Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
www.AlfredBekker.de
Folge auf Facebook:
https://www.facebook.com/alfred.bekker.758/
Folge auf Twitter:
https://twitter.com/BekkerAlfred
Erfahre Neuigkeiten hier:
https://alfred-bekker-autor.business.site/
Zum Blog des Verlags!
Sei informiert über Neuerscheinungen und Hintergründe!
https://cassiopeia.press
Alles rund um Belletristik!
Kommissar Jörgensen und die
Biowaffen-Verschwörung
von Alfred Bekker
1
Mein Name ist Uwe Jörgensen. Zusammen mit meinem Kollegen Roy
Müller bin ich als Kriminalhauptkommissar in der sogenannten
‘Kriminalpolizeilichen Ermittlungsgruppe des Bundes’ tätig. Das ist
eine Sondereinheit, die sich vor allem der Bekämpfung des
organisierten Verbrechens widmet und in Hamburg angesiedelt ist.
Wir kümmern uns um die großen Dinger, wie man so sagt.
Manche Fälle bleiben einem immer im Gedächtnis.
So auch dieser.
Das war schon eine ganze besondere Sache - für mich, Roy,
unseren Chef und all die zu uns gehören.
Kein Fall wie jeder andere…
*
Hamburg, Gewerbegebiet Waltershof…
Wie die Feuerzunge eines Drachen leckte das Mündungsfeuer aus
dem Schalldämpfer. Gleichzeitig war ein Geräusch zu hören, das an
den Schlag einer zusammengerollten Zeitung erinnerte.
Der dunkelblau uniformierte Wachmann sackte in sich zusammen,
ehe er in der Lage war, die Waffe aus dem Gürtelholster zu ziehen.
Sein Hemd färbte sich in Herzhöhe dunkelrot.
Ein Ruck durchlief den am Boden liegenden Körper, als der
Killer noch einmal schoss – diesmal in den Kopf.
Er wollte auf Nummer sicher gehen.
Dann erst senkte er die Automatik. Seine dunkle Sturmhaube
ließ nur die Augen frei. Er trug eine schusssichere Weste aus
Kevlar. Auf dem Rücken befand sich ein kleiner Rucksack aus
schwarzem Leder.
Der Killer würdigte den Toten keines weiteren Blickes und
stürmte zum Ende des Korridors.
2
Dort befanden sich sowohl Aufzüge als auch der Zugang zum
Treppenhaus.
Als der Killer sah, dass jemand den Lift benutzte, entschied
er sich für das Treppenhaus.
Mit dem Fuß trat der Killer die Tür zur Seite. Er hob die
Waffe und stürmte vorwärts. Die Beleuchtung wurde automatisch über
einen Bewegungsmelder eingeschaltet.
Es war niemand dort.
Immer mehrere Stufen auf einmal nehmend hetzte der Killer
hinunter bis ins Erdgeschoss. Hinter einer feuerfesten Tür befand
sich das Foyer des zehnstöckigen Büro- und Laborgebäudes der Firma
General Biotech Ltd.
Aber der Killer zog den Notausgang vor.
Er steckte eine Chipkarte in den Schlitz des elektronischen
Schlosses, woraufhin sich die Tür leicht öffnen ließ.
Draußen war es dunkel.
Ein eisiger Wind blies aus Nordwesten über die Elbe hinweg,
die frische, aufstrebende und vor allem nicht ganz so teure Viertel
Hamburgs. Irgendwo hinter den schroffen Industriefassaden, die das
Gewerbegebiet in Waltershof beherrschten, graute ein eiskalter
Morgen.
Der Killer lief in geduckter Haltung über den Parkplatz. Um
diese Zeit standen dort, abgesehen von den Einsatzfahrzeugen des
Privaten Security Service SAFETY FIRST GmbH., keine Wagen. Das
würde sich erst in zwei bis drei Stunden ändern, wenn die ersten
Mitarbeiter eintrafen und die Sicherheitsschleuse am Haupttor
passierten. Zwei mit MPis bewaffnete Männer patrouillierten dort.
Sie trugen schwarze Jacken mit der Aufschrift SAFETY FIRST. Der
Parkplatz war gut beleuchtet.
Der maskierte Killer zog es vor, im Schatten des Hauptgebäudes
zu bleiben. Zu dem von einer zwei Meter hohen und mit aufgesetztem
Stacheldraht gesicherten Firmengelände gehörten auch noch zwei
kleinere Gebäudekomplexe. Vor einem dieser Nebengebäude waren drei
firmeneigene Lieferwagen von General Biotech abgestellt worden.
Spezialfahrzeuge, die dem Transport von biologisch sensiblen
Präparaten dienten, die auf keinen Fall in die Umwelt gelangen
durften - und zwar auch dann nicht, wenn das betreffende Fahrzeug
einen Unfall hatte.
Der Killer schlich im Schatten der Gebäudewand weiter, nutzte
dann eine weitere Schattenzone im hinteren Bereich des
Firmengeländes aus und gelangte schließlich zu den
Spezialfahrzeugen.
Einer der mannscharfen Hunde, die von den patrouillierenden
Security-Leuten an der kurzen Leine geführt wurden, bellte.
Der Killer legte sich auf den Boden und rollte anschließend
unter einen der Wagen.
Ein Gullydeckel lag dort auf dem Asphalt. Daneben gähnte der
Einstieg in das unterirdische Labyrinth der Abwasserkanäle von
Waltershof. Der Killer stieg ein paar der metallenen Tritte in die
Tiefe hinab und zog dann den Deckel wieder auf die Öffnung. Ein
schabendes Geräusch war dabei nicht zu vermeiden.
Es wurde stockdunkel, aber das störte den maskierten Killer
nicht. Er setzte das Nachtsichtgerät auf, das ihm an einem Riemen
um den Hals hing. Es arbeitete nicht mit Restlichtverstärkung,
sondern auf Infrarotbasis, so dass es auch bei vollkommener
Dunkelheit funktionierte.
Ein hechelnder Laut war jetzt zu hören. Einer der Hunde kroch
unter den Wagen.
Der Killer verharrte regungslos. Er griff nach seiner Waffe,
die er zwischenzeitlich unter seinem Blouson verstaut hatte und
richtete sie nach oben.
»Ist ja schon gut, was hast du denn gefunden?«, hörte er die
Stimme eines Security-Manns. Lichtblitze flackerten durch die
Löcher im Gullydeckel.
»Da ist nichts«, sagte eine andere Stimme.
»Wäre nicht das erste Mal, dass unsere Kanalisation zum Himmel
stinkt.«
»Und unsere Hunde macht das verrückt.«
»Du sagst es.«
»Komisch. Heute rieche ich gar nichts!«
»Hunde haben feinere Nasen! Vergiss das nicht!«
»Man sollte den Stadtrat mal geschlossen in die Kanäle
schicken und nicht eher wieder rauslassen, bis sie sich darauf
geeinigt haben, wie man das marode Abwassernetz wieder instand
setzen kann!«
»Meinetwegen könnte die ganze Bande auch dort unten bleiben.
Dann wären die Brüder doch bei ihren Verwandten.«
»Wieso?«
»Na, bei den Ratten!«
Ein heiseres Lachen folgte. Der Hund bellte ungeduldig.
Gut, dass ihr nicht so gute Nasen habt wie euer Köter, dachte
der maskierte Killer. Er hörte die Schritte der Männer sich langsam
entfernen und atmete tief durch.
3
Roy und ich trafen um kurz nach acht auf dem Gelände der Firma
General Biotech in Waltershof ein. Die Wachmänner des Security am
Haupttor winkten uns durch, nachdem mein Kollege Roy Müller und ich
unsere Dienstausweise vorgezeigt hatten.
Der Parkplatz war noch nicht einmal zu einem Viertel gefüllt.
Dafür standen umso mehr Einsatzfahrzeuge der Polizeidienststelle
von Waltershof vor dem Hauptgebäude.
In der Nacht hatte es einen Einbruch in das hochsensible
Biolabor dieses Unternehmens gegeben, von dessen Produktpalette ich
bislang nur ein ziemlich diffuses Bild hatte. Ich wusste, dass
General Biotech unter anderem für die Armee Impfstoffe gegen
Biowaffen herstellte. Zumindest hatte uns das Herr Bock, unser
Chef, am Telefon gesagt, als er uns nach Waltershof
beorderte.
Es bestand der Verdacht, dass es einen Zusammenhang zum
internationalen Terrorismus gab.
Und das bedeutete automatisch, dass die Kriminalpolizei auf
den Plan gerufen wurde.
»Ich glaube, man würde uns auch rufen, wenn in einer Firma wie
General Biotech nur ein Bleistift abhanden gekommen wäre«, meinte
Roy. »In dieser Branche ist doch immer alles gleich
sicherheitsrelevant.«
»Du hast recht, Roy!«, meinte ich und schlug mir den
Mantelkragen hoch. Es war lausig kalt an diesem Morgen.
Mir fiel auf, dass kein Wagen des Gerichtsmediziners unter den
Einsatzfahrzeugen war. Die Leiche des bei dem Einbruch erschossenen
Wachmanns war also schon in der Gerichtsmedizin. Allerdings hatten
vor dem Haupteingang auch zwei Fahrzeuge des Erkennungsdienstes
geparkt. Dieser zentrale Erkennungsdienst arbeitete für alle
Hamburger Polizeieinheiten. Auch für uns von der Kriminalpolizei.
Wäre dies ein normaler Einbruch gewesen, bei dem ein Wachmann ums
Leben gekommen war, so hätte man mit Sicherheit den eigentlich für
Waltershof zuständigen Erkennungsdienst verständigt. Aber die Sache
wurde an höherer Stelle offenbar als so wichtig angesehen, dass man
die Spezialisten angefordert hatte.
Ein Polizei in Uniform nahm uns am Haupteingang in Empfang und
brachte uns zu dem zuständigen Einsatzleiter der Polizei.
Es handelte sich Kommissar Mark Bronstein, den Leiter der
Mordkommission der Waltershofer Dienststelle. Bronstein war ein
grauhaariger, fülliger Mann und konservativ gekleidet. Ihm hing
allerdings die Krawatte wie ein Strick um den Hals.
Roy und ich stellten uns kurz vor.
»Wir haben schon auf Sie gewartet«, sagt Bronstein. »Was
wissen Sie schon?«
»Nur, dass eingebrochen wurde und ein Wachmann dabei ums Leben
kam«, sagte ich. »Außerdem sollen wichtige Daten und ein Behälter
mit gefährlichen Krankheitserregern gestohlen worden sein.«
»Das war zunächst nur ein Verdacht«, nickte Bronstein.
