Theaterspiele - Günter Grass - E-Book

Theaterspiele E-Book

Günter Grass

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Beschreibung

"Theaterspiele" enthält die Stücke: Beritten hin und zurück Hochwasser Onkel, Onkel Noch zehn Minuten bis Buffalo Die bösen Köche Stoffreste Zweiunddreissig Zähne Goldmäulchen POUM oder die Vergangenheit fliegt mit Die Plebejer proben den Aufstand Davor

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Günter Grass

Theaterspiele

Inhaltsverzeichnis
BERITTEN HIN UND ZURÜCK
HOCHWASSER
Erster Akt
ONKEL, ONKEL
Erster Akt
Vorspiel
Die Grippe
Zweiter Akt
Vorspiel
Der Kuckuck
Dritter Akt
Vorspiel
Die Diva
Vierter Akt
Vorspiel
Onkel, Onkel
NOCH ZEHN MINUTEN BIS BUFFALO
DIE BÖSEN KÖCHE
Erster Akt
Zweiter Akt
Dritter Akt
Vierter Akt
Fünfter Akt
STOFFRESTE
ZWEIUNDDREISSIG ZÄHNE
Erster Akt
Zweiter Akt
Dritter Akt
Vierter Akt
Fünfter Akt
GOLDMÄULCHEN
1. Szene
2. Szene
3. Szene
4. Szene
5. Szene
6. Szene
7. Szene
8. Szene
9. Szene
10. Szene
11. Szene
12. Szene
13. Szene
14. Szene
15. Szene
16. Szene
17. Szene
18. Szene
19. Szene
20. Szene
21. Szene
22. Szene
POUM oder DIE VERGANGENHEIT FLIEGT MIT
DIE PLEBEJER PROBEN DEN AUFSTAND
Erster Akt
1. Szene
2. Szene
3. Szene
4. Szene
5. Szene
6. Szene
7. Szene
8. Szene
Zweiter Akt
1. Szene
2. Szene
3. Szene
4. Szene
5. Szene
6. Szene
7. Szene
Dritter Akt
1. Szene
2. Szene
3. Szene
4. Szene
5. Szene
6. Szene
7. Szene
8. Szene
9. Szene
Vierter Akt
1. Szene
2. Szene
3. Szene
4. Szene
5. Szene
6. Szene
7. Szene
8. Szene
DAVOR
1. Szene
2. Szene
3. Szene
4. Szene
5. Szene
6. Szene
7. Szene
8. Szene
9. Szene
10. Szene
11. Szene
12. Szene
13. Szene
Bibliographische Nachweise

BERITTEN HIN UND ZURÜCK

Personen:

Dramaturg

Stückeschreiber

Schauspieler

Conelli

In der Mitte der leeren Bühne schaukelt der Clown Conelli auf einem Schaukelpferd.

Conelli: Wie angenehm! Man sagt, ich bin tot. Im Zirkus wollen sie mich rausschmeißen. »Du bist nicht mehr komisch«, haben sie gebrüllt, bis ich lachen mußte. Da haben sie gemerkt, daß brüllen komisch wirkt. Nun treten sie selber auf, und ich habe ihnen den Tip gegeben. - Zum Schaukelpferd: Ingeborg, meinst du, man könnte uns beim Fernsehen gebrauchen oder gar beim Theater? - Jetzt schaukeln wir noch tausendmal, und dann reiten wir woanders hin. Er schaukelt. Von links, gegen seinen Rücken kommen der Dramaturg, der Stückeschreiber und der Schauspieler.

Dramaturg: Das kann man doch nicht machen, Kinder. Wo kommen wir hin, wenn wir den Zirkus auf die Bühne bringen.

Schauspieler: Allenfalls Kabarett!

Stückeschreiber: Seid nicht so unbeweglich. Anders anziehen! Lederzeug, Sturzhelm, kein Schaukelpferd mehr, Motorrad!

Dramaturg: Ähnliches haben wir bei Cocteau schon gesehen.

Stückeschreiber: Ich lass’ mit mir reden, neuer Vorschlag: Vespa!

Schauspieler: Oder Rakete, Sputnik!

Stückeschreiber: Ganz entschieden weigere ich mich, diesen Aktualitätenrummel mitzumachen. Isoliert steht der Clown außerhalb der menschlichen Gesellschaft. Er ist das Loch in der Schöpfung. Er ist die wahrhaft tragische Figur.

Dramaturg: Und die Vespa? Wenn das nicht komisch ist?

Stückeschreiber: Ein Mittel mehr, seine innere Tragik zu unterstreichen.

Schauspieler: Ich finde Sputnik viel tragischer.

Stückeschreiber: Gerade um die Mitte zwischen tragischem Sputnik und komischer Vespa zu treffen, verlangte ich anfangs nach einem richtigen, tragikomischen Motorrad.

Dramaturg: Womit wir wieder bei Cocteau sind. Lassen wir mal alles beiseite: Schaukelpferd, Sputnik, Motorrad, Vespa. Übrig bleibt der Clown. Im Zirkus darf er nicht mehr auftreten, und bevor ihn das Fernsehen wegschnappt und für Werbezwecke mißbraucht, müssen wir zugreifen.

Stückeschreiber: Sie meinen also, ohne Schaukelpferd.

Dramaturg: Schaukelpferd kommt gar nicht in Frage.

Schauspieler: Herr Conelli, steigen Sie ab von Ihrem Zuchthengst.

Dramaturg: Zuchthengst ist köstlich. - Haben Sie gehört, Conelli? Aus dem Sattel sollen Sie sich schwingen, Zuchthengst ist müde.

Conellizum Schaukelpferd: Ingeborg, wir müssen ein Schrittchen zulegen. Hinter uns spricht man von einem Hengst.

Stückeschreiberneben Conelli: Ist ja gut, Conelli. Will Ihnen ja keiner was. - Hübsche Stute!

Conelli: Ingeborg!

Dramaturg: Noch hübscherer Name. Nun steigen Sie mal ab, Sie Sonntagsreiter. Mensch Angelmann, da haben wir den Titel: Sonntagsreiter!

Stückeschreiber: Ich denke, das Schaukelpferd soll verschwinden.

Conelli: Ingeborg?

Dramaturg: Ach was, Conelli, hören Sie nur nicht auf den Angelmann. Ingeborg bleibt! Alle drei abseits. Muß ja nicht genau so aussehen. Amorpher, fragmentarischer! Nun sagen Sie schon wie, Angelmann. Sind doch schließlich der Autor.

Stückeschreiber: Als Gerippe etwa, als Pferdeskelett.

Dramaturg: Richtig! Das nenne ich eine organische und gleichsam übersetzte Erfindung, die den Menschen von heute anspricht, wenn nicht sogar erschüttert.

Stückeschreiber: Na bitte, jetzt wollen Sie auch die Tragödie.

Dramaturg: Quatsch, Angelmann! Ist doch komisch so ’n Gerippe. Leute wollen lachen im Theater, Zeiten sind traurig genug!

Schauspieler: Kann ja noch was dran haben, der Gaul. Schwanz, paar Zotteln und hier und da Fleischlappen.

Dramaturg: Köstlich! - Das ist auf der einen Seite surreal – man denkt sofort an die Franzosen, Beckett und so weiter -, andererseits aber spricht uns, das deutsche Publikum, so etwas besonders an. Denken Sie mal zurück: Grünewald, der Tod und das Mädchen, es ist ein Schnitter, heißet Tod, Hofmannsthal, Jedermann. Nur nicht mehr in der üblichen klischeehaften Aufmachung mit Sense und Stundenglas, sondern mit dicker Nase und komischem Hut.

Conelli duckt sich ängstlich.

Schauspieler: Man könnte so eine Art Derby machen: Reitet für Deutschland! Schauspieler und Dramaturg lachen. Conelli blickt hilflos, dann lacht er mit, immer lauter ohne aufzuhören.

Dramaturg: Was hat er nur?

Stückeschreiber: Kunststück, Sie haben ihn eingeschüchtert.

Conellileise zu seinem Schaukelpferd: Ingeborg, jetzt geht es ums Leben. Das sind Fleischbeschauer, die kommen vom Schlachthof. - Ich werde versuchen, sie abzulenken. Er setzt sich verkehrt aufs Pferd und spricht den Schauspieler an: In diesem Jahr fällt die Ernte mäßig aus, wir haben zuviel Kaninchen.

Stückeschreiber: Antworten Sie, Perkatsch, improvisieren Sie. Sein Spieltrieb erwacht!

Schauspieler: Die Leute behaupten aber, es ist zu trocken in diesem Jahr.

Conelli: Viel zuviel Kaninchen haben wir.

Schauspieler: Aber zu trocken ist es auch.

Conelli: Die Kaninchen liegen ruhig da und stellen sich tot. Die Leute laufen hinter den Kaninchen her und finden sie nicht, weil die Kaninchen sich totstellen.

Schauspieler: Ich laufe aber hinter überhaupt keinem Kaninchen her, ich liege im Bett.

Stückeschreiber: Ausgezeichnet, ein Bett her! Ein Bett wird auf die Bühne geschoben, der Schauspieler legt sich hinein.

Schauspieler: Laufe ich etwa? Ganz ruhig liege ich und habe es warm.

Conelli: Weil Sie müde sind. Nachher, wenn Sie ausgeschlafen haben, laufen Sie wieder.

Schauspieler: Ich fürchte mich vor Kaninchen!

Dramaturgleise: Gar nicht mal übel.

Conelli: Alle Leute fürchten sich vor Kaninchen, deshalb laufen sie hinterher.

Stückeschreiber: Anderes Thema, Perkatsch, er nagelt Sie fest!

Schauspieler: Ich lauf ganz woanders hin, ich bin verheiratet.

Conelli: Wie angenehm.

Schauspieler: Meine Frau ist mit mir verheiratet.

Conelli: Das muß aber angenehm sein.

Stückeschreiber: Noch sträubt er sich, aber der Konflikt liegt schon auf der Hand.

