Ein Kubinke Krimi
von Alfred Bekker
Der Umfang dieses Buchs entspricht 117
Taschenbuchseiten.
Der Essener Kriminalbeamte Kevin Marenberg taumelt in ein
Einkaufszentrum und schießt plötzlich wahllos um sich.
Kriminalhauptkommissar Gerd Thormann, der dort jemanden beschattet,
wie er später seine dortige Anwesenheit erklärt, greift in das
Geschehen ein und erschießt seinen Vorgesetzten.
Doch warum lief Marenberg Amok?
Das sollen die beiden Ermittler Harry Kubinke und Rudi Meier
herausfinden.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author /COVER STEVE MAYER
© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau,
herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
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1
Essen, Happy-Family-Einkaufszentrum …
Kevin Marenberg taumelte in das Einkaufszentrum. Die Augen
waren weit aufgerissen. Wie im Wahn. Er riss einen Ständer mit
Postkarten um, der krachend zu Boden fiel. Einige Passanten drehten
sich jetzt nach ihm.
Ein Irrer.
Das musste der erste Eindruck bei jedem sein, der ihn jetzt
sah.
Marenberg löste mit der linken Hand den ersten Hemdknopf und
dann die Krawatte, während die rechte Hand unter das Jackett griff
und eine Waffe hervorzog. Schweißperlen glänzten auf Marenbergs
Stirn.
Sein Gesicht wirkte wie eine entstellte Fratze.
Er stieß einen dumpfen, kaum noch menschlichen Laut aus.
Er wirbelte jetzt herum, hatte dabei sichtlich Mühe, das
Gleichgewicht zu halten und feuerte gleich drei Schüsse kurz
hintereinander mit seiner Pistole ab. Mehrere Schreie gellten.
Marenberg gab einen weiteren Schuss ab.
Und noch einen.
“Hilfe!”, schrie jemand.
Der Zeitschriftenhändler duckte sich gerade noch rechtzeitig
hinter seinen Tresen, bevor gleich mehrere Kugeln über ihn
hinwegschossen und sich in die Regale brannten.
„Ein Amokläufer!”, schrie eine Frau.
Kevin Marenberg stolperte vorwärts.
In seinem Gesicht zuckte es unruhig.
Die Pupillen waren riesig.
Der Schweiß perlte nur so Stirn und Wangen hinunter.
Er fasste die Waffe jetzt mit beiden Händen. Wie die rote
Zunge eines Drachen leckte jetzt das Mündungsfeuer aus dem Lauf,
als er erneut schoss. Ein Mann vom Sicherheitsdienst der privaten
Sicherheitsfirma, die mit der Bewachung des
Happy-Family-Einkaufszentrums von Essen beauftragt war, bekam eine
der Kugeln genau in die Stirn, ehe er zum Walkie-Talkie und der
Dienstwaffe greifen konnte. Er sackte in sich zusammen und blieb
regungslos liegen. Ein paar Meter weiter lag ein Mann am Boden, der
von einem Querschläger getroffen worden war. Sein rechtes Hosenbein
war dunkelrot geworden. Er konnte nicht aufstehen und versuchte die
Blutung mit den Händen zu stoppen. Mit angstgeweiteten Augen sah er
auf.
Der Amokschütze drückte erneut ab.
Er stieß einen Laut aus, der wie Knurren klang.
Scheinbar wahllos ballerte er herum.
Die Projektile zischten durch die Luft.
Glasscheiben splitterten. Die Dachfenster, durch die
Tageslicht in das Einkaufszentrum fiel, zerbarsten. Ein Regen aus
Glasscherben kam herab.
Irgendwo schrie ein Kleinkind, was den Schützen offenbar dazu
veranlasste, sich erneut umzudrehen. Suchend schweifte sein Blick.
Die Mündung seiner Waffe wirbelte herum.
„Polizei! Lassen Sie die Waffe fallen!”, rief ein Mann im
grauen Dreiteiler. Sein Haar war aschblond und kurz geschoren. In
der Faust hielt er seine Dienstwaffe. Ein Polizist in Zivil.
Für einen Moment hing alles in der Schwebe.
Kevin Marenberg blinzelte. Dann winkelte er den Arm mit der
Waffe an. Im nächsten Moment trafen ihn mehrere Schüsse. Drei in
den Oberkörper, ein vierter in den Kopf. Die Wucht der Geschosse
ließ Marenberg zurücktaumeln. Er schwankte, hielt sich noch einen
Moment auf den Beinen, ehe er dann schließlich der Länge nach mit
einem dumpfen Geräusch hinfiel.
Eine Blutlache bildete sich.
2
Der Mann mit dem dreiteiligen Anzug näherte sich dem Toten und
richtete dabei nach wie vor die Waffe auf den am Boden liegenden
Amokschützen. Dieser krallte noch immer seine Hand um den Griff
seiner Waffe. Erst als der Mann im Dreiteiler sie Marenberg aus der
Hand nehmen konnte, schien er sich etwas zu beruhigen.
Von mehreren Seiten kamen nun Sicherheitskräfte des privaten
Security Service zum Ort des Geschehens. Sie näherten sich mit
gezogenen Dienstwaffen.
Der Mann im Dreiteiler beugte sich da bereits über die
Leiche.
„Wer sind Sie?”, fragte einer der Security-Männer, die sich
jetzt von allen Seiten mit der Waffe in der Hand näherten.
„Kriminalhauptkommissar Thormann, Kripo Essen”, sagte der Mann
im grauen Dreiteiler. „Und dieser Mann hier ist mein Chef,
Dienststellenleiter Kevin Marenberg.”
Thormann nahm dem Toten vorsichtig seinen Ausweis aus der
Tasche.
„Lassen Sie alles wie es ist und legen Sie Ihre Waffe auf den
Boden!”, befahl einer der Sicherheitsleute. „Sofort!”
„Aber ich habe Ihnen doch gesagt, ich …”
„Das werden wir überprüfen”, kam es zurück.
3
An diesem Morgen fuhren mein Kollege Rudi Meier und ich nach
Quardenburg. Von Berlin aus kann man die Strecke in einer
Dreiviertelstunde schaffen. Zumindest sagt das der Routenplaner.
Man sollte aber besser die doppelte Zeit einplanen und das hatten
wir auch.
In Quardenburg arbeitete das Ermittlungsteam Erkennungsdienst,
dessen Dienste uns in unserer Funktion als BKA-Kriminalinspektoren
zur Verfügung standen. Ihre Labore waren der Akademie des
Bundeskriminalamtes inQuardenburg angegliedert.
Kriminaldirektor Hoch hatte uns auf einen neuen Fall
angesetzt, der wirklich rätselhaft war und selbst für uns, die wir
täglich mit alle nur erdenkliche Arten des Verbrechens konfrontiert
sind, eine Besonderheit.
Das Besondere war: Täter wie Opfer waren Kollegen.
Das kam nicht oft vor.
Ein besonderer Fall also.
Sehr besonders.
Kevin Marenberg war wild um sich schießend durch ein
Einkaufszentrum in Essen gelaufen, hatte dabei einen Menschen
getötet und mehrere verletzt. Einem Amokläufer gleich hatte er
scheinbar wahllos auf alles gefeuert, was sich bewegte.
Marenberg war allerdings nicht nur irgendein
Kriminalhauptkommissar. Er war der Chef der Kriminalpolizei Essen
gewesen. Und ausgerechnet einer seiner Kollegen, ein gewisser
Kriminalhauptkommissar Gerd Thormann, hatte seinen Amoklauf mit
mehreren Schüssen gestoppt.
Niemand hatte bisher eine plausible Erklärung für die
Hintergründe dieses Dramas. Was hatte Kevin Marenberg dazu
veranlasst, sich scheinbar völlig unkontrolliert und enthemmt in
einer Orgie der Gewalt zu ergehen? Ein Mann immerhin, der sein
ganzes bisheriges Leben dem Einsatz gegen das Verbrechen gewidmet
hatte.
Hatte er unter Drogen gestanden? Gab es Anzeichen für eine
unerkannte psychische Erkrankung? All das würden wir überprüfen
müssen. Die Medien ergingen sich schon jetzt in Spekulationen aller
Art. Eine Reihe von spektakulären Fällen von ungerechtfertigter
Polizeigewalt haben in letzter Zeit in Deutschland Schlagzeilen
gemacht. Die Medien waren natürlich entsprechend sensibilisiert und
auch in diesem Fall sofort eingestiegen, auch wenn er mit dieser
Art von Vorkommnissen wohl nicht vergleichbar war.
Ich beschleunigte den Dienst-Porsche etwas, aber nur bis zur
zulässigen Höchstgeschwindigkeit. Strecken, auf denen man so ein
Fahrzeug richtig ausfahren kann, gibt es so gut wie
nirgendwo.
„Kollege Kevin Marenberg wurde immer als ruhiger, besonnener
Typ beschrieben“, sagte Rudi, der während der Fahrt ein paar
Unterlagen auf seinem Laptop gelesen hatte. Insbesondere natürlich
das, was man inzwischen über das Datenverbundsystem des BKA zu
diesem Fall abrufen konnte, aber zusätzlich auch die ersten
Vernehmungsprotokolle, dazu dienstliche Beurteilungen von
Vorgesetzten und was es sonst noch so gab. „Also, wenn du mich
fragst, dann liegt eine pharmakologische Erklärung für diesen
Ausbruch von Irrsinn am nächsten.“
„Du meinst, eine Medikamenten- beziehungsweise
Drogenvergiftung“, sagte ich.
„Du kannst dieser Sache verschiedene Namen geben, aber es
läuft immer auf dasselbe hinaus, Harry.“
„Also falls so etwas vorliegen sollte, dann wird unser
bayerischer Alm-Doktor das sicherlich schon herausbekommen.“
Der Gerichtsmediziner des Ermittlungsteams war der Bayer
Gerold M. Wildenbacher, der diese Bezeichnung vermutlich nicht
einmal als Beleidigung aufgefasst hätte. Andererseits -
Wildenbacher wurde von vielen als jemand beschrieben, dem das Gemüt
eines Schlachtergesellen eigen war und mit seiner groben
Hemdsärmeligkeit in schöner Regelmäßigkeit bei Kollegen und
Vorgesetzten aneckte.
Rudi und ich kamen allerdings gut mit ihm klar. Man musste ihn
eben nur richtig zu nehmen wissen, und an seiner Qualifikation als
exzellenter Gerichtsmediziner gab es nun wirklich nicht den
geringsten Zweifel.
Wir erreichten schließlich Quardenburg.
