Commissaire Marquanteur
und die Anarchisten: Frankreich Krimi
von Alfred Bekker
Bertrand Aspesse will aussteigen und stellt sich der Polizei.
Nach eigenen Aussagen gehört er einer Terror-Organisation von
Globalisierungsgegnern an, die sich LIBERTÉ ANARCHISTE nennt. Diese
Organisation ist zu allem entschlossen und geht über Leichen. Den
Commissaires Marquanteur und Leroc bleibt nicht viel Zeit, die
Verschwörer aufzuspüren, um rechtzeitig zu verhindern, dass sie
ihren perfiden Plan umsetzen.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen,
Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb
er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry
Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica
Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick,
Jack Raymond, Jonas Herlin, Dave Branford, Chris Heller, Henry
Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Cassiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
www.AlfredBekker.de
Folge auf Facebook:
https://www.facebook.com/alfred.bekker.758/
Folge auf Twitter:
https://twitter.com/BekkerAlfred
Erfahre Neuigkeiten hier:
https://alfred-bekker-autor.business.site/
Zum Blog des Verlags!
Sei informiert über Neuerscheinungen und Hintergründe!
https://cassiopeia.press
Alles rund um Belletristik!
1
Der Helikopter trug das Emblem von Radio Marseille, dem Sender
mit den ausführlichsten Stauberichten in Marseille. Zwei Männer
befanden sich in der Kabine.
„Wir sind jetzt genau vierhundert Meter vom Polizeipräsidium
in La Canebière entfernt“, meinte der Pilot. „Näher möchte ich
nicht herangehen.“
„Das reicht auch“, erwiderte der zweite Mann. Er verzog das
Gesicht zu einem dünnen Lächeln. Die oberen beiden Schneidezähne
fehlten ihm. Er blickte auf einen Kontrollschirm. Seine Finger
glitten über die dazugehörige Tastatur.
Das Bild des Gebäudekomplexes wurde herangezoomt und mit den
Plänen verglichen, die im Rechner gespeichert waren. Eine
Markierung blinkte auf.
„Hast du ihn?“, fragte der Pilot ungeduldig.
„Ich habe seine Zelle, Leonard. Jetzt sehe ich mir an, ob
jemand drin ist.“ Er schaltete den Infrarot-Modus ein, der ein
Abbild verschiedener Wärmegrade lieferte. Auf diese Weise konnte
man einen Menschen auch durch Wände hindurch sehen.
„Feuer“, murmelte der Kerl mit der Zahnlücke dann und drückte
auf einen bestimmten Knopf. Aus einem verdeckten Abschussrohr
schoss eine Granate heraus. Sie war weitaus schneller als der
Schall. Man würde die Detonation im Gebäude erst hören, wenn das
Geschoss bereits durch die Wand gedrungen war.
2
Eine Viertelstunde zuvor …
François Leroc und ich saßen zusammen mit Oberstaatsanwalt
Prosper Valmont und Monsieur Marteau, Commissaire général de
police in einem der Verhörräume unseres Präsidiums am La
Canebière.
Durch eine Spiegelscheibe konnten wir beobachten, wie unsere
Vernehmungsspezialisten Derek Bajere und Pascal Montpierre gerade
in die letzte Phase eines Lügendetektortests gingen. Der Mann, um
den es ging, war kein gewöhnlicher Gefangener. Er hieß Bertrand J.
Aspesse, gehörte eigenen Aussagen nach einer Terror-Organisation
von Globalisierungsgegnern an, die sich LIBERTÉ ANARCHISTE nannte.
Die Globalisierung sei nichts anderes als eine Ausdehnung des
Einflusses der USA, so das Credo dieser Gruppe. Aber nach der
Auffassung von LIBERTÉ ANARCHISTE würde das letztlich zu einer Art
weltweitem Superstaat führen, den man schon in der Entstehungsphase
bekämpfen müsste, wollte man ihn noch verhindern.
Wir wussten leider nicht viel über LIBERTÉ ANARCHISTE.
Die Organisation wurde mit einigen spektakulären Anschlägen in
Verbindung gebracht. Vor zwei Wochen war vor einer Marseiller Bank
eine Autobombe gezündet worden, während gleichzeitig ein
Hacker-Angriff auf die Systeme der Börsen von Marseille, Paris,
Tokio, London und Frankfurt stattgefunden hatten. Der
internationale Kapitalfluss war für LIBERTÉ ANARCHISTE so etwas wie
das Symbol dessen, was die Anhänger dieser Organisation
ablehnten.
Ein hoher Manager eines Software-Konzern war mitsamt seiner
Familie und seinem Haus in die Luft gesprengt worden. Bei mehreren
Sendern waren Bekenneranrufe von LIBERTÉ ANARCHISTE-Mitgliedern
eingegangen.
Inzwischen war es für Terroristen vom Schlage der LIBERTÉ
ANARCHISTE-Leute richtig schwer geworden, die Aufmerksamkeit von
Medien und Öffentlichkeit auf sich zu lenken. Aber es lag auf der
Hand, dass LIBERTÉ ANARCHISTE den Kampf nicht aufgeben würde.
Allenfalls konnte es sein, dass bestehende Pläne verschoben
wurden – in eine Zeit etwa, in der die Sicherheit nicht mehr ganz
so groß geschrieben wurde und beispielsweise Politiker sich wieder
öfter und ungeschützter in die Öffentlichkeit wagten.
Bertrand J. Aspesse war ein hochgewachsener Mann mit dunklen
Haaren. Er war 35 Jahre alt.
Aspesse war Sprengstoffspezialist bei der Armee gewesen, bevor
er zur Überzeugung gelangte, dass der Staat an sich (und der
französische im Besonderen) abgeschafft gehörte.
Bei LIBERTÉ ANARCHISTE hatte er vor allem bei der Vorbereitung
von Sprengstoffattentaten mitgewirkt, wie er uns mitgeteilt
hatte.
Das Besondere war, dass er sich freiwillig in unsere Hände
begeben hatte.
Andernfalls hätte es wohl auch noch Jahre dauern können, bis
wir ihm auf die Spur gekommen wären.
„Ganz gleich, was dieser Test auch aussagen mag – ich glaube,
dass Aspesse lügt“, meinte François in die Stille hinein. Er trank
dabei seinen Kaffeebecher leer.
„Sie sollten versuchen, etwas unvoreingenommener zu sein,
Commissaire Leroc“, meldete sich Oberstaatsanwalt Prosper Valmont
zu Wort.
François zuckte mit den Schultern.
Was wusste ein Mann wie Valmont schon von dem Instinkt, den
man sich im Außendienst erwarb? Den Instinkt für die Gefahr und
dafür, ob jemand die Wahrheit sagte oder einen nur an der Nase
herumführen wollte!
Valmont hob die Augenbrauen.
„In Aspesses Aussagen werden detaillierte Angaben über
bevorstehende Anschläge von LIBERTÉ ANARCHISTE gemacht. Es ist der
erste Aussteiger aus dieser Gruppe. Für seine Sicherheit will er
uns sein gesamtes Wissen überlassen. Ich finde, dagegen ist nichts
einzuwenden.“
„Vorausgesetzt, der Test fällt positiv aus“, meinte Monsieur
Marteau nüchtern. Er wirkte abwesend. Die Hände waren in den
Taschen vergraben.
Ich hatte die Protokolle von Aspesses ersten Vernehmungen
gelesen.
Danach plante LIBERTÉ ANARCHISTE angeblich Anschläge mit
Plutonium und Tollwuterregern. Im Fadenkreuz der Terroristen stand
dabei die Stadt Marseille, weil sie nach Lesart dieser Leute das
Zentrum einer globalistischen Verschwörung darstellte, die es
abzuwehren galt.