Schauspieler: Sie liegt hier im Bett, meine Frau.

Conelli: Wie angenehm.

Schauspieler: Und wissen Sie, was sie macht, meine Frau?

Conelli: Sicher was Angenehmes.

Schauspieler: Sie stellt sich tot, wie Ihre Kaninchen.

Conelli: Fleißig, fleißig!

Schauspieler: Sie übertreiben.

Conelli: Emsig nähen die Näherinnen.

Schauspieler: So doll ist es nun auch wieder nicht.

Conelli: Immerhin! Hundert Stiche in der Minute.

Stückeschreiber: Aufpassen, Perkatsch!

Schauspieler: Sehen Sie, Herr Conelli, keine Frau ist vollkommen, auch die meine nicht.

Conelli: Dann ist sie auch kein Kaninchen! Ihre Frau ist entweder ein Mäuschen oder eine Schlafmütze. - Aber immerhin!

Schauspieler: Was soll ich sagen, Angelmann?

Conelli: Höchstwahrscheinlich ist sie eine Maus.

Stückeschreiber: Darauf würde ich mich nicht einlassen. Maus ist bestimmt eine Falle. Irgendein anderes Tier. Die Szene muß Farbe bekommen.

Schauspieler: Meine Frau träumt immer, daß sie ein Zebra ist.

Conelli: Kann sie denn Klavier spielen?

Stückeschreiber: Na also! Einen Flügel bitte! Ein Klavier wird auf die Bühne geschoben.

Schauspieler: Sie ist noch ein sehr kleines Zebra. Sie muß erst Noten lernen, auch tritt sie noch viel zuviel aufs Pedal. Vielleicht, wenn Sie damit zufrieden sind, könnte meine Frau mit einem Finger aus dem Zarewitsch…

Conelli: Schwindel! Ich reite davon. Zebras spielen bei der Geburt schon vierhändig. Er schaukelt.

Schauspieler: So bleiben Sie doch! Meine Frau ist eben eine Ausnahme.

Conelli: Zebras sind nie Ausnahmen.

Schauspielerzum Stückeschreiber: Geben Sie mir Ihre Pistole, schnell. Der Stückeschreiber reicht ihm eine Pistole. Stehenbleiben, Conelli, oder ich schieße!

Conelli: Au ja, schießen Sie! Da lachen die Leute am meisten drüber. Der Schauspieler steckt die Pistole weg.

Schauspieler: Na gut, Conelli, verschieben wir das Schießen, spielen wir lieber Klavier. Ich werde meine Frau bitten, etwas zum besten zu geben.

Conellier schaukelt nicht mehr: Wie angenehm!

Schauspielerunter die Bettdecke: Maus, hör zu, Maus! Herr Conelli ist da. Stell dich nicht mehr tot, du bist kein süßes kleines Kaninchen mehr, auch keine freche Wühlmaus, du bist jetzt ein Zebra. - Hörst du? Zebra! - Sie stellt sich immer noch tot.

Conelli: Dann ist sie auch kein Zebra. Zebras stellen sich nie tot, Zebras spielen immerzu Klavier, auch wenn sie schlafen. - Ich reite davon. Er schaukelt.

Schauspieler: Verdammt nochmal, das ist doch kein Dialog.

Dramaturg: Ich halte mich da abseits und höre gespannt zu.

Stückeschreiber: So reden Sie doch! Weiter, weiter, sonst ist er weg!

Schauspieler: Hören Sie, Herr Conelli, meine Frau träumt ja nur, daß sie ein Zebra ist, in Wirklichkeit ist sie ein ganz ordinäres Kaninchen.

Conelli: Wenn sie kein Zebra ist, reit’ ich davon. Ich kann ja wiederkommen, wenn sie eins geworden ist. Er schaukelt.

Dramaturg: Perkatsch, Sie müssen versuchen, ihn von seinem albernen Schaukelpferd runterzubekommen, damit er endlich mit den Zebras aufhört.

Stückeschreiber: Locken Sie ihn ins Bett.

Dramaturg: Der Konflikt ist schon lange fällig.

Schauspieler: Als wenn der sich was aus ’ner Bettgeschichte machen würde.

Dramaturg: Wir kommen nicht drum herum.

Schauspieler: Wie wäre es, Herr Conelli, wenn Sie auch ein bißchen ins Bett schlüpfen würden.

Conelli: Wie angenehm.

Schauspieler: Vielleicht, wenn Sie ins Bettchen kämen, vielleicht wird meine Frau dann zum Zebra und stellt sich nicht mehr tot, sondern spielt Klavier, hurtig wie ein Mäuschen.

Stückeschreiber: Vorsicht Perkatsch!

Schauspieler: Oder noch hurtiger, wie, wie, wie eben nur ein Zebra hurtig Klavier spielen kann. Nur allein schon die Vorstellung, lieber Conelli: Sie liegen im Bettchen - die Beine angezogen oder gestreckt, ganz wie Sie es gerne haben und gewohnt sind - und meine Frau spielt, nein sie spielt nicht, sie intoniert! - Kommen Sie nun?

Conelli: Schon unterwegs! Er wendet das Schaukelpferd und reitet auf das Bett zu. Lauf Ingeborg, lauf! Wir dürfen uns ins Bettchen legen. Da ist es wie im Zoo. Da hat es Zebras, Kaninchen, Mäuse und Zebras.

Er schaukelt.

Dramaturg: Der Kerl ist nicht runterzubekommen von dem Gaul!

Stückeschreiber: Sagen Sie ihm, er soll seine Ingeborg an den Bettpfosten binden.

Schauspieler: So, Conelli. Endlich und glücklich sind wir angelangt. Nun binden Sie Ihre Ingeborg schön sorgfältig am Bettpfosten fest, damit sie nicht wegläuft. Und dann hinein in die Federn!

Conelli: Ohne Ingeborg?

Schauspieler: Das Bett ist zu klein.

Conelli: Gerade kleine Betten sind besonders angenehm.

Schauspieler: Man stößt sich überall und weiß am Ende nicht, welches Bein wem gehört.

Conelli: O muß das angenehm sein.

Schauspieler: Ihre Ingeborg dürfte da an mehreren Stellen empfindlich reagieren.

Conelli: Nichts berührt sie angenehmer, und auch ich weiß nichts Angenehmeres zu nennen, als solch ein richtiges, angenehmes Kuddelmuddel.

Schauspieler: Jetzt fängt er schon wieder mit seinem blöden »angenehm« an. Ich kann ihn doch nicht samt seinem Streitroß ins Bett holen.

Dramaturg: Auf keinen Fall geht das.

Stückeschreiber: Warum eigentlich nicht?

Dramaturg: Denken Sie an die Volksbühne, an den Tierschutzverein!

Stückeschreiber: Wie wäre es, wenn wir hier eine kleine Gewalttat einbauen würden: »Vergewaltigung des Clowns«. Hübsche Pantomime mit Nutten, Zuhälter, Harlekin als Gegenspieler, Colombine natürlich im Bett und so weiter und so weiter, Stil: »Kinder des Olymp«. Sowas wirkt immer.

Dramaturg: Es wird uns nichts anderes übrigbleiben.

Stückeschreiber: Oder versuchen wir es noch einmal so. Die Nutten laufen uns nicht davon.

Schauspieler: Was soll ich sagen? - Hören Sie, Herr Conelli. Was wird meine Frau von Ihnen denken, wenn Sie sie so lange warten lassen? Was bleibt ihr anderes übrig, als sich immerfort totzustellen wie ein armseliges Kaninchen.

Conelli: Sicher fühlt sie sich einsam.

Schauspieler: Todsicher.

Conelli: Ich weiß. Leisten wir ihr Gesellschaft. Ich stelle mich tot. Stellen Sie sich doch auch tot, wenn Ihre Frau sich schon totstellt. Dann sind wir alle drei totgestellte Kaninchen und träumen gemeinsam von Zebras, bis wir welche sind. Dann stehen wir auf und spielen sechshändig Klavier, nur Ingeborg darf nicht mitspielen, weil sie so unmusikalisch ist und immer danebengreift.

Er umklammert den Hals des Schaukelpferdes und stellt sich tot.

Schauspieler: Conelli!

Dramaturg: Da haben wir es.

Schauspieler: Herr Conelli! - Was ist, soll ich mich etwa auch totstellen?

Dramaturg: Schluß mit dem Theater nach knappen zehn Minuten. Alle stellen sich tot, weil sie Kaninchen sind, Vorhang! Raus aus dem Bett, Perkatsch! Sie können nach Hause gehen.

Schauspieler: Nichts tu ich lieber. Womöglich ist meine Frau schon zu Bett gegangen und beschließt gerade, sich mucksmäuschentot zu stellen. Er stürmt davon.

Dramaturgnachrufend: Sollte dieser Fall eintreten, würde ich mich an Ihrer Stelle gleichfalls totstellen. Hören Sie Perkatsch, einfach totstellen!

Stückeschreiber: Ich fand das gar nicht so übel. Beträchtlich gekürzt, gestrafft, als Aktschluß etwa. Muß ja nicht gerade der letzte Akt sein.

Dramaturg: Einige hübsche Stellen, mehr schaut nicht heraus. Ich würde nichts gesagt haben, wenn die Sache mit dem Bett geklappt hätte. Das hätte Handlung ergeben, Spannung! Die Reaktion der Frau, das Verhalten des Ehemannes und so weiter und so weiter.

Stückeschreiber: Die uralte Dreiecksgeschichte. Sie sehen den Clown falsch. Er ist vollkommen unerotisch, ja sprechen wir es aus, er ist impotent. Vom Bett her bekommen wir ihn nicht zu fassen.