Nachdem ich den Dienst-Porsche auf einem der Parkplätze
abgestellt hatte, begaben Rudi und ich uns zu den Laboren und
Sektionsräumen.
Dr. Wildenbacher erwartete uns nicht. Wir mussten also eine
Viertelstunde auf ihn warten, weil er gerade eine feingewebliche
Untersuchung begonnen hatte und dabei nicht unterbrochen werden
wollte. Jedenfalls ließ er uns das durch eine Praktikantin
ausrichten.
„Hatte nichts mit Ihrem Fall zu tun“, begrüßte er uns
schließlich. „Ich arbeite ja nicht nur für Sie beide. Es gibt zum
Glück noch andere Morde aufzuklären.“ Als er Rudis etwas
irritierten Blick sah, schien er es für nötig zu halten, seine
Bemerkung zu erklären. „Das war Ironie, Rudi. Anscheinend bin ich
zu häufig mit FGF zusammen. Da färbt sein hamburgischer Humor eben
etwas zu sehr auf mich ab.“
FGF war die Abkürzung für Friedrich G. Förnheim, einen
Naturwissenschaftler und Forensiker in den Reihen des
Ermittlungsteams, dessen Hilfe wir ebenfalls sehr häufig in
Anspruch nahmen. Förnheims distinguierte Art und sein unverkennbar
hamburgischer Akzent bildeten immer so etwas wie den
personifizierten Gegensatz zu dem Bayer Wildenbacher.
„Gut, dass Sie das gleich erläutert haben, ich hätte es sonst
kaum verstanden“, meinte Rudi.
„Was jetzt vermutlich keine Ironie war“, sagte Wildenbacher.
„Aber jetzt mal völlig ernsthaft, dieser amoklaufende Kommissar,
den ich auf den Tisch des Hauses bekommen habe, gibt mir ein paar
Rätsel auf.“
„Uns ebenfalls“, sagte ich.
„Kommen Sie, ich zeig Ihnen mal was!“
Dr. Gerold M. Wildenbacher führte uns in den Sektionsraum.
Kevin Marenberg lag auf dem Tisch. Wildenbacher schlug die grüne
Einweg-Decke zur Seite.
„Also es ist so: Die Leiche hat ein paar Einstichstellen. Der
Tote hat noch zu Lebzeiten mehrere Injektionen bekommen, die er
sich unmöglich selbst beigebracht haben kann. Das geht einfach
nicht, zumindest, wenn man nicht biegsame Tentakelarme oder
ähnliches hat.“
„Sie meinen, ihm wurden vielleicht gewaltsam Drogen
verabreicht, die ihn zum Amokläufer gemacht haben?“, hakte ich
nach.
Dr. Wildenbacher nickte. „Es gibt einige weitere Merkmale, die
für diese Hypothese sprechen. Erstens wurden die Injektionen an
Stellen angesetzt, wo sie möglichst nicht auffallen, Hautfalten zum
Beispiel. Sowas wird selbst von halbwegs sorgfältigen Kollegen, von
denen es ja wenig genug gibt, gerne mal übersehen. Hier zum
Beispiel und hier.“ Wildenbacher fasste entschlossen zu und drehte
die Leiche um. „Und hier auch.“
„Ja, ich glaube, wir können uns durchaus vorstellen, was Sie
meinen, Gerold“, sagte Rudi.
„Die Vorstellung reicht nicht. Man muss sich der Wirklichkeit
stellen, Rudi. Aber es kann durchaus sein, dass das unter
verweichlichten Haupstädtern inzwischen aus der Mode gekommen
ist.“
„Können Sie uns noch mehr sagen?“, fragte ich.
Wildenbacher nickte.
„Ja, sehen Sie diese Hämatome? An den Handgelenken, den
Fußgelenken und unter den Achseln …”
„Wenn Sie sagen, dass das Hämatome sind”, meinte Rudi.
„Ja, kann schon sein, dass die sich etwas verändern, wenn ein
Toter schon länger tot ist. Aber ich versichere Ihnen, es sind
welche. Und zwar sehr typische.”
„Typisch? Wofür?”, fragte ich.
„Dafür, dass Herr Marenberg getragen worden ist. Jetzt fragen
Sie mich nicht, was das im Einzelnen bedeutet, aber eigentlich
spricht die Spurenlage für folgendes: Marenberg wurde überwältigt,
betäubt und anschließend wurden ihm bisher noch unbekannte
Substanzen injiziert, die seinen Amoklauf ausgelöst haben.”
„Fragt sich, wer das getan haben könnte und aus welchem
Grund”, meinte ich. „Aber das ist auf jeden Fall schon mal ein
Ansatz.”
„Es ist nur eine Hypothese, Harry”, dämpfte Wildenbacher
sogleich meine Freude darüber, in diesem Fall zumindest einen
Ansatzpunkt zu haben.
„Sicher, aber …”
„Es gibt etwas, das dieser Hypothese deutlich widerspricht.
Ich habe das Blut des Toten gründlich untersuchen lassen und
außerdem von einigen inneren Organen feingewebliche Untersuchungen
durchgeführt.”
„Mit welchem Ergebnis?”, fragte ich.
„Ich will nicht zu sehr in die Einzelheiten gehen, die Sie
vermutlich sowieso nicht verstehen. Und abgesehen davon bin ich
auch noch nicht fertig. Aber eins steht fest: Kevin Marenberg hat
über längere Zeit mehrere Psychopharmaka eingenommen. Und zwar in
Konzentrationen, die vermuten lassen, dass er in ärztlicher
Behandlung gewesen sein muss.”
„Davon steht nichts in den Unterlagen, die wir zur Verfügung
bekommen haben”, mischte sich Rudi ein. „Ich will die ganzen Daten
gerne noch mal durchforsten, aber das wäre eine Sache gewesen, die
mir sofort aufgefallen wäre!”
„Das wäre jedem aufgefallen, Rudi”, sagte Wildenbacher. „Der
Dienststellenleiter eines Polizeibehörde muss Medikamente nehmen,
um psychisch im Gleichgewicht zu bleiben. Man kann sich vorstellen,
dass das ein Fressen für die Presse-Meute gewesen wäre, wenn man es
draußen erzählt hätte.”
„Das heißt, da hat uns jemand was verschwiegen”, schloss
ich.
„Sieht so aus. Wenn Dienststellenleiter Marenberg aber unter
einer psychischen Erkrankung litt, die mit Medikamenten behandelt
werden musste, stellt sich der Fall womöglich ganz anders
dar.”
„Was sind das für Substanzen, die Marenberg genommen hat?”,
fragte Rudi.
„Sehen Sie, das ist genau die Schwierigkeit. Ich habe ein paar
Substanzen gefunden, die bei depressiven Verstimmungen verschrieben
werden und zur Stimmungsaufhellung dienen. Und die feingeweblichen
Untersuchungen beweisen, dass sie regelmäßig genommen wurden und
nicht etwa nur einmal mit einer gespritzten
Designer-Drogen-Dröhnung. Aber erstens weiß ich nicht, ob das alles
ist, was Marenberg im Körper hatte, zweitens weiß ich nicht die
genaue Zusammensetzung und kann nur grobe Rückschlüsse auf die
Dosierung anstellen und drittens kann der Effekt dieser Wirkstoffe
durch weitere Komponenten sehr stark verändert werden. Wenn ich
jetzt die Diagnose und die Verschreibungen des betreffenden Arztes
hätte, wüsste ich immerhin, wonach ich suchen müsste. Es gibt
unzählige Substanzen, die in Frage kämen. Manche sind im Blut
nachweisbar, andere nur in bestimmten Organen oder im Urin - und
das wiederum danach gestaffelt, wann und wie lange die Einnahme
erfolgte und ob zum Beispiel eine große Dosis in kurzer Zeit oder
kleine Dosen während eines längeren Zeitraums genommen
wurden.”
„Wir werden versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen”,
sagte ich.
„Es gibt übrigens noch eine dritte Möglichkeit, die wir nicht
außer Acht lassen sollten. Ich halte sie zwar für die
Unwahrscheinlichste, aber das heißt nicht, dass wir sie
ausschließen können.”
„Und die wäre?”, fragte ich.
Dr. Wildenbacher drehte den Toten wieder herum und bedeckte
ihn. Ein Arm ragte jetzt hervor. Der Gerichtsmediziner brauchte
zwei Versuche, bis der Arm so auf dem Seziertisch lag, dass er
nicht mehr nach außen stand.
„Zumindest eine der Substanzen, die ich bisher gefunden habe,
konnte …”
In diesem Augenblick ging die Tür auf. Dr. Förnheim betrat den
Raum. Der Naturwissenschaftler trug einen weißen Kittel und eine
Schutzbrille für die Augen, wie man sie in chemischen Laboren
benutzte.
„Schön, das die Herren aus Berlin uns mit Ihrer Anwesenheit
ehren”, sagte Förnheim. Dann wandte er sich an Wildenbacher.
„Es ist drin”, sagte er. „Ich habe die Analyse noch einmal
überprüft, aber es dürfte da keine Zweifel mehr geben.”
Wildenbacher wandte sich daraufhin an uns.
„Tja, unser Fischkopp spricht mal wieder für Außenstehende in
Rätseln”, meinte er. „Es geht um Folgendes: Eine der Substanzen,
die ich in den Organen von Herr Marenberg feststellen konnte, wird
sowohl in verschiedenen Psychopharmaka verwendet, als auch als
sogenannte Designer-Droge illegal verkauft. Und das ist genau die
dritte Möglichkeit, von der ich gerade sprach.”
„Sie meinen, Marenberg könnte drogensüchtig gewesen sein?”,
schloss ich.
Förnheim bestätigte dies.
„Das wäre eine plausible Erklärung für das Vorhandensein
dieser Substanz”, erklärte er.
„Ich halte persönlich folgendes Szenario für denkbar:
Marenberg hat wegen psychischer Probleme regelmäßig Psychopharmaka
genommen”, ergänzte Wildenbacher. „Aber die stimmungsaufhellende
Wirkung dieser Substanzen lässt mit der Zeit nach. Es kann sein,
dass ihm die Wirkung einfach nicht mehr ausreichte und er deshalb
zusätzlich was eingeworfen hat.”
„Kann man feststellen, ob es sich um Medikamente handelt oder
um zusätzlich eingenommene Substanzen?”, fragte Rudi.
„Könnte man”, bestätigte Wildenbacher. „Dazu müsste ich aber
wissen, was Marenberg verschrieben worden ist.”
„Ich nehme an, manche Dinge werden wir wohl nur vor Ort
herausbekommen”, meinte ich.