»Inzwischen haben wir die Gewissheit, dass die Festplatten mehrerer
Computer kopiert wurden. Darauf befinden sich Forschungsdaten von
unschätzbarem Wert.«
»Wäre so ein Datendiebstahl nicht leichter über das Internet
möglich?«, fragte ich. »Hacker aus Hamburg sind vor ein paar Jahren
in die Datenspeicher des Polizeipräsidiums eingedrungen, da dürfte
es doch möglich sein, bei General Biotech datentechnisch zu
wildern.«
»Da fragen Sie besser Professor Beifus, den Chefentwickler von
General Biotech«, erwiderte Bronstein. »Der wird Ihnen jede
Einzelheit erklären können. Aber soweit ich das verstanden habe,
hat das Datennetz des Labortrakts von General Biotech überhaupt
keine Verbindung zur Außenwelt. Internet oder andere
Datenfernleitungen gibt es ausschließlich in den Abteilungen, die
mit Verkauf und Marketing zu tun haben.«
Wenn es tatsächlich nur ein internes Netz gab, war ein
Hackerangriff kaum möglich. Für eine Zentrale wie das
Polizeipräsidium war ein derart isolierter Zustand natürlich nicht
denkbar. Die Methode, mit der Hacker sich in solche
Datenverbundsysteme hineinschlichen, war immer dieselbe. Sie
marschierten nicht durch den gut gesicherten Haupteingang, sondern
kamen durch die ungesicherte Hintertür. In einem Verbund von
Tausenden von Rechnern reichte es, wenn man ein Zugangsgerät fand,
dessen Sicherheitsfunktionen noch auf Werkseinstellung geschaltet
waren.
Aber das Hochsicherheitslabor einer verhältnismäßig kleinen
Firma ließ sich viel hermetischer sichern.
»Was ist mit dem Verdacht, dass auch Präparate gestohlen
wurden?«, erkundigte sich jetzt mein Kollege Roy Müller.
»Gegenwärtig wird noch geprüft, ob etwas fehlt«, erklärte
Bronstein. »Kommen Sie mit mir!«
Wir folgten dem hiesigen Chef der Mordkommission in den
fünften Stock.
Die Flure waren mit Teppichboden ausgelegt. Man hörte fast
keinen Laut, wenn man darüber ging.
Mehrere Männer und Frauen in den weißen, hauchdünnen
Schutzoveralls des Erkennungsdienstes machten hier ihren Job und
suchten die Umgebung nach kleinsten Spuren ab, die der oder die
Täter vielleicht hinterlassen hatten.
Eine weiße Kreidemarkierung zeigte an, wo der tote Wachmann zu
Boden gegangen war.
»Wie hieß der Tote?«, fragte ich.
»Herrmann Graumann«, gab Bronstein bereitwillig Auskunft und
nahm dabei einen kleinen Block hervor, auf dem er sich ein paar
Notizen gemacht hatte. »Graumann hatte das Pech, zur falschen Zeit
am falschen Ort zu sein. Aus irgendwelchen Gründen scheint er eine
außerplanmäßige Runde durch das Gebäude gemacht zu haben!«
»Könnte es sein, dass er Verdacht geschöpft hat?«, warf Roy
ein.
»Dann frage ich mich, weshalb er seinen Kollegen nicht
Bescheid gesagt hat und einen Alleingang versuchte«, meinte
Bronstein. »Aber vielleicht ist die Lösung viel einfacher.«
»So?«, fragte Roy.
»Am Ende des Ganges liegt die Personaltoilette dieses Traktes.
Wahrscheinlich ist Herrmann Graumann deswegen hier gewesen.«
»Das leuchtet ein«, meinte ich.
Roy hob den Arm und deutete auf eine der Überwachungskameras,
die gut sichtbar angebracht waren.
»Wie ich sehe, gibt es hier eine Videoüberwachung.«
»Der Mord müsste gefilmt worden sein“. meinte ich.
»Richtig«, stimmte Bronstein zu »Es gibt eine
Sicherheitszentrale, von der aus die Kameras über Monitore
überwacht werden. Natürlich ist es nicht möglich, jeden Winkel
dieses Gebäudekomplexes ständig zu überwachen.«
»Das bedeutet, in der Zentrale hat niemand etwas gesehen«,
schloss ich.
»Die Kollegen von SAFETY FIRST werten gerade mit unseren
Leuten die Videoaufzeichnungen aus. Schließlich kann sich der Täter
kaum innerhalb des Gebäudes bewegt haben, ohne von einer der
Kameras aufgenommen worden zu sein. Das Ganze ist nur eine Frage
der Zeit.«
4
Mark Bronstein führte uns zum Labor Nummer 5c, einem Trakt,
der hermetisch vom Rest des Gebäudes abgeschlossen war. Es
herrschten strenge Quarantänebedingungen. Roy und ich mussten
Schutzoveralls und Mundschutz tragen und passierten in Begleitung
einer jungen Mitarbeiterin von General Biotech die
Sicherheitsschleuse.
Bronstein brauchte etwas länger, um sich in seinen Overall zu
zwängen und folgte uns wenig später.
Kollegen des Erkennungsdienstes nahmen gerade die Türen
genauestens unter die Lupe, denn es war noch immer ein Rätsel, wie
der Täter in den Quarantäne-Bereich gelangt war.
»Woher wissen Sie so genau, dass es nur ein Täter war?«,
fragte ich.
»Normalerweise wird hier ein Iris-Scan bei jedem durchgeführt,
der den Sicherheitsbereich betritt«, sagte Bronstein. »Und in
dieser Nacht wurde Labor 5c nur von einer einzigen Person betreten,
das steht fest.«
»Aber dann musste diese Person doch autorisiert gewesen sein«,
schloss ich.
»Der abgespeicherte Iris-Scan stimmt mit keinem der
autorisierten Mitarbeiter überein«, erklärte Bronstein.
Roy und ich wechselten einen etwas irritierten Blick.
»Wie ist der Kerl dann hier hereingekommen?«, hakte mein
Kollege nach.
»Wir nehmen an, dass am Rechnersystem herummanipuliert wurde«,
antwortete jetzt die junge General Biotech-Mitarbeiterin anstelle
von Kommissar Bronstein. An ihrem Schutzanzug stand ihr Name: Dr.
Tessa Ölrich. Ich schätzte sie auf Mitte zwanzig. Sie musste
ziemlich schnell studiert haben, um bereits in so jungen Jahren so
weit zu kommen.
Ich wandte ihr den Blick zu.
»Das würde bedeuten, dass der Täter einen Komplizen bei
General Biotech haben muss.«
»Ich fürchte, Ihre Schlussfolgerung ist die einzig logische
Konsequenz«, nickte sie. Sie seufzte hörbar. »Der Gedanke gefällt
mir absolut nicht, dass einer meiner Kollegen dem Verrückten
geholfen hat, der uns das alles hier einbrockte.« Sie verschränkte
die Arme vor der Brust. »Wenn man weiß wie, ist die Angelegenheit
doch ziemlich simpel. Man sorgt nur einfach dafür, dass ein
bestimmtes, ins System eingeschmuggeltes Irisbild mit der
Autorisation eines Zugangsberechtigten verknüpft wird.«
»Aber soweit ich bisher verstanden habe, ist das Datennetz von
General Biotech nach außen hin absolut abgeschlossen«,
vergewisserte ich mich noch einmal bei der jungen
Wissenschaftlerin. »So kann diese Manipulation nur von innen
vorgenommen worden sein.«
»Vollkommen richtig«, bestätigte sie.
Wenig später erreichten wir einen Laborraum, dessen Tür
erkennbar beschädigt worden war. Offenbar war die Tür mit einem
Tritt geöffnet worden. Weitergehende Sicherheitsmaßnahmen –
abgesehen von ganz gewöhnlichen elektronischen Schlössern – schien
es im inneren Sicherheitsbereich nicht mehr zu geben.
Warum auch?, überlegte ich. Schließlich gab es eigentlich
genug Barrieren, die verhinderten, dass sich ein Unbefugter Zutritt
zu den streng geheimen Laboren des aufstrebenden Biokonzerns
verschaffte. Aber genau das war hier geschehen. Und dass mit einer
generalstabsmäßigen Planung, die ihresgleichen suchte.
Der Täter hatte zunächst die Außenbarriere des Geländes
überwinden oder an den Wachen am Haupteingang vorbei müssen. Dann
gab es das elektronische Schloss mit ID-Kontrolle und einem
elektronischen Schloss, das mit einer Chipkarte geöffnet werden
konnte.
Anschließend kamen noch mehrere solcher Schlösser, bevor der
Täter die Sicherheitsbarriere des Quarantäne-Sektors sowie die Tür
zum eigentlichen Labor mit der Bezeichnung 5c überwand.
»Der Kerl hat also eine gültige Chip-Card besessen«, stellte
ich fest. »Wie konnte er denn an so ein Ding herankommen?«
»Auch da muss ihm jemand geholfen haben«, meinte Dr.
Ölrich.
In Labor 5c herrschte penible, sehr sterile Ordnung.
Eigentlich hatte ich nach einem Einbruch etwas anderes erwartet.
Aber der Täter schien ganz genau gewusst zu haben, was er
wollte.
Mehrere Kollegen der Spurensicherung waren inzwischen im
Einsatz und machten mit den Laborassistenten eine Bestandsaufnahme
der vorhandenen Präparate.
Die Rechner waren hochgefahren worden.
»Das ist Professor Dr. Leo Beifus, der wissenschaftliche
Leiter der Entwicklungsabteilung von General Biotech«, stellte uns
Tessa Ölrich einen Mann vor, dessen Kopf vollkommen haarlos war.
Sein Alter war schwer zu schätzen. Ich nahm an, dass er Ende
fünfzig war.
»Uwe Jörgensen, Kriminalpolizei«, stellte ich mich vor. »Dies
ist mein Kollege Roy Müller.«
Leo Beifus blickte kurz in Bronsteins Richtung. Dann meinte
er: »Jetzt sagen Sie nicht, dass ich den beiden Ermittler alles
noch einmal erzählen muss!«
»Ich denke, wir werden nicht einmal die Letzten sein, denen
gegenüber Sie alles noch mal haarklein wiederholen müssen«,
erwiderte ich kühl, noch bevor Bronstein etwas hatte sagen
können.
Leo Beifus schluckte. Er verschränkte die Arme vor der Brust,
was seiner Körperhaltung einen abweisenden Ausdruck verlieh. Er
schien zu überlegen. Schließlich machte er eine wegwerfende
Handbewegung.
»Wahrscheinlich haben Sie sogar recht, Herr Jörgensen«, musste
der Chefentwickler des General Biotech Konzerns zugeben.
Versicherungen und die Presse würden sich vermutlich gleich nach
uns der Sache annehmen, später folgten dann unweigerlich
Staatsanwaltschaft und das Gericht.
Beifus sah mich einige Augenblicke lang nachdenklich an, ehe
er schließlich sagte: »Der Einbrecher hat zunächst einmal einen
hochsensiblen Datensatz kopiert und auf einen Datenträger gezogen.
Das geht aus den Protokolldaten hervor.«
»Ich nehme an, Sie benutzen Passwörter und dergleichen
Sicherungen«, erwiderte ich.
Die sehr hellen und daher kaum sichtbaren Augenbrauen des
Wissenschaftlers zogen sich zusammen. Er schien allein schon meine
Frage als Beleidigung zu empfinden.