Dramaturg: Sicher würde ich dieser These zustimmen, wenn ich nicht zuvor gründliche Erkundigungen eingezogen hätte. Herr Conelli ist mehr oder weniger glücklich verheiratet, von seiner Frau soll hier jedoch nicht die Rede sein, vielmehr von seiner achtzehnjährigen Tochter Dorothea - kommen Sie her, mein Kind! Ein junges Mädchen tritt auf. Das ist der Herr Angelmann, einer unserer hoffnungsvollsten Dramatiker. Er hat schon mehrere erfolgreiche Hörspiele geschrieben. Die Herren verbeugen sich.

Dramaturg: Ich glaube, ich darf offen mit Ihnen sprechen. Ihr Herr Vater stellt sich gerade tot.

Dorothea: Da müssen Sie sich nichts draus machen. Das tut er immer, wenn ihn jemand vom Schaukelpferd holen will.

Dramaturg: So hat jeder seine bewährte Methode. - Sie sind verlobt, wenn ich mich nicht täusche?

Dorothea: Mein Freund ist Filmcutter, aber mein Vater ist dagegen, daß wir zusammengehören.

Dramaturg: Merken Sie was, lieber Angelmann? »Greift nur hinein ins volle Menschenleben…« Auf der einen Seite Clown, stellt sich gelegentlich tot und immer auf Schaukelpferd Ingeborg, auf der anderen Seite strenger, wenn nicht sogar engherziger Familienvater. Conelli richtet sich auf und schreit Dorothea an.

Conelli: Dieser Filmcutter, dieser Cutter beim Film! Was ist das überhaupt, ein Filmcutter? Entweder Film oder Cutter, entweder gecuttet oder gefilmt! Aber das reicht dir wohl nicht. Gleichzeitig muß gefilmt und gecuttet werden. Außerdem trägt der Kerl den Scheitel links, und Fußschweiß hat er auch! Er stellt sich wieder tot.

Dorothea: So behandelt er uns! Sie müssen wissen, vor zwei Wochen trat ich noch mit ihm im Zirkus Baumann auf. Mein Verlobter kam zu jeder Vorstellung, bis mein Vater etwas merkte.

Dramaturg: Sie sind Kunstreiterin, nicht wahr?

Dorothea: Mein Vater zwang mich, es zu werden.

Stückeschreiber: Ich weiß gar nicht, wo Sie hinauswollen. Das ist simpelstes Zirkusmilieu, tausendmal gehabt. Gut für’s Kino, aber auf der Bühne?

Dramaturg: Abwarten, Angelmann, abwarten! - Und was tat Ihr Herr Vater, als er Ihren Freund und Verlobten im Zirkus bemerkte?

Dorothea: Richtig gemein hat er ihn behandelt. - Nicht wahr, Karl-Heinz? Ein junger Mann tritt auf.

Karl-Heinz: Karl-Heinz Brenner, Filmcutter. Er verbeugt sich. Ich kann bezeugen, daß Herr Conelli, bei allem Respekt vor seinen Fähigkeiten als Clown, mir gegenüber nicht gerade fair gehandelt hat.

Dorothea: In die Manege hat er ihn geholt und vor dem Publikum lächerlich gemacht.

Stückeschreiber: Das ist schließlich sein Beruf.

Dorothea: Aber der Spaß muß Grenzen haben.

Karl-Heinz: Als Conelli mich in die Manege winkte, wollte ich, natürlich wegen Dorothea, kein Spielverderber sein. Ich stellte mich also neben ihn, und er sagte, wie das so seine Art ist: Ich sei jetzt ein Kaninchen und ich müsse mich totstellen, das täten alle Kaninchen. - Ich machte mit, tat so, als wenn ich mich totstellen würde, da zog er mir blitzschnell Schuhe und Strümpfe aus und warf sie ins Publikum. Conelli richtet sich auf und schreit:

Conelli: Serrrr verehrtes Publikum, unser Kaninchen hat Schweißfüße - weil unser Kaninchen gar kein Kaninchen ist, sondern ein kleines Ferkel. Er quietscht wie ein Ferkel und stellt sich dann wieder tot.

Dorothea: Sie können sich vorstellen, wie uns das getroffen hat. Seine alberne Kaninchengeschichte, bitte, warum nicht. Da lacht sowieso kein Mensch mehr drüber. Aber das ging dann doch zu weit.

Karl-Heinz: Unter dem Publikum befanden sich meine Eltern und mehrere Kollegen und Vorgesetzte der Excelsior-Film-Company.

Dramaturg: Was sagen Sie nun Angelmann?

Stückeschreiber: Als kleine Nebenhandlung ganz hübsch. Man könnte aus dem Filmcutter einen Löwenbändiger machen, um die alte Rivalität zwischen Clown und Gewaltmensch zu unterstreichen. Aber als Hauptaktion? Etwa Romeo und Julia im Zirkus? Das wird doch wohl kaum Ihre geschätzte Absicht sein?

Dramaturg: Wo bleibt das Stück, Angelmann. Bisher gab’s nur mehr oder weniger lustige Episoden.

Stückeschreiber: Es fehlte der große Bogen. Doch passen Sie auf. Gleich nimmt die Tragödie ihren Lauf.

Dramaturg: Komödie wollten Sie sagen.

Stückeschreiber: Der Tragödie erster Akt, Doppelpunkt.

Dramaturg: Einen Moment bitte! - Zu Dorothea und Karl-Heinz. Wollen Sie doch so freundlich sein und Ihre werten Namen und die Adressen im Büro hinterlassen. Es hat uns sehr gefreut. Außerordentlich packend und zeitgemäß Ihre Geschichte. Endlich mal wieder ein echtes Problem. - Sie hören dann bald von uns. Dorothea und Karl-Heinz treten ab. Nun, Angelmann?

Stückeschreiber: Der Clown Conelli sitzt auf seinem Schaukelpferd. - Lassen wir es vorläufig dabei.

Dramaturg: Fast wäre selbst ich jetzt für ein Motorrad.

Stückeschreiber: Ein reicher Herr geht vorbei und verliert sein Sparbuch. Conelli hebt es auf, und was tut er? - Alle Zahlen, vom Anfang bis zum fünfstelligen Ende, vorwärts und rückwärts, das Auf und Ab eines quicklebendigen Kontos mit allen Zinsberechnungen lernt er auswendig.

Dramaturg: Und wo bleibt Ihre Tragik?

Stückeschreiber: Ja liegt sie nicht schon in der Luft?

Dramaturg: Ich könnte das nicht einmal komisch finden.

Stückeschreiber: Nachdem Conelli das Sparbuch auswendig hersagen kann, wirft er es fort. Kinder springen auf die Bühne, hören ihn murmeln, lernen gleichfalls den Text des Sparbuches, laufen davon, singen es ihren Müttern vor, die Mütter erzählen es den Vätern, die Väter den Kollegen, die Kollegen ihren Vorgesetzten, die Vorgesetzten sagen es dem Herrn Direktor, der Herr Direktor verrät es dem Aufsichtsrat, und was passiert?

Dramaturg: Der Aufsichtsrat beginnt, angesichts der geheimnisvollen Zahlenkolonnen, Toto zu spielen und gewinnt eine runde Million.

Stückeschreiber: Das wäre dann eine Komödie. Bei mir jedoch löst die Zahlenlawine einen Bankkrach aus. Der Kurs schwankt, fällt, sinkt ins Bodenlose. Innerhalb weniger Stunden wird die Währung der ganzen Welt hinfällig. Sogar im Gebälk der DM knistert es, kracht es. Inflation, Arbeitslosigkeit, Revolution! Und alles nur, weil der Clown Conelli ein Sparbuch fand.

Dramaturg: Und was passiert im zweiten Akt?

Stückeschreiber: Da findet Conelli ein Telefonbuch, lernt gleichfalls diese Lektion auswendig und ruft so die Geheimdienste der östlichen und westlichen Welt auf den Plan. Sie können sich vorstellen, was nun alles ins Rollen kommt. Verdächtigungen, Abbrüche diplomatischer Beziehungen…

Dramaturg: Und der dritte Akt?

Stückeschreiber: Die Katastrophe! Conelli, immer noch auf seinem Schaukelpferd, findet den Fahrplan der Bundesbahn. Nun kommt es zum endgültigen Zusammenstoß. Krieg, Atombombe, H-Bombe, Weltuntergang!

Dramaturg: Und Conelli?

Stückeschreiber: Die letzten Vertreter der Menschheit, unter ihnen seine Tochter Dorothea und der Filmcutter, sehen in Conelli den wahren Schuldigen. - Er wird während einer Massenszene gelyncht. Der letzte und vierte Akt zeigt sein Begräbnis.

Conellifährt auf: Ingeborg, wir sind tot! Wir müssen uns beeilen, sonst kommen wir zu spät zu unserem Begräbnis. Und wenn wir das Begräbnis versäumen, verpassen wir hinterher die Kindervorstellung, die pünktlich um 5 Uhr nachmittags beginnt und wozu wir alle Kinderchen aber auch die Erwachsenen herzlich einladen. Kaninchen haben freien Eintritt, Zebras halbe Preise! - Hop Ingeborg, hop! Sonst ist das schöngeschmiedete Friedhofstor zu. Die Leute nehmen ihre Kränze wieder nach Hause und wissen nicht, wohin damit. - Außerdem sind wir zu Kaffee und Streuselkuchen eingeladen. Er schaukelt.

Dramaturg: Und wenn er nun zu spät zum Begräbnis kommt?

Stückeschreiber: Dann könnte dieses Stück unter Umständen eine Komödie werden.

Dramaturg: Denn es sieht ganz so aus, als wenn er zu spät kommen wird. Zu spät zum Begräbnis, zu spät zu Kaffee und Kuchen. Vielleicht schafft er es noch bis 5 Uhr und tritt rechtzeitig bei der Kindervorstellung auf. Kinder warten nicht gerne!

(Beide schauen besorgt auf ihre Uhren, vergleichen sie und gehen dann ab. Conelli schaukelt eifrig, während der Vorhang fällt.)