4
Jörg Rustow streckte die Arme aus und gähnte. Der
breitschultrige, fünfzigjährige Mann bewohnte ein Penthouse hoch
über den Dächern von Essen. Er ging durch die Glastür hinaus in den
dazugehörigen Dachgarten - einen der größten seiner Art.
Ein wolkenloser Himmel wölbte sich über Essen. Man hatte eine
hervorragende Sicht, die bis in das Umland reichte. In der Ferne
flimmerte die Luft.
„Sieh dir das an, Bella!”, rief Jörg. „Meine Stadt! Sie liegt
mir zu Füßen.”
Rustow trug einen weißen Morgenmantel und war barfuß. Ein Teil
des Dachgartens wurde von einem Swimmingpool eingenommen. Rustow
streckte den Fuß ins Wasser und zog ihn wieder zurück. „Irgendwas
stimmt mit der Wassertemperatur nicht. War der Typ noch nicht da,
der das reparieren wollte? Bella? Vielleicht muss man dem Arschloch
mal ein bisschen Feuer unter dem Hintern machen.” Rustow drehte
sich um. Durch die offene Tür konnte er in das weitläufige
Wohnzimmer sehen. „Isabella? Warum gibst du keine Antwort? Scheiße
noch mal, bist du taub geworden?”
Er ging zurück, trat durch die Tür, und dann entdeckte er sie.
Sie war nackt. Das dunkle Haar fiel ihr weit über den Rücken. Sie
kniete vor einem niedrigen Glastisch. Mit einem Röhrchen sog sie
eine Linie aus pulverförmigen Kokain in ihr rechtes Nasenloch. Ein
schnaufendes Geräusch entstand dabei.
„Nimm nicht so viel von dem Scheißzeug”, sagte Rustow. „Das
macht die Nasenschleimhäute kaputt. Außerdem ist es teuer.”
Sie beachtete ihn gar nicht weiter. Ihre Augen waren geweitet.
Die blanke Gier sprach aus ihrem Gesicht. Sie brauchte jetzt ihren
Stoff und eigentlich wusste Jörg Rustow auch, dass sie dann mehr
oder weniger nicht ansprechbar war. Es hatte keinen Sinn, ihr dann
etwas zu sagen. Sie hörte in diesen Momenten sowieso nicht zu.
„Nimm die Pillen, die ich dir gegeben habe. Die machen auch
gute Laune - und sind billiger. Und außerdem nicht so
schädlich.”
Sie war schließlich fertig. Einen Moment schloss sie die
Augen. Und es dauerte einige Augenblicke, bis sie wieder
einigermaßen bei Sinnen war.
„Ich mag deine Pillen nicht”, sagte sie dann.
„Wieso nicht?”
„Weil Sie nicht immer gute Laune machen.”
„Ach, nein?”
„Manchmal auch das Gegenteil davon.“
„Nur, wenn du zuviel nimmst.”
„Das hier ist besser”, war sie überzeugt. „Übrigens ist die
Zeitung vorhin gekommen. Es steht was drin, was dich interessieren
wird.”
„So?”
„Über den irren Polizisten. Der, der in dem Einkaufszentrum
herumgeballert hat.”
„Marenberg …”, murmelte Rustow.
„Ist das nicht der Typ, der dir immer im Nacken gesessen
hat?”, fragte Bella, die sich jetzt inzwischen erhoben und auf dem
Boden verstreute Kleidungsstücke aufzusammeln begann. „Im Moment
wird ja überall davon berichtet. Aber der Name kam mir irgendwie
bekannt vor.”
„Du hast recht, das ist der Typ, der mir was anhängen wollte”,
gab Jörg Rustow zu. „Scheiße, wer hätte gedacht, dass er auf diese
Weise aus dem Spiel genommen wurde …”
Die Zeitung lag auf einem Ledersofa, das zu einer anderen
Sitzecke in dem weitläufigen Wohnzimmer gehörte, die um einen
riesenhaften Flachbildschirm gruppiert war. Auf dem Flachbildschirm
war im Moment der Blick auf ein virtuelles Aquarium mit großen,
exotischen Fische zu sehen. Aber Fernsehen konnte man dort
natürlich auch. Und abgesehen davon war Jörg Rustow ein Fan von
Western-Filmen, die er sich dort ansah. Mit Dolby Surround Sound
hörte man dann die Kugeln fliegen.
Die Zeitung war auseinandergefleddert. Das gehörte zu den
Dingen, die er an Bella hasste. Sie zerfledderte die Zeitung, ehe
er sie gelesen hatte.
Der Artikel über den Amoklauf des örtlichen Kripo-Chefs war
allerdings schnell zu finden. Die Überschrift war groß genug. Jeden
Tag stand jetzt etwas darüber drin.
‘Was machte Kripo-Chef Marenberg verrückt?’, lautete diesmal
die Überschrift.
Die wissen nichts, diese Lohnschreiber!, dachte Rustow.
Inzwischen hatte Bella sich halbwegs angezogen. Und vor allem
schien sie ihre Gedanken wieder beieinander zu haben.
„Hast du eigentlich irgendwas damit zu tun, Jörg?”
„Womit?”
„Na, damit, dass dieser Bulle plötzlich durchdreht.”
Rustow drehte sich zu ihr um.
„Red nicht so einen Scheiß!”, sagte er.
„Ist doch schon komisch”, meinte sie und kringelte eine
Strähne ihres langen Haares um den Finger. Sie spielte damit herum.
„Ausgerechnet der Bulle, der sich wie ein Terrier in deine Waden
verbissen hatte, macht einen so spektakulären Abgang.”
„Hör zu! Wenn du weiter regelmäßig deinen Schnee haben willst
und außerdem noch etwas Geld, um dir diese bekloppten Schuhe zu
kaufen, von denen du schon mehr als genug hast und in denen du
sowieso nicht laufen kannst, wenn du vollgedröhnt bist, dann fragst
du mich so was nie wieder, klar?”
„Ich meine ja nur … Wenn ich auf diesen Gedanken komme, dann
kommt doch vielleicht auch jemand anderes darauf. Hast du darüber
mal nachgedacht, Jörg?”
„Überlass mir das Denken! Bei dir kommt da ohnehin nur Mist
raus!”
Sie lachte. Ein überdrehtes, hysterisches Lachen, das
vielleicht daher kam, dass sie nicht nur Kokain genommen, sondern
vorher auch noch etwas zu viel von dem Whiskey getrunken hatte, den
Jörg Rustow immer in großzügigen Mengen vorrätig hatte. „Du redest
immer noch wie ein Lastwagenfahrer”, sagte sie. „Kann ja sein, dass
du dich hier oben wie der Herr von Essen fühlst, und es kann auch
sein, dass du nur schnipp machen musst und irgendein Typ kommt mit
einer Maschinenpistole und räumt ein paar Leute für dich aus dem
Weg, nur weil ihre Nasen dir nicht passen …”
„Hör auf! Es ist ekelig, wenn du betrunken bist!”
„Ja, es ist dir peinlich, dass ich weiß, wer du früher warst.
Aber soll ich dir mal was sagen? Immer wenn du den Mund aufmachst,
hört man das. Mit jedem Wort. Mit jedem Satz, der über deine Lippen
kommt und jedes Mal wenn du Wörter wie Scheiße und Schlampe in
einem Satz sagst.”
Der Schlag kam schnell, ansatzlos und hart. Bella taumelte
zurück. Blut rann ihr am Kinn entlang. Mit einer Ohrfeige hatte sie
durchaus gerechnet. So was kam bei Rustow öfter vor. Er war eben
etwas grob. Aber einen Faustschlag hatte sie nicht erwartet.
Wie ein Hammerschlag hatte dieser Hieb sie getroffen. Ihr war
plötzlich schwindelig. Alles drehte sich vor ihren Augen, und sie
taumelte zu Boden.
„Wird anscheinend Zeit, dass dir mal wieder jemand deine
Grenzen zeigt”, meinte er.
Sie kauerte am Boden und sah zu ihm auf. Dann wischte sie sich
das Blut vom Kinn.
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Jörg Rustow ging
an den Apparat.
„Was gibt es?”, fragte er etwas unwirsch und hörbar schlecht
gelaunt.
Aber seine Stimmung schien sich schon im nächsten Moment sehr
aufzuhellen.
Am anderen Ende der Leitung war Mark Reifer, sein Anwalt.
Reifer hatte ihn schon aus unzähligen kritischen Situationen
erfolgreich herausgehauen. Jörg Rustow hatte sich immer darauf
verlassen können, dass Reifer irgendeine Unregelmäßigkeit im
Verfahren oder irgendeinen anderen juristischen Dreh fand, um
seinem Mandanten den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
„Ich habe es geschafft, Jörg”, sagte Reifer. „Die letzten
Verfahren, die gegen Sie noch anhängig waren, sind jetzt offiziell
eingestellt worden.”
„Großartig”, stieß Rustow hervor. „Ich hoffe, Sie habe nicht
allzu viel an Bestechungsgeldern ausgeben müssen.”
„Ganz im Gegenteil”, meinte Reifer. „Ich glaube, dieser
Marenberg ist genau zum richtigen Zeitpunkt durchgedreht.”
„Ach, ja?”
„Niemand ist im Moment daran interessiert, dass dessen alte
Fälle noch einmal genauer unter die Lupe genommen werden. Das
könnte der Justiz, dem BKA und und dem LKA erheblichen Ärger
einbringen. Und ich glaube im Schatten dieser Entwicklung war man
dann gerne geneigt, den Aktendeckel einfach zuzumachen und nicht
mehr so genau hinzusehen.”
„Hoffen wir, dass der verdammte Aktendeckel auch für immer
geschlossen bleibt”, meinte Rustow.
„Das liegt an Ihnen.”
„Wieso an mir?”
„Treten Sie einfach ein bisschen kürzer! Und vor allen Dingen
vermeiden Sie in nächster Zeit am besten jeden Ärger. Leben Sie zur
Abwechslung mal etwas unauffällig! Gewissermaßen unterhalb des
Radars gewisser einflussreicher Leute in unserer schönen Stadt.
Dann würde es die Sache mit Sicherheit etwas leichter
machen.”
Jörg Rustow verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen.
„Wissen Sie was? Machen Sie Ihren Job, Herr Reifer! Und ich
mache meinen. Was sagen Sie zu dieser Aufteilung? Ist für uns alle
am besten, würde ich sagen.”
Auf der anderen Seite der Verbindung herrschte jetzt für einen
Moment nichts als Schweigen.
