocken, bis er aufsteckt. Solange er noch eine Stimme hat und es allen wie bislang auf der Bühne zeigen kann, sollte er das auch machen. Er tritt vor Leuten auf, die ein Drittel so alt sind wie er. Wer kann das schon? Er ist ein absoluter Profi, und das ist unglaublich anzusehen. Ob wir Freunde sind? O ja. Würde ich schon sagen. Würde ich hoffen. Ich hab mein Leben mit diesen Typen verbracht. Für mich sind die so was wie Familie. Ich hab ihre Kinder aufwachsen sehen und liebe sie alle. Wir waren mal auf Tour, das kann Voodoo Loungegewesen sein oder Urban Jungle, und wir waren in Österreich. Vor dem Konzert wollte ich noch was einkaufen. Ich bin ein paar Straßen weitergegangen, rein in einen Laden, und sah einen Typen draußen stehen. Ich wollte wieder raus aus dem Laden und zurück ins Hotel, da hab ich gemerkt, dass der Kerl hinter mir war. Plötzlich fängt er an zu schreien. Ich spreche kein Deutsch, also hatte ich keine Ahnung, was er wollte. Er schaute mich an. Oha, dachte ich, der ist verrückt. Ich komme aus New York, ich hätte es locker mit ihm aufgenommen, aber ich dachte, wahrscheinlich wäre das keine gute Idee. Die Frau am Tresen guckte irgendwie komisch. ›Tut mir sehr leid‹, sagte sie traurig, ›ich kann das nicht noch mal wiederholen, was der gesagt hat.‹«
Am späten Nachmittag lieh sich Bernard auf dem Veranstaltungsgelände einen kleinen Motorroller und fuhr damit zu einem Treffen mit Freunden.
»Ich bin auf dem Gelände, plötzlich starrt mich ein Typ an und fängt an zu schreien. Und noch ein anderer. Was soll der Scheiß? Zwei Bullen mit Maschinenpistolen tauchen auf und sprechen ihn an. ›Der Mann sagt, Sie haben sein Ticket gestohlen‹, erklärt einer der Polizisten. Was? Ich zeige meinen Mitarbeiterausweis, damit die sehen, dass ich zur Band gehöre. Anstatt das Richtige zu tun, machen sie das Gegenteil. Sie führen mich zu einem Wohnwagen und halten mich dort fünfundvierzig Minuten lang fest. Kein Witz. Endlich kommt einer rein und sagt einfach nur: ›Sie können gehen.‹ Keine Erklärung, keine Entschuldigung, nichts. Ich gehe backstage, ziehe mich um, schaue erst bei Ronnie rein, dann bei Keith. Keith und ich setzen uns. Wir reden, wir hören Musik, chillen. ›Brother B‹, sagt Keith freundlich, ›wie war dein Tag?‹ ›Ich hatte vielleicht einen abgefahrenen Tag heute‹, antworte ich. ›Erst war ich einkaufen, dann wurde ich auf dem Gelände festgenommen …‹ Keith stutzt. So ist er. Er sagt: ›Was? Was haben die? Wo ist Tony Russell? (Keiths persönlicher Assistent seit 1988, den Bernard ›Keiths Freitag‹ nennt.) Scheiß Cops! Schaff mal jemand JC hierher! (Das ist Jim Callaghan, der Leiter der Security.) Bernard, du gehst nirgendwohin!‹ Callaghan kommt rein. Keith erzählt ihm die Geschichte. ›Ich will die beiden Motherfucker hier haben!‹, brüllt Keith. Er geht auf und ab. Er hat so eine bestimmte Art zu gehen, wenn er wütend ist. JC kommt zurück, kann die Polizisten nicht finden. Inzwischen schäumt Keith. Das ist ein Open-Air-Konzert, der Bürgermeister kommt, der Kanzler kommt, sämtliche Würdenträger. Eigentlich hätte das Konzert längst anfangen sollen, aber es verzögert sich. ›Ich will die Typen hier haben!‹, verlangt Keith, tobt wie ein Wilder. ›Ich will den Polizeichef!‹ Eine halbe Stunde vergeht. Anderthalb Stunden. Fast zwei Stunden. Ich bin in meiner Garderobe, halte den Ball flach. Mick muss sich ordentlich was anhören, und er kommt, will mit mir reden und wissen, was los war. Ich sage: ›Mick, Keith hat mich bloß gefragt, ob ich einen guten Tag hatte. Woher soll ich wissen, dass er so ausflippt?‹ Tony Russell kommt rein. Ich gehe mit ihm raus und sehe, dass Keith den Polizeichef, dessen Stellvertreter, den Bürgermeister und den Konzertveranstalter alle in einer Reihe vor sich stehen hat, wie bei einem Erschießungskommando. ›Ihr Motherfucker habt ihn festgenommen, weil er schwarz ist?‹, schreit Keith. ›Die beiden verfluchten Cops, wo sind die?‹ Dann zeigt er mit dem Finger auf mich und befiehlt allen zusammen: ›Entschuldigt euch! Ihr werdet euch verflucht noch mal bei ihm entschuldigen. Und zwar sofort!‹ Das haben sie dann auch alle nacheinander getan. Keith ist eine ehrliche Haut, auf den ist Verlass. Ich werde ihm das nie vergessen. Wenn Keith Richards mich ruft, bin ich zur Stelle. Wenn er von irgendwoher anruft, aus London oder L. A., und fragt: ›Bernard, wo bist du?‹ Dann sage ich: ›Ich bin in New York, ich bin im Studio, ich komme!‹«