Ich verstand gut, in welcher Zwickmühle sich der
Oberstaatsanwalt befand. Er hatte die Wahl zwischen Pest und
Cholera. Wenn er Aspesse glaubte und auf seine Bedingungen einging,
riskierte er womöglich, einem Verbrecher zu helfen. Denn zumindest
wegen Beihilfe zum Mord wäre Aspesse unter normalen Umständen dran
gewesen. Aber wenn eines der angekündigten Attentate dann
tatsächlich durchgeführt wurde und sich herausstellte, dass man es
mit Aspesses Hilfe hätte verhindern können, müsste nicht nur
Oberstaatsanwalt Valmont seinen Hut nehmen.
Ich betrachtete Aspesses Gesicht durch die Spiegelscheibe. Der
LIBERTÉ ANARCHISTE-Überläufer wirkte sehr ruhig und gefasst. Kein
bisschen Nervosität war ihm anzusehen. Er schien genau zu wissen,
was er tat.
„Sieht so ein Mann aus, der die größte Angst vor seinen
eigenen Leuten hat?“, raunte François mir zu.
Ich zuckte die Schultern.
„Welches Motiv sollte er sonst haben, zu uns
überzulaufen?“
„Gezielte Desinformation vielleicht.“
Es dauerte noch ein paar Minuten, dann war der Test
abgeschlossen. Pascal Montpierre machte uns ein entsprechendes
Zeichen. Nachdem Aspesse durch die Tür trat, nahmen François und
ich ihn in Empfang. Aspesse trug keine Handschellen.
Er blieb vor dem Oberstaatsanwalt stehen und sah Valmont
direkt in die Augen. Aspesse war einen halben Kopf größer als der
Staatsanwalt.
„Sie werden feststellen, dass ich nichts als die Wahrheit
gesagt habe“, murmelte er düster.
„Das hoffe ich – für Sie!“
„Für Ihre Entscheidungen sollten Sie sich nicht allzu lange
Zeit lassen. LIBERTÉ ANARCHISTE schläft nicht!“
„Möglicherweise blasen Ihre Genossen sämtliche Aktionen ab“,
meinte Valmont.
Aspesses Zähne blitzten.
„Das Gegenteil wird der Fall sein. Jetzt, da ich in Ihre Hände
gefallen bin, werden sie versuchen, so viel wie möglich unserer
Pläne noch durchzuführen.“
„Sie sagen immer noch unsere Pläne“, stellte Monsieur Marteau
fest. Sein Tonfall war sachlich und nüchtern.
Aspesse wandte sich zum Chef unseres Präsidium herum.
„Alte Gewohnheiten legt man nicht von heute auf morgen
ab.“
Monsieur Marteau zuckte die Achseln.
„Mag sein.“
„Noch weiß LIBERTÉ ANARCHISTE nicht, dass ich ein Überläufer
bin. Jedenfalls hoffe ich das und Sie sollten auch auf diese Karte
setzen. Sie könnten also einen gewissen Vorsprung gewinnen. Eine
Zeitspanne, in der die LIBERTÉ ANARCHISTE-Leute noch glauben, dass
ich vielleicht die Aussage verweigere und mir von Ihren
Verhörspezialisten jedes Detail aus der Nase gezogen werden muss
…“
Monsieur Marteau wandte sich an François und mich.
„Bringen Sie ihn in seine Gewahrsamszelle.“
„Ja, Chef.“
„Wir sehen uns nachher zur Besprechung.“
Wir nahmen Aspesse in die Mitte und führten ihn ab. In unserem
Präsidium verfügen wir über einige sogenannte Gewahrsamszellen, in
denen Verdächtige und kurzfristig Verhaftete eingesperrt werden
können. Hier war auch Aspesse untergebracht.
Vor seiner Zelle blieben wir einen Augenblick stehen. Er sah
mich an.
„Sie haben keine Ahnung, wozu LIBERTÉ ANARCHISTE fähig ist,
Commissaire!“
„Aber Sie!“
„Ich gehörte zu Ihnen.“
„Bislang sind mir die Motive für Ihren Sinneswandel nicht so
recht klar.“
„Ich habe erkannt, dass der Weg von LIBERTÉ ANARCHISTE ein
Irrweg war. Die politischen Ziele dieser Organisation teile ich
nach wie vor. Aber ich lehne es ab, Unschuldige dafür büßen zu
lassen.“
„Späte Erkenntnis!“
„Besser spät als nie. Und außerdem verdanken Sie dieser späten
Erkenntnis vielleicht die einzigartige Möglichkeit, Verbrechen zu
verhindern, von deren Ausmaß hier in diesem ehrenwerten Gebäude
wohl niemand eine rechte Vorstellung zu haben scheint. Was glauben
Sie, was es allein schon bedeuten würde, wenn die Wasserversorgung
eines Komplexes wie diesem hier mit Plutonium oder Tollwut-Erregern
versetzt werden würde?“
„Sagen Sie es mir!“
„Das Chaos würde ausbrechen. Eine angeblich so mächtige
Organisation wäre innerhalb kürzester Zeit enthauptet – zumindest
hier im Marseille. Aber etwas Vergleichbares ließe sich ja auch
landesweit organisieren. Die ostdeutsche Stasi verwendete
Tollwut-Erreger als Mordwaffe.“
„Ich habe davon gehört.“
„Das Tückische ist, dass die meisten Ärzte gar nicht darauf
kommen, dass der Betreffende unter Tollwut leiden könnte. Die
Symptome sind zunächst sehr unspezifisch, bis es dann zu spät ist.
Und über die Wirkung von Plutonium muss ich Ihnen ja wohl nichts
sagen.“
„Warten wir die Testergebnisse ab“, mischte sich François
ein.
Aspesse drehte sich kurz zu ihm um, nickte dann langsam.
Anschließend trat er in seine Zelle. Die Gittertür schloss
sich hinter ihm.
Wir drehten uns um. Ich hörte noch, wie sich Aspesse auf seine
Pritsche warf.
Nur ein paar Schritte hatten wir uns entfernt, da verwandelte
sich Aspesses Zelle in eine Flammenhölle.
Wir warfen uns zu Boden. Eine Welle aus Druck und Hitze fegte
über uns hinweg. Ich schützte das Gesicht mit dem Arm, lag
bäuchlings auf dem Fußboden. Die Wucht der Detonation war derart
gewaltig, dass die Zellentür aus ihren Halterungen herausgesprengt
worden war.
Wir rappelten uns auf. Ein einziger Blick zeigte schon, dass
wir für Aspesse nichts mehr tun konnten.
Die Explosion hatte ihn regelrecht zerrissen.
3
Der Helikopter flog einen Bogen über das Zentrum, streifte den
Parc de la Ville und bewegte sich dann Richtung Nordosten.
Der Mann mit der Zahnlücke deaktivierte das
Infrarot-Zielgerät.
„Hey, Mann, wir haben’s geschafft!“
„Hat geklappt wie geschmiert“, nickte der Pilot. Der Helm ließ
nur einen Teil der Kinnpartie von seinem Gesicht frei.
Die gute Laune war ihm trotzdem deutlich anzusehen.
Er steuerte den Heli über Marseille Richtung Küste zu.
Dunst hing über dem Wasser.
Der Landeplatz lag irgendwo an der Küste auf einer Lichtung im
Wald. Dort hatten sie einen Geländewagen abgestellt, mit dem sie
zurück nach Marseille gelangen konnten.
„Schade, dass wir die Maschine vernichten müssen“, meinte der
Pilot. „War schließlich verdammt schwer, das Ding zu
organisieren.“
„Gehört leider mit zum Auftrag“, erwiderte der Mann mit der
Zahnlücke.