»Selbstverständlich!«, sagte er ziemlich pikiert. »Aber dieser
ungebetene Gast hat es trotzdem geschafft.«
»Dann nennen Sie mir bitte alle Personen, denen die
Zugangscodes zu diesem Rechner bekannt sind.«
»Das beschränkt sich auf die Mitglieder unseres
wissenschaftlichen Teams – meine Person und die von Dr. Ölrich
eingeschlossen. Dazu kämen noch der Systemadministrator unseres
internen Datennetzes und seine Mitarbeiter. Insgesamt etwa
fünfundzwanzig Personen. Ich werde in der Personalabteilung
Bescheid sagen, dass man Ihnen eine Liste anfertigen soll.«
»Wissen Sie inzwischen, ob auch Präparate entwendet wurden?«,
fragte Roy Müller.
Professor Beifus’ Gesicht wurde sehr ernst. Er nickte stumm
und schluckte.
»Ja. Der Täter hat genug RCH-432 entwendet, um damit eine
Katastrophe auszulösen.«
»Was ist RCH-432?«, hakte ich nach.
Ein Tumult entstand draußen auf dem Flur. Ein Mann ohne den
vorgeschriebenen Schutzanzug ließ die Labortür zur Seite fliegen
und trat zusammen mit zwei Begleitern in dunklen Anzügen ein. Er
war groß, hager, hatte eine hohe Stirn und einen Knebelbart. Sein
Gesicht war V-förmig, die Augen eisgrau. Er hielt einen Ausweis wie
einen Bannschild vor sich.
»Sandro Grahms, Amt für Nationale Sicherheit! Wir übernehmen
jetzt!«
»Jörgensen, Kriminalpolizei«, sagte ich.
»Danke für Ihre Mithilfe, Herr Jörgensen. Sie können jetzt
gehen.«
»So einfach geht das nicht«, erwiderte ich. »Mein Kollege
Müller und ich haben den Auftrag, hier Ermittlungen durchzuführen,
und solange ich vom Chef des Präsidium Hamburg keine gegenteilige
Anweisung bekomme, gilt für mich das, was unser Chef Herr Bock
sagt.«
Sandro Grahms trat nahe an mich heran.
Wir waren etwa gleich groß.
Der Blick seiner eisgrauen Augen bohrte sich förmlich in die
meinen. Er verzog das Gesicht. Ein Lächeln konnte man das nicht
nennen. Es erinnerte eher an das Zähneblecken eines Raubtiers.
»Dieser Fall berührt die nationale Sicherheit und fällt daher in
unser Ressort.«
»Wenn ich das richtig sehe, sind Sie mir gegenüber keineswegs
weisungsberechtigt«, erwiderte ich kühl. »Und jetzt hindern Sie
mich bitte nicht daran, meine Arbeit zu tun und ein Verbrechen
aufzuklären!«
»Hier gibt es nichts zu klären, Herr Jörgensen. Jedenfalls
nicht für Sie!«
»Wenden Sie sich an Herrn Bock, den Chef unseres Präsidiums am
Bruno-Georges-Platz. Sollte von ihm die Anweisung kommen, dass wir
die Sache abgeben, bin ich schneller weg, als Sie glauben. Aber bis
dahin werde ich meinen Job machen, und sollte dieser Job eine
Anzeige gegen einen Regierungsbeamten wegen Behinderung der Justiz
beinhalten, so sollten Sie sich darüber später nicht wundern, Herr
Grahms!« Ich wandte mich an Professor Beifus. »Sie wollten mir
gerade erklären, was RCH-432 ist.«
»Das ist eine interne Bezeichnung für …«
»Stopp!«, fuhr Grahms dazwischen. »Sie sind Professor Dr. Leo
Beifus?«
»Ja.«
Er hielt ihm seinen Ausweis unter die Nase.
»Dann sehen Sie sich diesen Ausweis gut an. Ihre Firma
arbeitet im Regierungsauftrag an Abwehrpräparaten und Impfstoffen
gegen biologische Kampfmittel …«
»Das ist korrekt, aber …«
»Sämtliche Informationen darüber, was hier hergestellt wurde
und woran im Einzelnen geforscht wird, unterliegen den Bestimmungen
zur Aufrechterhaltung der Nationalen Sicherheit und den damit
verbundenen Geheimhaltungsrichtlinien. Alle Mitarbeiter, die an
diesem Projekt teilgenommen haben, sind über diese Bestimmungen
aufgeklärt worden und haben sich mit ihrer Unterschrift
verpflichtet, sie auch einzuhalten. Das gilt auch für Sie,
Professor Beifus. Ein unbedachtes Wort und Sie haben einen Prozess
am Hals, der Sie nie wieder froh werden lässt!«
Beifus wandte sich an mich.
»Es tut mir leid, Herr Jörgensen, aber …«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein, Grahms«, mischte sich Roy ein.
»Da läuft ein Kerl mit einem hochgefährlichen Präparat herum und
die ermittelnde Polizeibehörde bekommt noch nicht einmal die
nötigen Informationen darüber, um die Gefahren abwenden zu
können.«
»Wir werden schon die richtigen Schritte veranlassen«,
versprach Grahms.
»Aber noch ist das unser Tatort!«, wies ich ihn zurecht.
»Sorgen Sie für eine rechtliche Klärung, dann sehen wir weiter! Und
jetzt möchte ich wissen, was RCH-432 ist!«
»Ich werde keine Aussage dazu machen, Herr Jörgensen, bis ein
Justiziar von General Biotech anwesend ist«, erklärte Beifus. Er
drehte sich herum, wandte sich den anderen anwesenden Mitarbeitern
zu. »Ich werde jedem von Ihnen raten, dasselbe zu tun. Schließlich
hat Kommissar Grahms recht. Wir haben alle eine Erklärung
unterzeichnet, die uns zu striktester Geheimhaltung
verpflichtet.«
Sandro Grahms grinste schief.
»Viel Spaß bei der Arbeit, Herr Jörgensen! Ich werde mich
jetzt darum kümmern, dass man Ihnen im Präsidium einen besonders
warmen Empfang bereitet und Sie wahrscheinlich nie wieder auf
irgendeiner Beförderungsliste stehen.«
»Überschätzen Sie sich nicht!«, erwiderte ich.
»Ach – noch etwas, Jörgensen!«
»Ich habe Ihre Erklärung nicht unterschrieben, Herr Grahms! –
falls Sie darauf hinauswollen! Und was die nationale Sicherheit
angeht, würde ich niemals etwas tun, was diese gefährdet.«
Grahms verzog das Gesicht.
»Absichtlich vielleicht nicht, aber wenn Sie wüssten, welche
Gefahren schon durch gutmütige Trottel verursacht wurden … Wie auch
immer, was ich Ihnen noch zu Ihrer Beruhigung sagen wollte, ist
Folgendes: Ich weiß sehr genau, was RCH-432 ist und bin auch in der
Lage diese Gefahr einzuschätzen. Wir bekommen die Sache in den
Griff, seien Sie sich dessen gewiss! Falls wir dabei Ihre Hilfe
brauchen, werden wir euch Ermittler schon verständigen.« Er machte
eine ausholende Geste. »Wenn hier irgendeiner Ihrer Leute was am
Tatort vermasselt, dann sind Sie und Ihre Vorgesetzten dran, das
kann ich Ihnen flüstern.«
Damit wandte sich Grahms um. Er machte seinen Begleitern ein
Zeichen, woraufhin sie ihm folgten. Lautstark fiel die Tür hinter
ihnen ins Schloss.
»Sieht nach Ärger aus, Uwe«, meinte Roy. »Was bildet dieser
Kerl sich eigentlich ein?«
Wahrscheinlich war Grahms uns bereits ein paar Schritte voraus
und glaubte wohl auch deshalb, uns wie dumme Jungs behandeln und
dementsprechend abkanzeln zu können.
»Ich werde mit Herrn Bock sprechen«, kündigte ich an. Ich
griff zum Handy. Wenige Augenblicke später hatte ich unseren Chef
am Telefon.
»Was gibt es, Uwe?«
In knappen Worten schilderte ich Herrn Bock die Begegnung mit
Grahms.
»Machen Sie weiter wie bisher«, sagte unser Chef. »Das nehme
ich notfalls auf meine Kappe. Es geht schließlich nicht an, dass
die Bekämpfung des Verbrechens durch Kompetenzstreitigkeiten
behindert wird.«
»Ganz meine Meinung, Chef.«
»Ein Dutzend Ihrer Kollegen sind auf dem Weg zu Ihnen, um Sie
zu unterstützen«, kündigte unser Chef dann an.
»Unterstützung haben wir hier dringend nötig – und das nicht
nur wegen der Knüppel, die uns Kommissar Grahms zwischen die Beine
wirft, sondern auch deshalb, weil hier wahrscheinlich mehrere
Dutzend Mitarbeiter von General Biotech sowie dem Sicherheitsdienst
SAFETY FIRST befragen müssen.«
»Zwei Spezialisten in Sachen Biowaffen sind bei der
BKA-Zentrale in Berlin angefragt. Gegen 11 Uhr steigen die am
Hamburger Flughafen aus dem Flieger und sind dann entsprechend
später bei Ihnen, Uwe.«
»Gut. Aber vielleicht wissen wir ja bis dahin auch ohne diese
Spezialisten schon etwas mehr.«
»Ich werde mich inzwischen ganz offiziell mit den Kollegen des
Amtes für Nationale Sicherheit in Verbindung setzen, um die
bestehenden Kompetenzprobleme zu lösen. Bis später, Uwe!«
»Ja, Chef.«
5
Später traf der Justiziar von General Biotech ein. Er hieß
Georg Maurer, ein Hochschulabsolvent, der früher in einer großen
Hamburger Kanzlei als Anwalt tätig gewesen war, bis er die
juristische Vertretung von General Biotech übernommen hatte.
Unglücklicherweise unterstützte er Grahms Linie, wonach keiner
der angestellten Wissenschaftler zu Details der bei General Biotech
Betriebsforschung Stellung nehmen sollte.
»Diese Einschränkung betrifft wirklich nur alles das, was mit
unseren Forschungen zu tun hat«, erläuterte Georg Maurer, ein
kleiner, übergewichtiger Mann, der unter seinem Jackett sowohl
Gürtel als auch Hosenträger trug. Er war also wohl jemand, der in
jeder Hinsicht auf Nummer sicher ging. »Was den Tathergang angeht
oder eventuell sonstige sachdienliche Hinweise, Aussagen zu
besonderen Beobachtungen, die im Zusammenhang mit der Tat gemacht
wurde und der gleichen mehr, haben die Mitarbeiter unserer Firma
natürlich eine umfassende Aussageerlaubnis. Zumindest sehe ich da
keinerlei juristische Probleme.«
»Zu gütig«, knurrte Roy. Ich sah ihm an, wie sehr ihn diese
Spitzfindigkeiten innerlich kochen ließen.
Aber gegenwärtig mussten wir uns mit den Gegebenheiten
abzufinden. Natürlich hätten wir formal die Möglichkeit gehabt,
alle, von denen wir annahmen, dass sie sachdienliche Hinweise
zurückhielten, in Gewahrsam zu nehmen und im Polizeipräsidium zu
verhören. Gegebenenfalls war sogar nach richterlicher Anordnung
Beugehaft möglich, um eine Aussage zu erzwingen, aber es war
anzunehmen, dass sich die Betreffenden dann auf ihr Recht beriefen,
gegenüber der Justiz zu schweigen, wenn er sich durch
wahrheitsgemäße Aussage selbst belasten würde.