„Wir sehen uns, Jörg”, sagte Mark Reifer schließlich. „Ich
muss jetzt weiter. Schließlich habe ich noch andere Termine.”
„Sicher. Freut mich, dass Sie etwas erreichen konnten.”
Das Gespräch wurde beendet. Auf Jörg Rustows Gesicht furchten
sich jetzt die harten Linien eines breiten Grinsen hinein.
Vergiss nicht, dass du ohne mich gar nichts wärst, kleiner
Anwalt!, ging es ihm durch den Kopf.
5
Wir hatten Berlin fast erreicht, da meldete sich unser Chef
telefonisch bei uns. Ich nahm das Gespräch über die
Freisprechanlage entgegen, so dass Rudi mithören konnte.
„Harry? Rudi?”, meldete sich Kriminaldirektor Hoch, der Leiter
des BKA Berlin zu Wort. „Was haben unsere Kollegen in Quardenburg
ermittelt?”
Ich lieferte einen kurzen zusammenfassenden Bericht dessen,
was Dr. Wildenbacher und Dr. Förnheim herausgefunden hatten und
welche Spekulationen sich daran knüpften.
„Ich möchte, dass Sie beide gleich nochmal in mein Büro
kommen. Es haben sich ein paar neue Erkenntnisse über Marenberg
ergeben.”
„In welcher Hinsicht?”, fragte ich.
„Zusammengefasst läuft es auf Folgendes hinaus: Er war nicht
der Muster-Chef, den man erwartet. Es gab offenbar massive
Schwierigkeiten. Es sind wohl im Verantwortungsbereich der Polizei
von Essen eine ganze Reihe von Ermittlungsfehlern begangen worden.
Man musste Tatverdächtige freilassen, weil Beweise auf illegale
Weise beschafft worden sind. Beweismittel sind unter ungeklärten
Umständen verschwunden. Außerdem litt Marenberg wohl seit längerem
unter einer Medikamentenabhängigkeit und reagierte zunehmend
gereizt und aggressiv. Es liegen mehrere Beschwerden in dieser
Hinsicht vor, und es gab deutlich mehr Versetzungsgesuche an dieser
Dienststelle, als es dem Mittelwert entsprechen würde.”
„Wo kommen diese Informationen denn jetzt her?”, fragte
ich.
„Die wichtigere Frage ist, wieso sie erst jetzt an mich
herangetragen wurden - und auf welchem Weg das geschah”, gab
Kriminaldirektor Hoch zurück. „Einer meiner Kollegen hier im
Gebäude hat mich darauf angesprochen. Über all diese Dinge gab es
offenbar längst Akten und offizielle Vorgänge. Kurz gesagt:
Marenberg stand kurz vor dem Rausschmiss. Seine Bilanz war nämlich
keinesfalls so makellos, wie es erst den Anschein hatte. Er war
angezählt - bei der nächsten Kleinigkeit und vor allem bei
Nichterfüllung seiner Auflagen, wäre er seines Postens enthoben
worden.”
„Was denn für Auflagen?”, fragte ich.
„Er war verpflichtet worden, die psychischen Probleme zu
behandeln, unter denen er wohl zunehmend litt und diese Behandlung
fortzusetzen.”
„Dann ging man davon aus, dass diese Probleme nur
vorübergehender Natur waren.”
„Man hat damit wohl vor allem auf die Tatsache Rücksicht
genommen, dass Marenberg in der Vergangenheit tatsächlich
großartige Verdienste hatte und wollte ihm eine Chance geben, sich
in absehbarer Zeit wieder zu fangen.”
„Dann hat man uns offenbar mit Vorsatz unvollständig
informiert?”, schloss Rudi.
„Das sieht ganz so aus”, bestätigte Kriminaldirektor Hoch.
„Ich möchte, dass Sie gleich noch einmal in mein Büro kommen, damit
wir ein paar Einzelheiten durchgehen können. Und davon abgesehen
würde es wohl unumgänglich sein, dass Sie so schnell wie möglich
nach Essen fliegen, um dort aufzuräumen.”
„Eine Polizei-Dienststelle, in der einiges nicht so zu laufen
scheint, wie es laufen sollte”, stellte ich fest.
„Bis gleich”, sagte Kriminaldirektor Hoch und beendete das
Gespräch.
„Scheint, als hätte Marenberg nichts mehr zu verlieren gehabt,
Harry”, sagte Rudi. „Und ist das nicht geradezu typisch für
Amokläufer?”
„Jedenfalls erscheinen Dr. Wildenbachers Erkenntnisse jetzt in
einem ganz anderen Licht”, sagte ich.
„Will da jemand das Andenken eines Dienststellenleiter
schützen?”
„Oder sich selbst, Rudi.”
„Aber wie kann man so naiv sein, zu glauben, damit
durchzukommen, dass man einfach einen Teil der Informationen nicht
schickt?”
„Ach, Rudi, du weißt doch, wie so was läuft!”
„So? Erklär’s mir! Mich macht das nämlich fassungslos!”
„Eine Organisation muss nur groß genug sein, dann geschehen
Dinge, die kein Mensch mehr erklären kann. Immer wieder. Und wenn
du mal zurückdenkst, dann haben wir doch schon in Hamburg das eine
oder andere Mal Dinge erlebt, von denen wir auch vorher geglaubt
hätten, so etwas sei nicht möglich.”
„Du meinst, dass es jemand einfach mal versucht hat?”
„Könnte man so sehen. Aber Kriminaldirektor Hoch wird uns dazu
sicher noch Näheres sagen.”
Ich sah schon einen Berg zusätzlicher Arbeit auf uns zukommen.
Auf uns und die Kollegen, die uns unterstützten. Denn es erschien
mir nun unumgänglich, dass die Fälle, mit denen Marenberg direkt zu
tun gehabt hatte, noch einmal daraufhin abgeklopft werden mussten,
ob sie mit dem Geschehen in dem Happy-Family-Einkaufszentrum von
Essen in irgendeinem Zusammenhang standen. Das konnten Rudi und ich
natürlich nicht alles selbst bewältigen. BKA-Kriminalinspektoren
konnten schließlich keine Wunder vollbringen. Aber dazu hatten wir
ja gegebenenfalls Kollegen, die uns unterstützten. Zum Beispiel Dr.
Lin-Tai Gansenbrink, eine Mathematikerin und IT-Spezialistin, die
ebenso wie Dr. Wildenbacher und Dr. Förnheim Teil unseres Teams war
und deren Hilfe wir gerade bei solchen umfangreichen Analysen gerne
in Anspruch nahmen.
6
„Sie müssen einen Moment warten“, sagte Frau Dorothea
Schneidermann, die Sekretärin unseres Chefs, als wir dessen
Vorzimmer erreichten. „Kriminaldirektor Hoch führt gerade noch ein
paar wichtige Telefongespräche.“
Ich konnte mir gut vorstellen, dass diese Gespräche in
Zusammenhang mit unserem Fall standen. Kriminaldirektor Hoch war
zwar erst seit kurzem Leiter des BKA, so wie Rudi und ich erst seit
relativ kurzer Zeit Kriminalinspektoren waren, die im Auftrag der
BKA Zentrale von Berlin ermittelten. Aber als jahrzehntelanger
Dienststellenleiter der Hamburger Polizei hatte er mit Sicherheit
ein dichtes, landesweites Netz von Kontakten knüpfen können. Und
die konnten gerade in einem Fall wie diesem von Nutzen sein.
Schließlich war es nun ziemlich offensichtlich, dass wir es
mit einer faulen Stelle innerhalb unserer Organisation zu tun haben
mussten. Ob das nur Unfähigkeit einzelner beteiligter Personen oder
der Versuch war, bewusst etwas zu verschleiern, würde sich zeigen
müssen.
„Ich habe für Sie beide Zimmer in Essen gebucht. Und außerdem
einen Flug”, sagte Dorothea Schneidermann.
„Danke”, sagte ich.
„Wir können es kaum erwarten, in dieser Weltstadt zu landen”
meinte Rudi sarkastisch.
„Die Stadt hat sich entwickelt”, meinte Dorothea
Schneidermann. „Wenn man so will, könnte man Essen, Duisburg,
Bottrop, Bochum und die anderen Städte zu einer zusammenfassen, so
eng, wie sie aneinanderliegen. Da ist doch schon alles zu einer
Großstadt zusammengewachsen.”
„Hm, da muss an mir irgendwie was vorbeigegangen sein”, meinte
Rudi mit einem Grinsen.
„Tja, langsam sollte Ihr Horizont etwas weiter sein, Rudi”,
meinte Dorothea. „Ein Ex-Freund von mir wohnt in Essen und arbeitet
für eine High-Tech-Schmiede. Ich gebe es zu, wäre das nicht der
Fall, wüsste ich auch nichts darüber, aber mit Hamburg oder Berlin
kann man dort sicher wohl auch mithalten.”
Die Tür ging auf. Herr Hoch stand dort. Die Hemdsärmel hatte
er hochgekrempelt, die Krawatte hing ihm gelockert um den Hals.
„Kommen Sie rein!”, sagte er.
Wir folgten der Aufforderung. Wenig später saßen wir in seinem
Büro.
„Also die Wahrheit über Marenberg sieht wohl so aus, dass man
in der Tat das Vermächtnis dieses Mannes schützen wollte. Die
Kriminalpolizei Essen wird derzeit von dem ehemaligen
stellvertretenden Dienststellenleiter Timo Gottfriedson geleitet.
Zunächst kommissarisch, ob das eine dauerhafte Lösung ist, wird
sich zeigen. Aber wenn es Unregelmäßigkeiten gibt und die mit dem
Chef zu tun haben, halte ich es grundsätzlich nicht für die beste
Lösung, den Stellvertreter für die Aufklärung sorgen zu
lassen.”
„Sie glauben, dass dieser Gottfriedson davon wusste?”
„Möglich. Ich kann nicht mal ausschließen, dass er gar nicht
in erster Linie Marenberg, sondern sich selbst schützen wollte. Wie
ich jetzt aus anderer Quelle erfahren habe, ist Gottfriedson mit
Marenbergs Familie befreundet. Kann auch sein, dass man von dort
Druck auf ihn ausgeübt hat. Wie auch immer: Fakt ist wohl, dass bei
Marenberg Depressionen diagnostiziert wurden. Fakt ist auch, dass
er Medikamente nehmen musste. Fakt ist zum dritten, dass er zu dem
gestellten Psychologen nicht regelmäßig hingegangen ist und damit
eigentlich seine Auflagen verletzt hat, unter denen er seinen Job
machte. Und Fakt ist weiterhin, dass er mindestens noch einen
zweiten Psychologen und einen weiteren Arzt wegen dieser Sache
aufgesucht hat.”