*
Mick und Keith wurden im städtischen Krankenhaus von Dartford in Kent geboren, gerade einmal zwanzig Minuten mit dem Auto über die A2 von meiner eigenen Heimatstadt entfernt. Sie kamen jeweils im Juli und im Dezember 1943 zur Welt, besuchten dieselbe Grundschule, dann trennten sich ihre Wege. 1960, als der ehemalige Chorknabe und Pfadfinder Keith das Art College in Sidcup besuchte und der Bücherwurm Mick an der London School of Economics studierte, trafen sie sich zufällig an einem Bahnsteig in Dartford wieder und stellten fest, dass sie sich beide für R&B und Blues interessierten. Inspiriert von den Pionieren des Blues – Howlin’ Wolf, John Lee Hooker, Elmore James, Muddy Waters, Chuck Berry, Big Bill Broonzy und Robert Johnson –, die Keiths Licks und Micks Gesang beeinflussten, wurden sie Teil der allmählich entstehenden Londoner Bluesszene und deren ständig wechselnder Besetzungen. Das erste Line-up der Stones kam unter den Fittichen von Alexis Korner und dessen Band Blues Incorporated zustande, sie waren die Vorreiter und traten regelmäßig im Ealing Blues Club auf. Der in Cheltenham geborene Gitarrist Brian Jones stieß gelegentlich zur Band. Anfang 1962 sang Jagger häufig mit Korners Leuten, probte außerdem mit Jones, Richards und anderen gleichgesinnten Musikern wie dem Pianisten Ian Stewart. Besagter Auftritt im Marquee wurde angekündigt als »Brian Jones and Mick Jagger and The Rollin’ Stones«. Das erste feste Line-up stand erst im darauffolgenden Jahr, als Charlie die Blues Incorporated verließ und sich mit Bill Wyman den Stones anschloss.
Der Wendepunkt kam mit einem regelmäßigen Engagement im Crawdaddy Club in Richmond. Schnell sprach sich die Kunde von der neuen Band herum, sodass schließlich auch der sehr junge, ehemalige PR-Assistent der Beatles, Andrew Loog Oldham, auf sie aufmerksam wurde. Er war ihr erster Manager und handelte den ersten Plattenvertrag mit Decca für die Band aus – dem Label, das bekanntlich die Beatles abgelehnt hatte. Ihre erste Veröffentlichung im Juni 1963 war eine Coverversion von Chuck Berrys »Come On«. Auch wenn die Single kein großer Hit wurde, weckte sie doch den Appetit der Öffentlichkeit. Und der Presse. Der gewitzte Oldham verkaufte seine Emporkömmlinge als gefährliches Gegengift zu den liebenswerten Pilzkopf-Beatles und jagte Eltern schulpflichtiger Töchter landauf, landab eine Heidenangst ein. Die Stones wurden rasch zu Kultfiguren der frustrierten britischen Jugend. Ihr erstes, gleichnamiges Album im folgenden Jahr, auf dem R&B-Coverversionen zu hören waren, führte im April 1964 die Charts an. Im Juni tourten sie bereits zum ersten Mal durch die Vereinigten Staaten und feierten mit einer Version von Bobby Womacks »It’s All Over Now« ihren ersten Nummer-eins-Hit in Großbritannien.
Die jungen weißen Briten aus der Arbeiter- und Mittelschicht, die sich die Musik schwarzer Afroamerikaner angeeignet hatten, fanden so allmählich ihren eigenen Sound und nahmen Fahrt auf. Sie entwickelten einen rauen, unverwechselbaren Rock-Pop-Stil mit starken Blues-Anklängen und verherrlichten Frauen, Sex und Drogen. Sprachen sie auch über aktuelle Themen? Spiegelten sich Politik und soziales Bewusstsein in ihren Texten? Nicht so richtig. Die meisten Anspielungen dahingehend blieben sehr abstrakt. Sie flickten Ideenfetzen zusammen, verzerrten Themen zu einprägsamen Riffs. Eine feste Formel gab es dafür nie. Aber sie befanden sich allein auf weiter Flur und stießen auf eine Goldader. Von 1965 an waren alle Singles offiziell Kompositionen von Jagger/Richards. »The Last Time« erreichte die amerikanischen Top Ten und ebnete »(I Can’t Get No) Satisfaction« den Weg, ihrer ersten Nummer eins auf beiden Seiten des großen Teichs. Gegen Ende des Jahrzehnts war die Band zur internationalen Attraktion geworden, in Popularität und kultureller Bedeutung nur ihren Liverpooler Erzrivalen unterlegen. Womit ihnen gleich ein beeindruckend doppelter Coup gelang: Sie gaben Amerika dessen eigene Musik zurück und erfanden sich gleichzeitig als Outlaws des Rock ’n’ Roll.