HOCHWASSER

Personen:

Noah

ein Hausbesitzer

Betty

seine Schwägerin

Jutta

seine Tochter

Leo

sein Sohn

Henn

Juttas Verlobter

Kongo

Leos Freund

Der Prüfer

Strich und Perle

zwei Ratten

Erster Akt

Das Bild zeigt ein Haus im Querschnitt. Man sieht die Kellertreppe, darüber ein niedriges Zimmer, das Flachdach mit dem Kamin. Auf der Kellertreppe versucht Noah mit Tante Bettys Hilfe eine größere Kiste hochzubewegen. Betty und Noah von Leuchtern, Familienfotos und Fotoalben umgeben. Zimmer und Flachdach liegen im Halbdunkel.

Betty: Wir werden uns noch erkälten.

Noah: Ein geringer Preis für diese Schätze.

Betty: Aber du hast doch nun schon den größten Teil deiner Sammlung oben, und ich habe dir wirklich…

Noah: Nur diese Kiste.

Betty: Noah, glaub mir, sie ist zu schwer.

Noah: Es sind sicher erlesene Stücke dabei; die burgundischen, weißt du?

Betty: Das kannst du gar nicht wissen. Genauso könnte auch ich weiß nicht was alles drinnen sein. Sie blättert in einem Fotoalbum. Sieh nur, dieses Foto von Leo.

Noah: Leo, Leo - da oben, die sollen kommen und helfen.

Betty: Ein bildschönes Kind war er und schlau. Weißt du noch, als wir mit Erna…

Noah: Meine Frau war nicht dabei, nie war sie dabei.

Betty: Gut, gut, vielleicht war sie damals schon etwas kränklich. Auf jeden Fall waren wir in Steegen am Strand, und Leo sah auf einmal die Dame mit dem blaurot-gestreiften…

Noah: Ich glaube nicht, daß hier der geeignete Platz ist und die rechte Zeit - sie sollen jetzt kommen und helfen. Heh!

Betty: Sie werden kaum etwas hören.

Noah: Sie wollen nicht, liegen nur immer herum und haben sich.

Betty: Du bist zu hart, sie sind doch jung. - Es ist kühl hier.

Noah: Alles wird verderben, all meine Arbeit. Ein halbes Menschenalter Mühe, Geduld, viele Reisen, viele lange Reisen…

Betty: Das muß man dir lassen, es hat viel Fleiß gebraucht, und das für Tintenfässer. Kleine, große, dicke, schlanke, und einige haben einen Sprung.

Noah: Du redest, wie du es verstehst. - Hier, dieses Glas, ein Rest hellvioletter Tinte blieb ihm noch. Natürlich ist sie heute trocken und hart. Ja, und weißt du auch, wer hierin seine Feder tauchte? In dieses zierliche Behältnis? Königin Luise, als sie auf der Flucht hier durchkam, übernachtete und mehrere Briefe schrieb…

Betty: Aber man sagt doch…

Noah: Ja, ich weiß, man sagt, es seien nur persönliche Briefe gewesen und sie hätte sie am selben Abend zerrissen. Vielleicht haben die Leute recht. Einerlei, sie war eine wahrhafte Königin.

Betty: Das war sie.

Noah: Wir plaudern, und das Wasser steigt.

Betty: Du hast recht, wir sollten…

Noah: Sie sollten jetzt kommen. Sie denken nur an sich. Die Schallplatten haben sie hochgetragen, illustrierte Zeitungen, den halben Kasten Bier.

Betty: Und die Weckgläser, Noah. Du darfst nicht ungerecht sein.

Noah: So, ich darf nicht ungerecht sein? Warum nicht, sag mir, warum darf ich nicht ungerecht sein, hm?

Betty: Noah!

Noah: Wer fragt nach mir. Wer hilft mir? - Oben liegen sie und vermischen sich, du blätterst in diesen Alben und zeigst mir Fotos von meinen Kindern. Fotos, sie sollen selber kommen, und helfen sollen sie! Kommt!

Betty: Noah, du bist außer dir.

Noah: Verzeih. - Aber warum kommen sie denn nicht. Sie wissen doch, es verdirbt ja alles. Die Aufschriften werden sich lösen und verlöschen.

Betty: Aber später, hinterher kannst du ja alles wieder neu beschriften.

Noah: Später - wer weiß, was dann ist?

Betty: Wie?

Noah: Nun, einmal kommt für uns alle der Tag.

Betty: Aber Noah!

Noah: Wir müssen mit allem rechnen. - Nur dieses hier, mein Werk, sicher, es ist nichts Großes, nur Tintenfässer, wie du zu sagen pflegst, aber es hat seine Bedeutung. Glaub mir, Betty, diese meine Arbeit darf nicht umsonst gewesen sein. - Du siehst mich niedergeschlagen, ich bin es.

Betty: Aber du wirst doch nicht…

Noah: Seit Montag steigt das Wasser wieder. Aber die da oben, nichts wissen sie, denken Regen, das ist so ein Geräusch, eine Art Schallplatte mit Sprung, die immer dasselbe plärrt und die man, wenn man’s satt hat, einfach abstellt. Verstehst du, den Regen wollen sie abstellen.

Betty: Nun ja, recht hast du schon.

Noah: Genau das, du verstehst mich. Wir können die Kiste doch hier nicht stehen lassen, es würde alles verderben. - Vielleicht sind auch noch Fotos darin, sicher sogar. Fotos von Leo, deinem Liebling.

Betty: Meinst du wirklich, hier in der Kiste, aber da müssen wir ja sofort - Kinder, Kinder, hallo!

Sie klatscht in die Hände. Auf der Kellertreppe wird es langsam dunkel, im Zimmer hell. Die Einrichtung des Zimmers, Standuhr und bürgerliche Möbel sind fast ganz von Kisten, Armleuchtern und Fotoalben verdeckt. In der rechten Hälfte des Zimmers, die übersichtlich geblieben ist, sitzen Henn und Jutta auf dem Bett.

Henn: Du, deine Tante ruft. Pause.

Jutta: Laß sie doch.

Henn: Meinst du, ich soll mal nachsehen? Könnte doch irgendwas passiert sein.

Jutta: Was soll schon passiert sein?

Henn: Vielleicht geh ich doch mal schnell.

Jutta: Nein, bleib hier, und fang schon an mit dem Quatsch.

Henn: Gut, wenn du meinst. Aber glaub mir, das ist nicht nur irgend so ein Quatsch. Die Sache ist vollkommen in Ordnung. Ich kann dir nachher haargenau die Zahl sagen, aber du mußt gut aufpassen.

Jutta: Fang endlich an.

Henn: Hier, Daumen.

Jutta: Daumen.

Henn: Nein, nichts sagen.

Jutta: Gut.

Henn: Warum bist du denn so gereizt? - Also Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger, kleiner Finger, hast du?

Jutta: Hm.

Henn: Gut, weiter. Kleiner Finger, jetzt zurück, Ringfinger, zwei übersprungen…

Jutta: Warum denn?

Henn: Weil das nun mal so ist, paß lieber auf. - Zwei übersprungen, jetzt mußt du dir was denken. Pause.

Jutta: Hab ich.

Henn: Und außerdem eine Zahl, die dazu paßt.

Jutta: Auch das noch.

Henn: Jetzt wieder von vorn. Daumen…

Jutta: Daumen.

Henn: Paß auf, sag ich.

Jutta: Ja doch.

Henn: Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger, kleiner Finger, Faust. - Was hast du dir gedacht?

Jutta: Sag ich nicht.

Henn: Muß ich aber wissen, wenn ich die Zahl nachher raten soll, sonst hat das doch…

Jutta: Ich will nicht.

Henn: Sag doch.

Jutta: Ich denk, du weißt alles. Bist doch sonst ein ganz heller Junge - ’nen Kerl wie du, mit solch ’nem Vater? - Sag mal, warum bist du eigentlich nicht mit deinem Alten gefahren, als das hier losging? Wärst jetzt schön aufm Trockenen.

Henn: Sag nun, was hast du vorhin gedacht?

Jutta: Ist das ein Spiel, oder willst du bloß wieder mal nachschnüffeln? - Hast doch gesagt, damit kann man alles ganz genau nachrechnen.

Henn: Sei doch kein Spielverderber.

Jutta: Hat damit gar nichts zu tun, ich will einfach nicht.

Henn: Gut, du willst nicht, aber wenn ich dich nun bitte?

Jutta: Ach hör auf. Pause.

Henn: Ich, ich liebe dich doch.

Jutta: Weiß ich, weiß ich - wissen alle Leute. Wenn es noch ’ne Zeitung gäbe, würde es prompt drinstehen.

Henn: Sag es doch.

Jutta: Nein. -

Henn: Gut, dann rat ich eben.

Jutta: Wenn du willst, bitte.

Henn: Du hast an mich gedacht.

Jutta: Nicht im geringsten -

Henn: Dann hast du an vorhin gedacht.

Jutta: Längst vergessen.

Henn: Du hast gedacht, du bekommst vielleicht ein Kind, weil…

Jutta: Quatsch!

Henn: Sag es doch.

Jutta: Interessiert dich das denn so? - Kann dir doch völlig egal sein.

Henn: Nein. Er steht auf, spricht leicht pathetisch. Weißt du, ich werde immer fragen. Ich muß alles wissen, alles, was du denkst, alles. - Wenn du hier stehst und in den Spiegel siehst, dabei siehst du gar nicht in den Spiegel, du guckst einfach durch - oder wenn du auf dem Tisch rumtrommelst oder mit deinen Zähnen in einen Apfel beißt oder wenn du nichts tust, einfach da bist - jedenfalls muß ich immer denken, was denkst du dabei. - Gehst du zum Schrank, was denkst du dabei, ziehst du dir immer wieder diesen verwaschenen Pullover an, was denkst du dabei. - Los, sag jetzt, was hast du gedacht?

Henn setzt sich, Jutta steht langsam auf und geht zum Fenster.

Jutta: Ich habe gedacht, wie lange wird es noch regnen, und was ist das, Regen? - Ich sehe Striche von oben nach unten oder auch von unten nach oben. Ich kann es nicht mehr unterscheiden.