„Könnte es sein, dass er Medikamente gehortet und überdosiert
hat?”
„Es spricht einiges dafür, dass er abhängig war. Eine
Sekundärerkrankung, die sich wohl aus der Medikamentierung wegen
der depressiven Verstimmungen ergeben hat.”
„Arzt-Hopping, um genug verschrieben zu bekommen. Da wäre er
nicht der erste”, meinte Rudi.
„Es gibt noch etwas anderes, worauf ich Sie hinweisen möchte,
was jetzt ebenfalls ans Tageslicht gekommen ist.”
Ich hob die Augenbrauen.
„Noch mehr?”
Eigentlich reichte das schon. Es wäre dringend angezeigt
gewesen, Kevin Marenberg zumindest zu beurlauben. Vielleicht, so
dachte ich in diesem Moment, hätte dann die anschließende Tragödie
verhindert werden können. In diesem Punkt sollte ich mich
allerdings täuschen.
„Kevin Marenberg ermittelte seit Jahren gegen einen gewissen
Jörg Rustow und seine Organisation”, erklärte Kriminaldirektor
Hoch. „Mehrere Fälle von Unregelmäßigkeiten und professionellem
Versagen der Polizei und seiner Mitarbeiter betrifft indirekt
diesen Rustow, denn es ging um Fälle im Dunstkreis seiner
Organisation.”
„Womit verdient denn dieser Rustow sein Geld?”, fragte
ich.
„Ich habe Ihnen ein umfangreiches Dossier zugemailt”, sagte
Kriminaldirektor Hoch. „Jörg Rustow gilt als der Boss der
sogenannten Happy-Hour-Connection. Diese Verbindung ist ein Ring,
der sogenannte Designerdrogen herstellt und über Clubs vertreibt.
Die Happy-Hour-Connection ist nicht nur in Essen aktiv, sondern
auch in den angrenzenden Städten. Aber in dieser Stadt ist das
Zentrum ihrer Aktivitäten.”
„Dr. Wildenbacher glaubt, es könnte möglich sein, dass
Marenberg regelmäßig Designerdrogen genommen hat”, sagte ich. „Es
ist schon ein eigenartiger Zufall, dass er ausgerechnet in dieser
Richtung auch noch mit anderweitigen Schwierigkeiten zu kämpfen
hatte.”
Kriminaldirektor Hoch nickte.
„Tatsache ist, dass er keinen entscheidenden Erfolg gegen die
Happy-Hour-Connection vorweisen konnte. Das steht alles in einem
merkwürdigen Kontrast zu den Bemühungen. Denn aus den mir
inzwischen zugänglichen Unterlagen wird auch klar, dass Marenberg
hier ganz bewusst einen Schwerpunkt seiner Arbeit gesetzt
hat.”
„Wir werden schon herausfinden, was dahintersteckt”, sagte
ich.
„In Essen wird sie eine Kommissarin namens Christina Bellmann
abholen. Und der kommissarische Dienststellenleiter Gottfriedson
hat mir seine uneingeschränkte Kooperationsbereitschaft zugesagt,
nachdem er zunächst das Gegenteil getan hat.” Kriminaldirektor Hoch
zuckte mit den Schultern. „Sie werden vor Ort selbst entscheiden
müssen, wie weit Sie ihn in Ihre Ermittlungen einbeziehen. Aber ich
rate Ihnen zur Vorsicht.”
7
Rudi und ich flogen mit der nächsten Maschine von Berlin nach
Essen.
Kommissarin Christina Bellmann, eine rothaarige
Endzwanzigerin, holte uns am Flughafen ab.
„Herr Kubinke, Herr Meier - es freut mich, Sie im Namen der
Polizei Essen begrüßen zu dürfen”, sagte sie etwas gestelzt.
„Ich könnte mir denken, dass Sie die einzige sind, die sich
freut”, sagte ich.
„Nun, ich denke, dass alle Kollegen ausgesprochen
kooperationswillig sind”, sagte Christina. Das dicke, rote Haar
trug sie zu einem Zopf zusammengefasst. Ihr Gesicht wirkte ernst
und etwas angestrengt.
„Sie vielleicht”, sagte ich. „Aber soweit ich den Unterlagen
entnehmen konnte, sind Sie auch erst seit kurzem hier in der
Dienststelle.”
„Herr Kubinke, wenn Sie damit andeuten wollen, dass ich in
dieser Sache völlig unbelastet bin, dann haben Sie zweifellos
recht.”
„Nennen Sie mich einfach Harry”, sagte ich.
„Harry.”
„Und ich bin Rudi”, sagte mein Kollege.
Christina Bellmann nickte Rudi zu und wandte sich dann wieder
in meine Richtung.
„Der Nachteil an der Tatsache, dass ich so frisch hier bin,
ist allerdings, dass ich Ihnen vermutlich kaum bei Ihren
Ermittlungen helfen kann.”
„Vielleicht können Sie uns gerade deswegen besonders gut
helfen”, meinte ich. „Aber das wird sich zeigen. Wir sind im Moment
zufrieden, wenn Sie uns einen Dienstwagen besorgen.”
„Eigentlich besteht meine Aufgabe darin, Sie zum Hotel zu
bringen”, sagte Christina Bellmann. Ihr Blick glitt kurz zu der Uhr
an ihrem Handgelenk. „Es ist schließlich schon spät. Ich weiß
nicht, ob der Dienststellenleiter noch im Büro ist.”
„Wenn ich ein Dienststellenleiter wäre und in meinem Büro
hätte sich ein Polizist wie ein Amokläufer durch ein
Einkaufszentrum geschossen, würde ich rund um die Uhr im Büro sein
und erst nach Hause gehen, wenn die Sache halbwegs aufgeklärt ist”,
sagte Rudi. „Zumindest kenne ich das so von unserem früheren
Chef.”
„… der auch unser jetziger Chef ist”, ergänzte ich. „Herr
Hoch, der Leiter des BKA-Büros in Berlin.”
„Ich verstehe, glaube ich, was Sie meinen”, sagte Christina
Bellmann. „Also ich bringe Sie, wohin immer Sie wollen.”
„Einen Wagen brauchen wir auf jeden Fall”, sagte ich. „Und
zwar heute Abend noch. Ein paar Leute, die auf unserer Liste
stehen, werden wir auf jeden Fall noch befragen.”
„Ganz, wie Sie wollen”, sagte Christina Bellmann.
Sie führte uns zu ihrem Wagen, einen Chevrolet. Wir stiegen
ein. Ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz, Rudi auf der Rückbank
und Christina Bellmann setzte sich ans Steuer. Sie fuhr uns durch
die Straßen von Essen. Die Dämmerung hatte inzwischen eingesetzt.
Zwei Stunden Flug lagen hinter uns. Rudi gähnte.
Mein Smartphone vibrierte. Ich sah auf das Display. Eine
Nachricht von Dr. Wildenbacher hatte mich erreicht. Demnach hatten
Wildenbacher und Förnheim einen weiteren Inhaltsstoff der Präparate
ermittelt, die Kevin Marenberg eingenommen hatte. ‘Wenn wir jetzt
die dazugehörigen Rezepte des Arztes hätten, würde uns das sehr
weiterhelfen’, lautete Wildenbachers Botschaft.
‘Kriegen Sie umgehend, sobald wir sie auch haben’, schickte
ich ihm eine Nachricht zurück.
Wunder vollbringen konnte ich schließlich auch nicht.
„Was hatte Sie von Kevin Marenberg für einen Eindruck?”,
fragte ich an Christina Bellmann gerichtet, während sie an einer
großen Kreuzung den Wagen anhalten musste.
„Was soll ich dazu sagen? Ich bin ja erst sehr kurze Zeit hier
und um ehrlich zu sein, ich kannte Marenberg kaum.”
„Umso besser, dann haben Sie doch einen ganz
unvoreingenommenen Eindruck von ihm gewonnen”, meinte ich.
Sie mauerte und wollte nicht so richtig raus mit der Sprache.
Vielleicht befürchtete sie, dass ihre Position innerhalb der
Dienststelle schwierig wurde, wenn sie zu sehr mit uns kooperierte
und möglicherweise irgendeine Äußerung von ihr später die Runde
machte. Ich konnte sie durchaus verstehen. Sie war noch jung. Eine
Anfängerin. Viele dienstliche Stationen konnte sie noch nicht
hinter sich haben.
„Wie gesagt, ich kann nicht sehr viel dazu sagen”, erklärte
sie. „Als vorgesetzter Dienststellenleiter war er immer sehr
korrekt. Ich habe keinen Grund gehabt, mich zu beklagen - und er
hoffentlich auch nicht. Ich hatte allerdings immer das Gefühl …”
Sie brach ab.
„Was für ein Gefühl?”, hakte ich nach.
„Marenberg wirkte eher reserviert. Aber ich glaube, dass das
damit zu tun hatte, dass ich ein Neuling war. Ich gehörte natürlich
nicht so richtig dazu, so wie die Kollegen, die schon länger dabei
waren. Die Kollegen hier haben zum Teil Jahre oder sogar
jahrzehntelang zusammengearbeitet.”
„So etwas schweißt zusammen”, sagte ich. „Das kann ich
durchaus bestätigen. Es ist nicht so ganz einfach, in so eine
verschworene Gemeinschaft hineinzukommen, könnte ich mir
denken.”
„Das stimmt”, sagte sie.
„Frau Bellmann, damit wir uns nicht missverstehen: Wir sind
nicht hier, um jemanden anzuschwärzen, jemandem Fehler nachzuweisen
oder jemandem aus Fehlverhalten einen Strick zu drehen. Wir wollen
vielmehr herausfinden, was Ihren Chef dazu gebracht hat, wie ein
Amokläufer durch ein Einkaufszentrum zu laufen und völlig
Unbeteiligte in den Tod zu reißen. So etwas kommt schließlich nicht
alle Tage vor, und es muss einen Grund dafür geben.”
„Ich würde auch gerne wissen, was dahintersteckt”, sagte
Christina Bellmann. „Und um ehrlich zu sein: Ich bin so schockiert
wie Sie darüber. Gerade weil es einer von uns war. Ein Mann, der
sich doch eigentlich dem Kampf gegen das Verbrechen verschrieben
hat und dann selbst plötzlich ohne einen bisher erkennbaren Grund
zu so einem Monster mutiert.”