Die Stones waren praktisch ständig von einer Aura der Prominenz und Verkommenheit umgeben. »Let’s Spend the Night Together« wurde bei der Ed Sullivan Show im amerikanischen Fernsehen zensiert. Jagger, Richards und Jones wurden wegen Drogendelikten belangt. Micks Beziehung zu der adligen Klosterschülerin Marianne Faithfull lieferte den Klatschspalten Zunder. Gegner von Bournemouth bis Wagga Wagga warfen der Band vor, die Jugend zu verderben, geltende Moralvorstellungen zu zerstören und die Botschaft des Teufels zu verbreiten. Ende der Sechzigerjahre flog Brian Jones – mindestens fünffacher Vater – aus der Band und ertrank im Pool seines Hauses Cotchford Farm in East Sussex. Er war der erste tote Rockstar der Sechziger. Innerhalb von zwei Jahren folgten Jimi Hendrix, Jim Morrison und Janis Joplin, alle im Zusammenhang mit Drogen. Und alle, auch Jones, waren siebenundzwanzig Jahre alt, was der Verschwörungstheorie vom »Twenty-Seven Club« Auftrieb gab. Am 5. Juli 1969 gaben die Stones ein kostenloses Konzert im Hyde Park und widmeten die bereits lange im Voraus geplante Veranstaltung ihrem verstorbenen Bandkollegen.
Sieht man von einem kurzen Flirt mit der Psychedelik auf dem Album Their Satanic Majesties Request und der Single »We Love You« aus dem Jahr 1967 einmal ab, befand sich die Band musikalisch zu diesem Zeitpunkt bereits auf einer wiedererkennbaren Spur.
Beggars Banquetund Let It Bleedsind beide klassische Rockalben, die einige anspruchsvollere Kritiker als Sternstunden der Stones betrachten. Während ihrer kreativen Hochphase von 1968 bis 1972 verdichteten sich Blues, Rock ’n’ Roll, R&B und Country-Einflüsse zu den düsteren, dekadenten und sexy Klängen, die wir inzwischen als den definitiven, ironischen Sound der Rolling Stones kennen. Micks dynamische Bühnenpräsenz und Keiths beginnende Piratenaura ergaben eine unvergleichliche Kombination. Als unwiderstehliche Rockgötter wurden sie in den Siebzigerjahren zur Institution, lebten das verruchte, ausschweifende Leben steuerflüchtiger Jetsetter, stellten mit Riesenkonzerten immer wieder neue Rekorde auf und perfektionierten das Rock-’n’-Roll-Klischee, das sie selbst erfunden hatten.
1975 löste Ron Wood, ehemals Mitglied der Faces, Mick Taylor an der Gitarre ab. Darauf folgte eine merkliche Abmilderung ihres früheren wilden Image – so wie es Rebellen gebührt, die allmählich in die Dreißiger kommen, was damals bereits als »alt« galt. Sie überließen es Punks wie den Sex Pistols, der Welt den Mittelfinger zu zeigen, und ruhten sich trotzdem nicht auf ihren Lorbeeren aus. Sie produzierten weiterhin großartige Alben und auch ein paar Klassiker, hielten den Standard, den sie mit Songs wie »Brown Sugar« und »It’s Only Rock ’n’ Roll« selbst gesetzt hatten. Tausende von Teenagern auf der ganzen Welt gründeten Bands wegen ihnen. Auch wenn die meisten davon niemals aus der eigenen Garage herauskamen, mischten sie doch ganze Wohnviertel auf und brachten Leben in die musikalische Landschaft. Die Stones sorgten wie eh und je für Chaos, Chance und Veränderung.
Allgemein nahm man an, die Band würde gemütlich in die Achtziger segeln und allmählich überlegen, das Handtuch zu werfen. Was sich als Trugschluss erwies. 1981 war das Jahr, in dem sie mit ihrer Amerikatournee sämtliche Kassenrekorde brachen, während das Album Tattoo You in Großbritannien und den USA den ersten Platz belegte. Still Life, das Livealbum von dieser Tournee, war im darauffolgenden Jahr fast ebenso erfolgreich. Anlässlich ihres zwanzigsten Jubiläums brachten sie die amerikanische Show nach Europa und unterschrieben bei CBS einen neuen Vertrag über vier Alben für fünfzig Millionen Dollar, den damals teuersten der Geschichte.
Die Mitte der Achtzigerjahre wurde geprägt vom Zerwürfnis zwischen Jagger und Richards. Mick hatte sich im Zuge der Verhandlungen mit CBS einen eigenen Plattenvertrag gesichert und wollte sich nun auf Soloveröffentlichungen konzentrieren. Keith fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Auf dem Live-Aid-Konzert 1985 traten die Stones nicht als Band auf. Mick nahm einen Song und ein Video mit David Bowie auf, die Coverversion »Dancing in the Street« erreichte in Großbritannien Platz eins und in den Vereinigten Staaten Platz sieben der Charts. Keith und Ronnie begleiteten Bob Dylan in Philadelphia. Es war entsetzlich. Jack Nicholson muss rückblickend bereut haben, den »transzendenten« Dylan vor einem Publikum von weltweit 1,9 Milliarden Menschen angesagt zu haben. Ronnie und Keith schlenderten viel zu spät mit akustischen Gitarren auf die Bühne, offensichtlich sternhagelvoll. Sie spielten falsch, waren nicht im Takt und fanden nie zur Magie von »Blowin’ in the Wind«. Manchmal ist das so. Vielleicht hätten sie’s vorher proben sollen. Charlie litt unter einer massiven Midlife-Crisis, war heroinabhängig und hätte um ein Haar alles verloren, auch seine Frau Shirley. Er riss sich zusammen und kam wieder in die Spur. Bill dagegen verspielte seine Integrität (und hätte vielleicht auch seine Freiheit verlieren sollen), als er sich sexuell mit einem Kind einließ. Die Band feierte ihr fünfundzwanzigjähriges Jubiläum, hatte zu diesem Anlass aber kaum mehr als einen Dokumentarfilm vorzuweisen.