„Ja, ich weiß. Unsere Auftraggeber wollen nicht, dass man
irgendwelche Spuren findet.“
„Ist doch verständlich, oder? Und wir kriegen schließlich Geld
genug für die Sache.“
„Geld genug, um den Verstand einfach auszuknipsen, meinst du?“
Der Pilot lachte heiser. „Hör zu, wir nehmen das Geld und lassen
den Heli, wie er ist! Den können wir später noch zu Geld
machen!“
„Ich weiß nicht …“
„Hey, Mann, mach dir nicht in die Hosen! Die wissen doch
nichts von unserem Landeplatz!“
„Wenn die herauskriegen, dass wir uns nicht an die Anweisungen
gehalten haben, werden die ziemlich sauer!“
„Feigling!“
4
„Der Tod von Aspesse wirft uns in der Bekämpfung dieser
Organisation namens LIBERTÉ ANARCHISTE wieder erheblich zurück“,
stellte Monsieur Marteau auf einer eilig einberufenen Sitzung in
seinem Besprechungszimmer fest. Außer François und mir waren noch
eine Reihe weiterer Kollegen anwesend, darunter die Commissaires
Stéphane Caron und Boubou Ndonga. Auch unser Innendienstler Maxime
Valois sowie die beiden Verhörspezialisten Bajere und Montpierre
hatten sich eingefunden. Sie hatten Aspesse ausführlich vernommen
und außerdem auch den Lügendetektortest ausgewertet. Ihrer Analyse
nach war Aspesse ein absolut glaubwürdiger Zeuge.
Über mehrere Tage hinweg waren mit ihm Vergleichsmessungen
durchgeführt worden, so dass das Ergebnis auf relativ sicheren
Füßen stand.
Umso bedauerlicher, dass Aspesse seine Aussagen vor keinem
Gericht der Welt mehr würde wiederholen können.
Und das Schlimmste war, dass es für uns jetzt keine
Möglichkeit mehr gab, etwas über die zukünftigen Pläne von LIBERTÉ
ANARCHISTE zu erfahren. Jegliche Versuche, an diese Gruppe nahe
genug heranzukommen, um V-Leute einschleusen zu können, war bislang
kläglich gescheitert.
Maxime Valois gab uns eine Zusammenfassung der bisherigen
Erkenntnisse.
„Es wurde von einem Helikopter aus auf die Zelle geschossen,
in der Aspesse untergebracht war. Aufnahme unserer
Video-Überwachungsanlagen belegen das, aber auch zahlreiche
Zeugenaussagen aus anderen Stockwerken des Bundesgebäudes“,
berichtete Maxime. „Der Heli trug die Kennung des Senders Radio
Marseille. Aber dessen Helis befanden sich zu diesem Zeitpunkt
nachweislich ganz woanders.“
„Ein Fake also“, stellte François fest.
„Sie hatten eine perfekte Tarnung“, erklärte Maxime
Valois.
„Und außerdem mussten sie gar nicht besonders nahe an das
Gebäude heran. Nicht weiter als einige hundert Meter.“
„Wie konnten sie wissen, in welcher Zelle sich Aspesse
befand?“, fragte ich. „Sie konnten doch schließlich nicht durch
Wände sehen!“
Maxime verzog das Gesicht.
„Vielleicht konnten sie das doch, Pierre.“
„Was?“
„Letzte Gewissheit haben wir, wenn die Kollegen der
Spurensicherung ihre Laboruntersuchungen abgeschlossen haben. Aber
bislang vermuten wir, dass ein ganz bestimmter Projektiltyp
verschossen wurde, der von Spezialeinheiten der Armee verwendet
wird, die sich auf den Häuserkampf spezialisiert haben. Die
Geschosse werden von Hubschraubern abgeschossen und normalerweise
in Verbindung mit Infrarot-Scannern eingesetzt, mit deren Hilfe
Temperaturunterschiede in einer Tiefe von mehreren Metern sichtbar
gemacht werden. Da ein Mensch wärmer ist als eine Wand, hebt er
sich als Umriss deutlich ab. Für die Annahme, dass ein solches
Gerät verwendet wurde, spricht übrigens auch die Tatsache, dass
Aspesse genau getroffen wurde. Die Explosion hätte er andernfalls
überleben können, denn die war nicht so stark, wie man auf den
ersten Blick annimmt.“
Maxime zeigte uns die Projektion einer schematischen
Darstellung der Zelle. Er deutete auf einen Punkt an der
Zellentür.
„Hier befand sich Aspesse, als er starb.“
„Ja, wir hatten ihn gerade eingesperrt“, nickte ich.
Maxime Valois deutete dann auf einen Punkt an der Außenwand.
„Hier trat das Projektil ein. Die Explosionswirkung entstand
durch die Hitzeentwicklung beim Durchschlagen der Wand. Diese
Geschosse haben eine Ummantelung aus Wolfram und verfügen über eine
enorme Durchschlagskraft, die mühelos durch Beton oder auch
Panzerplatten hindurchdringt. Die Wand besteht aus Beton, ein
Material das relativ weich ist. Die entstehende Hitze und die beim
Durchschlag ausgelöste Explosion halten sich in Grenzen. Anders bei
einem Panzer, der aus einem härteren Material besteht. Dann ist die
Reibung höher. Jedenfalls durchschlug das Geschoss Aspesses Körper,
nachdem es durch die Wand gedrungen war. Ohne Infrarot-Peilung wäre
das wohl kaum möglich gewesen.“
„Es bleibt trotzdem die Frage, wie die Attentäter wissen
konnten, in welcher Zelle sich Aspesse befand“, stellte Monsieur
Marteau klar, „schließlich sind Menschen auf Infrarotbildern so gut
wie gar nicht zu unterscheiden.“
Maxime nickte. Er machte ein ernstes Gesicht.
„Wir checken unsere Computersysteme.“
Monsieur Marteau hob die Augenbrauen.
„Sie denken, dass sich da jemand hineingehackt hat?“
„Ja. Schließlich hinterlässt auch die Zellenbelegung
elektronische Spuren.“
„Verstehe …“
„Wir fahnden jetzt natürlich nach gestohlenen
ARC-Infrarot-Zielpeilungsgeräten. Außerdem nach dem Helikopter und
denjenigen, die ihn umgebaut und geflogen haben.“
„Dieser Aspesse muss den Leuten von LIBERTÉ ANARCHISTE
ziemlich viel wert gewesen sein“, meinte ich. „Wer für einen Mord
derart viel Aufwand betreibt, muss gute Gründe dafür haben.“
Monsieur Marteau atmete tief durch.
„Sie fürchteten Aspesses Aussagen.“
„Warum sollen wir sie sich nicht noch etwas länger fürchten
lassen?“, meinte ich.
Alle Blicke waren in diesem Moment auf mich gerichtet. Auf
Monsieur Marteaus Stirn erschienen ein paar Falten, während er den
Kaffeebecher zum Mund führte und vorsichtig daran nippte.
„Wie soll ich das verstehen, Pierre?“
Ich fragte zurück: „Wer weiß bis jetzt von Aspesses
Tod?“
„Niemand, außer den an der Untersuchung beteiligten Beamten.
Offiziell ist noch nichts raus.“ Monsieur Marteau schaute auf die
Uhr an seinem Handgelenk. „In einer Stunde ist eine Pressekonferenz
angesetzt. Da werde ich Stellung beziehen müssen.“
„Ich schlage vor, Aspesses Tod geheim zu halten und
stattdessen zu behaupten, dass ein Commissaire ums Leben gekommen
sei.“
Monsieur Marteau musterte mich aufmerksam. Er kannte mich gut
genug, um meine Gedanken erraten zu können.
„Ich könnte die Rolle von Aspesse einnehmen“, bot ich an.
„Schließlich ist er mir von Statur, Alter und Aussehen
verhältnismäßig ähnlich. Für einen halbwegs talentierten
Maskenbildner dürfte es keinerlei Problem darstellen, mich so
herzurichten, dass die LIBERTÉ ANARCHISTE-Terroristen sehr nervös
werden, wenn sie mich mal ein paar Sekunden über den Fernsehschirm
huschen sehen.“
Monsieur Marteau trank seinen Kaffee aus, stellte den Becher
dann auf den Tisch.
„Mir gefällt der Gedanke nicht, aus Ihnen eine Zielscheibe zu
machen, Pierre!“
„Wir kommen an diese Leute sonst nicht heran, Monsieur
Marteau!“
„Trotzdem …“
„Wollen Sie etwa verantworten, dass tatsächlich
Tollwut-Erreger in die Trinkwasserversorgung geschleust werden oder
irgendjemand dieser Leute mit Plutonium herumspielt?“
„Sie riskieren viel, Pierre!“
„Nicht, wenn wir es geschickt anstellen!“
Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen im
Besprechungszimmer. Schließlich nickte unser Chef vorsichtig.