Und so lange der Kompetenzstreit mit dem Amt für Nationale
Sicherheit nicht geklärt war, hatte ein Staatsanwalt wohl auch kaum
Chancen, Beugehaft für irgendeinen der wissenschaftlichen Köpfe von
General Biotech bei Gericht durchzusetzen.
Etwa gegen 10.00 Uhr traf unser Kollege Stefan Czerwinski
zusammen mit seinem Einsatzpartner Ollie Medina am Tatort ein.
Stefan war im Rang der zweite Mann bei uns im Präsidium, während
unser Kollege Ollie Medina als bestangezogendster Ermittler im
Präsidium galt. Von seinem Maßanzug war unter der Schutzkleidung,
die natürlich auch er tragen musste, nichts mehr zu sehen.
Etwas später trafen noch unsere Erkennungsdienstler Frank
Folder und Martin Horster ein. Trotz der Tatsache, dass sich unsere
Abteilung zumeist auf die Dienste der Abteilung Erkennungsdienst
verlässt, verfügen wir darüber hinaus selbstverständlich auch noch
über unsere eigenen Spezialisten, die wir gegebenenfalls
hinzuziehen können.
Von Stefan erfuhr ich, dass unsere Kollegen Tobias Kronburg
und Ludger Mathies damit beauftragt worden waren, die angekündigten
Biowaffenspezialisten vom Bundeswehrstandort der Baudissin-Kaserne
abzuholen.
»Ich schätze, die stecken jetzt in einem richtig schönen
Stau«, meinte Ollie dazu. »Kam vorhin durch den Lokalfunk. An der
Abfahrt der B4 auf die B5 staut sich der Verkehr. Man versucht ihn
umzuleiten, nach dem ein Dreißigtonner beim Reinmüller-Sportplatz
aus der Spur geraten ist und sich quer gelegt hat.«
»Na, dann kann das ja noch ein bisschen dauern«, murmelte ich.
»Ist dieser Grahms noch mal aufgetaucht?«, wandte sich Stefan
Czerwinski an mich.
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein. Zum Glück nicht.«
»Wahrscheinlich werden da jetzt hinter den Kulissen die Messer
gewetzt.«
»Bin mal gespannt, wer die schärferen hat!«
»Einfach zu dumm, diese übertriebene Geheimniskrämerei der
Kollegen von der Nationalen Sicherheit.«
»In einem anderen Fall ärgern die sich vielleicht über uns«,
meinte Roy.
Tatsache war, dass man in den vergangenen Jahren immer wieder
versucht hatte, derlei Kompetenzwirrwarr zu entflechten. Trotzdem
kam es immer wieder vor, dass die verschiedenen Geheimdienste und
Polizeieinheiten in Einzelfällen miteinander konkurrierten, anstatt
zu kooperieren.
Kommissar Bronstein bekam in diesem Augenblick eine Meldung
über Funk. Ein Beamter aus seiner Abteilung meldete sich.
»Wir haben gerade die Überprüfung der Videoaufzeichnungen
abgeschlossen«, erklärte er.
»So schnell?«, fragte Bronstein skeptisch.
Seine Zweifel waren berechtigt. Wenn man in Betracht zog, dass
im Hauptgebäude von General Biotech sämtliche Flure sowie alle
Räume im sicherheitsrelevanten Bereich videoüberwacht wurden,
musste eine Unmenge von Material gesichtet werden.
»Das Ergebnis wird Sie überraschen, Chef!«
6
Wir folgten Bronstein und verließen dabei den
Sicherheitsbereich. Ich sah Tessa Ölrich an einem Kaffeebecher
nippen. Sie wirkte nachdenklich und in sich gekehrt. Dass sie
bereits vor uns das Labor 5c verlassen hatte, war mir nicht
aufgefallen.
Ich blieb stehen, während die anderen in Richtung Lift
gingen.
»Wie gefährlich ist das Zeug, das der Einbrecher gestohlen
hat?«
Sie blickte auf, sah mich etwas irritiert an und schluckte.
Roy und die anderen verschwanden im Lift. Ich würde ihnen sobald
wie möglich folgen. Aber irgendwie sagte mir mein Instinkt, dass es
ein günstiger Zeitpunkt war, um Tessa Ölrich anzusprechen. Im
Gegensatz zu Leo Beifus schien sie sich nicht ganz so sicher zu
sein, dass es wirklich das Richtige war, über die Forschungen bei
General Biotech zu schweigen.
»Wir werden es doch herausbekommen«, sagte ich.
»Ich tue einfach nur, was mir gesagt wird, okay?«, erwiderte
sie gereizt. »Und wenn das juristische Gezerre zu Ihren Gunsten
entschieden wurde, dann rede ich wie ein Wasserfall und über alles
was Sie wollen.«
»Das klingt gut. Aber dann kann es zu spät sein. Zeit ist ein
wichtiger Faktor.«
Sie atmete tief durch. Im Grunde war ihr klar, dass ich recht
hatte.
Sie blickte sich um und sagte dann in gedämpftem Tonfall:
»Das, was ich Ihnen jetzt sage, können Sie weder vor Gericht
verwenden noch sonst wo. Wenn Sie irgendwem gegenüber meinen Namen
erwähnen, werde ich alles abstreiten.«
»Klar.«
»Überlegen Sie doch mal, Herr Jörgensen …«
»Ich schlage vor, Sie äußern Ihre Vermutungen und wenn sie
falsch sind, werde ich widersprechen.«
»Gut.«
»Also, bitte!«
»Sie entwickeln Impfstoffe gegen biologische
Kampfstoffe.«
»Richtig.«
»Ich nehme an, dass sich diese Impfstoffe nur herstellen
lassen, wenn man auch mit dem Erreger experimentieren kann.«
»Da hören Sie von mir auch keinen Widerspruch.«
»RCH-432 ist ein Krankheitserreger, der als biologischer
Kampfstoff verwendet werden kann.«
Tessa Ölrich schwieg und nippte an ihrem Kaffee. Schließlich
flüsterte sie: »Ganz grundsätzlich kann ich Ihnen sagen, dass in
Labor 5c mit verschiedenen Stämmen von Pockenerregern gearbeitet
wird. Man hielt diese Krankheit ja mal für ausgerottet, aber das
hat sich in der Zwischenzeit als Irrtum erwiesen.«
»Warum stiehlt jemand einfache Pockenerreger? Das macht keinen
Sinn.«
»Sie haben recht, es macht keinen Sinn«, gab sie zu. »Selbst
für Terroristen gäbe es weniger risikoreiche Möglichkeiten, an
einfache Pockenerreger heranzukommen, als ein
Hochsicherheitslabor!«
»Dann sind dies keine einfachen Pockenerreger?«, schloss
ich.
»Ich kann jetzt nicht weiterreden. Vielleicht in den nächsten
Tagen. Aber nicht jetzt.«
Ich gab ihr meine Karte.
»Rufen Sie mich an!«
Sie antwortete mir nicht.
Ihr Blick ging plötzlich an mir vorbei. Ich drehte mich um und
sah das nervöse Gesicht von Georg W. Maurer. Der Justiziar von
General Biotech Inc. fixierte erst mich und dann Tessa
Ölrich.
»Hat man versucht, Sie unter Druck zu setzen, Dr. Ölrich?«,
fragte er.
»Nein, Herr Maurer.«
7
Während ich den Kollegen zur Zentrale des Security Service
folgte, ging mir einiges durch den Kopf. Weshalb stahl jemand, bei
dem es sich ganz offensichtlich um einen Profi-Einbrecher handelte,
einen Behälter mit Pockenerregern? Ein terroristischer Hintergrund
drängte sich da geradezu auf. Die Welle von Postsendungen mit
Milzbranderregern, die es in ganz Amerika gegeben hatte, war mir
noch gut in Erinnerung. Die Angst vor einer tödlichen Seuche war
tief in der menschlichen Psyche verankert. Ein kollektives Trauma
aus den Zeiten der großen Epidemien, die in grausamer
Regelmäßigkeit die Menschheit heimgesucht hatten.
Aber selbst mit der Biotech-Medizin des 21. Jahrhunderts war
diese Gefahr nicht völlig zu bannen.
Die Gefahr bestand immer, dass ein bisher isoliert
existierender Erreger sein ursprüngliches Verbreitungsgebiet
verließ und sich dann epidemisch ausbreitete. Und genauso groß war
die Gefahr, dass Terroristen und kriminelle Erpresser mit der Angst
der Menschen spielten.
Ich fragte mich, was so Besonderes an dem entwendeten
Pockenerregerstamm war. Möglicherweise war er gentechnisch
verändert worden und hatte jetzt Eigenschaften, die ihn besonders
gefährlich machten.
Bis zur Sicherheitszentrale musste ich mich erst durchfragen
und kam deshalb etwas zu spät, um das Entscheidende
mitzubekommen.
Niemand drehte sich nach mir um, als ich den Raum betrat. Ich
hörte nur, wie Stefan sagte: »Das ist doch unmöglich!«
»Leider nein«, meinte ein ziemlich kleinlaut wirkender Mann in
der Uniform des SAFETY FIRST Security Service. An seinem
Uniformhemd war sein Name aufgenäht. Er lautete G.P. Wahlkemeier,
und er war offenbar der Chef in der Sicherheitszentrale.
David Eichner, ein Computerspezialist des Erkennungsdienstes,
stand daneben. Seine Finger klackerten über eine der Tastaturen.
Auf einem Flachbildschirm erschienen Kolonnen von Daten. Eichner
zuckte die Achseln.
»Ich kann es nur bestätigen«, meinte er. »Die Sache ist
äußerst raffiniert – und sehr effektiv.«
»Was ist hier los?«, raunte ich Roy zu.
»Es gibt keine Bilder vom Täter«, brachte es mein Kollege auf
den Punkt. »Du denkst, das ist unmöglich? Hätte ich auch gedacht
…«
G.P. Wahlkemeier erklärte den Anwesenden die Sachlage noch
einmal.
»Wir speichern die Videoaufzeichnungen auf einer Festplatte.
Genau zu dem Zeitpunkt, als der Einbruch stattgefunden haben muss,
wurden die Bilder des Vortages auf die Monitore projiziert, so dass
die diensthabende Besatzung der Zentrale keinerlei Verdacht
schöpfte. Gleichzeitig wurden die Daten der aktuellen Aufzeichnung
gelöscht.«
»Lassen sie sich nicht irgendwie rekonstruieren?«, fragte
Stefan.
Wahlkemeier zuckte die Achseln.
»Da dürfen Sie mich nicht fragen. Ich bin froh, wenn ich das
System richtig bedienen kann – für Reparaturen sind wir nicht
zuständig.«
»Ich glaube, die Frage war an mich gerichtet«, sagte unser
Kollege David Eichner sehr ruhig. Er wandte den Blick in Stefans
Richtung und fuhr fort: »Ob eine Möglichkeit der
Datenrekonstruktion besteht, müssten wir im Labor feststellen.