Gegen Ende des Jahrzehnts wendete sich das Blatt wieder zum Besseren. Das Album Steel Wheels ließ noch einmal die alten Stones auferstehen. Die Urban Jungle-Tour war ihre erste seit sieben Jahren und die bis dahin größte. Außerdem Wymans letzte. Er verließ die Band, bevor das ganz große Geld hereinkam, schrieb seine lange angedrohte Autobiografie und erfand sich neu mit seinen Rhythm Kings.
Der nächste Meilenstein in der Geschichte der Stones war das Album Voodoo Lounge aus dem Jahr 1994 und die darauffolgende gleichnamige Tournee – erneut übertrafen die Umsätze alles bislang Dagewesene. Im November desselben Jahres waren sie die erste Mainstream-Band, die je ein Konzert über das Internet verbreitete. Mit dem Album Bridges to Babylon verabschiedeten sie sich aus den Neunzigern. Die darauf folgende Welttournee ließ keinen Zweifel daran, dass sie noch immer international gefragt waren. Sie tourten während der gesamten Nullerjahre weiter.
2002 veröffentlichten sie anlässlich ihres vierzigjährigen Jubiläums ein Doppelalbum mit Greatest Hits, Forty Licks. Sowohl in Großbritannien wie auch in den USA erreichte es den zweiten Platz der Charts. 2004 kämpfte Charlie gegen den Kehlkopfkrebs und gewann. Das Album A Bigger Bang und die dazugehörige Tournee nahmen sie von 2005 bis 2007 in Anspruch, in Rio fand sie ihren triumphalen Abschluss. Ronnie fing spektakulär wieder mit dem Trinken an, verließ seine Frau Jo wegen der kasachischen Kellnerin Ekaterina Ivanova und schwor anschließend an der Seite der Theaterproduzentin Sally Humphreys den Drogen ab.
2012 beging die Band ihr fünfzigstes Bühnenjubiläum. Album, Tour, Album, Tour. Das Übliche. Dann schloss sich der Kreis für die Stones. Mit ihrem Album Blue & Lonesomekehrten sieim Dezember 2016 zu den Songs zurück, die sie ursprünglich inspiriert hatten. Im April 2020 traten Mick, Keith, Charlie und Ronnie als Headliner von One World: Together at Home auf – einem Onlinekonzert zugunsten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Gesundheitswesens.
Als Jagger 2002 wegen seiner Verdienste an der Popmusik zum Ritter geschlagen wurde, stieg der ehemalige Dissident ins Establishment auf. Als Besitzer mehrerer Châteaus, Ufervillen, Strandhäuser, Stadthäuser und Penthouse-Wohnungen hat Sir Mick praktisch zu allem und jedem auf der Welt Zugang, den oder die er erreichen möchte. Von Andy Warhol in Form eines Siebdrucks verewigt und von Cecil Beaton nackt abgelichtet (zumindest von hinten), wird er von Don McLean in »American Pie« nicht namentlich genannt, aber als »Satan« im Text erwähnt. Die US-amerikanische Pop-Rock-Band Maroon 5 besang ihn in »Moves Like Jagger«, ebenso wie die Black Eyed Peas in »The Time (Dirty Bit)« und Kesha in »Tik Tok«. Wo er geht und steht, umranken ihn Gerüchte. Wen interessiert’s, ob sie stimmen? Er gilt weltweit als Sexsymbol, jeder über fünfzig kennt jemanden, der jemanden kennt, der was mit ihm hatte: in einer Limousine, in einer königlichen Loge oder auf der Toilette eines Privatjets. Das dionysische Urbild der ewigen Jugend hat die Legende seiner Männlichkeit erhalten. Als Vater von acht Kindern, Großvater von fünf Enkelkindern und Urgroßvater von drei Urenkeln geht er nun stolz auf die achtzig zu. Ebenso wie Keith, der aber erst vierfacher Vater und fünffacher Großvater ist. Ronnie hat es als Vater von sechs Kindern, darunter sechsjährigen Zwillingen mit seiner dritten Frau Sally, bislang nicht zu Enkelkindern gebracht, aber er wurde ja auch erst fünfundsiebzig. Das gibt zu denken.
Auch wenn Mick eigentlich nie ein richtig toller Sänger war; auch wenn seine Kraftmeierei auf der Bühne, sein stolzierender Gang, sein erhobener Zeigefinger, was früher mal als unverschämt und cool galt, irgendwann hart an der Grenze zur Selbstparodie schien; auch wenn die Band musikalisch bisweilen verstörend schlampig wirkt, so können die Stones immer noch den Titel der »Greatest Rock ’n’ Roll Band in the World« für sich in Anspruch nehmen. Ihr Katalog enthält die mitunter aufregendste Musik, die je aufgenommen wurde. Trotzig schmetterten sie einst den Song »Not Fade Away« im Geiste seines Schöpfers. Und machten anders als Buddy Holly Ernst damit.