5
Der hagere Mann mit den dunklen Haaren nippte an seinem
Milchkaffee. Er trug eine Baskenmütze und eine Lederjacke, die über
die Hüften reichte. Die rechte Hand blieb ständig in der
Seitentasche vergraben.
Er war so gut wie allein in dem kleinen Bistro.
Er blickte zur Uhr.
In diesem Moment trat jemand durch die Tür.
Ein hochgewachsener, breitschultriger Kerl. Er verzog das das
Gesicht, als er den Mann mit der Baskenmütze sah. Eine Zahnlücke
wurde sichtbar. Die oberen beiden Schneidezähne fehlten.
Er trat an den Tisch des Mannes mit der Baskenmütze
heran.
„Bringen wir’s hinter uns, Jean!“
„Nicht so ungeduldig. Wollen Sie nicht noch einen Milchkaffee
mit mir trinken?“
„Nein!“
„Warum so gereizt?“
„Ich will mein Geld!“
Der Mann mit der Zahnlücke verschränkte die Arme. Er ließ kurz
den Blick durch den Raum schweifen, so als suchte er etwas oder
jemanden. Der Bistro-Inhaber sah verstohlen zu ihnen hinüber. Er
stand zu weit entfernt, als dass er genau hätte mithören können.
Aber dass Ärger in der Luft lag, bekam er zweifellos mit.
„Ich habe das Geld nicht hier, Theo!“, sagte Jean in
gedämpftem Tonfall.
„Sie wollen mich auf den Arm nehmen!“
„Keineswegs!“
„Ich warne Sie!“
„Sie quatschen zu viel, Theo“, erwiderte der Mann, der Jean
genannt worden war. „Und zu laut!“
Theo atmete tief durch. Sein Kopf war puterrot. Er stützte
sich mit den Armen auf dem Tisch ab und zischte leise: „Mein
Partner und ich haben den Job ausgeführt! Eine Granate mitten ins
Präsidium! So etwas hat es noch nie gegeben! Und jetzt wollen Sie
uns am langen Arm verhungern lassen!“
„Sie übertreiben!“
Theo Gesicht wurde sehr finster. Er drehte einen Stuhl herum
und setzte sich rittlings darauf.
„Ich bringe Sie um, wenn Sie uns um unser Geld
betrügen!“
Jean lächelte dünn.
„Man hat mich vor Ihrem Hang zum Jähzorn gewarnt, Theo.“ Jean
erhob sich. „Aber wenn ich vorhätte, Sie zu linken, dann wäre ich
jetzt gar nicht hier.“ Der Mann mit der Baskenmütze erhob sich.
„Kommen Sie mit mir, Theo!“
„Was haben Sie jetzt vor?“
„Sie bekommen jetzt, was Sie verdienen!“
„Wie soll ich das verstehen?“
„Na, so wie ich’s gesagt habe. Oder glauben Sie vielleicht,
ich lasse mich hier in aller Öffentlichkeit mit einem Geldkoffer
sehen?“
Jean legte ein paar Euronoten auf den Tisch, dann ging er ins
Freie. Theo folgte ihm. Sie gingen ein Stück die Straße entlang,
dann bogen sie in eine schmale Einfahrt ein. Zu beiden Seiten
ragten die Fassaden empor. Jean führte Theo in eine schmale
Nebenstraße. Natürlich galt Einbahnstraßenverkehr. Beide Seiten
waren so gut wie vollgeparkt.
„Da hinten steht mein Wagen. Der blaue Ford.“
„Wenn ich vorher gewusst hätte, mit was für einer Rostlaube
Sie fahren, dann hätte ich es mir noch einmal überlegt, ob ich mit
Ihnen Geschäfte machen soll, Jean.“
„El dinero está en el coche!“, murmelte Jean. „Pardon … Das
Geld ist im Wagen.“
„Kommen Sie aus Spanien?“
„Ich glaubte, ich sagte schon einmal, dass Sie zu viel
quatschen.“
Sie erreichten den blauen Ford. Jean öffnete den Kofferraum.
Die Hydraulik ließ die Klappe sanft hinaufgleiten.
Theo blickte hinein.
„Scheiße, da ist nichts drin!“
„Das ändert sich gleich!“
Theo blieb nicht einmal mehr Zeit, sich herumzudrehen.
Blitzschnell zog Jean eine Pistole mit aufgeschraubtem
Schalldämpfer unter der Lederjacke hervor und drückte ab. Ein
Geräusch wie ein kräftiges Niesen. Nicht lauter.
Theo Augen wurden groß. Er erstarrte. Verwunderung stand in
seinem Gesicht. Den zweiten Schuss setzte Jean direkt in der
Herzgegend auf. Theos Körper zuckte. Jean gab ihm einen Stoß, so
dass der Oberkörper direkt in den Kofferraum hineinsackte.
Der Killer mit der Baskenmütze steckte die Waffe ein, umfasste
Theos Beine und bog sie in den Kofferraum hinein.
Gut, dass ein Toter nicht mehr merkt, wenn ihm die Beine
gebrochen werden, dachte er zynisch und grinste. Er klappte den
Kofferraum zu und überlegte: Da geht es dir am Ende nicht
schlechter als all jenen langen Typen, deren Angehörige sich einen
Sarg in Übergröße nicht leisten können, Theo.
Jean drehte sich kurz um. Dann stieg er in den Ford, startete
und fuhr los.
Der Wagen war gestohlen. Niemand konnte über das Fahrzeug eine
Verbindung zu Jean ziehen. Dafür hatte der Killer gesorgt.
Schließlich war das nicht sein erster Job dieser Art.
Er ließ den blauen Ford davonbrausen, stoppte an der nächsten
Kreuzung und fädelte sich dort ziemlich grob in den Verkehr der
Hauptstraße ein.
Das Problem wäre gelöst!, ging es ihm durch den Kopf.
Jetzt gab es da nur noch Theos Partner, den er aufspüren
musste.
Während der Fahrt fingerte er eine Zigarette aus der Schachtel
in seiner Hemdtasche hervor und schaffte es sogar, sie sich
anzuzünden.
Allerdings hatte er nicht lange etwas von seiner
Zigarette.
Ein Lieferwagen fuhr ohne Vorwarnung aus einer Seiteneinfahrt
heraus. Jean trat in die Eisen. Der blaue Ford kam mit
quietschenden Reifen zum Stillstand. Die Zigarette rutschte ihm aus
dem Mund, fiel ihm auf die Hose und brannte ihm ein Loch in den
Stoff, bevor sie zu Boden fiel.
„Merde!“, schimpfte Jean.
Der Fahrer des Lieferwagens gestikulierte. Jean trat die
Zigarette wütend aus.
Nerven behalten!, dachte Jean.
Er fuhr hinter dem Lieferwagen her. Sein Ziel war eine einsame
Stelle am Wasser, wo er den Ford versenken würde.
Er drehte das Autoradio auf.
„… nach Auskunft von Oberstaatsanwalt Valmont und Monsieur
Marteau, Commissaire général de police, galt der Anschlag auf das
Präsidium in La Canebière einem Mann namens Bertrand J. Aspesse,
der sich selbst als Mitglied der Terrororganisation LIBERTÉ
ANARCHISTE bezeichnete. Aspesse befand sich in einer der
Gewahrsamszellen der Polizei. Bei dem Anschlag blieb er jedoch
unverletzt. Monsieur Marteau erklärte auf der mit einiger
Verspätung einberufenen Pressekonferenz, dass Aspesse den Anschlag
unverletzt überlebt habe. Allerdings sei ein Commissaire tödlich
getroffen worden. Wir schalten jetzt um zu unserem Mitarbeiter Tom
Baston, der sich live aus dem Rathaus meldet. Tom, die
Pressekonferenz ist gerade zu Ende gegangen …“
„So ist es.“
„Was kannst du den Hörern von Radio Marseille an Neuigkeiten
präsentieren?“
Jean schlug ärgerlich mit dem Handballen auf das
Lenkrad.