Außerdem kann es eine Weile dauern, und eine Garantie gibt es auch
nicht. Es kommt vor, dass sich Daten auf einem Rechner
wiederherstellen lassen, der bei einem Hausbrand regelrecht
zusammengeschmolzen wurde, während in anderen Fällen schon
Stromschwankungen dafür ausreichen, an der betreffenden Stelle auf
der Festplatte einen so nachhaltigen Schaden zu verursachen, dass
selbst mit größtem Aufwand überhaupt nichts mehr geht.«
»Wir werden das ganze Zeug hier mitnehmen müssen«, meinte
Stefan.
8
Sandro Grahms blickte auf die Uhr an seinem Handgelenk. Die
Ziffern leuchteten. Es war fast fünf Uhr morgens. Sandro Grahms
gähnte.
»Na, komm schon! Wo steckst du denn?«, murmelte er vor sich
hin. Der Klang seiner eigenen Stimme sorgte dafür, dass er wieder
etwas wacher wurde.
Es war nicht das erste Mal, dass er eine Nacht ohne Schlaf
auskommen musste. Manchmal gehörte das einfach zum Job.
Grahms hatte seinen Wagen, einen unscheinbaren
metallicfarbenen Ford, am Straßenrand abgestellt. Er hatte das
Mietshaus auf der gegenüberliegenden Seite der Straße im
Blick.
Grahms gähnte erneut.
Dann sah er auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Mann
auf den Eingang des Mietshauses zugehen.
Für einen Moment geriet der Mann in den Schein einer
Neonreklame.
Das ist er!, dachte er.
Der Mann hieß Lutz Rossberg und war Mitarbeiter von General
Biotech. Wie jeden Mitarbeiter dieser Firma gab es auch über
Rossberg ein detailliertes Dossier. Es lag auf dem Beifahrersitz.
Aber Grahms hatte sich das Gesicht durch die darin enthaltenen
Fotos gut genug eingeprägt, um nicht noch einmal nachsehen zu
müssen.
Grahms stieg aus, überquerte die Straße und schaffte es gerade
noch, den Eingang des Mietshauses zu erreichen, bevor dort die Tür
ins Schloss fiel.
Lutz Rossberg hatte kurz zuvor das Haus betreten.
Grahms folgte Rossberg bis zu dessen Apartment im dritten
Stock. Rossberg kannte ihn nicht. Daher schöpfte der Mann, der sich
sein Geld als Fahrer bei General Biotech verdiente, keinerlei
Verdacht.
In der Firma war Rossberg nicht gewesen. Er hatte Urlaub
genommen, und nach Grahms Überzeugung hatte das einen Grund.
Der Mann von der Nationalen Sicherheit wartete ab, bis Lutz
Rossberg die Tür zu seiner Wohnung hinter sich ins Schloss fallen
ließ.
Grahms griff nach seiner Dienstwaffe, einer Automatic. Er
überprüfte die Ladung. Dann steckte er die Waffe wieder weg und
trat an die Tür.
Er klingelte.
Die Tür öffnete sich.
Grahms hielt Rossberg seinen Ausweis unter die Nase.
»Grahms, Amt für Nationale Sicherheit. Ich hätte ein paar
Fragen im Zusammenhang mit dem Einbruch in das Labor 5c auf dem
Firmengelände von General Biotech.«
»Ich … wieso?«
»Passen Sie auf, Rossberg, das Spiel geht ganz einfach: Ich
stelle die Fragen und Sie beantworten Sie!«
»Kommen Sie rein!«
»Danke.«
Grahms machte einen Schritt nach vorn und bemerkte in letzter
Sekunde, dass das ein Fehler gewesen war. Rossberg tat zunächst so,
als wollte er Grahms den Rücken zuwenden. Dann wirbelte er
plötzlich herum. Blitzschnell traf Grahms eine sehr effektive
Kombination von Karateschlägen.
Grahms sackte zu Boden.
Regungslos blieb er liegen und Rossberg zog ihn an den
Schultern ein Stück weiter, damit er die Tür seines Apartments
endlich schließen konnte.
9
Wir hatten sämtliche Computer in der Sicherheitszentrale
beschlagnahmt. Darüber hinaus aber auch die aus Labor 5c, auch wenn
sowohl Professor Beifus als auch der Justiziar heftig
protestierten. Aber Herr Bock hatte dies in Zusammenarbeit dem
zuständigen Staatsanwalt Jonas Ludwig durchgesetzt.
Am nächsten Tag fand eine Besprechung im Büro unseres Chefs
statt, an dem außer Roy und Herr Bock auch unsere Kollegen Ollie
Medina, Stefan Czerwinski und Tobias Kronburg teilnahmen. Dazu
kamen noch Gerd Niemann und Tom Dedmoldt, die beiden
Biowaffenexperten sowie der Computerexperte von unserem
Erkennungsdienst David Eichner.
»Für mich steht außer Frage, dass General Biotech mit
veränderten Pocken-Erregern experimentiert hat«, erklärte Gerd
Niemann.
»Und worin bestehen diese Veränderungen?«, fragte Herr Bock
stirnrunzelnd.
»Üblich ist beispielsweise eine längere oder kürzere
Inkubationszeit. Je nachdem, ob man sehr schnell viele Menschen
außer Gefecht setzen möchte oder eine schleichende, dafür umso
verheerendere Epidemie im Sinn hat«, lautete Niemanns Antwort.
»Das klingt für mich sehr beunruhigend«, bekannte Herr
Bock.
»Es gibt immerhin eine gute Nachricht«, mischte sich nun Tom
Dedmoldt ein. »Die Erreger befanden sich in einem so genannten
CX-Behälter und sind darin unschädlich, solange dieser nicht
geöffnet wird.«
»Ein schwacher Trost, wenn man bedenkt, dass sich dieses
Teufelszeug jetzt wahrscheinlich in den Händen eines irren
Kriminellen befindet«, warf Roy Müller ein.
»Sagen Sie das nicht«, wandte Dedmoldt ein. »Es ist erst ein
paar Jahre her, da transportierten Mitarbeiter eines Labors in
Washington den Kadaver eines an Ebola verendeten Versuchsaffen in
einer Plastiktüte. Sie legten ihn einfach in den Kofferraum ihres
Dienstwagens und fuhren damit in den Straßen Washingtons herum. Es
wäre nur ein ganz gewöhnlicher Verkehrsunfall nötig gewesen, um
eine Katastrophe auszulösen.«
»Was glauben Sie, was die Ziele des Täters sind?«, fragte Herr
Bock.
Dedmoldt zuckte die Achseln.
»Das war ein Profi, der will wahrscheinlich nur Geld verdienen
und handelt im Auftrag.«
»Und wer steckt dahinter?«
»Eine gute Frage. Abwandlungen des Pocken-Virus sind beliebte
Kampfstoffe, die sich wahrscheinlich hervorragend an zahlreiche
Regierungen verkaufen lassen, wenn man es darauf anlegt.«
»Wir haben allerdings keine Hinweise darauf gefunden, dass
auch ein Impfstoff entwendet wurde«, stellte ich nun fest.
»Eigentlich ist der zwingend notwendig!«
»Schließlich sollen ja nicht die eigenen Leute an einem
resistenten Pocken-Erreger sterben«, ergänzte Tobias Kronburg.
»In diesem Zusammenhang wäre es natürlich vorteilhaft, wenn
wir Einzelheiten über die Forschungen von General Biotech wüssten«,
meinte Stefan Czerwinski. »Leider sagte mir Herr Eichner, dass
bislang auf den beschlagnahmten Rechnern nicht allzu viele Hinweise
gefunden worden seien.«
»Ich möchte, dass die Kollegen Niemann und Dedmoldt sich den
Inhalt der Festplatten der Laborrechner noch einmal in aller Ruhe
ansehen«, erklärte Herr Bock.
Die beiden Angesprochenen nickten zur Bestätigung.
In diesem Augenblick wurde die Tür mit unverhältnismäßiger
Wucht zur Seite geschleudert. Gemessenen Schrittes trat Sandro
Grahms ein.
Alle Augen waren jetzt auf diesen Mann gerichtet, der die
Krawatte gelockert und jetzt seine Hände in die Hosentaschen
steckte. Er schien gerade etwas sagen zu wollen, als unser Chef ihm
zuvorkam.
»Mein Name ist Kriminaldirektor Jonathan Bock und ich möchte,
dass Sie sich jetzt setzen und unsere Sitzung nicht weiter durch
Ihre Selbstinszenierung stören, Herr ...!«
Sandro Grahms Gesicht wurde ernst. Er nahm einen der noch
freien Stühle und setzte sich.
»Sie haben Glück«, fand Herr Bock. »Die
Untersuchungsergebnisse vom Tatort haben wir ebenso wenig
besprochen wie die weitere Vorgehensweise bei den Ermittlungen und
die Abgrenzung der Kompetenzen. Sie haben also nichts
verpasst.«
»Tut mir leid, dass ich so spät dran bin. Aber auf den Straßen
hierher ist der Teufel los und …«
»Schon gut, Herr Grahms«, schnitt ihm Herr Bock das Wort ab.
»Ich denke, es gibt gravierendere Probleme in unserer
Zusammenarbeit als Unpünktlichkeit.«
Alle Augen waren jetzt auf Grahms gerichtet. Die Arroganz, die
ihn gestern noch ausgezeichnet hatte, war einer vorsichtigeren,
abwartenden Haltung gewichen. Ich vermutete, dass ein Gespräch auf
Vorgesetztenebene dahinter steckte.
Herr Bock erhob sich von seinem Platz. Die Hände steckten in
den Hosentaschen, das Gesicht war ernst.
»Ich hatte mit dem stellvertretenden Direktor vom Amt für
Nationale Sicherheit ein langes Gespräch, Kommissar Grahms. Es mag
Ihnen oder mir nun persönlich passen oder nicht – wir werden bei
diesem Fall kooperieren müssen. Und Kooperation setzt einen
Austausch an Informationen voraus.«
»Meiner Ansicht nach reicht es, wenn der Kerl mit dem
CX-Behälter wieder eingefangen wird«, erwiderte Grahms.
»Ich kenne Ihre Ansicht«, schnitt ihm Herr Bock das Wort ab.
»Aber wie mir Ihr Stellvertretender Direktor Niekrenz versicherte,
kennen Sie inzwischen auch die Ansicht Ihres Vorgesetzten. Also
richten Sie sich danach!«
»Ja, Herr Bock«, gab Grahms klein bei.
»Inzwischen weiß ich auch, weshalb Sie in diesem Fall auf
Geheimhaltung so großen Wert legen«, erklärte Herr Bock. »Ein
mutierter Pocken-Erreger, produziert im Auftrag der Regierung – das
würde unsere Regierung außenpolitisch in Erklärungsnotstand
bringen.«
»Vielleicht kann uns Kommissar Grahms darüber aufklären, was
das Besondere an dieser speziellen Form des Pockenerregers ist«,
schlug ich vor.