Vielleicht ist ihre Relevanz im einundzwanzigsten Jahrhundert fragwürdig geworden. Vielleicht möchte das nur niemand wahrhaben. Wenn erboste und biedere Kritiker aufmerken und Stones-Songs verbieten wollen, liegen sie möglicherweise völlig daneben. »Anstößig«, »rassistisch«, »sexistisch« oder sonst wie, die Band hat den beständigen Niedergang des Post-Rock-’n’-Roll überlebt, in dessen Folge immer mehr Künstler immer weniger Musik abliefern – richtige Musik, die Herzen schneller schlagen lässt und unter die Haut geht. Die Stones schrieben Songs, die uns bewegt, erfreut oder verärgert haben, die uns angetörnt haben, und schufen damit einen Soundtrack, zu dem man tanzen und leben kann. Sie gaben unserem Dasein einen Sinn. Ist das übertrieben? Oder tut Musik nicht genau das? Wir hören sie, machen sie uns zu eigen und reagieren kollektiv darauf, denn dann wissen wir, dass wir nicht alleine sind. Wir kehren immer wieder zu den Songs und Stars zurück, mit denen wir aufgewachsen sind, und sei es nur, um sehnsüchtig noch einmal von unserer vergessenen Jugend zu kosten. Wir werden nie wieder jung sein. Aber Musik, großartige Musik, erinnert uns daran, wie es war. Vielleicht fühlen wir uns bisweilen unwohl damit. Haben uns die Stones auf dem Höhepunkt ihres Ruhms wirklich die beste Art zu leben vorgelebt? Oder war alles nur Schwindel? Haben sie uns von der Vergeblichkeit des Daseins abgelenkt, uns Zerstreuung geboten angesichts der Unausweichlichkeit unseres bevorstehenden Untergangs?
Um das Vermächtnis der Rolling Stones im Kontext zu betrachten, müssen wir uns ihrem griechischen Chor zuwenden. Ihren Familien und Freunden, ihren Frauen und Kindern, ihren Kollegen und Bekannten, den Menschen, deren Wege sich mit ihren kreuzten, die aber weiter ihrem alltäglichen Leben nachgingen und daher häufig unbeachtet blieben, obwohl sie wichtig sind. Zahlreiche von ihnen fielen dem Stone Age zum Opfer, ihre Namen wurden beinahe von der Zeit verwischt. Fahrlässigkeit, Erniedrigungen oder Beschämungen kann man nicht rückgängig machen, Jungfräulichkeit oder Würde nicht wiederherstellen. Die Missbrauchten, Verlassenen, Abhängigen, Totgeborenen, Ermordeten und Selbstmörder können nicht wiederauferstehen. Diese Menschen haben gelebt, sie haben geatmet und waren Teil der Geschichte. Rückschau.
What a drag it is getting old. Was für eine Plage ist doch das Altwerden für andere ihres Jahrgangs, die sich missmutig und hilflos durchs Leben hangeln, sich mit jedem Schritt weiter dem Abgrund nähern. Nicht allerdings für diese atmenden Felsen der Lebendigkeit, die der Schwerkraft widerstehen, der Mode, der Political Correctness und auch sonst so ziemlich allem. Elvis ist tot. Die Beatles gibt es nicht mehr. Mag sein, dass die Stones ein bisschen Moos angesetzt haben, aber sie rocken immer noch.
Die Wahrheit trügt. Zeit ist nicht endgültig. Aus einer Vielzahl von Gründen wird Geschichte immer wieder neu geschrieben, nicht zuletzt, um sie einem Narrativ anzupassen, das die Hinterbliebenen in ein vorteilhafteres Licht rückt. Den offiziellen Aufzeichnungen ist zu entnehmen, dass Brian Jones ein begeisterter Blues-Fan und ein musikalisches Naturtalent war. Er fand sich auf jedem Instrument zurecht, schämte sich jedoch dafür, keine besondere Singstimme und auch keine Begabung für das Songwriting zu besitzen. Wir wissen außerdem, dass er klein, aber perfekt proportioniert war und auf das andere Geschlecht unwiderstehlich wirkte. Dass er zwischen seinem siebzehnten und zweiundzwanzigsten Lebensjahr mit jeweils anderen jungen Frauen ein halbes Dutzend unehelicher Kinder zeugte. Dass er die Rollin’ Stones (das ›g‹ kam erst später) als R&B-Band gründete und sich den Namen ausdachte. Dass die anderen ihn um seine Virtuosität beneideten, ja sogar dafür bestraften. Dass ihn Ruhm, Reichtum und Drogen in seiner Faszination für die dunkle Seite bestärkten. Dass er aus der Bahn geworfen und von Mick und Keith gefeuert wurde und schließlich im Juli 1969 im Alter von siebenundzwanzig Jahren in seinem eigenen Swimmingpool ertrank – »so lange her, dass es keine Rolle mehr spielt«. Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Niemals.
Ich begab mich in den Londoner Kneipen, in denen er einst verkehrte, auf die Suche nach Brian. Auch im ländlichen Sussex, im Ashdown Forest und in seiner Heimatstadt Cheltenham in Gloucestershire. Ein vornehmer Ort geprägt von charmanter Architektur und einer berühmten Schule, außerdem Austragungsort eines international beachteten Pferderennens, des Cheltenham Festival, das mein verstorbener Vater früher Jahr für Jahr besuchte. Ich habe die Häuser gesehen, in denen Brian lebte, die Schulen, die er besuchte, bin auf seinen Pfaden gewandelt. Im Reich der Lebenden, sieht man einmal von der einen oder anderen Gedenktafel ab, ist nicht mehr viel von ihm übrig. Das Grab auf dem Friedhof in Cheltenham ist so tief, dass die Spaten von Grabräubern die Urne darin aus Silber und Bronze niemals erreichen könnten. Es befindet sich aber so dicht an einer Wegkreuzung, dass sich die Reifenspuren etlicher Fahrzeuge in den Boden geprägt haben. Bekam die Familie keine andere Grabstelle, oder wurde sie mit Absicht gewählt?