Henn: Du hast noch mehr gedacht.

Juttadreht sich langsam zu Henn um: Ich habe gedacht, wie hoch muß das Wasser noch steigen, damit du still wirst. - Ganz klein, so klein und häßlich mußt du erst einmal werden, sonst wird das nix mit dir. - Jutta geht zum Bett zurück. Ich lege mich hin. - Warum soll ich mich nicht hinlegen, was ändert das schon, wenn ich da stehe, vor oder hinter diesem verflucht nassen, kalten Vorhang.

Henn: Kann ich mich zu dir legen?

Jutta: Nein, kannst ja doch nicht ruhig liegen. -

Henn: Früher hast du anders gesprochen. Da konntest du nicht genug bekommen, als wir an der See waren die drei Wochen.

Jutta: Ja früher, das war was anderes.

Henn: Wieso, bist du vielleicht nicht mehr zufrieden mit mir?

Juttarichtet sich auf: Still. Hörst du nichts, aufm Dach?

Henn: Nichts, wirklich nichts. Pathetisch. Nur mein Blut hör ich, immer hör ich mein Blut, und wenn ich…

Jutta: Ich scheiß auf dein Blut. - Da pfeift doch was oben, ganz deutlich. Da ist doch wer oben. Sie springt auf.

Henn: Das sind nur die Ratten. Früher waren sie im Keller, jetzt sind sie auf dem Dach. -

Im Zimmer wird es langsam dunkel, auf dem Flachdach hell. Zwei große, grotesk zerzauste Rattenmasken hocken auf dem Rand des Daches.

Perle: Komm mir bald vor wie ein Vogel.

Strich: Bloß singen kannste nicht.

Perle: Kommt vielleicht noch. Wenn das so weitergeht, leg ich Eier und fang an zu brüten.

Strich: Verdammt, es sieht aus wie Bindfäden. Möchte se durchbeißen.

Perle: Na, dann beiß doch, wenn du Lust hast. Aber verschluck dich nicht, sonst kriegste ’nen Bandwurm.

Strich: Das fehlt mir gerade noch. Wissen möcht ich bloß…?

Perle: Was das hier soll, möchtest du wissen. Ich auch, wir sind doch keine Wasserratten. Womöglich müssen wir noch aufn Kamin rauf.

Strich: Wenn schon, der raucht dann auch nicht mehr, kannste annehmen.

Perle: Wer weiß, wo die anderen jetzt sind, die wollten es ja immer besser wissen und dachten, sowas gibt’s gar nicht.

Strich: Vorhin trieb Muffel unten vorbei, sah wirklich sehr mitgenommen aus. Unruhig. Wissen möcht ich bloß…?

Perle: Was denn nun schon wieder?

Strich: Ob hier auch Spatzen sind.

Perle: Willste vielleicht fliegen lernen?

Strich: Das nicht, aber…

Perle: Na also. Strich unruhig hin und her.

Strich: Komm Perle, wir hauen ab.

Perle: Wohin Mann, wohin?

Strich: Wo’s geschützter ist, dort hinterm Kamin.

Perle: Sag mal, biste denn noch ganz? Willste dich hier vermehren, aufm Dach?

Strich: Komm schon Perle, komm schon.

Strich und Perle hinter den Kamin. Das Licht auf dem Flachdach erlischt, das Zimmer hell. Jutta liegt auf dem Bett. Henn auf einem Stuhl sitzend, abgewandt daneben.

Jutta: Manchmal glaub ich, wir schwimmen. Dann denk ich, jetzt gibt es gleich ’nen Ruck, und wir sind da. - Ganz gleich wo, irgendwo, wo’s schön ist. Java oder so.

Henn: Oder tot sein, das ist auch nicht schlecht.

Jutta: Die Toten sind Ausländer. Was die reden, verstehen wir nicht.

Henn: Ja.

Juttarichtet sich auf: Willst du dich auch hinlegen? Henn, ich hab dich was gefragt.

Henn: Du sagst das immer einfach so hin und glaubst dann, es stimmt.

Jutta: Was denn?

Henn: Mit dem Tod und so.

Jutta: Nun hör aber auf. Du hast doch angefangen mit dem albernen Quatsch.

Henn: Vielleicht hast du recht.

Jutta: Also, was ist nun, kommst du oder kommst du nicht?

Henn: Laß man, ist schon gut so.

Jutta: Na denn nicht.

Henn: Ich kann mich aber trotzdem hinlegen, wenn du meinst.

Während Henn auf das Bett zugeht und sich die Jacke auszieht, wird es im Zimmer dunkel und auf der Treppe hell. Noah rückt an der Kiste, Betty blättert in einem Fotoalbum.

Betty: Weißt du, dieses Bild von ihm habe ich immer besonders geliebt. Da lacht er ein bißchen und sieht so richtig wie ein Junge aus.

Noah: Es kam allerdings selten vor, daß er lachte.

Betty: Du hast recht, er war ein ernstes Kind - aber schlau.

Noah: Schlau, sagst du, hm, nicht auch ein bißchen hinterhältig, so ein ganz klein bißchen falsch oder ganz einfach abgrundtief verdorben?

Betty: Aber wie kannst du…?

Noah: Ich weiß, was du sagen willst, er ist mein Sohn, willst du sagen. - Gut, er ist noch immer mein Sohn, der auf meinen Namen Schulden machte. Und der Skandal im Krankenhaus?

Betty: Du hast ihn einfach zu kurz gehalten, Noah, du warst zu streng, glaub mir. Ein Kind wie Leo verlangte eine behutsame Hand. Solange Erna noch lebte…

Noah: Sie ist auch nicht mit ihm fertig geworden. Wie oft hat sie gejammert und mir ihr Leid geklagt. - Hören wir auf damit. Er ist gegangen und hat sich entschieden.

Betty: Und wenn er nun auf einmal wiederkommt?

Noah: Siehst du, gleich wird die Kiste unten feucht werden. Wir müssen es noch einmal versuchen, Betty.

Betty: Aber das hat doch keinen Sinn, das weißt du doch!

Noah: Dann ruf ich nochmal, oder?

Betty: Bei dem Regen? Niemand hört etwas.

Noah: Jutta, Jutta, mein Kind, sag deinem Verlobten, er soll mir helfen kommen.

Betty: Ich sagte ja. Bei dem Regen kann man nichts hören. Aber du mußt es trotzdem versuchen.

Noah: Hm - du hast recht, ich werde sie aufbrechen müssen. Er nimmt Brecheisen und Hammer und beginnt, die Kiste zu öffnen. Nachher können wir ja die Teile einzeln hochtragen, nicht wahr?

Betty: Vielleicht ist noch ein Album drinnen, es wäre zu schön.

Noah: Kann gut sein so, kann sehr gut sein, und jetzt haben wir es geschafft. - Himmel. Aus der Kiste steigen in uniformähnlicher Kleidung Leo und sein Freund Kongo.

Leo: Europa! Hier ist es kühler, wesentlich kühler. - Tag, Alterchen. Was, haben uns lange nicht mehr gesehen. Das ist Kongo, das ist mein Alter. Archibald Noah, sammelt Tintenfässer und Armleuchter. Was, Kongo, habe ich dir zuviel versprochen?

Kongo: Es freut mich außerordentlich, Müsjö Noah. - Tintenfässer, nicht schlecht, mal was anderes.

Betty: Leo, bist du es denn wirklich?

Leo: Die Tante Betty, na sowas.

Betty: Ja, deine Tante Betty. Laß dich anschauen, mein Junge. Ist es denn möglich. Gerade hab ich noch zu deinem Vater gesagt, nicht wahr, Noah, eben hab ich noch zu dir gesagt, vielleicht ist ein Fotochen vom Leo drinnen, jetzt gerade, vor ’nem Augenblick.

Leo: Die Tante Betty, einfach nicht abzustellen. So eine Art Redeautomat.

Betty: Aber Leochen. Und das ist dein Freund. Ein stattlicher junger Mann, wirklich. - Noah, was sagst du nun?

Noah: Ich kann es noch nicht fassen.

Leo: Was, da staunste? Hast dich ’n bißchen geirrt, hast die falsche Kiste erwischt. Guck nach, keine Spur von burgundischen Tintenfässern. Da ist Tonking drin und Laos, das beschissene Königreich. Er drängt Noah zur Kiste. Direktemang, guck nach, Alter, los, riecht ’ne Spur nach Dschungel.

Noah: Laß das, Leo, hast du denn vergessen…

Leo: Was denn, daß du mein Vater bist? Tja, das hatte ich wirklich ein bißchen vergessen da drüben. Aber das muß man dir lassen, du bist es wirklich noch, hast dich kaum verändert.

Betty: Aber du, Leochen, wie du dich verändert hast, kräftig bist du geworden, kräftig.

Leo: Die Tante Betty mit ihrem Wackeldutt. Junge Junge, und immer noch das heilige Fotoalbum auf dem Schoß.

Noah: Leo, dein Freund…

Leo: Kannst ruhig direkt mit ihm reden, der beißt nicht.

Noah: Herr? -

Kongo: Kongo ist mein Name.

Leo: Früher war er mal Boxer.

Kongo: Quatsch nicht.

Noah: Herr Kongo, ich habe, wenn ich nicht sehr irre, bereits von Ihnen gehört. - Waren Sie nicht der Herr, der damals meinen Sohn überreden konnte, ins Rheinland zu fahren, und von dort aus, Sie wissen sicher schon, was ich meine.

Kongo: Ganz recht, das war ich. Sie meinen, wenn ich nicht sehr irre, den kleinen Sonntagsausflug. Hat eben ein bißchen länger gedauert, als er geplant war. Aber nun sind wir ja wieder hier, nicht wahr?

Leo: Und wie. Nimm’s nicht so tragisch, Alter.

Noah: - Tja, dann seid ihr also da. - Herzlich willkommen.

Betty: Ja doch, herzlich willkommen. Da wird sich aber Jutta freuen.