„Wir brauchen die Hilfe von allen hier im Büro”, stellte ich
klar. „Und ganz besonders von jemandem wie Ihnen. Jemandem, der die
Situation hier weitgehend unvoreingenommen wahrnehmen
konnte.”
„Gut, dann will ich Ihnen meinen Eindruck durchaus mal so
beschreiben, wie ich ihn empfunden habe”, fuhr Christina Bellmann
schließlich fort.
„Ich bitte darum.”
„Er stand unter enormen Druck. So habe ich Dienststellenleiter
Marenberg vom ersten Augenblick an empfunden. Schon als er mich an
meinem ersten Tag in seinem Büro empfing und mir gesagt hat, wie
hier in Essen der Hase so läuft.”
„Können Sie sich noch daran erinnern, was er Ihnen so im
Einzelnen gesagt hat?”, hakte ich nach. „Ich meine darüber, wie
hier der Hase so läuft, wie Sie gesagt haben.”
„Er meinte, ich könnte mich jederzeit an ihn wenden, wenn es
etwas gäbe, was mir Probleme bereiten würde. Das sei nicht schlimm,
schließlich seien ja alle mal Anfänger gewesen. Wissen Sie, er war
nett und wirkte kompetent. Es war nicht das, was er sagte, was mich
stutzig gemacht hat, sondern die Art und Weise wie er das tat. Er
schien schrecklich unter Strom zu stehen, so als ob ihm etwas
ziemlich zu schaffen machte.”
„Haben Sie mal mit Kollegen darüber gesprochen?”
„Ja. Aber von denen habe ich nichts erfahren.”
„Das heißt, die haben Sie nicht eingeweiht.”
„Eingeweiht?”
„Wussten Sie, dass Marenberg Psychopharmaka nahm und wegen
Depressionen behandelt werden musste?”
„Nein, das wusste ich nicht.”
„Was ist mit Kriminalhauptkommissar Gerd Thormann?”, fragte
ich.
„Sie meinen den Kollegen, der Marenberg erschossen hat?”
„Genau.”
„Besser gesagt: Erschießen musste”, korrigierte sich Christina
Bellmann. „Um ehrlich zu ein, ich möchte nicht in seiner Haut
stecken.”
„Wieso?”
„Na, wenn ich mir das nur vorstelle. Es kann ja sein, dass man
im Einsatz gezwungen ist, eine Schusswaffe einzusetzen. Und mit der
Möglichkeit, dabei einen Menschen zu töten, muss man sich wohl oder
übel in unserem Job auseinandersetzen. Jeder muss das. Da kommt man
einfach nicht dran vorbei.”
„Richtig.”
„Aber wenn man gezwungen ist, einen Kollegen zu erschießen ...
Das muss einfach furchtbar sein. Die beiden waren jahrelang
zusammen im Einsatz, haben hier im Büro zusammengearbeitet und dann
so etwas. Das muss einem doch für den Rest des Lebens Albträume
bescheren. Zumindest wäre das bei mir so, da bin ich mir
sicher.”
„Wie hat Herr Thormann diesen Vorfall denn verkraftet?”
„Keine Ahnung. Äußerlich ist er ein eisenharter Kerl, der sich
nichts anmerken lässt. Aber ich könnte mir vorstellen, dass es in
seinem Inneren ganz anders aussieht. Denke ich zumindest. Aber um
ehrlich zu sein, hatte ich mit Herrn Thormann nie so viel zu tun,
dass ich das wirklich letztlich beurteilen könnte. Ich schließe da
wahrscheinlich eher von mir auf andere.”
8
Wir erreichten die Polizei in Essen. Es bildete zusammen mit
ein paar anderen Verwaltungsgebäuden einen gemeinsamen Komplex mit
angegliederten Parkplätzen.
Christina Bellmann fuhr in eine Tiefgarage hinein, in der
offenbar ein Teil des Fuhrparks untergebracht war, der der Polizei
zur Verfügung stand. Sie parkte schließlich den Wagen neben einem
SUV.
„Das ist das Fahrzeug für die Zeit Ihres Aufenthalts hier in
Essen”, sagte sie.
„Wunderbar”, sagte ich. „Haben Sie den Schlüssel?”
Sie gab ihn mir. Wir stiegen aus.
Rudi und ich holten unser sparsames Gepäck aus Kommissarin
Bellmanns Chevrolet und packten unsere Taschen in den SUV.
„Ich bringe Sie natürlich nach wie vor gerne zum Hotel”, sagte
sie.
„Nicht nötig. Das Navi wird uns schon zuverlässig hinbringen.
Und abgesehen davon werden wir vorher noch die eine oder andere
Adresse ansteuern. Die Ermittlungen dulden keinen Aufschub.”
„Mit wem fangen Sie an?”
„Da Sie sagten, dass hier in den Büros niemand mehr …”
Ich brach den Satz ab. Ein Mann im grauen Anzug beobachtete
uns. Das Auffälligste an seiner Kleidung war eine Gürtelschnalle,
die eher zum Outfit eines Rodeoreiters als zu einem konservativ
geschnittenen Anzug gepasst hätte. Unser Kollege Wildenbacher hätte
daran vermutlich seine helle Freude gehabt. Das Gesicht erkannte
ich von den Fotos, die in unseren Unterlagen enthalten waren. Der
Mann, der uns da mit einem wie aus Stein gemeißelt wirkenden
Gesicht beobachtete, war niemand anderes als Kriminalhauptkommissar
Gerd Thormann.
Er kam auf uns zu.
„Herr Thormann”, sagte Christina Bellmann, „dies sind
Kriminalinspektor Harry Kubinke und Kriminalinspektor Rudi Meier
aus Berlin.”
„Thormann”, stellte sich unser Gegenüber vor. „Ich bin der
Mann, der seinen Vorgesetzten erschießen musste. Sie werden sicher
ein paar Fragen an mich haben.”
„Wir hätten in der Tat ein paar Fragen an Sie.”
„Dann können wir das hier kurz und schmerzlos erledigen”,
sagte Thormann. „Ja, ich habe jede Nacht Albträume wegen dem, was
passiert ist. Nein, ich war nicht zufällig in dem Einkaufszentrum.
Ich habe einen Typ beschattet, der einem Drogenring angehört und
hinter dem wir schon lange her waren. Ja, es gibt detaillierte
Einsatzpläne darüber, die Sie auch gerne einsehen können und die
belegen, dass dies so ist, wie ich Ihnen gesagt habe. Und nein, ich
habe keinerlei Erklärung dafür, was die Persönlichkeitsveränderung
ausgelöst hat, die dazu geführt haben muss, dass aus einem
verdienstvollen, rechtschaffenen und pflichtbewussten
Dienststellenleiter ein wahnsinniger Killer wurde. Ich kann nur
Vermutungen anstellen und dazu gehört natürlich, dass Herr
Marenberg möglicherweise unter dem Einfluss von Substanzen stand,
die eine derartige Wirkung haben können.” Er machte eine kurze
Pause, wandte dann zuerst Rudi und dann mir einen kurzen Blick zu
und schloss schließlich mit den Worten: „Noch Fragen?”
„Ich denke, alles weitere werden wir morgen früh im Büro vom
Kollegen Gottfriedson klären können”, sagte ich.
„Gut. Dann werden Sie gestatten, dass ich jetzt nach Haus
fahre. Ich habe in letzter Zeit nämlich schlecht geschlafen. Dass
ich Albträume habe, erwähnte ich schon?” Er atmete tief durch und
ging ein paar Schritte weiter. Dann blieb er noch einmal stehen und
drehte sich wieder herum. Seine Finger spielten nervös mit dem
Wagenschlüssel herum. „Ich wünsche so etwas niemandem”, sagte er
dann.
„Eine Frage hätte ich vielleicht doch noch, die Sie mir gleich
beantworten könnten.”
„Bitte!” Sein Mund sah aus wie ein schmaler, gerader Strich.
Die Züge sahen maskenhaft aus.
„Wen haben Sie beschattet in dem Einkaufszentrum?”
„Wie ich schon sagte: Einen Drogendealer. Ein kleines Licht in
einer großen Organisation. Insofern war auch er wichtig.”
„Ich nehme an, der hat einen Namen und eine Adresse.”
„Sie wollen ihn doch nicht etwa befragen, oder? Dann kommen
wir an die Organisation, die hinter ihm steht, nie heran.”
„Wie heißt er?”, beharrte ich.
Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen. Sein Blick schien
mich geradezu zu durchbohren. Ich fragte mich, was der wahre Grund
dafür sein mochte, dass er offenbar keine Lust hatte, mir den Namen
zu sagen. Aber schließlich kam er doch noch damit heraus.
„Der Kerl heißt Petrick Berlin. Wie die Hauptstadt.”
„Wir unterhalten uns morgen.”
„Von mir aus. Ach ja, falls Sie noch mit dem
Dienststellenleiter sprechen wollen: Der ist nicht mehr im
Haus.”
„Das habe ich schon gehört.”
9
Kommissar Gerd Thormann stieg in einen metallicfarbenen
Mittelklassewagen und fuhr davon.
„Der scheint sich nicht gerade darüber zu freuen, dass wir
hier sind”, meinte Rudi.
„Und dabei wollen wir doch nur helfen.”
Rudi und ich wechselten einen kurzen Blick und ich wusste,
dass er dasselbe dachte wie ich: Irgendwas hatte Thormann zu
verbergen. Es musste gar nichts mit dem Fall zu tun haben.
„Sie müssen ihn verstehen”, meinte Christina Bellmann.
„Wie meinen Sie das?”, fragte Rudi.
„Sie würden es auch nicht mögen, wenn in Ihrem Arbeitsbereich
jemand jeden Stein umdrehen würde. Ist doch klar, dass er davon
nicht begeistert ist, zumal es in den letzten zehn Jahren
vermutlich keine einzige Operation in Essen gibt, von der Gerd
nicht wenigstens wusste.”
Ich hob die Augenbrauen.
„Sie nennen ihn Gerd?”, fragte ich.
„Das tun hier alle”, sagte Christina Bellmann. „Wenn Sie
denken, dass ich etwas mit ihm hatte, dann sind Sie schief
gewickelt.”
„Danach hatte ich gar nicht gefragt”, erklärte ich.
„Ich dachte, dass Sie darauf hinaus wollten. Gerd ist
verheiratet. Und soweit mir bekannt ist, auch glücklich.”
Wir verabschiedeten uns von Christina Bellmann und fuhren mit
dem SUV zu unserem Hotel.
„Auf jeden Fall hat man uns hier nicht mit offenen Armen
empfangen”, meinte Rudi während der Fahrt. „Und dabei spreche ich
jetzt nicht von Christina Bellmann.”