Verdammt!, durchzuckte es ihn. Die Jungs im Helikopter haben
offensichtlich Mist gebaut!
6
Einen Tag später …
Jean ließ sich mit dem Aufzug in den 20. Stock des Mantillon
Apartment Tour (Turm) tragen. Viele Geschäftsleute lebten hier in
exquisiten Apartments. Außerdem Börsenprofis. Von hier hatte man
eine perfekte Anbindung an den öffentlichen Verkehr. Außerdem waren
unter der dieser Adresse eine große Anzahl an Handel und
Wirtschaftsunternehmen zu finden. Die relative Nähe zu Hafen,
Flughafen und Börse machten diese Wohnlage zu einer mit der
teuersten in Marseille.
Jean trug eine Sporttasche über der Schulter.
Im gesamten Mantillon Tour wurden die Flure durch
Video-Kameras überwacht. Und auch das Innere der Aufzugkabinen
wurde auf diese Weise kontrolliert. Und im Gegensatz zu vielen
anderen Hochhäusern in Marseille verfügte der Mantillon Tour auch
über genügend Security Personal, das die Bildschirme überwachte und
nötigenfalls innerhalb weniger Augenblicke einen Einsatz
einleitete.
Jean trat aus der Liftkabine.
Ein Mann in dunklem Anzug und Aktenkoffer kam ihm entgegen,
Jean wich ihm aus. Der Mann murmelte ein hastiges: „Sorry!“
Jean ging den langen Korridor entlang. Seine Schritte wurden
durch den Teppichboden gedämpft. Schließlich erreichte Jean
Apartment Nr. 234.
Er holte eine Chipkarte aus der Jackentasche heraus, steckte
sie in den dafür vorgesehenen Schlitz. Das elektronische Schloss
reagierte sofort. Auf einem kleinen Display erschien die
Aufforderung, die Fingerkuppe des rechten Zeigefingers auf ein
bestimmtes Sensorfeld zu legen.
Kein Problem.
Jean trug hauteng anliegende Handschuhe aus Latex, in deren
Fingerkuppen die Abdrücke des wahren Apartmentbesitzers eingraviert
waren. Die Strukturen waren fein genug, um vom internen Rechner des
Erkennungssystems als die Abdrücke eines gewissen Monsieur Glacier
erkannt zu werden. Glacier war als Übersetzer tätig. Über die IT
des Arbeitgebers war Jean an dessen Daten gekommen. Für ihn ein
Kinderspiel.
ZUGRIFF BESTÄTIGT!, leuchtete es im Display auf.
Die Schiebetür glitt zur Seite. Jean trat ein. Augenblicklich
schloss sich die Tür wieder.
Jean setzte die Sporttasche auf den Boden, riss eine Automatik
mit Schalldämpfer unter der Jacke hervor. Dann durchschritt er den
kleinen Garderobenraum, trat die Tür zum Wohnzimmer auf.
Unglücklicherweise schien Glacier seinen freien Tag zu
haben.
Oder Jean war einfach zu früh.
Aber eigentlich hatte er gedacht, dass jemand wie Glacier um
diese Zeit längst aus der Wohnung verschwunden war.
Glacier saß im Morgenmantel auf der klobigen Ledercouch. Er
hielt eine Kaffeetasse in der Rechten, die Linke schlug eine
Illustriertenseite um. Glacier blickte auf, fixierte Jean mit einem
völlig überraschten Blick. Offenbar hatte er den Killer nicht
kommen hören.
Kein Wunder. Glacier trug einen drahtlosen Kopfhörer, der ihm
die Dolby Surround-Klänge seiner Stereoanlage in die Ohren
dröhnte.
Jean hob die Pistole, drückte ab. Der Schuss traf Glacier in
der Brust, nagelte ihn förmlich in die Ledercouch hinein. Die
Kaffeetasse schepperte zu Boden. Braune Kaffeebrühe kleckerte
herunter, dann ein Schwall von Blut. Jean schickte noch ein
Projektil hinterher, als er merkte, dass der Treffer nicht so exakt
war, wie er es eigentlich beabsichtigt hatte.
Ein Zucken ging durch den Körper des Übersetzers, als ihn der
zweite Treffer erwischte.
Jean atmete tief durch.
Glacier war gestorben, ohne noch einen Laut von sich geben zu
können.
Gut so.
Jean ging zur Fensterfront, blickte hinaus.
Freie Sicht!, dachte er. Zumindest mit einem geeigneteren
Zielerfassungsgerät, das in der Lage war, das Opfer nahe genug
heranzuzoomen. Kein Dunst, kein Nebel, nichts, was sein Blickfeld
auf den Eingang zu den Büros der Staatsanwaltschaft verdecken
konnte.
„Muy bien“, murmelte der Mann mit der Baskenmütze.
Ein zufriedenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Ein
Lächeln, das sofort wieder verschwand, als er das Geräusch aus dem
Bad hörte. Jemand hatte eine Dusche angestellt. Offenbar war
Glacier nicht allein gewesen.
Jean ging zur Badtür, öffnete sie vorsichtig.
Die Silhouette einer Frau wurde durch den Duschvorhang
hindurch sichtbar. Sie summte vor sich hin, verstummte dann.
Jean wartete nicht, bis sie zu schreien begann. Er feuerte
sofort.
Blut spritzte von innen gegen den Vorhang. Schwer fiel die
Leiche zu Boden. Die Dusche lief weiter.
Jean zog den Vorhang ein Stück zur Seite, stellte das Wasser
ab. Einen kurzen Blick nur gönnte er der Toten.
Hübsch sieht sie aus, wenn man von dem Loch zwischen ihren
Brüsten mal absieht!, ging es ihm zynisch durch den Kopf. Der
Killer hoffte nur, dass die Tote von niemandem vermisst
wurde.
Jean drehte sich um, verließ das Bad. Er holte die
Sporttasche, die er im Vorraum zurückgelassen hatte, kehrte in das
Wohnzimmer zurück und stellte sie auf den niedrigen
Wohnzimmertisch.
Dann öffnete er die Tasche, holte die Einzelteile des Stativs
hervor. Mit geübten Handgriffen hatte er es zusammengesetzt.
Als Nächstes steckte er ein Spezialgewehr zusammen, mit
Zielerfassung oben drauf.
Die Fenster im 20. Stock des Mantillon Tours ließen sich nicht
öffnen. Für frische Luft sorgte die Klimaanlage. Aber Jean hatte
vorgesorgt.
Mit einem Glasschneider begann er, ein Loch in die
Dreifachverglasung zu schneiden. Ein ziemlich mühsames Geschäft.
Aber schließlich hatte er es geschafft. Das Spezialgewehr wurde mit
einer besonderen Verschraubung am Stativ befestigt und der Lauf
durch das in das Glas geschnittene Loch gesteckt. Der Eingang zum
Büro des Oberstaatsanwalt befand sich wenige Augenblicke später in
seinem Fadenkreuz.
Sehr gut!, dachte er. So kriege ich dich doch noch, Aspesse!
Er kicherte in sich hinein. Hättest du eigentlich wissen müssen,
bevor du dich zum Verrat entschlossen hast, Bertrand Aspesse: Vor
LIBERTÉ ANARCHISTE gibt es kein Entkommen!
Nirgends!
Jetzt hieß es nur noch warten. Warten auf den
Kronzeugen.
7
Unser Maskenbildner hatte sich große Mühe gegeben, mein
Gesicht dem des Überläufers Aspesse anzugleichen. Was die Figur und
Haarfarbe anging, war ich dem Ex-LIBERTÉ ANARCHISTE-Mann ohnehin
sehr ähnlich.
Ich trug eine Lederjacke und einen Rollkragenpullover, der
eine Nummer größer war als normalerweise.