»Sie ist unter anderem besonders ansteckend und führt sehr
viel schneller zum Tod, als das bei gewöhnlichen Pocken der Fall
ist. Außerdem besteht eine Resistenz gegen sämtliche bekannten
Behandlungsmethoden«, berichtete Grahms. »Im Übrigen möchte ich
betonen, dass unsere Regierung die Entwicklung derartiger Stoffe
nicht in Auftrag gegeben hat, um sie gegen außenpolitische Feinde
einzusetzen. Der einzige Zweck von Projekten wie den bei General
Biotech durchgeführten Forschungen ist es, Impfstoffe und
Gegenmittel zu entwickeln. Wir wissen, dass es mindestens ein
Dutzend Staaten auf der Welt gibt, in denen an mutierten
Krankheitserregern gearbeitet wird und befürchten schon lange, dass
derartige Biowaffen auch in die Hände von Terroristen gelangen
könnten.« Grahms beugte sich vor. »Der bei General Biotech
entwendete Bio-Kampfstoff ist einem Präparat im chemischen Aufbau
nachempfunden worden, von dem wir wissen, dass es in einem uns
nicht gerade freundlich gesonnenen Staat bereits produziert wurde.
Leider ist der erste Schritt zur Entwicklung eines Impfstoffs immer
die Isolierung des Krankheitserregers. Da werden Ihre
Biowaffen-Experten mir sicher zustimmen.«
Niemann und Dedmoldt nickten kurz.
»Unglücklicherweise sind auf den beschlagnahmten Laborrechnern
weite Bereiche der Festplatte gelöscht worden und es ist sehr
schwer, sie zu rekonstruieren«, meldete sich nun David Eichner zu
Wort. »Andere Bereiche sind mit Verschlüsselungscodes so gesichert,
dass ich noch Zeit brauchen werde, um sie zu knacken. Es wäre nett,
wenn unser Kollege von der Aufklärungsabteilung des
Verfassungsschutzes die Wissenschaftler von General Biotech die
Angst vor rechtlichen Konsequenzen nehmen und sie zur Kooperation
überreden könnte. Dann würde wir sicherlich schneller
vorankommen.«
»Ich glaube, das überlassen wir besser der Vorgesetztenebene«,
meinte Herr Bock.
Offenbar traute er Grahms nicht zu, dass dieser tatsächlich
über seinen Schatten zu springen vermochte.
Grahms sagte: »Ich denke, Sie wissen jetzt alles, was für die
Verfolgung des Täters notwendig ist. Wir verhindern, dass die
falschen Leute das Präparat im CX-Behälter in die Finger
bekommen.«
»Ganz meiner Ansicht«, nickte Herr Bock. »Haben Sie dazu
irgendwelche Vorschläge zu machen?«
»Das Zeug wird früher oder später auf dem Markt angeboten«,
meinte Grahms. »Ich bin überzeugt davon, dass der Einbrecher ein
Profi war, der selbst damit gar nichts anzufangen wüsste, sondern
es so schnell wie möglich loswerden will. Für noch wahrscheinlicher
halte ich die Annahme, dass der Täter in direktem Auftrag gehandelt
hat. Da als Auftraggeber von irgendwelchen Terroristen über
todessehnsüchtige Verrückte bis hin zu Agenten ausländischer
Geheimdienste nun wirklich jeder in Betracht kommt, müssen wir bei
den Helfen ansetzen, die der Täter zweifellos hatte.«
»Ja, zum Beispiel muss ihm jemand Zugang zum Gelände
verschafft haben«, meine Roy.
»Ich denke, die Frage ist schnell geklärt«, sagte Grahms,
woraufhin ihn alle Anwesenden erstaunt ansahen.
»Dann lassen Sie uns an Ihren Erkenntnissen teilhaben«,
verlangte Herr Bock.
»Ich habe mit einigen der Wachleute gesprochen. Durch den
Austausch der Videodaten auf den Computern der Überwachungszentrale
wissen wir ziemlich genau, von wann bis wann der Einbruch
stattgefunden hat.«
»Die Frage ist, woher Sie das wissen, Herr Grahms! Sie waren
doch gar nicht dabei, als wir …«
»Ich habe meine Quellen, Herr Jörgensen.«
Das bedeutete, jemand von General Biotech oder SAFETY FIRST
hatte den Agenten der Aufklärungsabteilung des Verfassungsschutzes
angerufen und sofort über alles informiert, was sich in der
Überwachungszentrale getan hatte. Mir gefiel der Gedanke nicht,
dass dieser Kerl uns offenbar ein paar Schritte voraus war – und
ich fragte mich, inwieweit er jetzt tatsächlich mit offenen Karten
spielte.
Grahms fuhr fort: »Genau zu der Zeit, als der Täter das
Gelände verlassen haben muss, schlug einer der Hunde an. Das Tier
führte die Wachmänner zu einem der Spezialfahrzeuge und kroch
darunter. Es war auf einem Gullydeckel geparkt worden.«
»Sie glauben, dass der Täter über das Abwassersystem entkommen
ist?«, glaubte Herr Bock.
Grahms nickte.
»Ganz recht.«
»Das hätten Sie uns mitteilen müssen«, erklärte Herr Bock.
»Dann hätten die Kollegen der Spurensicherung die Möglichkeit
gehabt, Spuren zu sichern.«
»Sie werden keine Spuren dort finden. Der Täter war ein Profi,
dem passiert so etwas nicht.«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein, Grahms!«
»Im Übrigen habe ich alle Informationen sofort weitergegeben –
allerdings an meine Vorgesetzten. Aber die wirklich interessante
Frage war doch, wer den Wagen genau auf den Gullydeckel gefahren
hat, um dem Einbrecher eine Tarnung zu geben.«
»Und?«, fragte Herr Bock ungeduldig.
»Sein Name ist Lutz Rossberg. Einer der Security-Männer hat
mitbekommen, wie er den Wagen extra noch einmal umgefahren hat,
damit sich der Gully unter dem Fahrzeug befindet. Natürlich wurde
dem Wachmann erst im Nachhinein klar, was das zu bedeuten
hatte.«
»Erzählen Sie mehr über diesen Rossberg!«, verlangte Herr
Bock.
»Er ist bei General Biotech als Fahrer angestellt und hat
passenderweise ab heute für ein paar Tage Urlaub eingereicht.
Rossberg wohnt Finkenwerder, Kötendamm, Hausnummer 32. Ich habe ihm
gestern Abend einen Besuch abgestattet. Er war nicht da. Ich habe
die halbe Nacht vor seiner Adresse im Wagen gewartet. Gegen fünf
kam er nach Hause. Ich passte ihn ab und habe ihn verloren. Der
Kerl hat mir eins übergebraten, und ich war eine Zeitlang
ausgeknockt.«
»Daher Ihre Verspätung«, sagte Stefan schneidend. »Und jetzt
brauchen Sie die Hilfe der Kriminalpolizei, um ihn ins Netz gehen
zu lassen!«
»So ein Unsinn!«
»Ich darf annehmen, dass Sie auch in diesem Fall sofort Ihre
Vorgesetzten informiert haben, als Sie in Rossbergs Wohnung
aufwachten.«
Grahms nickte.
»Das ist richtig. Offenbar hat es hier ein gewisses
Kommunikationsdefizit auf höherer Ebene gegeben«, erwiderte
er.
Herr Bock nahm nun das Gespräch wieder auf.
»War jemand von der Aufklärungsabteilung des
Verfassungsschutzes bereits in Rossbergs Apartment, um Spuren zu
sichern?«
»Das weiß ich nicht. Aber wenn meine Vorgesetzten Ihnen
darüber nichts mitgeteilt haben, dann wird das seine wohl
abgewogenen Gründe haben.«
»Ich denke, dass ich da noch ein paar Dinge mit Ihrer Behörde
zu klären habe, Kommissar Grahms.«
Grahms antwortete nicht darauf. Er hob nur das Kinn um ein
paar Grad.
Herr Bock verzichtete auf die Gelegenheit, darauf
herumzureiten, dass Kommissar Grahms durch seinen Alleingang für
das Verschwinden eines wichtigen Zeugen die Verantwortung trug.
Polizeiarbeit war nun einmal Teamarbeit. Gleichgültig, ob bei der
Kriminalpolizei, der Polizei, dem Drogendezernat oder sonst wo.
Herr Bock wandte sich an Roy und mich.
»Fahren Sie mit Grahms noch einmal zu Rossbergs Wohnung und
versuchen Sie im Umfeld zu ermitteln! Ich gebe diesen Kerl in die
Großfahndung.«
»In Ordnung, Herr Bock.«
»Die Kollegen der Fahndungsabteilung haben die Nacht über alle
nur erdenklichen Informationen über sämtliche Mitarbeiter von
General Biotech und SAFETY FIRST gesammelt und die gestern
durchgeführten Befragungen ausgewertet. Jeder hier im Raum bekommt
die Liste, die nach Prioritäten geordnet ist. Eine richterliche
Genehmigung zur Einholung von Bankauskünften ist zwar bereits heute
Nacht erteilt worden, aber diese Überprüfung kann jetzt erst
beginnen. Ich nehme an, dass wir gegen Mittag wissen, ob jemand
verschuldet war und plötzlich reich geworden ist oder
dergleichen.«
10
Lutz Rossberg hatte in der hintersten Ecke von Tonys Coffee
Shop in der Elisabethstraße Platz genommen und blickte nervös auf
die Uhr. Draußen fegte ein eisiger Wind durch die Straßen. Es hatte
angefangen zu schneien. Allerdings schmolzen die wenigen Flocken
gleich wieder weg. Die Vorboten eines drohenden Wintereinbruchs
waren das noch nicht.
Lutz bestellte einen Cappuccino, wofür er von der Bedienung
nur ein müdes Lächeln erntete.
Lutz nippte an dem heißen Getränk und blickte angestrengt nach
draußen. Er tickte unruhig mit den Fingerkuppen auf der Tischplatte
herum und bot damit eine Art rhythmischer Begleitung zu der im
Hintergrund laufenden Musik. Italienischer Belcanto mit dem
typischen Pathos.
Lutz ging der Gesang ziemlich auf die Nerven. Aber er hatte
diesen Treffpunkt ja auch nicht ausgemacht.
Durch das Fenster sah er eine vermummte Gestalt durch das
graue Wetter schleichen. Wenig später ging die Tür des Coffee Shops
auf und ein hochgewachsener Mann in einem grünen Parka trat ein. An
der Kapuze war ein Fellkragen. Der Kopf wurde von einer Basecap mit
der Aufschrift ,Homeboy’ bedeckt.
Der Kerl schaute sich erst um.
Im Augenblick waren nicht viele Gäste im Coffee Shop. Auf der
gegenüberliegenden Seite des Schankraums saßen ein paar ältere
Männer um einen runden Tisch und erzählten lautstark davon, wie
sehr sich die Gegend in den letzten Jahren doch verändert hätte.
Der Mann mit dem ,Homeboy’-Cap setzte sich zu Lutz Rossberg an
den Tisch.
»Wie geht’s, Lutz?«, fragte er.
»Du hast gut reden! Wie soll’s schon gehen? Beschissen
natürlich.«
Der ,Homeboy’-Mann blieb gelassen. Er verzog das Gesicht zu
einem dünnen, kalten Lächeln und deutete auf den Cappuccino.