„Rudi, es ist doch wahr: Wenn früher bei uns im Hamburger
jemand von außen gekommen ist, um ein paar Dinge unter die Lupe zu
nehmen, haben wir das auch nie so besonders gerne gehabt. Das ist
doch ganz natürlich.”
„Mag sein.”
„Und trotzdem ist es natürlich notwendig, jemanden von außen
zu schicken. Dass da der eine oder andere empfindlich reagiert,
halte ich für normal. Ich würde vermutlich selbst nicht anders
reagieren.”
„Ich frage mich, ob diese Dünnhäutigkeit bei Gerd Thormann
wirklich nur daher kommt, dass es ihn ziemlich mitgenommen hat,
seinen Kollegen erschießen zu müssen.”
„Was sollte denn sonst dahinterstecken, Rudi?”
Mein Kollege zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Es ist nur so ein Gefühl. Aber vielleicht
wissen wir morgen schon mehr, wenn wir mal die Einsatzpläne unter
die Lupe nehmen.”
„Wenn Kevin Marenberg nicht durch seinen Kollegen erschossen
worden wäre, dann vermutlich durch die Sicherheitsleute in dem
Einkaufszentrum”, gab ich zu bedenken. „Die sind schließlich auch
bewaffnet, und selbst wenn Marenberg weiterhin wie ein Irrer um
sich geschossen hätte, wäre sein Amoklauf sehr schnell zu Ende
gewesen.”
Rudi wischte über sein Smartphone. Er wählte sich in das
Datenverbundsystem des BKA ein. „Bingo. Der Typ, der wie unsere
Hauptstadt heißt und den Thormann angeblich beschattet hat,
existiert zumindest. Es gibt ein umfangreiches Dossier über ihn. Er
wird sogar in Zusammenhang mit dem Tod einer Prostituierten
gebracht. Man konnte ihm allerdings nichts nachweisen. Er gehört
übrigens mutmaßlich zu dieser Organisation, die von Jörg Rustow
angeführt wird.”
„Die Happy-Hour-Connection.”
„Genau.”
„Auf diese spezielle ,Vereinigung‘ scheint es in dieser Stadt
wohl immer wieder hinauszulaufen.”
„Frag mich nicht, ob das jetzt irgendeine besondere Bedeutung
hat.”
„Hatte ich auch nicht vor!”
Wir stiegen aus. Das Hotel, das Dorothea Schneidermann für uns
gebucht hatte, war ein einfaches Mittelklassehaus. Wir stiegen aus.
‘Hopfengruß’ hieß das Hotel, in das Dorothea Schneidermann uns
einquartiert hatte. Dieser Name stand in großen Leuchtbuchstaben
über dem Eingang. Der Kofferraum war offen und Rudi hatte gerade
seine Tasche herausgeholt, als plötzlich die Hölle losbrach.
Schüsse peitschten und ließen die Scheibe des SUV splittern. Rudi
und ich duckten uns hinter dem Wagen und nahmen Deckung. Dabei
rissen wir die Dienstwaffen aus den Holstern. Während des Fluges
hatten wir sie wie üblich zur Aufbewahrung abgeben müssen, aber
inzwischen trugen wir sie natürlich längst wieder bei uns.
Allerdings war es für einige Augenblicke vollkommen unmöglich,
hinter dem Wagen hervorzutauchen. Mindestens dreißig oder vierzig
Geschosse prasselten in unsere Richtung. Ein kleiner Teil ging in
die Hauswand hinter uns. Dann war es vorbei.
Ich hatte bereits das Handy am Ohr und verständigte die
Kollegen aus Essen. Mochte dessen provisorischer Chef auch zurzeit
nicht mehr in seinem Büro sein - irgendjemand war jetzt dort und
nahm meinen Notruf entgegen.
Die Einsatzkräfte der Essener Polizei rückten wenig später von
ganz alleine an. Die Schüsse waren vermutlich so laut gewesen, dass
man sie selbst auf dem nächstgelegenen Polizeirevier unmöglich
hätte überhören können.
Vorsichtig tauchten wir aus der Deckung.
„Das kam von irgendeinem der umliegenden Gebäude”, meinte
Rudi.
Einige quaderförmige Wohnblöcke und Bürohäuser standen vor
uns, davor kleinere Gebäude. Von wo der Beschuss genau gekommen
war, konnte keiner von uns wirklich ausmachen.
Andererseits musste man kein Ballistiker sein, um anhand der
Treffer an unserem SUV zu sehen, dass die Schüsse nicht nur von
einem Ort aus abgegeben worden waren.
Ich ließ den Blick schweifen und hoffte, irgendwo noch
jemanden entdecken zu können. Eine Bewegung, einen Schatten -
irgendetwas. Aber da war nichts. Gar nichts.
„Die haben sich in aller Ruhe davongemacht, während wir noch
auf dem Boden lagen”, stellte ich fest, während ich mir ein paar
Plastiksplitter von der Kleidung wischte. Sie waren rot und kamen
von einem der Rücklichter des SUV, das die Schüsse vollkommen
zerfetzt hatten.
„Soll das vielleicht so etwas wie eine Warnung sein oder waren
das verdammt miese Schützen?”, meinte Rudi.
„Jedenfalls lassen wir das nicht auf sich beruhen”, knurrte
ich finster. „Anscheinend kann in dieser Stadt jeder machen, was er
will - aber diese Zeiten sind nun vorbei!”
10
Sirenen heulten, Einsatzfahrzeuge brausten zum Ort des
Geschehens. Es dauerte nur Minuten, dann wimmelte es vor dem
‘Hopfengruß’ nur so von uniformierten Polizisten.
„Michael Oldach”, stellte sich uns der Einsatzleiter vor. Er
trug eine Schutzweste. „Am besten Sie gehen aus dem Schussfeld. Die
Täter sind zwar wahrscheinlich längst über alle Berge, aber es
könnte auch sein, dass die noch irgendwo hier auf Sie
lauern.”
„Das glaube ich nicht”, sagte ich. „Es ist so, wie Sie
vermuten. Die sind längst weg.”
„Dann sollten Sie jetzt aber trotzdem erst einmal eine
Schutzweste anlegen”, beharrte Oldach.
Er war ein untersetzter Mann mit dunklem Schnauzbart.
Ich zeigte ihm meinen Ausweis.
„BKA-Kriminalinspektor Harry Kubinke. Und dies ist mein
Kollege Kriminalinspektor Rudi Meier.”
„Ah, ich habe davon gehört …”
„Was haben Sie gehört?”
„Dass jemand aus Berlin kommen soll, um herauszufinden, um die
näheren Umstände dieser … Sache herauszufinden.”
„Dieser Sache?
„Ich meinte den Amoklauf unseres Chefs. Das ist für den Ruf
unserer Stadt so furchtbar, Sie können sich das gar nicht
vorstellen.”
„Es wundert mich, dass Sie davon wissen, dass man uns damit
beauftragt hat, den Fall aufzuklären.”
„Das hat sich hier schnell herumgesprochen. Es gibt ein paar
ehemaliger Polizisten aus dem Essener Polizeipräsidium, die später
zum BKA gewechselt sind. Insofern gibt es da Verbindungen.”
„Ich verstehe”, sagte ich.
Weitere Einsatzkräfte trafen etwas später ein. Zu diesem
Zeitpunkt suchten die anderen Polizisten bereits die umliegenden
Gebäude ab.
Ein Einsatzwagen der Notfallambulanz war ebenfalls vorsorglich
gerufen worden, aber da niemand verletzt war, konnte der umgehend
wieder abgezogen werden.
Auch Timo Gottfriedson, der kommissarisch eingesetzte
Dienststellenleiter erreichte den Ort des Geschehens, und wir
lernten ihn auf diese Weise persönlich kennen. Er trug einen
Smoking mit Fliege.
„Die Meldung, dass man auf Sie geschossen hat, erreichte mich
auf dem Weg zu einer Wohltätigkeits-Gala”, sagte Gottfriedson.
„Deshalb mein Aufzug. Es geht um die Unterstützung von
Verbrechensopfern, die dauerhafte Schäden davontragen, bei denen
die Täter dafür aber nicht aufkommen können, weil sie
zahlungsunfähig sind. Ich sollte eine kleine Rede halten.” Er sah
auf die Uhr. „Und je nachdem, welchen Verlauf das hier nimmt,
schaffe ich das vielleicht sogar noch.”
„Es freut mich jedenfalls, Sie kennenzulernen”, sagte ich.
„Ich bin Kriminalinspektor Harry Kubinke und dies ist mein Kollege
Kriminalinspektor Meier.”
„Tja, wir stehen hier alle ein bisschen unter Schock, wenn Sie
verstehen, was ich meine.“
„Sie meinen den Amoklauf Ihres Kollegen”, schloss ich.
Gottfriedson nickte.
„Ich habe lange mit Kevin Marenberg zusammengearbeitet. Wir
waren schon als Kommissare im Außendienst jahrelang Partner, und
ich wusste immer, dass ich mich auf niemand so verlassen kann wie
auf Kevin. Und dann das! Ich hätte es kaum geglaubt, wenn ich nicht
die Bilder der Überwachungskameras in dem Einkaufszentrum gesehen
hätte. Ein Irrer, der schießend durch die Gegend läuft und leider
nur durch ein paar Kugeln daran gehindert werden konnte, noch mehr
Menschen zu verletzen oder zu töten.” Gottfriedson schüttelte
energisch den Kopf. „Sie können mir glauben, keiner bei uns wird
damit so schnell fertig werden. Ich meine, Verbrechen sind unser
Alltag. Aber wenn ein Polizist so etwas tut, dann verunsichert das
die ganze Stadt. Auf wen soll man sich dann noch verlassen? Wem
vertrauen?”
„Ja, ich verstehe gut, was Sie meinen”, sagte ich.
„Aber über dieses Thema werden wir uns sicher morgen noch
ausführlich unterhalten. Zunächst einmal bin ich froh, dass Ihnen
nichts passiert ist.”
„Es war knapp”, sagte Rudi.
„Und wir hatten vermutlich einfach Glück”, ergänzte ich.
„Sie können davon ausgehen, dass meine Leute alles tun werden
werden, um den oder die Schützen zu ermitteln, die auf Sie das
Feuer eröffnet haben”, versprach Gottfriedson. „Ich habe dafür
gesorgt, dass sämtliche verfügbaren Leute sofort aus dem Feierabend
gerufen werden. Tut mir leid, ich hätte Ihnen eine freundlichere
Begrüßung in Essen gewünscht.”