Darunter trug ich Kevlar. Monsieur Marteau hatte auf dieser
Sicherheitsmaßnahme bestanden.
François fuhr den grauen Opel, mit dem wir vor dem Büro des
Oberstaatsanwalts eintrafen. Neben mir saß Commissaire Fred Lacroix
auf der Rückbank. Er trug eine der Heckler & Koch-MPs, die bei
uns in Gebrauch waren.
„Wird schon schiefgehen, Pierre!“, meinte er mit einem
schwachen Grinsen.
Ein Pulk von Journalisten und Schaulustigen erwartete uns.
Doch dieser Hexenkessel war Teil unseres Plans. Wir hatten ihn
selbst angeheizt, indem wir entsprechende Hinweise an die Medien
lanciert hatten. Schließlich wollten wir, dass die LIBERTÉ
ANARCHISTE-Terroristen davon überzeugt waren, dass Bertrand Aspesse
noch am Leben war.
„Das wird diese Brüder ganz schön nervös machen, wenn sie
sehen, dass ihr Plan fehlgeschlagen ist!“, meinte Fred.
„Hoffen wir’s“, murmelte ich.
Der Wagen vor uns hielt. Die Türen sprangen auf. Vier unserer
Kollegen begannen zusammen mit den hierher beorderten Kollegen der
Polizei dafür zu sorgen, dass sich zwischen der Meute eine Gasse
bildete. Auch in dem Wagen, der uns gefolgt war, saßen unsere
Leute.
François trug einen Ohrhörer. Auf diese Weise hatte er
Funkkontakt zu den Kollegen. Ein kleines Mikro trug er am
Hemdkragen. Normalerweise hatte ich natürlich dasselbe
Equipment.
Aber im Moment war das unmöglich. Unsere Gegner von der
Terror-Organisation LIBERTÉ ANARCHISTE würden sich die Bilder aus
den Lokalnachrichten ganz genau ansehen. Vermutlich hatten sie
sogar ihre eigenen Leute im Publikum. Und ein Knopf in meinem Ohr
würde sie zweifellos stutzig machen.
François stieg aus, umrundete den Wagen, öffnete die
Tür.
Fred Lacroix gab mir eine Aktentasche.
„Halte die vors Gesicht!“, meinte er. Die Tasche enthielt eine
Bleiplatte, um Schüsse abzuwehren.
Allerdings rechnete keiner von uns damit, dass LIBERTÉ
ANARCHISTE es wagte, hier und jetzt bereits zuzuschlagen.
Die zweite Funktion der Tasche war es, den Terroristen über
die Medien nur jeweils kleine Ausschnitte meines Gesichts zu
präsentieren.
Zwar hatten die Maskenbildner der Polizei ihren Job
hervorragend gemacht, aber wir wollten unseren Gegnern die Sache
nicht zu leicht machen. Das weckte nur ihr Misstrauen.
Ich nahm die Tasche, stieg aus.
François ging vor mir her, die ID-Card an der Jacke.
Fred stieg ebenfalls aus dem Wagen, umrundete ihn und holte
mich ein. Einer der anderen Kollegen deckte mich ab.
Fred ließ den kurzen Lauf der Heckler & Koch-MP
umherwandern.
Fred Lacroix trug die Kevlarweste für jedermann sichtbar.
François ebenfalls.
Einige Kollegen drängten sich um mich. Insgesamt etwa ein
Dutzend. Sie bahnten mir einen Weg durch das Publikum.
Ich hob die Bleitasche hoch. Sie war verdammt schwer.
Ein Blitzlichtgewitter brach los. Kameras wurden auf mich
gerichtet. Ich war mir der Tatsache bewusst, dass diese Bilder
dutzendfach in den Nachricht gezeigt werden würden.
Bis zum Eingang waren es nur wenige Meter. Boubou und Stéphane
kamen uns entgegen.
Wie in einer Traube standen die Kollegen um mich he^rum und
begleiteten mich in Richtung des Gebäudes, in dem Oberstaatsanwalt
Valmont auf mich wartete.
„Alles in Ordnung!“, raunte mir Commissaire Fred Lacroix zu.
„Wir haben die Sache im Griff!“
„Na, davon gehe ich aus!“
Drei Stufen führten zu dem Nebeneingang des Gebäudes empor.
Ich hatte die erste gerade erreicht und meinen Fuß darauf gesetzt,
da geschah es. Ich spürte den Schlag zwischen die Schulterblätter.
Es fühlte sich an, wie der Treffer mit einem Gummiknüppel.
Das Geschoss durchdrang die Kleidung, riss sie auf und blieb
dann im Kevlar hängen. Aber wenn dem Geschoss auch durch diesen
Stoff die Durchschlagskraft genommen wurde, so war seine Wucht
immer noch immens. Ich stolperte nach vorn. Wenige Zentimeter nur
hatten gefehlt, und ich wäre im Genick erwischt worden.
Dort, wo mich keine kugelsichere Weste schützte.
Die Kollegen waren bei mir.
Ich wurde an den Armen gepackt und mitgezogen.
Unter den versammelten Reportern und Schaulustigen entstand
ein Tumult. Die einen versuchten, ihr Bild des Jahres zu machen,
andere stoben in heller Panik davon.
Verzweifelt versuchten die Kollegen der Polizei der Situation
Herr zu werden.
„Alles okay, Pierre?“, fragte François, nachdem wir das
Gebäude erreicht hatten.
Ich rang nach Luft. Der Treffer hatte mir für einige
Augenblicke den Atem geraubt.
„Wie man’s nimmt!“, brachte ich schließlich heraus.
„Verdammt, ich versteh das nicht!“, hörte ich Stéphane Caron
schimpfen. „Wir haben die umliegenden Gebäude doch alle
abgecheckt!“
„Ist ja nichts passiert!“, meinte ich, obwohl das ziemlich
untertrieben war.
Ich wurde ins Büro des Oberstaatsanwalt gebracht.
Valmont war ziemlich nervös. Er stand am Fenster, beobachtete
die tumultartige Szene, die sich draußen abspielte.
Ich ließ mich in einen der Sessel fallen. Valmont sah mich
ernst an.
„Ich hätte nicht gedacht, dass diese Kerle so weit gehen
würden.“
Ich zuckte die Achseln.
„Sie haben offensichtlich eine Heidenangst vor dem, was
Aspesse hier, in diesen Räumen von sich geben könnte!“
„Ja, sieht so aus.“
„Eins steht jedenfalls fest“, meldete sich Boubou zu Wort.
„Diese LIBERTÉ ANARCHISTE-Leute sind ziemlich aufgeschreckt
worden.“
„Ich halte das Risiko für zu groß, Pierre“, meinte François.
„Das hast du jetzt gerade gesehen!“
„Es ist so wie Boubou gesagt hat“, meinte ich. „Sie sind jetzt
alarmiert und mussten in aller Eile irgendeine Aktion aus dem Boden
stampfen. Das lässt mich darauf hoffen, dass sie aus ihrer Reserve
kommen, dass sie Fehler machen … Vielleicht haben sie sogar schon
einen gemacht, wer weiß!“
François zog die Augenbrauen hoch.
„Optimist!“
8
Leonard Rubienne betrat das Jardin du Paradis mit drei o am
Ende, ein Oben-ohne-Lokal auf Pointe-Rouge. Es gehörte Alexandre
Roumér. Roumér hatte seine Finger in allen möglichen illegalen
Geschäften. Das Jardin du Paradis war dafür nur eine geeignete
Tarnung. Hauptzweck des Ladens war die Geldwäsche, die er für eine
Reihe von Drogenhändlern besorgte. Leonard blickte sich vorsichtig
um, während er durch das Jardin du Paradis schritt. Es war später
Nachmittag. Feierabend-Zeit.
Für ein Lokal wie das Jardin du Paradis eine günstige
Zeit.
Eine Farbige mit ausladenden Hüften wiegte sich im Takt der
Musik. Die Bühnenbeleuchtung strahlte ihren nackten Körper grell
an. Das einzige Kleidungsstück, dass sie noch trug, war eine
Goldkette um ihren Bauch.