»Du wolltest wohl unbedingt auffallen, was?«
»Wieso?«
»Niemand trinkt nach elf noch einen Cappuccino. Das ist
einfach stillos!«
»Du hast wirklich Sorgen«, knurrte Lutz. Er beugte sich etwas
vor und sprach dann in gedämpftem Tonfall weiter. »Ich sitze bis
zum Hals in der Scheiße, und du hast mir das Ganze eingebrockt!
Jetzt musst du mir auch dabei helfen, aus diesem Sumpf wieder
herauszukommen.«
»Nun mal ganz ruhig. Es hat doch alles wunderbar
geklappt.«
»Hast du eine Ahnung!«
Der Mann mit der ,Homeboy’-Mütze seufzte.
»Was ist denn passiert, Lutz?«
»Heute Morgen hatte ich in aller Frühe einen unfreundlichen
Besuch von einem Agenten der Aufklärungsabteilung des
Verfassungsschutzes, der ziemlich viel zu wissen schien.«
»Und? Wie kommt es, dass du dann hier vor mir sitzt und nicht
etwa in einer Zelle?«
»Ich habe ihn ausgeknockt.«
»Ist er tot?«
»Nein, natürlich nicht. Glaubst du, ich will mir einen Mord
ans Bein binden?«
»Du denkst zu negativ, Lutz.«
»Ach ja?«
»Ja. Denn du gehst davon aus, dass sie dich schnappen. So darf
man nie an die Sache rangehen.«
»Ich brauche von dir kein kluges Gequatsche, sondern Hilfe!
Wahrscheinlich muss ich untertauchen und so schnell wie möglich
zusehen, dass ich ins Ausland komme. Für die Euros, die ich von dir
bekommen habe, ist das natürlich alles nicht zu machen.«
»Du bist für deinen kleinen Dienst fürstlich entlohnt worden«,
stellte der Mann mit der ,Homeboy’-Mütze kühl fest. »Und eigentlich
hätte dir von Anfang an klar sein müssen, dass jeder sein Risiko
selbst trägt.«
»Ich brauche Hilfe. Denk doch mal nach! Wenn die mich in
Verdacht haben, ist es nur eine Frage der Zeit, wann sie auf deine
Spur kommen.«
»Das glaube ich nicht, Lutz.« Die Stimme des
,Homeboy’-Mützenträgers klang wie Eis. Er kratzte sich am Kinn und
bleckte die Zähne. Dann griff er unter seine Jacke, holte einen
Block hervor und schrieb etwas darauf. Er riss das Blatt ab und
schob es Lutz über den Tisch. »Das ist die Adresse eines Bekannten.
Da kannst du ein paar Tage untertauchen. Sag ihm, dass ich dich
geschickt habe.«
Lutz runzelte die Stirn und blickte auf den Zettel.
»Emilio Schüssler, Gazertstraße, Harburg.«
»Er ist ein guter Kumpel. Du kannst ihm vertrauen. Außerdem
ist es wahrscheinlich tatsächlich das Beste, wenn du erst mal aus
der Schusslinie kommst.«
»Ich brauche Geld, einen Pass, eine neue Identität!«
»Nicht so ungeduldig, Lutz!«
»Versuch nicht, mich reinzulegen! Wenn ich hochgenommen werde,
dann geht es auch den anderen an den Kragen!«
Das Gesicht des Mannes mit der ,Homeboy’-Cap wurde zu einer
eisigen Maske. Harte Linien furchten sich durch sein Gesicht und
gaben ihm Züge, die wie aus Stein gemeißelt aussahen.
»Verlier nicht die Nerven, Lutz!«
»Du hast verdammt gut reden!«
»Wie lautet der Name dieses Agenten?«
Lutz Rossberg griff in die Innentasche seiner Jacke und holte
einen Ausweis der Aufklärungsabteilung des Verfassungsschutzes
hervor. »Das ist sein Dienstausweis. Ich dachte mir schon, dass ihr
den gerne hättet.«
Der Mann mit der ,Homeboy’-Cap steckte die ID-Card ein.
»Mal sehen, was sich so für dich tun lässt. Spätestens morgen
ist alles für dich vorbei. Das verspreche ich dir.«
11
Roy und ich suchten zusammen mit Sandro Grahms noch einmal das
Apartment von Lutz Rossberg auf, um nach Anhaltspunkten für den
Verbleib des Fahrers in den Diensten von General Biotech zu suchen.
Unsere Erkennungsdienstler Martin Horster und Frank Folder
hatten zugesagt, so schnell wie möglich nachzukommen, um
kriminaltechnische Untersuchungen durchzuführen. Ein
Durchsuchungsbefehl lag jedenfalls vor.
Den Sportwagen parkten wir auf der gegenüberliegenden
Straßenseite. Sandro Grahms setzte seinen unscheinbaren Ford
dahinter. Wir stiegen aus und überquerten die Straße.
»Ich schlage vor, dass wir die Konkurrenz zwischen uns ein für
alle Mal begraben«, meinte ich an Grahms gerichtet. »Schließlich
haben wir doch dasselbe Ziel!«
Grahms verzog das Gesicht. Ein schwer beschreibbarer Ausdruck
prägte jetzt seine Züge. Er lag irgendwo auf halber Strecke
zwischen Zynismus und Verachtung.
»Was die Ziele anderer angeht, kann man sich da nie ganz
sicher sein«, meinte er. »Jedenfalls nicht, solange es nicht
irgendwelche Telepathen gibt, die in der Lage wären, das zu
überprüfen.«
Roy und ich tauschten einen kurzen Blick. Nach all den Jahren,
die wir schon zusammen arbeiteten, brauchten wir manchmal keine
Worte, und wussten trotzdem haargenau, was der andere gerade
gedacht hatte.
Roy hob die Augenbrauen.
Es hat keinen Sinn, Uwe, schien er mir sagen zu wollen.
Grahms legte offenbar auf einen Waffenstillstand für die Dauer
ihrer gemeinsamen Ermittlungen keinerlei Wert.
Die Eingangstür zum Haus war verschlossen. Wir klingelten bei
einer der anderen Mietparteien, meldeten uns mit unserem Respekt
einflößenden Standardspruch und konnten schon Augenblicke später
die Tür öffnen.
Ich registrierte sofort, dass es offenbar so gut wie überhaupt
keine Überwachungs- und Sicherheitstechnik gab. Weder Video-Kameras
noch sonst etwas.
Wir fuhren mit dem Lift hinauf in den dritten Stock.
Wenig später standen wir vor dem Apartment von Lutz
Rossberg.
Von innen waren Geräusche zu hören. Wir zogen unsere
Dienstwaffen.
»Herr Rossberg scheint wieder zu Hause zu sein«, meinte Roy.
Roy postierte sich rechts der Tür, Grahms links.
Ich postierte mich ebenfalls rechts von der Tür, allerdings in
der Mitte des Flurs.
»Warum haben Sie eigentlich nicht gleich Verstärkung gerufen,
als Sie in Herr Rossbergs Apartment aufgewacht sind?«, fragte ich
an Grahms gewandt.
»Sind Sie jetzt plötzlich mein Dienstvorgesetzter – oder
was?«
»Ich frage ja nur!«
»Der Kerl war seit Stunden über alle Berge. Was hätte das
gebracht?«
Roy klingelte.
Einen Augenblick lang geschah gar nichts. Hinter der Tür war
es vollkommen still. Dann waren Schritte zu hören.
»Wer ist da?«, fragte jemand von innen.
»Kriminalpolizei. Lutz Rossberg?«, fragte ich.
»Was wollen Sie?«
Sandro Grahms schüttelte den Kopf. Offenbar glaubte er nicht,
dass das die Stimme von Rossberg war. Andererseits fragte ich mich,
wie intensiv er sich wirklich mit ihm unterhalten hatte, bevor der
Fahrer von General Biotech ihn bewusstlos schlug.
Ich nahm meine SIG Sauer P226 mit beiden Händen.
Mit wem auch immer wir da jetzt redeten, vielleicht ließ er
sich ja dazu herab, uns die Tür wenigstens einen Spalt zu öffnen,
was den Zugriff mit Sicherheit erleichterte.
»Wir haben ein paar Routinefragen im Zusammenhang mit dem
Einbruch bei General Biotech in Waltershof an Sie«, sagte ich.
»Leider konnten wir Sie bislang noch nicht vernehmen, da Sie heute
Urlaub haben.«
Einige Sekunden lang war es auf der anderen Seite der Tür
vollkommen still.
Dann gab es plötzlich einen Knall.
Ein Schuss schlug durch die dünne Holztür und riss ein
daumendickes Loch. Kurz hintereinander folgten vier weitere Schüsse
aus einer offenbar ziemlich großkalibrigen Waffe. Anschließend
waren schnelle, sich entfernende Schritte zu hören.
Ich schnellte nach vorn, trat die Tür ein. Sie flog zur Seite.
»Waffe weg, Kriminalpolizei!«, rief ich, aber da er niemand
mehr.
Mit der Waffe in beiden Händen stürmte ich durch den kleinen
Vorraum.
Roy und Grahms waren mir dicht auf den Fersen. Roy trat die
Tür zum Bad auf, aber da war niemand. Ich stieß die halb offen
stehende Tür zum Wohnzimmer zur Seite.
Ein Mann im pelzbesetzten Parka und einem Basecap mit der
Aufschrift ,Homeboy’ war gerade im Begriff, die Balkontür zu
öffnen. Er feuerte einen ungezielten Schuss in meine Richtung.
Blutrot leckte das Mündungsfeuer aus seiner 45er Automatik hervor.
Die Kugel zischte knapp an meinem Kopf vorbei und schlug in den
Rahmen der Wohnzimmertür ein, wo sie ein ziemlich großes Loch
riss.
Ich feuerte zurück.
Der Kerl ließ sich im selben Moment durch die geöffnete
Balkontür fallen und feuerte Schuss um Schuss in meine
Richtung.
Ich zuckte zurück und nahm neben der Tür Deckung, während mir
die Kugeln nur so um die Ohren flogen. Zum Glück war er ein
schlechter Schütze.
Der Geschosshagel verebbte. Sein Magazin musste so gut wie
leer geschossen sein. Ich tauchte mit der Waffe in beiden Händen
aus der Deckung hervor.
»Stehen bleiben!«, rief ich.
Der Mann mit der ,Homeboy’-Cap schwang sich gerade über das
Balkongeländer. Er landete auf dem Absatz einer Feuertreppe, die
neben dem Balkon in die Tiefe führte.
Im ersten Moment wollte ich ihm nachsetzen.
Mein Instinkt für Gefahr ließ mich zögern.
Dann bemerkte ich den eiförmigen Gegenstand auf dem Teppich.
Es war tarnfarben und hob sich vom Fleckenmuster des Teppichbodens
kaum ab.
Eine Handgranate!
Ich zuckte zurück, riss Roy mit mir, der ebenfalls gerade im
Begriff gewesen war, dem Mann mit der ,Homeboy’-Basecap
nachzusetzen. Wir warfen uns zu Boden, während im Nebenraum die
Hölle losbrach.