Auch wenn die meisten dies nur ungern tun, so sollten wir uns doch zumindest kurz mit Teufelsanbetung und Mystizismus befassen, sie nicht von vornherein als Faktoren ausschließen. Im Volksglauben gelten Straßen- und Wegkreuzungen als gefährliche Orte des Übergangs, an denen die Welt der Lebenden und die Unterwelt aufeinandertreffen. Hier dürfen die unreinen Seelen toter Gesetzloser und Hexen, Selbstmörder und Hingerichteter auf Erlösung hoffen. Laut eines vergangenen Glaubens konnte hier auch der Satan persönlich angerufen werden. Waren sich jene, die Brian zu Grabe trugen, dieser Mythologie bewusst? Brian selbst muss diesen Vorstellungen durch seine Beschäftigung mit dem Blues begegnet sein. Er beschäftigte sich nicht nur intensiv mit dem Okkulten, unterwarf Anita Pallenberg skrupellos seinen Hypnosemethoden, sondern wusste auch um das Schicksal von Robert Johnson, dem Mississippi-Bluesman, den er in seiner Jugend entdeckt und seither vergöttert hatte und dessen Musik er seinen Bandkollegen zu Gehör brachte.
Eine Geschichte besagt, der notleidende Gitarrist sei eines Nachts an einer Wegscheide auf die Knie gefallen, habe darum gebeten, vor seinen Schöpfer treten zu dürfen, damit dieser ihn mit musikalischem Talent segne. Angeblich habe sich der Teufel vor ihm erhoben und ihm einen Handel angeboten. Im Tausch gegen die Seele des Verzweifelten würde er ihn mit musikalischem Genie versehen. Robert kehrte als virtuoser Wunderknabe in die Bluesschuppen zurück, wo man ihm einst die Tür gewiesen hatte. Er hatte Musik im Blut, war ein Ein-Mann-Orchester, sollte aber einen schrecklichen Preis dafür bezahlen. Sein kurzes Leben verlief tragisch. Johnsons letzte Aufnahme 1937 war »Me and the Devil Blues«. »Wollt ihr wissen, wie gut Blues sein kann?«, sagte Keith Richards einst über ihn. »Dann hört euch das an.«
Brians Grabstein ist schlicht und unauffällig. Es wirkt, als hätte man ihn ohne Liebe angefertigt – auch die Inschrift lässt das Wort vermissen. Auf der anderen Seite des Friedhofs, in unendlich friedlicherer Umgebung und unter einem Blätterdach, liegen die sterblichen Überreste seiner kleinen Schwester Pamela. Sie starb im Alter von zwei Jahren an Leukämie[7] und wurde beinahe ein Vierteljahrhundert vor ihm zu Grabe getragen. Die Inschrift auf ihrem Stein ist genauso schlicht und sachlich gehalten wie die auf seinem: »In zärtlicher Erinnerung«. Warum ließen die Eltern ihren Sohn nicht neben ihr bestatten? Selbst heute ist dort noch Platz. Fürchteten sie, die Unschuld ihrer kleinen Tochter könne durch sein skandalöses Leben und seinen elenden Tod Schaden nehmen, sodass sie ihn bewusst von ihr fernhielten? Lewis und Louisa Jones leben nicht mehr. Sie haben uns keine Erklärung hinterlassen.
Die Zeit tanzt. Sie eilt voraus und lehnt sich zurück, sie wabert und streift durch verblichene Fotos aus den Vierzigerjahren. Vergilbt und zerknittert erzählen uns diese mehr als Worte. Hier ist der puddingblonde Wonneproppen Lewis Brian Hopkins Jones in seiner kratzigen Vorschuluniform, dank seiner Herkunft aus der vorstädtischen Mittelschicht ist er ein bisschen was Besseres, auch wenn er sich mit seinen aus Wales stammenden Methodisten-Eltern nicht gut versteht. Der autoritäre Dada und die nörglerische Mam führen zu Hause ein strenges Regiment. Er wächst ohne Umarmungen, dafür aber mit einem Geheimnis auf, über das er mit niemandem sprechen darf und das zu Hause nie erwähnt wird. Er hatte eine kleine Schwester, doch sie ist gestorben. Später bekam er noch eine Schwester, Barbara, sie wurde ungefähr zur Zeit seiner Einschulung geboren. Sie sah ihm zum Verwechseln ähnlich, fast war es, als würde er in einen Spiegel schauen. Aber wo war seine andere Schwester? Wieso sagten sie es ihm nicht? War er schuld an ihrem Verschwinden? Brian ist emotional unreif, versteht Tod und Trauer nicht, sorgt sich aber, weil er glaubt, etwas empfinden zu müssen. Er leidet still.