Aber Leonard Rubienne hatte im Moment keinen Sinn für so
etwas. Auch die ebenfalls ziemlich leicht geschürzten Bedienungen
registrierte er kaum.
Er ging zur Bar.
„Ich muss mit Alexandre sprechen“, wandte er sich an den
Keeper.
Dieser tat erst so, als würde er Leonard überhaupt nicht
bemerken. Leonard wiederholte seine Worte noch einmal, diesmal
lauter.
Der Keeper stellte ihm ärgerlich einen doppelten Cognac hin
und meinte dann: „Erstmal Bonjour! Schrei nicht so, Leonard!“
„Was soll ich machen?“
„Du weißt, dass der Boss beim letzten Mal nicht gut auf dich
zu sprechen war. Ich schlage vor, du trinkst das und verschwindest
dann wieder, bevor er auftaucht.“
„Sag ihm, dass ich ihm einen Helikopter anzubieten habe,
Sandro!“
„Daran ist er nicht interessiert!“
„Führst du jetzt die Verhandlungen für den großen Alexandre
Roumér!“
„Nein. Die führt er immer noch selbst!“
„Na also!“
„Aber mit einem wie dir verhandelt er nicht mehr. Du schuldest
ihm fünfundzwanzig Riesen und kannst eigentlich froh sein, dass er
dir nicht schon längst ein paar Typen auf den Hals gehetzt hat, die
dir beide Beine brechen.“
Ein Mann trat durch einen der Nebeneingänge. Er war leicht
übergewichtig. Eine stattliche Erscheinung von mindestens ein Meter
fünfundachtzig. Er war Mitte fünfzig. Abgesehen von einem Haarkranz
in Höhe der Ohren verfügte er kaum noch über Haupthaar. Dafür war
der Schnauzbart umso üppiger. Er war so lang, dass er ihm in den
Mund hineinwuchs.
Das war Roumér.
In seiner Begleitung befanden sich zwei dunkel gekleidete
Männer. Sie hatten Ähnlichkeit mit Priestern, zumindest was das
Äußere anging. Schwarze Jacketts kombiniert mit schwarzen Hemden.
Aber die von ihren Pistolen verursachten Wölbungen unter den
Achseln zeugten davon, dass ihr Job keineswegs die Nächstenliebe
war.
Das Trio durchquerte den Raum.
Einige der Gäste schauten sich kurz um, aber die nackte
Tänzerin auf der Bühne sorgte dafür, dass ihre Aufmerksamkeit von
anderen Dingen gefesselt blieb.
Roumér und seine Gorillas erreichten Leonard.
„Sieh an, Leonard Rubienne!“ Roumér verzog das Gesicht zu
einem gequälten Lächeln. „Wer hätte gedacht, dass du es noch einmal
wagst, hier aufzutauchen!“
„Hören Sie, Monsieur Roumér …“
„Ich mag Leute nicht, die ihre Schulden nicht bezahlen. Ich
verliere in so einem Fall jeden Respekt vor einem Mann.“
Einer der Gorillas fingerte einen Schlagring unter der Jacke
hervor. Er streifte ihn über die Finger, ballte die Hand zur Faust.
Ehe Leonard sich versah, knallte ihm der Gorilla die Faust mit dem
Schlagring in die Magengrube. Wie ein Hammerschlag fühlte sich das
an. Leonard sank ächzend gegen den Schanktisch. Der Gorilla holte
erneut aus. Aber Roumér schüttelte den Kopf.
„Nicht vor den Gästen“, meinte er grinsend. Ein Goldzahn
blitzte durch die langen Haare seines Schnauzbarts hindurch.
„Ich kann bezahlen!“, knurrte Leonard. Er war ganz bleich
geworden, hielt sich den Bauch.
„Das wirst du auch!“, erwiderte Roumér schneidend.
„Sie werde noch viel mehr bekommen, als ich Ihnen schulde …
Wenn Sie mir helfen, Roumér!“
Leonards Stimme war kaum mehr als ein leises Wispern, das von
der dezenten Musik im Jardin du Paradis fast verschluckt
wurde.
„Große Worte, Leonard!“
„Nein!“
„Du bist ein Maulheld!“
„Monsieur Roumér …“
„Du hättest bei mir weiter als Rausschmeißer arbeiten sollen.“
Roumér deutete auf seine Gorillas. „Manuel und Juri, habt ihr nicht
ein schönes Leben? Bezahle ich euch nicht gut? Das alles hätte
diese Schmeißfliege auch haben können, aber Leonard Rubienne musste
ja unbedingt anfangen Geschäfte auf eigene Rechnung zu machen!“
Roumér verzog das Gesicht. „Leider alles in die Hose gegangen. Und
ich war auch noch so dumm und habe dir Geld geliehen …“
„Er ist unzuverlässig!“, gab einer der Gorillas zu
bedenken.
„Stimmt“, murmelte Roumér grimmig zwischen den Zähnen
hindurch. „Ich hätte ihm nicht trauen dürfen.“ Theatralisch griff
er sich an die Brust. „Mein gutes Herz hat mich verleitet, dem
Gejammer dieser Schmeißfliege nachzugeben und ihm fünfundzwanzig
Riesen zu leihen.“
Der Typ mit dem Schlagring spielte mit dem Eisen provozierend
herum und grinste dreckig.
Leonard Rubienne hob die Hände.
„Ich habe eine Anzahlung, die ich für die Erledigung eines
Jobs bekommen habe. Und noch etwas anderes … Einen mit Waffen
ausgestatteten Helikopter, der über eine Infrarot-Zielerfassung
verfügt. Das Modernste vom Modernen!“
Roumér atmete tief durch.
„Was du nicht sagst.“
„Ich brauche Ihre Hilfe, Roumér!“
„Ach, ja?“
„Ich muss verschwinden und brauche eine neue Identität. Und da
dachte ich …“
„… dass du mit diesem Problem am besten zu mir kommst.“
„Ja.“
Roumér kratzte sich am Kinn, wirkte nachdenklich.
„Sag mir einen Grund, weshalb ich einer Kanalratte wie dir
nochmal trauen sollte, Leonard!“
Leonard schluckte. Er griff in die Innentasche seiner Jacke.
Augenblicklich packten ihn die Gorillas, hielten ihn wie im
Schraubstock. Erst auf ein Zeichen von Roumér hin ließen sie ihn
los.
„Na, lass schon sehen, du Bastard!“
Leonard holte sein Kuvert hervor. Er reichte es Roumér.
„Da sind zehntausend Euro drin.“
„Du schuldest mir mehr!“
„Ich weiß. Aber der Heli ist ein paar Millionen wert! Wenn Sie
mir helfen, dann bekommen Sie ihn.“
Roumér Augen wurden schmal.
„Bei dem Heli dürfte es sich um verdammt heiße Ware handeln“,
vermutete er. „Sagtest du nicht etwas von einer infrarotbasierten
Zielerfassung?“
„Ja.“
Eine Veränderung spielte sich in Roumérs Gesicht ab. Er dachte
nach.
„Da wurde doch vor Kurzem ein Attentat auf das
Polizeipräsidium an der La Canebière verübt …“ Roumér machte eine
Pause, ehe er schließlich fortfuhr: „Ich schlage vor, wir
besprechen alles weitere in meinem Büro.“
9
Ich wurde zu einer Wohnung in Bompard gebracht, wo ich fürs
Erste unterkommen sollte. Sie lag im obersten Stock eines
Hochhauses. Die Polizei unterhielt diese Wohnung, um gefährdete
Zeugen für ein paar Tage unterbringen zu können.
Ich blickte aus dem Fenster in die Tiefe. Dunkelheit hatte
sich über den Marseille gelegt. Ein Lichtermeer breitete sich vor
meinem Blickfeld aus. Unten floss der Verkehr.
„Die Fenster sind aus Panzerglas“, erläuterte François.