12
»So einen Tatort haben wir immer besonders gerne«, meinte
Frank Folder ironisch.
Etwa zwanzig Minuten, nachdem im Apartment von Lutz Rossberg
die Handgranate gezündet hatte, waren unsere Kollegen eingetroffen.
Weitere Verstärkung war im Anmarsch, denn das, was hier geschehen
war, änderte natürlich die Sachlage vollends.
»Ich konnte den Typ nur ganz kurz durch die Tür sehen«, meine
Sandro Grahms. »Aber schon als ich die Stimme gehört habe, war ich
mir sicher, dass das niemals Rossberg gewesen ist.«
»Haben Sie irgendeine Idee?«, fragte ich.
Er verzog das Gesicht.
»Warum sollte ich mehr wissen als Sie?«, fragte er.
Ich zuckte die Achseln.
»Ich hatte irgendwie den Eindruck, dass Sie ganz gut
informiert sind.«
»Ich habe so meine Informationskanäle.«
Jetzt mischte sich Roy ein.
»In diesem Fall hilft uns wahrscheinlich die Logik weiter«,
glaubte er. »Nehmen wir an, Rossberg hat tatsächlich mit dem
Einbrecher zusammengearbeitet, dann war der Kerl mit Mütze
wahrscheinlich hier, um Spuren zu verwischen.«
»Und was ist mit Rossberg?«, fragte ich.
»Wahrscheinlich untergetaucht, Uwe.«
»Oder aus dem Weg geräumt!«
»Wenn ich mir die radikale Methode ansehe, mit der hier
aufgeräumt wurde, dann glaube ich nicht, dass die Chance groß ist,
Rossberg noch lebend anzutreffen.«
Leider musste ich Roy in diesem Punkt recht geben.
»Das wird ein Wettrennen mit der Zeit«, meinte ich und
schüttelte den Kopf, während Frank Folder und Martin Horster damit
begannen, in dem völlig verwüsteten Wohnzimmer nach Spuren zu
suchen. Sie hatten uns gebeten, im Vorraum zu bleiben, um ihnen
ihren Job nicht unnötig zu erschweren.
»Was geht dir durch den Kopf, Uwe?«, fragte Roy.
Ich zuckte die Achseln.
»So einiges, zum Beispiel frage ich mich, was das für Leute
sind, die hinter dem Einbruch stecken. Normal ist das jedenfalls
nicht, dass man sicherheitshalber eine Handgranate bei sich
trägt.«
»Wenn du mich fragst, erhärtet sich damit die Hypothese von
einem terroristischen Hintergrund«, meinte Roy und wurde in dieser
Auffassung von Kommissar Grahms unterstützt.
»Das sehe ich genauso«, sagte er. »Aber ich bin trotzdem
dafür, systematisch und in kleinen Schritten weiterzumachen.«
»Und wie sieht Ihrer Meinung nach der nächste Schritt aus?«,
fragte ich.
»Es muss noch weitere Personen gegeben habe, die mit dem
Einbrecher zusammengearbeitet haben«, war Sandro Grahms überzeugt.
»Da sollten wir ansetzen. Ich weiß, dass die Rasterüberprüfung der
Innendienstler noch nicht abgeschlossen ist ...«
»Insbesondere fehlen uns die Auskünfte über die finanziellen
Verhältnisse der Angestellten von General Biotech«, sagte
Roy.
In unserem Präsidium war Kommissar Norbert Nahr der Spezialist
für Betriebswirtschaft, der in der Lage war, eventuell verdächtige
Zahlungen zurückzuverfolgen. Norbert und seine Mitarbeiter
arbeiteten schnell und effizient. Die Angaben, die wir brauchten,
erwarteten wir bis zum Abend. Erste Hinweise vielleicht sogar schon
bis zum Mittag.
»Für mich stehen die Systemadministratoren ganz oben auf der
Liste«, bekannte Grahms. »Allen voran ein gewisser Randolf Kauli.
Er ist der große Computer-Crack bei General Biotech. Ohne ihn läuft
dort nichts. Selbst die großen Forschungskoryphäen, die in den
Laboren auf dem Firmengelände in Waltershof ihre Experimente
durchführen, stehen ohne Kauli im Regen. Gentechnik und Biochemie
sind Wissenschaften, die heute auf die Unterstützung von
Computerspezialisten angewiesen sind, weil es um die Verarbeitung
ungeheuer großer Datenmengen geht. Allein, wenn man sich den
Informationsgehalt eines menschlichen Genoms ansieht …«
»Soweit ich weiß, hat Kauli mit unseren Leuten offen
kooperiert«, meinte ich. »Ich habe von den Security-Leuten in der
Überwachungszentrale erfahren, dass er den entscheidenden Anteil
daran hatte, dass wir inzwischen wissen, wie der Einbrecher die
Videoanlage überlisten konnte.«
»Das ist doch die beste Tarnung!«, meinte Sandro Grahms. »Der
Täter muss darüber hinaus jemanden auf seiner Seite gehabt haben,
der einen vollständigen Zugriff auf alle Systeme hatte. Zum
Beispiel muss jemand dafür gesorgt haben, dass ein falsches
Irisbild vom Rechner als richtig akzeptiert wurde, sonst wäre der
Einbrecher gar nicht bis ins Labor gekommen.«
»Der Täter wird eine Kontaktlinse verwendet haben«, glaubte
Roy.
»Vermutlich ja. Genau werden das wohl erst die Untersuchungen
Ihrer Spezialisten erweisen. Aber trotzdem ist dem
Sicherheitssystem eine falsche Identität vorgegaukelt worden – und
dafür kommt meiner Ansicht nach nur Kauli infrage. Übrigens ist er
heute nicht in der Firma erschienen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe angerufen, als wir von dem Präsidium aus hierher
unterwegs waren.«
»Statten wir Herr Kauli doch einen Besuch ab!«, schlug Roy
vor.
Ich zuckte die Achseln.
»Warum nicht?«
»Er wohnt in Altona. Die Adresse lautet Arnoldstraße«,
erklärte Sandro Grahms und erntete dafür einen erstaunten Blick von
mir.
»Haben Sie alle Personaldossiers von General Biotech so
präsent?«
»Nur die Wichtigen«, erwiderte der Agent kühl.
13
Ein Taxi hatte Lutz Rossberg über die Elbbrücke nach Harburg
gebracht.
»Der Rest ist für Sie«, sagte er, nachdem er dem Taxifahrer
ein paar Scheine gegeben hatte.
»Danke!«
Lutz gab ihm keine Antwort. Seine Gedanken waren ganz
woanders. Die Angst saß ihm im Nacken. Wenn mich die Polizisten
kriegen, wandere ich für Jahrzehnte hinter Gittern!, ging es ihm
durch den Kopf. Außerdem fragte er sich, wie man es geschafft
hatte, so schnell auf seine Spur zu kommen.
Die ganze Zeit über, da er auf dem Rücksitz des Taxis gesessen
und aus dem Fenster geschaut hatte, war ihm dieser Gedanke immer
und immer wieder durch den Kopf gegangen. Bislang war er zu keiner
Lösung gekommen. Er hatte getan, worum man ihn gebeten hatte. Das
war alles. Und der Einbruch selbst hatte seiner Beobachtung nach
doch hervorragend geklappt. Der Einbrecher war in einen
Hochsicherheitsbereich hinein und wieder hinausgelangt und hatte
offensichtlich bekommen, was er gewollt hatte. Das musste ihm
angesichts der ungeheuer ausgefeilten Sicherheitstechnik, mit der
die Labore in Waltershof ausgestattet waren, hoch angerechnet
werden.
Bei so einem Unternehmen ist es wie bei einem Dominospiel,
überlegte er. Fällt ein Stein um, dann kippen auch die anderen.
Wenn die einen von uns kriegen, dann sind früher oder später auch
alle anderen dran!
Das Taxi fuhr davon.
Lutz sah ihm einige Augenblicke lang nach, ging dann ein Stück
die Straße entlang. Bungalows säumten die Meyerstraße. Lutz befand
sich hier mitten im bürgerlichen Teil Harburgs. Er schlug seinen
Mantelkragen hoch. Der eisige Wind aus Nordwesten schnitt ihm ins
Gesicht. Etwas Schneeregen rieselte von dem grauen Himmel. Er bog
in die nächste Straße links ein. Eine Viertelstunde lief er die
Gazertstraße entlang und verfluchte sich schon dafür, das Taxi
weggeschickt zu haben. Aber er hatte nicht direkt bei der Adresse
von Emilio Schüssler vorfahren wollen, um seine Spuren zu
verwischen.
Schüsslers Haus war ein Flachdachbungalow.
Lutz ging zur Tür und klingelte.
»Wer ist da?«, fragte eine männliche Stimme über die
Sprechanlage.
»Lutz Rossberg. Man hat mir gesagt, ich soll mich hier
melden.«
Es knackte in der Leitung. Mehrere Augenblicke lang geschah
gar nichts. Dann öffnete sich endlich die Tür. Ein großer,
kräftiger Mann mit kurz geschorenen, blond gefärbten Haaren schaute
heraus.
»Emilio Schüssler?«, fragte Lutz Rossberg.
»Komm herein!«
»Ich dachte …«
»Leute, die viel quatschen, kann ich nicht ausstehen«, sagte
Schüssler.
Die Tür fiel ins Schloss. Schüssler führte Lutz in eine
Wohnküche.
»Willst du einen Kaffee?«
»Ja.«
Schüssler drehte sich um und hantierte an der Kaffeemaschine
herum. Wenig später stellte er einen dampfenden Becher vor Lutz auf
den Tisch.
»Wie lange kann ich hierbleiben?«, fragte Lutz Rossberg.
»Keine Sorge, es wird dich niemand hinauswerfen.«
»Na, da bin ich aber beruhigt«, meinte Lutz.
Emilio Schüssler grinste auf eine Weise, die Rossberg nicht
gefiel.
»Wir würden niemals zulassen, dass du der Kriminalpolizei oder
gar den Schweinen von der Aufklärungsabteilung des
Verfassungsschutzes in die Hände fällst«, meinte Schüssler.
Lutz Rossberg atmete tief durch. Seine Gesichtszüge
entspannten sich leicht. Er nippte an dem heißen Kaffee.
»Ich wusste, dass ich mich auf euch verlassen kann.«
»Absolut.«
Lutz Rossberg nahm jetzt einen kräftigeren Schluck aus dem
Kaffeebecher.
Er verzog plötzlich das Gesicht. Seine Züge wurden zu einer
fratzenhaften Maske.
»Komisch, mir ist plötzlich so speiübel«, ächzte er.
Lutz schwankte. Ein übermächtiges Schwindelgefühl hatte ihn
erfasst.
Gelassen sah Emilio Schüssler zu, wie sein Gast zu Boden ging.
Lutz riss noch die zu zwei Dritteln volle Kaffeetasse mit. Sie fiel
auf die Fliesen und platzte auseinander.
Wie ein gefällter Baum lag Lutz Rossberg daneben und rührte
sich nicht mehr.
Emilio Schüssler griff zum Telefon, wählte eine Nummer und
hatte schon Sekunden später eine Verbindung.
»Alles erledigt!«
14