Selbst heute weiß man noch nicht viel über die Entwicklung von Kindern, die den Tod eines Bruders oder einer Schwester zu verkraften haben. Mitte der Vierzigerjahre, als sich Großbritannien gerade allmählich vom Krieg erholte und es den National Health Service noch nicht gab[8], stellte sich diese Frage gar nicht, es gab dringendere Sorgen. In den Aufzeichnungen und Statistiken des Jahres 1945 – des Jahres, in dem Pamela starb – findet sich so allerhand: Armut, Luftangriffe, Masern, Keuchhusten, Scharlach, Diphtherie und Verkehrsunfälle waren damals die häufigsten Todesursachen bei Kindern. Nur wenige Familien blieben verschont.
Heutzutage würde ein kleiner Junge wie Brian eine Trauertherapie bekommen. Seine psychische Gesundheit würde untersucht, und er würde auf lange Zeit psychiatrisch betreut werden. Es gibt Hinweise darauf, dass der Schaden umso verheerender ausfallen kann, wenn das überlebende Kind älter ist. Forschungen haben außerdem ergeben, dass trauernde Eltern teilweise nicht mehr in der Lage sind, ihre anderen Kinder zu unterstützen und aufzuziehen. Häufig folgen eine gescheiterte Ehe, Depressionen und andere Probleme. Die Besonderheiten der Geschwisterbeziehungen legen nahe, dass der Tod eines Bruders oder einer Schwester dem Gemütszustand des überlebenden Kindes irreparablen Schaden zufügen kann. Es wird zum »vergessenen Trauernden«, um den sich niemand kümmert. Inzwischen weiß man, dass bei Kindern, die einen Bruder oder eine Schwester verloren haben, verstärkt psychische Störungen auftreten. Ein solches Trauma wirkt sich auf die schulischen Leistungen aus, es lässt viele nach einer Ausflucht suchen. Auch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Beziehung zwischen Kind und Eltern gestört wird.
Die Folgen sind umso prägnanter, wenn der verstorbene Bruder oder die Schwester dem überlebenden Kind vom Alter her nah war: Brian und Pamela wurden im Abstand von nur neunzehn Monaten geboren. Möglich, dass Brians Asthma, das ihn sein Leben lang plagte, durch Pamelas Tod ausgelöst wurde. Epidemiologen haben festgestellt, dass Trauerfälle in der Kindheit in direktem Zusammenhang mit erhöhten Gesundheitsrisiken stehen, unter anderem einem extremen Stressempfinden und einer höheren Sterblichkeitsrate im Erwachsenenalter. Psychologen haben erkannt, dass hinterbliebene Kinder Trauer und Niedergeschlagenheit empfinden, die sie nicht ausdrücken können. Viele tun so, als würden sie mit dem verstorbenen Bruder oder der verstorbenen Schwester spielen, als wollten sie diese wiederauferstehen lassen. Als Jugendliche neigen sie dazu, höhere Risiken einzugehen: Brian tat dies an der Schule als einer der »Ungezogenen«. Danach wurde er leichtsinnig, oft auf lebensbedrohliche Weise. Andere versuchen die tote Schwester oder den toten Bruder durch eigene Kinder zu »ersetzen«: Brian zeugte fünf anerkannte Nachkommen. Von einem sechsten Kind war die Rede, und es können auch mehr gewesen sein. Unbewusst wählen derart traumatisierte Kinder als Erwachsene Liebespartner, die entweder ihnen oder dem toten Bruder oder der Schwester ähneln: Brian bevorzugte engelhafte Blondinen und verliebte sich unsterblich in das deutsch-italienische Model Anita Pallenberg, die ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war und die er bei einer Tournee auf dem europäischen Festland kennenlernte. Als sie ihn später wegen seines Bandkollegen Keith Richards verließ, brach sie Brian das Herz.
Trauernden Kindern fehlt es häufig auch an Selbstachtung: Brian konnte hochnäsig und verächtlich gegenüber anderen sein, aber am meisten verabscheute er sich selbst. Es ist denkbar, dass solche Kinder sogar einer Todessehnsucht anhängen, die möglicherweise auf einem Überlebenssyndrom beruht: Auch wenn Brians Tod durch Ertrinken als Unfall deklariert wurde, da er unter dem Einfluss von Alkohol und harten Drogen stand, während andere sensationslüstern behaupteten, er sei ermordet worden (es gab wohl Geständnisse auf dem Totenbett, die dies vermuten lassen), so ist nicht ausgeschlossen, dass er nach seinem Rauswurf aus der Band, die er einst gegründet und für die er gelebt hatte, keinen Sinn mehr in seinem Leben sah und sich erlaubte, unterzutauchen und loszulassen.[9]
»Ich bin neugierig auf Brian Jones’ Geschichte: Beziehungsstörungen, emotionale Befreiung durch Drogen und Alkohol, eine frühreife sexuelle Entwicklung«, sagt der angesehene britische Psychotherapeut Richard Hughes. »Der erwachsene Brian steckt voller Wut, sie lauert direkt dort unter seinem blonden Pony. Wie Charlie Watts gesagt hat: ›Er war nicht besonders nett … er hat Menschen schnell verletzt.‹ Ich würde sagen, das deutet auf ein verheerendes und anhaltendes Trauma in seiner Kindheit hin. Vielleicht gab es auch sexuellen Missbrauch. Das werden wir natürlich nie sicher wissen. Das sind reine Vermutungen, aber so, wie es sich darstellt, würde das aus klinischer Perspektive betrachtet passen. Wir dürfen nicht vergessen, dass hinter psychopathologischen Verhaltensweisen menschlich gesehen immer ein Trauma steckt.«