Leo: Ist sie da?

Noah: Ja, meine Tochter Jutta ist da. Sie ist bei ihrem Vater geblieben. - Wie soll ich es nur richtig sagen, verstehe mich recht, lieber Leo, leider kommt ihr in einem, nun, etwas ungünstigen Moment.

Leo: Sooo?

Noah: Ich möchte dich nochmals inständig bitten, mich nicht falsch zu verstehen…

Leo: Sag schon.

Noah: Mein lieber Leo, wir haben Hochwasser, verstehst du? Doch Sie, Herr Kongo, Sie glauben mir sicher. Wir vier leiden im Augenblick unter einem schrecklichen Hochwasser. Man befürchtet…

Leo: Wer, wir vier? Ist denn noch wer hier?

Noah: Allerdings, Juttas Verlobter.

Leo: Juttas Verlobter?

Betty: Ach, den kennst du ja noch gar nicht, den Henn.

Leo: Wie heißt der?

Betty: Henn. - Hübscher Name, nicht? Ja, der Henn, ein netter Junge ist das. Ein bißchen schmal und unruhig, aber das wird sich wohl geben mit der Zeit. Und außerdem liebt er sie.

Leo: Sagt er das?

Betty: Was?

Leo: Daß er sie liebt und so.

Betty: Immer wieder sagt er ihr das.

Leo: Dann wird es stimmen, wenn er es oft sagt. - Jutta und ihr Verlobter. Guck mal einer an. Vor ein paar Jahren hat sie noch mit Nuchi und Axel auf dem Hof Arzt und Patient gespielt, und jetzt hat sie ’nen Verlobten. Die Zeit vergeht, was Kongo?

Kongo: Kannste annehmen.

Noah: Wie gesagt, du siehst, lieber Leo, wir sind räumlich sehr beschränkt. Es ist fatal, aber leider haben wir nicht genug…

Leo: Was, willste uns vielleicht an die frische Luft setzen? Wir kommen hier auf Besuch, sind höflich und zuvorkommend, und du, du willst uns einfach an die frische Luft setzen.

Noah: Aber, aber.

Betty: Nix aber, mein Bester. Wir werden schon Platz finden. Nun geh schon, Jutta wird Augen machen.

Noah: Ja doch, ja.

Leo: Die Tante Betty, was Kongo, die ist gut. Geh du mal vor, und nimm das Zeugs mit. Haste alles?

Kongo: Bin dabei.

Noah: Ich werde das hier noch mitnehmen, und das auch.

Betty: Aber das Album nehme ich auch mit, nicht wahr, Leo?

Leo: Sicherlich, Tante. Ein Mensch ohne Fotoalbum ist ein Sarg ohne Deckel.

Noah und Betty voran, steigen sie alle vier die Treppe langsam hoch. Kongo trägt einen Packen unter dem Arm. - Im Zimmer wird es hell, Henn richtet sich auf und zieht seine Jacke an.

Henn: Du, dein Vater kommt.

Jutta: Laß ihn doch. Dreht sich zur Wand.

Noahin der Tür: Jutta, mein Kind, rat doch mal, was ich da mitbringe.

Betty: Ja, Juttachen, rat mal. Drückt sich hinter Noah vor und läuft fast in die Mitte des Raumes.

Noah: Was ganz Besonderes.

Betty: Du wirst staunen! Sehr freudig.

Jutta: So, staunen werd ich. - Was könnt ihr schon mitbringen. Richtet sich langsam auf. Entweder ’nen Haufen von diesen dusseligen Tintenfässern oder so ein idiotisches Familienfoto mit allem drauf, Schulrat Richter in der Mitte, herum die lieben Kinderchen. Hab ich recht! Oder Leo ist gekommen! Setzt sich gerade auf.

Betty: Erraten, erraten.

Noah: Aber woher weißt du das?

Leoschiebt Noah zur Seite: Tag Jutta.

Jutta: Na, Leo, wieder da?

Leo: Ein bißchen. Mal umgucken. Siehst ja ganz proper aus, soweit man das von hier erkennen kann.

Jutta: Warum sollte ich nicht.

Leo: Hier, das ist Kongo, mein Freund. Mit dem mußt du nett sein, der hat keinen Vater mehr und keine Mutter.

Jutta: Das ist nicht das Schlimmste. - Tag.

Kongo: Schönen guten Tag, mein Fräulein. Ich hoffe, wir stören nicht allzusehr.

Leo: Nun red nicht so geschwollen. Weißt du, früher war der mal Boxer, deswegen macht er jetzt manchmal auf höflich.

Noah: Aber Jutta, mein Kind, bist du denn gar nicht erstaunt, daß unser Leo nach so vielen Jahren wieder zu uns gefunden hat?

Betty: Denk nur, auf einmal war er da.

Jutta: Erstaunt? Warum denn. Ich hab doch immer gesagt: Wenn es noch lange so regnet, kommt Leo. Na seht ihr, da ist er.

Betty: Ja Noah, das hat sie gesagt mit dem Regen.

Noah: Es ist wahr. Immer bei dem schlimmsten Wetter ist er wiedergekommen. Leo sieht sich im Zimmer um.

Leo: Was ist denn das?

Jutta: Der?

Leo: Ja, der da.

Noah: Das ist Henn, Juttas Verlobter, sein Vater ist ein angesehener Arzt. Ich hoffe, ihr werdet euch gut verstehen.

Leo: Ich mag keine Ärzte. - Sieht ja aus wie ein Friseur, der Kerl.

Jutta: Laß ihn in Ruh, sag ich dir, er hat dir nichts getan.

Leo: Schon gut, schon gut. - Na Kongo, wie fühlst du dich bei mir zu Hause?

Kongo: Deine Schwester…

Leo: Ich hab dich nicht nach meiner Schwester gefragt, sondern wie dir das hier gefällt. Ist doch ganz hübsch, was?

Kongo: Was soll man da sagen? Gemütlich, gemütlich. Also so etwas von Gemütlichkeit.

Leo: Du findest es ausgesprochen gemütlich?

Kongo: Wenn ich mir diese Standuhr angucke, könnt ich wieder fromm werden. Aber was deine Schwester betrifft…

Leo: Was ist mit meiner Schwester?

Kongo: Nichts, nur so, die gefällt mir. Weißt du, die hat so ein gewisses Etwas, wie soll ich dir das beschreiben?

Leo: Ist schon gut, mir soll’s gleich sein.

Henn: Wenn ich recht gehört habe, waren Sie längere Zeit verreist?

Leo: Du, der spricht mit dir.

Kongo: Ob wir verreist waren? - Ja, das waren wir, längere Zeit.

Henn: Und wo überall, ich meine, an welchen Orten, wenn ich fragen darf?

Leo: Sag ihm, er darf nicht fragen.

Kongo: Ham Sie gehört? Nix fragen, fragen verboten, kennen Sie Lohengrin? Na also!

Jutta: Hört schon auf mit dem Quatsch. -

Leo: Zeig mal den Packen her, Kongo.

Kongo: Ist nicht mal naß geworden.

Leoöffnet das Päckchen und zieht eine lange Bahn weißer Seide hervor: Betty, mein Goldfisch, guck mal, was ich hier habe.

Betty: Du meine Güte, ist denn das die Möglichkeit, nun sag doch bloß, wo du das wieder herhast?

Leo: Kannste behalten, haben wir dir mitgebracht, ist prima Fallschirmseide, was, Kongo?

Kongo: Ist es.

Betty: Fallschirmseide, das ist ja was ganz Besonderes. Das kann ich gar nicht annehmen - oder was meinst du, Noah?

Noah: Mich mußt du da nicht fragen. Ich bin kaum in der Lage zu prüfen, ob diese Seide…

Betty: Fallschirmseide.

Noah: Nun gut, ob diese Fallschirmseide rechtlich einwandfrei erworben wurde oder…

Jutta: Was redest du nur immer fürn Blech. Willste Tante die Freude verderben?

Henn: Sie können sicher beruhigt sein, Herr Noah…

Jutta: Wenn Leo das mitbringt, ist es schon in Ordnung.

Betty: Meinst du wirklich, Juttachen? Na dann recht herzlichen Dank auch, auch für Sie, Herr Kongo.

Kongo: Nicht der Rede wert, tut man doch gern für ’ne nette alte Dame.

Bettydroht mit dem Finger: Sie. Sie scheinen mir ja ein ganz Schlimmer zu sein.

Leo: Jaja, Tantchen, da mußt du dich vorsehen vor dem.

Betty: Nein so etwas, und so viel. Wißt ihr, was ich daraus mache?

Leo: Na?

Betty: Für jeden von euch ein Sonnenschirmchen.

Leo: Häh was?

Betty: Ja doch, Sonnenschirmchen, eins zwei drei vier fünf, und wenn es reicht, für mich auch eins. Sechs Sonnenschirmchen.

Jutta: Du bist gut, Tante. Draußen regnet es, und du redest von Sonnenschirmchen.

Betty: Man muß beizeiten vorsorgen. Wird doch nicht ewig regnen.

Noah: Wer weiß.

Betty: Unsinn, meinst du vielleicht, dem Regen wird es nie langweilig?

Leo: Da hat sie recht, wenn der Regen keine Lust mehr hat, kommt die Sonne wieder dran.

Jutta: Ihr seid mir die rechten Klugscheißer. Ruht euch mal lieber aus, erzählen könnt ihr immer noch.

Leo: Gibt nichts zu erzählen.

Jutta: Ist mir auch recht.

Im Zimmer wird es langsam dunkel, auf dem Dach hell.

Perle: Erzähl doch mal was, Strich.

Strich: Da unten haben sie wohl Besuch bekommen.

Perle: Hab nichts gemerkt. Los Strich, erzähl was.

Strich: Was denn?

Perle: Irgendwas, hast doch ’ne Menge erlebt, bist doch ’ne Wanderratte, also fang schon an.