„Haben Sie irgendeine Idee, wer es auf uns abgesehen haben
könnte?”
„Wir haben es in den letzten Jahren hier in Essen und Umgebung
mit einer verstärkten Aktivität rivalisierender Banden zu tun.
Insbesondere stehen wir vor dem Problem, dass sich hier in Essen
ein überregionales Zentrum des Designer-Drogenhandels
befindet.”
„Sprechen Sie von der Happy-Hour-Connection?”, fragte
ich.
„Ja, unter anderem. Aber das ist nicht die einzige
Organisation dieser Art. Auch andere Banden sind sehr aktiv. Und
von Psychodrogen bis zu gefälschten Medikamenten aller Art haben
die alles im Angebot, was man mit einem guten chemischen Labor
herstellen kann. Über Clubs und zum Teil auch über das Internet
läuft dann die Verteilung. Die dazugehörige Infrastruktur zur
Geldwäsche ist leider auch vorhanden und mittlerweile gehen diese
Organisationen einfach so geschickt vor, dass es sehr schwer
geworden ist, sie mit den Mitteln der Justiz wirksam zu
bekämpfen.”
„Was wollen Sie mir jetzt damit sagen? Dass diese Leute auf
zwei BKA-Kriminalinspektoren schießen, die gerade aus Berlin
gekommen sind, weil sie denken, dass wir derentwegen hier
sind?”
„Vielleicht haben sie Sie mit jemand anderem verwechselt.
Vielleicht denken die auch genau das, was Sie gerade vermutet
haben. Wer will das schon im Einzelnen wissen?” Gottfriedson zuckte
mit den Schultern. „Fakt ist, dass diese Banden immer wieder
versuchen, einzelne Ermittler oder ganze Abteilungen
einzuschüchtern. Wir haben schon Familienangehörige unter
Polizeischutz stellen müssen.”
Rudi deutete auf den Wagen.
„Wäre jedenfalls ganz angenehm, wenn wir ein anderes Fahrzeug
zur Verfügung gestellt bekommen könnten.”
„Natürlich”, sagte Timo Gottfriedson. „Das werde ich sofort
veranlassen. Wenn Sie wollen, steht hier in einer Viertelstunde ein
anderer Wagen zu ihrer freien Verfügung.”
„Danke”, sagte Rudi.
„Sagen Sie, an welches schwarze Brett haben Sie eigentlich die
Nachricht geheftet, dass jemand wie wir nach Essen kommt?”, fragte
ich Gottfriedson schließlich noch.
Der kommissarische Dienststellenleiter sah mich zunächst etwas
erstaunt an.
„Wie meinen Sie das denn?”
„Ein Kollege hat mich gleich darauf angesprochen, und was
dieses Bleigewitter eben angeht, bin ich eigentlich auch nicht
geneigt, an einen Zufall oder eine Verwechslung zu glauben. Wer so
etwas organisieren kann, der weiß was er tut. Da gehe ich jede
Wette ein!”
Gottfriedson schwieg einige Augenblicke. Er wirkte etwas
verunsichert.
„Ich kann Ihnen Ihre Frage leider nicht beantworten. Zwischen
Polizei und BKA gibt es eine Reihe von persönlichen
Querverbindungen …”
„Ja, das haben wir schon gehört.”
„Ich stehe Ihnen jedenfalls jederzeit zur Verfügung. Und wenn
Sie irgendwelche Unterstützung brauchen, dann lassen Sie es mich
wissen. Ich mache Ihnen den Weg frei.”
„Wir werde mit Sicherheit darauf zurückkommen müssen.”
„Und ich würde Ihnen vorschlagen, ein anderes Hotel zu nehmen,
wenn Sie wirklich annehmen, dass das ein gezielter Anschlag auf Sie
beide war.”
11
Eine Viertelstunde später stand tatsächlich ein anderer SUV zu
unserer Verfügung. Wir packten unsere Sachen in den Kofferraum,
blieben aber noch etwas vor Ort, weil wir den weiteren Gang der
Ermittlungen am Tatort abwarten wollten. Rudi nutzte die Zeit, um
sein Laptop zu überprüfen. Unsere Sachen hatten zum Glück wenig
abbekommen. Eine Kugel war in meine Tasche gefahren und hatte mir
ein Unterhemd zerfetzt und das Deo zerspringen lassen. Jetzt roch
alles ziemlich intensiv. Aber nicht unangenehm. Immerhin hatte
Rudis Laptop nichts abbekommen.
Mein Kollege suchte uns online ein anderes Hotel. Dabei war es
wohl auch besser, wenn wir nicht die Hilfe unserer Kollegen in
Anspruch nahmen.
Schließlich wusste niemand von uns, ob und wenn ja, wo es da
eine undichte Stelle gab. Und vielleicht existierten ja nicht nur
personelle Überschneidungen zur Polizei von Essen, sondern auch zu
Organisationen wie der Happy-Hour-Connection. Auszuschließen war
das in meinen Augen inzwischen jedenfalls nicht mehr.
„Ich habe was Feines gefunden”, sagte Rudi schließlich.
„Hauptsache, du verrätst es niemandem, damit wir diesmal etwas
gastlicher empfangen werden“, meinte ich.
„Weißt du, was mich wundert?”
„Was?”
„Da sind schätzungsweise dreißig, vierzig Schuss abgegeben
worden. Vielleicht sogar noch mehr …”
„Mitgezählt habe ich nicht”, warf ich ein.
„Wenn die uns wirklich hätten töten wollen, dann hätten die
das auch geschafft, Harry.”
„Es fühlte sich andererseits aber auch nicht so an, als hätten
sie absichtlich daneben geschossen.”
„Das sollte es doch auch nicht.”
„Du meinst, da wollte uns jemand einschüchtern?”
„Das könnte sein.”
Mir fiel ein Wagen auf, der mit dem Schriftzug eines lokalen
Fernsehsenders versehen war. Ein Kamerateam samt Moderatorin
machten sich daran, einen Polizeimeister der hiesigen Polizei
anzusprechen.
„Ja, vielleicht ergibt das sogar einen Sinn”, murmelte ich.
„Jedenfalls, wenn man von etwas ablenken will.”
Timo Gottfriedson, der inzwischen nicht mehr in unserer Nähe
stand, hatte die Vertreter der lokalen Medien längst entdeckt und
ging ihnen sogar entgegen. Die ließen sich das natürlich nicht
entgehen. Bald stand er vor einem Mikrofon, schaute mit
angemessenem Ernst in die Kamera und gab ein improvisiertes
Statement zu den Geschehnissen ab.
Inzwischen hörten wir von einem Kollegen der Polizei, dass auf
dem Flachdach eines mehrstöckigen Gebäudes ganz in der Nähe
Patronenhülsen gefunden worden waren. Außerdem waren inzwischen
Erkennungsdienstler aus Essen dabei, Projektile sowohl aus dem
zerschossenen SUV, als auch aus der dahinterliegenden Hauswand zu
sichern.
„Hast du viel Vertrauen in die Arbeit der Leute?”, fragte mich
Rudi.
„Wenn wir die Projektile erst nach Berlin schicken, verlieren
wir zu viel Zeit, bis wir Ergebnisse haben”, meinte ich.
„Ja, aber ob wir hier die richtigen Ergebnisse
bekommen.”
„Wieso nicht?”
„Harry, es ist schließlich nicht der erste Fall hier, in dem
es Unregelmäßigkeiten gab und zum Beispiel Beweise plötzlich
verschwunden sind.”
In diesem Punkt musste ich Rudi natürlich recht geben.
Allerdings hieß das noch nicht, dass man nun unbedingt an eine
allumfassende Verschwörung denken musste. Dass die gesamte Polizei
und auch noch der Erkennungsdienst, in der Sache mit drinsteckte,
konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Vielleicht wollte ich mir
das einfach nur nicht vorstellen.
„Ich habe folgenden Vorschlag, Rudi: Wir beschlagnahmen ein
paar der Projektile, um sie nach Quardenburg zu schicken. Um den
Rest kümmern sich die Kollegen in Essen.”
„Meinetwegen.”
„Dann dürfte auch dein misstrauisches Herz zufriedengestellt
sein.”
„Hey, sonst bist du doch derjenige, der überall das Gras
wachsen hört, Harry!”
12
Wir fuhren zu unserem neuen Hotel. Es lag am Stadtrand, und
wir machten einen Umweg quer durch Essen, um zu verhindern, dass
uns jemand folgte. Vollkommen ausschließen kann man das natürlich
nie. Aber in den Jahren, die Rudi und ich im Außendienst in den
Straßenschluchten von Hamburg verbracht hatten, konnten wir
natürlich in dieser Hinsicht einiges an Erfahrung sammeln. Man
bemerkt so etwas dann. Meistens zumindest.
In diesem Fall schien es so zu sein, dass sich niemand an
unsere Fersen geheftet hatte.
Bevor wir das Hotel aufsuchten, machten wir noch einen kleinen
Abstecher und sorgten dafür, dass ein paar Projektile und
Patronenhülsen mit Hilfe eines privaten 24-Stunden-Kurierdienstes
nach Quardenburg gesandt wurden. Ich informierte Dr. Förnheim mit
einer Mail, dass Arbeit auf ihn zukam.
„Zumindest könne wir dann hinterher vielleicht beweisen, dass
etwas nicht ordentlich abgelaufen ist”, meinte Rudi.
„Wir müssen zuerst klären, was mit Kevin Marenberg unmittelbar
vor seinem Amoklauf geschehen ist”, sagte ich.
„In den Unterlagen steht, dass er einen freien Tag hatte”
sagte Rudi. „Zumindest geht das aus den Dienstplänen hervor, die
wir zur Verfügung haben. Inwieweit die allerdings vollständig sind,
steht natürlich auf einem anderen Blatt.”
Ich sah auf die Uhr.
„Das Einkaufszentrum, in der Marenberg herumgeballert hat,
sehen wir uns morgen an. Möglichst zur selben Uhrzeit, zu der der
Amoklauf geschah. Aber mit der Familie von Marenberg können wir
vielleicht schon heute Abend beginnen.”
„Du willst sie befragen?”
„Rudi, wenn er einen freien Tag hatte, wäre es doch eigentlich
logisch, dass er ihn zu Hause verbracht hat.”
„Auch dazu habe ich in den Daten, die uns bislang zur
Verfügung stehen, vergeblich etwas gesucht. Es sind keine Angaben
dazu gemacht worden. Und die Ehefrau von Dienststellenleiter
Marenberg wurde entweder nicht vernommen oder man hat uns die
Aussage nicht mitgeliefert.”