Die Trauer, die Brians Familie nach dem Tod der zweijährigen Pamela erlebte, stellt laut Hughes ein komplexes Trauma dar. »Es gibt einige wenige klinische Studien über den Verlust eines Geschwisterkindes«, ergänzt er. »Der Aufsatz von Albert und Barbara Cain aus dem Jahr 1964 gilt immer noch mehr oder weniger als wichtigste Quelle. Er wurde aus psychoanalytischer und psychiatrischer Sicht verfasst und legt den Fokus auf das ›Ersatzkind‹: das Kind, das danach geboren wurde. Wir können nur Spekulationen darüber anstellen, wie sich der Tod seiner Schwester auf den dreijährigen Brian ausgewirkt hat. Das meiste davon wird sich unbewusst abgespielt haben. Aber es ist interessant, dass er ein Jahr später so schwer an Pseudokrupp erkrankte, dass er den Rest seines Lebens unter Atemproblemen litt. War das eine psychosomatische Reaktion auf das Trauma? Eine unbewusste Mitteilung an seine Eltern, dass auch er Fürsorge brauchte, während sie ihm emotional nur begrenzt zur Verfügung standen? In der chinesischen Medizin und auch der psychoanalytischen Theorie sieht man einen Zusammenhang zwischen Erkrankungen des Kehlkopfs und der Luftröhre einerseits und Trauer andererseits … der Verlust eines Kindes kann die Eltern in ihrer Fähigkeit hemmen, ihre anderen Kinder zu fördern und aufzuziehen. Es war nicht so, dass sie es nicht gewollt hätten, aber sie konnten es nicht. Ihnen fehlte die emotionale und psychische Befähigung dazu.«
Wie verwirrt dieser kleine Junge gewesen sein muss. »Als Dreijähriger kann er sich nichts sehnlicher gewünscht haben, als von seiner Mutter in den Arm genommen und getröstet zu werden. Gleichzeitig kamen in der Familie so viele unbekannte Gefühle zum Ausdruck oder wurden unterdrückt. Wie hat seine Mutter reagiert? Hat sie ihn noch fester an sich gedrückt, den Verlust seiner Schwester überkompensiert? Oder waren seine Eltern mit ihm überfordert, als sie versuchten, mit ihrer eigenen Trauer umzugehen? In der psychoanalytischen Theorie gibt es die Vorstellung vom ›bound child‹, das überbehütet und in Zeiten der Trauer zu sehr festgehalten wird, meist von der Mutter. Ein Ergebnis davon kann sein, dass das Kind ein Gefühl von ›Überflutung‹ verspürt. Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist es dann weniger in der Lage, Gefühle im Zusammenhang mit Trennung und dem eigenen entstehenden Selbstwertgefühl zu verarbeiten, was in der Entwicklung des Kindes wichtige Phasen sind.«
Hughes führt weiter aus, dass ein solches Kind aufgrund seiner fehlenden Autonomie Wut oder Hoffnungslosigkeit empfindet, was sich im Loslösungsprozess noch weiter verkompliziert. »Aus freudianischer Sicht«, ergänzt er, »bewegen wir uns hier auf dem Gebiet dessen, was eine inzestuöse Beziehung ausmacht. Das mag vielleicht grotesk klingen, aber es ist die Grundlage eines Ödipus-Komplexes, und der ist verbreiteter, als man denkt. Während sich die Familie in tiefer Trauer befand und Brian an Pseudokrupp litt und gepflegt werden musste, wurde ein weiteres Kind gezeugt, dieses Mal ein kleines Mädchen, ›das wiederauferstandene Kind‹. Wie hat Brian dies empfunden? Unabhängig davon, ob er zuvor versucht hatte, seine Schwester zu ersetzen, oder ob ihm diese Rolle auferlegt wurde – jetzt war er sie los, er wurde selbst ersetzt. Als Vierjähriger hatte er keinerlei Einfluss darauf. Alle Kinder fühlen sich von einem neuen Geschwisterkind verdrängt. Wir können uns vorstellen, wie Brian das erlebt haben muss.«
Wenn wir frühere Aufnahmen von ihm betrachten, lässt sich all das aufspüren, in den Augen des erwachsenen Brian sehen wir die unerzählte Geschichte. »Was ich auf den Fotos von ihm entdecke, sind die Augen eines Kindes, das nie geweint hat«, sagt Hughes. »Er hat nie geweint, weil es keinen Sinn hatte: Niemand ist gekommen und hat ihn getröstet. In der psychoanalytischen Theorie gibt es den Begriff des ›haunted child‹, das sich von unausgesprochener Trauer und Schuldgefühlen wegen des eigenen Überlebens überwältigt fühlt, den Platz der toten Schwester oder des toten Bruders aber nicht einzunehmen vermag. Das kann mit einem tiefen Gefühl von Scham verbunden sein: weil vermeintlich das falsche Kind gestorben ist oder den Eltern in ihrem tiefsten Inneren lieber gewesen wäre, das andere Kind wäre gestorben. Brian muss als ein solches Kind entsetzt darüber gewesen sein, dass sich die Trauer der Eltern in Form der Geburt einer neuen Schwester manifestierte, was in seinen Augen das eigene Gefühl bestätigte, nicht ›genug‹ und ›ersetzbar‹ zu sein. Das Kind, das einst ein so enges Verhältnis zur Mutter hatte, empfindet nun eine überwältigende ödipale