Strich: Tja, rumgekommen bin ich, das stimmt. Soll ich erzählen, wie ich drei Tage im Tresor steckte und lauter Zwanzigmarkscheine gefressen habe, oder lieber die Sache mit der Uhr?

Perle: Wie war die denn?

Strich: Da war ich in letzter Minute in eine Uhr gesprungen, in eine Standuhr, wie sie da unten eine haben, konnte da nicht mehr raus vorläufig, weil die nämlich den Dobermann hatten. Weißte überhaupt, was ’nen Dobermann ist?

Perle: Frag nicht so blöde, sicher weiß ich.

Strich: Gut. Also der Dobermann saß vor der Uhr und wartete. Ich saß in der Uhr drinnen und schlief ein. Plötzlich schlug es zwölf.

Perle: Mitternacht.

Strich: Genau. Nun bin ich ja nicht abergläubisch, aber kannst mir glauben, mein Schreck war nicht von Pappe. Aus Wut habe ich dann hinterher alle Minuten und Sekunden aufgefressen, ratzekahl. Seitdem ging die Uhr nicht mehr.

Perle: Na so ein Quatsch. Erzähl vom Kloster.

Strich: Kennste doch schon, die Geschichte.

Perle: Macht doch nichts, los fang an.

Strich: Also das war, als ich zum zweiten Mal aus Paris zurückkam. Da ging ich in so eine Art Asyl.

Perle: Altersheim war das.

Strich: Genau, ein Altersheim in Düsseldorf aufm Rather Broich, ’ne angenehme Gegend. Eisenbahn, Schrottplatz in der Nähe, und das Ding selber, ich kann dir sagen, so. Geräumige Keller, einigermaßen dunkel, gut rissig und feucht. Tja, und da ging es mir sozusagen blendend.

Perle: Kann ich mir vorstellen. Warst ja immer ein schneller Junge. Aber was war nun mit den Nonnen?

Strich: Wie das so ist. Oben die Küche und die Klausur, so heißt das da, und manchmal kamen die dann in den Keller, um was zu holen oder zu bringen. Ich hab dann abgepaßt, kurz gepeilt, und wenn dann so eine angewackelt kam, sprang ich ihr, haste nich gesehen, unter die Kutte.

Perle: Doll.

Strich: Weiter noch. Unter der Kutte angelangt, die haben lange Wollsocken an, einmal scharf in die Wade, na, und da schrie sie denn auch schon und ließ alles fallen.

Perle: Was ließ sie fallen?

Strich: Die Schüsseln oder Teller voll Erbsen mit viel drin. Ich kann dir sagen. Kaum war sie weg, die Nonne, ich in die Erbsen.

Perle: Hör auf, mir wird schwach.

Strich: Einmal, du, da hat eine ’ne Pastete fallen lassen. Weißte was das ist, ’ne Pastete?

Perle: Nee, keine Ahnung.

Strich: Kannste auch nicht wissen, wenn du nicht in Paris gewesen bist.

Perle: Wie sehn die eigentlich aus, die Nonnen?

Strich: Wie sollen die aussehen? Braun, dick wie Pellkartoffeln. Nur eine nicht. Die hieß Schwester Alfons Maria.

Perle: Wieso Alfons Maria?

Strich: Das ist manchmal so bei den Nonnen, weiß auch nicht, warum.

Perle: Und wie sah die nun aus?

Strich: Sag mal, du weißt das doch alles. Ich hab dir die Sache nun schon zehnmal erzählt.

Perle: Und jedesmal ein bißchen anders. Also, wie sah die nun aus, deine Alfons Maria?

Strich: Gott, wie sah die aus? Oben so lala, aber unten. Weißte, was die hatte? Die hatte Sommersprossen auf den Beinen bis über die Schenkel.

Perle: Woher weißte das?

Strich: Hab ich doch gesehen.

Perle: Wo?

Strich: Im Keller natürlich, wo sonst. Die kam nämlich manchmal runter, schloß ab von innen, immer hübsch vorsichtig, dann hob sie sich die Kutte hoch, schnapp, schnapp, ließ die Wollsocken runter und guckte sich ihre Beine an. Ich sag dir, wenigstens zehn Minuten saß die immer so und guckte.

Perle: Wird halb so schlimm gewesen sein.

Strich: Schlimm? Weiß waren die, weiß wie ’ne Made. Von unten bis dahin, wo’s aufhört, und lauter Sommersprossen drauf.

Perle: Wie hieß die noch mal?

Strich: Alfons Maria, Schwester Alfons Maria.

Perle: So ’n Quatsch.

Strich: Später sind dann die Pfaffen runtergekommen mit so ein paar blassen Chorknaben und haben geweihräuchert und geweihwassert. War ’ne verdammte Schande.

Perle: Warum denn?

Strich: Du kannst fragen. Von wegen mir natürlich. Haben gedacht, ich wäre so eine Art Geist, der den Nönnchen unter die Kutten saust.

Perle: Blödsinn. Du und ’nen Geist!

Strich: Tja, du lachst, aber ich hab damals was abbekommen von dem verdammten, lauwarmen Weihwasser. Hat mir gar nicht gutgetan. Böse Träume hab ich gehabt, böse Träume. Da bin ich einfach abgehauen - damals.

Perle: Und die mit den Sommersprossen?

Strich: Die hatten sie doch schon vorher versetzt, was weiß ich, wohin. Muß wohl dolle Dinger gedreht haben. Man hört ja oft die dunkelsten Geschichten über Klöster.

Perle: Allerdings, da kannste schon recht haben. - Ich hab Hunger, du auch?

Strich: Nein.

Perle: Wieso nicht?

Strich: Kann keinen mehr haben.

Perle: Du kannst keinen mehr haben?

Strich: Nein.

Perle: Sag mal, du willst doch nicht hier, so mir nichts dir nichts behaupten…

Strich: Allerdings, das will ich.

Perle: Gut, du hast also keinen Hunger mehr?

Strich: Ich sagte es schon. Ich habe vorhin, als ich mal kurz weg war, meinen Hunger ausgeschissen. Von nun an nährt mich der Geist. - Verstehst du das?

Perle: Nicht die Spur, was hat denn ’ne anständige Ratte mit Geist zu tun?

Strich: Geist, das mußt du begreifen, das macht durchsichtig, macht kühl, knapp - kurz und gut -, Geist macht unsterblich. Alle werde ich überleben, alle, alle - auch die Katzen.

Auf dem Dach wird es langsam dunkel, im Zimmer hell. Noah steht und sieht zur Zimmerdecke. Alle anderen sitzen oder liegen.

Noah: Es sollte wirklich jemand aufs Dach steigen und die Ratten vertreiben. Henn?

Henn: Ich, wieso ich?

Noah: Ich seh schon, muß es wieder selber machen. Hm.

Leo: Laß die Ratten leben, Alter, die pfeifen wie wir auf dem letzten Loch.

Noah: Aber nun seid doch vernünftig, die Ratten sollten wirklich fort von oben.

Jutta: Vielleicht runter zu uns?

Betty: Nein Kinder, nein, tut das nicht, bitte.

Noah: Natürlich nicht, das fehlte gerade noch. So macht man das, einfach vom Dach runter ins Wasser. Er will zur Treppe. Leo hält ihn am Rockzipfel zurück.

Leo: Hiergeblieben. Ich hab dir doch gesagt, du sollst die Ratten in Ruhe lassen.

Noah: Aber warum denn? Auf einmal so empfindlich. Es handelt sich doch nicht um Menschen.

Leo: Ratten sind auch Menschen, basta. Noah setzt sich wieder zwischen seine Tintenfässer.

Jutta: Hör doch nicht auf ihn, Leo, erzähl lieber was.

Leo: Gibt nichts zu erzählen. Was fummelst du da eigentlich, Tante?

Betty: Aber Leochen, du weißt doch, ich sagte es schon. Eins zwei drei vier fünf sechs Sonnenschirmchen mach ich. Für jeden einen.

Leo: Für mich brauchst du keinen zu machen, ich geh zum Nordpol.

Betty: Laß man, laß man, auch du wirst nochmal ein Sonnenschirmchen brauchen.

Leo: Du hast ’ne Art, für mein Wohl zu sorgen, nee, das paßt mir gar nicht.

Betty: Nun ja, seit meine Schwester, eure Mutter, nicht mehr ist…

Leo: Mama hat nie Sonnenschirmchen genäht, die hat immer auf dem Bett gelegen und ein weißes, beleidigtes Gesicht gemacht.

Betty: Sie war etwas kränklich, weißt du.

Leo: Kein Wunder in dieser Gegend und mit dem Tintenfaßdussel.

Betty: Aber Leo.

Leo: Schon gut, ich weiß Bescheid, Krebs hat sie gehabt, und die Tintenfässer hatten keine Schuld - lassen wir das.

Noah: Du, du hast nicht einmal geweint beim Begräbnis.

Leo: Warum auch, hast doch eigenhändig gesagt: Alle Menschen, die an Krebs sterben, kommen in den Himmel - oder haste das etwa nicht gesagt?

Jutta: Hört jetzt auf. Ich hab es satt. - Sie geht zum Fenster. Draußen schwimmen Betten. Leere, freigewordene Betten. - Solch ein Bett möchte ich sein, leer fortschaukeln, nicht mehr unter einem idiotischen Ölbild stehen, vierbeinig, angebunden an Pißpott und Nachttischchen, Gebiß im Zahnglas, Kriminalroman mit Lesezeichen, den Mord zu Ende träumen und diese siebzig Jahre erdulden, die manche hier zubringen. - Vielleicht würde ich dann in den Wald schwimmen, vorher das Kopfkissen abschütteln. Wenn ich dann ganz frei wäre, würde ich sagen: Komm - dann würde eine Katze, kurz vorm jämmerlichen Ersaufen, bei mir landen und glücklich sein. Leo, sag was, oder dein Freund. Jutta dreht sich zum Fenster. Erzählt schon.

Leo: Gibt nichts zu erzählen.

Henn: Bitte erzählen Sie doch.

Leosieht Henn strafend an: Schweig Friseur. - Laßt Kongo erzählen, der lügt besser.

Jutta: Ist mir gleich wer, aber erzählt, sonst quasselt der Regen, und die Geschichte kenn ich.

Leo: Schläft Tante?

Jutta: Ich glaub, und der Alte auch.

Leo: Na gut, ganz gleich, wo und wann, ich saß in einem Zirkus.

Kongo: In Saigon war das.

Leo: Ganz gleich wo, hab ich gesagt. In einem Zirkus, rund wie alle, und roch auch so. Über mir, in bestimmter Höhe, fein beleuchtet, die Beine einer Stanniol lächelnden Dame.

Hennlacht.

Leo: Also ich lang deinem Bubi gleich mal in die Fresse.

Jutta: Was hab ich damit zu tun?

Leo: Gut, weiter. - Also diese Dame hatte Beine. Diese Beine waren aus Porzellan. Verdammt, ich glaub es noch heute, daß sie aus reinstem Porzellan waren.

Kongo: Glauben wir.

Jutta: Ist ja auch gleich, woraus.

Leo: Das ist nicht gleich. Kühl waren sie. Im Schwingen, versteht ihr, die Dame saß auf einem Trapez, wurden sie kühler, immer kühler. Am Ende waren sie Eis. Zwei Säulen Eis bis zu jenem Tempelchen in der Arktis. Und ihr Nordpol jeder Expedition versperrt. Alle wären gescheitert, alle. - Wißt ihr, was das heißt? Über dir Eis, hoch, nicht übermäßig hoch, so in halber Zirkushöhe, dann wieder fast in der Kuppel, Eis, doch anmutig, beweglich. Nicht Eis in Tüten zum Lecken oder Eis im Block für den Kühlschrank.

Kongo: Versteht sich. Eis mit Gelenken sozusagen, man schwitzt beim Zusehen.

Leo: Genau das. Und dann, was kam dann? Plötzlich Erbsen, gelbe knallende, lächerliche Erbsen. Beifall, Dunst, eine Erbsenlawine, Föhn, alles schmilzt.

Jutta: Und deine Dame?

Leo: Sie floß am Seil lang, knickste, riß, tropfte, schmutzig, schlüpfrig, hatte eine trockne Haut, war an die dreißig Jahre alt - und ihr Lächeln? Eine Pfütze, als hätte ein Hengst gepißt.

Kongo: Was sollte sie machen bei dem Beifall?

Jutta: Beifall ist immer schlecht.

Leo: Ich ging oft hin.

Kongo: Aber du wußtest doch ganz genau.

Leo: Schon, aber der Absturz. Ich wollte einfach mal sehen, wie das ging. So etwa, hier. Er läßt eine Kristallschale zu Scherben fallen. Noah und Betty schrecken auf.

Noah: Was ist?

Jutta: Nichts, penn weiter.

Noah: Muß das denn sein?

Leo: Ja, das mußte so sein. Versteht ihr? Nur dieser Ton, dieses Ergebnis, der Nordpol überall hin verteilt. Vom Niger bis Heidelberg Arktis, aber kein Beifall. Noah und Betty fallen wieder in Schlaf.

Jutta: Und weiter?

Leo: Darauf hab ich gewartet jeden Abend.

Jutta: Und, was ist passiert?

Leo: Natürlich war nichts damit. Einmal kam Pello zu mir.

Kongo: Pello?

Leo: Ja, das war ein Clown bei dem Zirkus.

Jutta: Was hatte der denn damit zu tun?

Leo: Hat keinen Zweck, hat er gesagt. Ich müßte sie schon abknallen. - Das wollt ich ja nun auch nicht. - Sag mal Kongo, warum fragst du immer so blöd? Du kennst doch die ganze Geschichte und weißt, daß sie nicht stimmt.

Kongo: Weiß ich.

Leo: Na und?

Kongo: Eben, jedesmal erzählst du sie anders, ist doch interessant. - Nur ich weiß, wie es wirklich war damals - du weißt es nicht mehr.

Leospringt auf, setzt sich wieder: Ich will in die Arktis.

Kongo: Gut, gut, fahren wir in die Arktis.

Jutta: Vorläufig regnet es noch. Sie steht träge auf. Ihr solltet nicht immer so überschlau von morgen reden. Es regnet heute. Heute, das weiß ich. Heute, das ist Wasser im Stück. Lang raus mit dem Küchenmesser, schneid dir ’ne Scheibe ab, wenn du willst. Heute, das seid ihr, die ihr denkt. Denkt, denkt, denkt. Wenn ihr mich anguckt, dann denkt ihr: tja, aber in zwanzig Jahren. Ihr könnt einfach nicht in Ruhe zusehen, wie so eine Brust länger und länger wird und endlich nichts mehr bedeutet. Ihr, das ist heute. Da, mein süßer Verlobter, da, der alte Dussel, der mein Vater ist, und die gute Tante. Immer hat sie noch nicht genug. Muß immer noch ein paar Fotos ansehen. Wenn einer käme und würde ihr so ein kleines, blankes, verwackeltes Viereck bringen und würde sagen: »Guck mal Tante, da ist der liebe Gott drauf, den haben sie jetzt auch fotografiert«, würde sie prompt antworten: »Na sowas, der liebe Gott, genauso habe ich ihn mir vorgestellt.« Und dann würde sie ihn ins Album kleben, zwischen Onkel Stani und Cousine Herbstlöh. - Genauso würd sie es machen.

Henn: Du redest, wie es dir gerade einfällt.

Jutta: Halt die Fresse! Am Fenster. Da, die Betten draußen. Das wär noch was. Wo die hinschwimmen, da wird nicht mehr fotografiert.

Henn: Aber es gibt doch eine Zukunft. Du mußt zugeben, daß es eine Zukunft gibt.

Jutta: Du bist ’n Bubi. Zukunft, immer rauf die Treppe, und oben ist noch ’ne Etage und wieder ’ne Etage, und dann kommt das Dach, wieder runter die Treppe, Etage, Etage, bis in den Keller, und das nennst du Zukunft.

Henn: Versteh mich doch. Du weißt ganz genau, daß der Regen aufhören wird und daß die Sonne scheinen wird. Ich sehe es jetzt schon! Sonne, du in weißen, ausgeglühten Kleidern. Und ich sehe, wie du den Arm hebst, und ganz hell ist er auf der einen Seite und sonnengebräunt außen.

Kongo: Ich glaube, ich werde den Chorknaben an die frische Luft setzen müssen. Ich mag kein Latein, und auf dem Dach ist noch Platz.

Jutta: Tu das, mir langt’s auch bald.

Henn: Was wollt ihr von mir. Ihr quält euch, redet vom Eis, von der Arktis, ich will das nicht.

Leo: Tja, ich glaube fast?

Henn: Ich war einmal in Florenz. Ich ging über einen Platz, hatte einen hellen leichten Anzug an. Überall stand das Licht, und ich hatte das Gefühl, als wäre die Sonne in mir, in meinem Kopf…

Jutta: ’nen Stich hast du, hör auf jetzt!

Hennimmer begeisterter: Ich ging über den Platz, eine Treppe, überall Tauben, überall lag Perlmutter auf den Stufen, es war von den Tauben, ich sammelte etwas, das bringt Glück…

Leo: Kongo?

Henn: …und Freiheit und Glück. Glück…

Leo: Kongo!

Henn: Ihr wißt ja nicht, was das ist, Glück.

Kongo: Da hast du recht, mein Junge. Er geht langsam auf Henn zu.

Henn: Und Freiheit, das wißt ihr auch nicht.

Kongo: Komm, mein Schöner. Geh jetzt mal ein bißchen auf den Dachboden, da haste Freiheit. Ich glaub, da ist schon wer oben. Die hören gerne zu, wenn du so predigst, die lieben sowas. Er packt Henn und schiebt ihn die Treppe zum Dach hinauf.

Henn: Nein, nein, bitte nicht, es ist dunkel oben. Ihr könnt mich jetzt doch nicht, es wird bald dunkel, Nacht…

Kongo schließt die Luke zum Dach.

Jutta: Sonst ist er eigentlich nicht so. Manchmal kann er richtig nett sein.

Leo: Kongo?

Kongo: Was denn?

Leo: Paß auf! Wir nehmen ein Schiff bis Liverpool, denke ich, und dann…

Jutta: Hör auf, du sollst aufhören!

Kongo: Ja Leo, sei friedlich, hör auf damit. Wir wollen doch noch ein bißchen hierbleiben. - Und außerdem, du kannst davon halten, was du willst, deine Schwester gefällt mir.

Er geht auf Jutta zu. Das Zimmer wird dunkel, auf dem Dach wird es hell. Henn steht neben dem Kamin.

Strich: Du - da ist doch wer raufgekommen.

Perle: Kann sein, aber keiner von uns.

Strich: Ich kann dir nur sagen, wenn das mal fertig ist, und wir kommen hier runter, hauen wir ab, ganz gleich wohin.

Perle: Erst mal abwarten, mein Lieber, auswandern können wir immer noch.

Strich: Meinste, hier sind wirklich keine Spatzen?

Perle: Ich denk, du hast keinen Hunger mehr.

Strich: Schnauze! Der kommt näher. Henn rührt sich neben dem Kamin, die Ratten im Halbdunkel.

Henn: Jetzt wird sie denken, ich denk schlecht von ihr. - Dabei hab ich ihr schon verziehen. - Nachher kommen sie und holen mich, und sie sagt: Henn, laß man gut sein, tu nicht so beleidigt, hab ich nicht so gemeint vorhin, komm schon runter. - So redet sie. Und dann sagt sie noch mehr: Komm schon - sagt sie -, erzähl uns was von deiner komischen Sonne, wenn du willst. Leo hat uns sein Eis verkauft, nun sind wir durchsichtig und zerbrechlich. - Ist ja klar, runtergehen werd ich schon, aber sagen werd ich nichts. - Ich kann gut schweigen. -