„Außerdem sind rund um die Uhr mehr als ein Dutzend unserer Leute
in der Nähe.“
„Die Leute, die es auf mich abgesehen haben, sind nicht auf
den Kopf gefallen“, stellte ich fest. „Früher oder später tauchen
die hier auf … Aber das ist ja letztlich auch der Sinn der
Sache.“
„Du kannst die ganze Sache auch wieder abbrechen, wenn sie dir
zu heiß ist“, meinte François. „Niemand würde dir das krumm nehmen.
Nicht nach dem, was heute vor dem Büro des Oberstaatsanwalts
geschehen ist!“
Mein Kollege Fred Lacroix stieß ins selbe Horn.
„Überleg dir das, Pierre!“
„Das habe ich längst“, erwiderte ich. „Ich zieh das Ding
durch!“
„Du bist unverbesserlich!“
„Jedenfalls mache ich ungern halbe Sachen, Fred! Außerdem will
ich, dass diese Leute endlich dorthin kommen, wo sie hingehören.
Hinter Gitter!“
Ich sah auf die Uhr an meinem Handgelenk. Langsam wurde ich
ungeduldig. Noch immer wusste ich nichts über irgendwelche
Erkenntnisse, die sich durch die Tätigkeit der Spurensicherer und
Ballistiker ergeben hatten. Die ganze Gegend um den Tatort herum
war abgesucht worden. Hunderte von Befragungen hatten
stattgefunden. Aber bislang gab es nicht den kleinsten Hinweis auf
jene Leute, die sich hinter dem Namen LIBERTÉ ANARCHISTE
verbargen.
„Was mich beunruhigt, ist die Tatsache, dass wir noch immer
nicht genau wissen, ob und wie diese Leute in die Polizei-Rechner
eingedrungen sind“, meinte François.
„Unsere Kollegen werden das schon rauskriegen“, war ich
optimistisch. „Früher oder später jedenfalls.“
Ich ließ den Blick über die Dächer der umliegenden Hochhäuser
gleiten. In unmittelbarer Umgebung befanden sich wenige Gebäude,
die höher oder von vergleichbarer Höhe waren. Und die wurden von
unseren Kollegen genauestens unter die Lupe genommen. So etwas wie
vor dem Büro des Oberstaatsanwalts sollte nicht noch einmal
passieren.
Nur wenige Zentimeter hatten gefehlt, und ich hätte einen
Treffer ins Genick oder den Kopf bekommen. Dorthin, wo kein Kevlar
mich schützen konnte. Ich berührte die Scheiben aus
Panzerglas.
„Die Dinger sind absolut sicher“, meinte Fred.
Ich lächelte dünn. „Fragt sich nur, bis zu welchem
Kaliber!“
„Na ja, gegen einen Granatentreffer wie im Präsidium hilft
natürlich nichts!“
Mein Handy schrillte. Ich nahm das Gerät ans Ohr. Auf der
anderen Seite der Leitung hörte ich die vertraute Stimme von
Monsieur Marteau.
„Hallo Pierre, ich hoffe Sie haben sich von dem Schrecken
einigermaßen erholt.“
„Im Moment wurmt es mich eigentlich am meisten, dass ich
untätig in dieser Wohnung herumsitzen muss.“
„Im Ernst, Pierre. Wenn Sie nach diesem Attentat aussteigen
wollen …“
„… danke der Nachfrage, Chef. Aber den Punkt habe ich bereits
mit Fred und François ausdiskutiert. Kommt nicht infrage!“
„Wir bereiten ein Quartier in Aubagne für Sie vor. Dort werden
wir versuchen, den LIBERTÉ ANARCHISTE-Leuten eine Falle zu
stellen.“
„Und ich bin der Köder!“
„Wie gesagt, Pierre, Sie können aussteigen!“
„Kein Gedanke, Chef.“
„Es wird Sie interessieren, dass die Ballistiker inzwischen
verschiedene Video-Aufzeichnungen des Anschlags auf Sie ausgewertet
und zumindest ungefähr die Richtung bestimmen konnten, aus der die
Kugel abgefeuert wurde. Die infrage kommenden Gebäude werden
derzeit unter die Lupe genommen.“
„Ich hoffe, die Kollegen finden etwas.“
„Das Projektil gehört zu einer DX-3 der Firma Rogers &
Davis in Vancouver, Kanada. Die DX-3 ist ein Spezialgewehr für
Distanzschüsse von Scharfschützen. Allerdings lässt es sich
zusammenklappen und hat nur den Bruchteil des Gewichts, den die bei
den entsprechenden Sondereinheiten von Militär und Polizei
verwendeten Gewehrtypen aufweisen.“
„Also die ideale Waffe eines Killers“, stellte ich fest.
„So ist es!“
„Wurde die Waffe schon mal verwendet?“
„Ja. Insgesamt achtzehn mal in den letzten sechs
Jahren.“
„Wir haben es offenbar mit einem fleißigen Mörder zu
tun!“
„Im Moment werden diese Fälle noch einmal durchleuchtet. Aber
es könnte sein, dass uns das in die Irre führt und nicht
weiterbringt. Jedenfalls dann, wenn LIBERTÉ ANARCHISTE einen
gewöhnlichen Lohnkiller engagiert hat, der vielleicht gar nicht
wusste, für wen er tötet. Einige der Opfer haben nämlich
Mafia-Hintergrund, und da liegt dieser Schluss nahe.“
„Verstehe.“
„Legen Sie sich ein bisschen aufs Ohr! Sobald es nach Aubagne
losgeht, oder sich etwas Neues ergibt, hören Sie von mir!“
10
Die Messungen der Ballistiker hatten den Marseiller Mantillon
Tour als eines der verdächtigen Gebäude ausfindig gemacht, aus dem
heraus vermutlich geschossen worden war. Auch das Stockwerk ließ
sich eingrenzen. Es musste mindestens aus dem zwanzigsten Stockwerk
heraus geschossen worden sein.
Unter Leitung von Commissaire Stéphane Caron waren Dutzende
von Polizeibeamten und weiteren Kollegen damit beschäftigt, die
Wohnungsbesitzer und -mieter auf der Südfront des Mantillon Tours
vom zwanzigsten Stock an aufwärts ausfindig zu machen. Das konnte
bis in die späten Abendstunden dauern, je nachdem, wann die
Betroffenen von ihren Jobs nach Hause kamen.
Etwa gegen Mitternacht blieben nur noch ein gutes Dutzend
Wohnungen übrig, deren Bewohner derzeit offenbar nicht Zuhause
übernachteten. Vom hauseigenen Security-Service wurden die
elektronischen Schlösser dieser Apartments geöffnet und die
Innenräume nach Spuren eines Einbruchs abgesucht. Insbesondere
galten die Untersuchungen den Fenstern.
Es war unmöglich, sie zu öffnen.
Um einen Gewehrlauf in Richtung des Tatorts in Anschlag zu
bringen, gab es nur die Möglichkeit, ein Loch in die
Dreifachverglasungen hineinzuschneiden. Und das war schon schwierig
genug.
In der Wohnung eines gewissen Monsieur S. Glacier wurden
Stéphane und Boubou fündig.
Der Wohnungsinhaber saß tot in einer Couch. Das Loch im
Fenster war sehr akkurat ausgeschnitten. Wenig später fand Boubou
im Bad noch die Leiche einer Frau.
Stéphane griff zum Funkgerät.
„An alle, wir haben den Punkt, von dem aus geschossen wurde!
Bitte ein Erkennungsdienst-Team nach Apartment 234 C.“
Boubou lockerte seine Krawatte.
„Wenn es sich bei dem Kerl um einen Profi handelt, werden wir
hier nichts finden.“
„Auch Profis machen Fehler“, gab Stéphane zur Antwort, ließ
dabei den Blick schweifen. „Scheint so, als hätte er geglaubt, dass
die Wohnung leer wäre.“
„War wohl ein Irrtum!“
„Ja, und dieser Glacier und seine Freundin mussten dafür mit
dem Leben bezahlen.“
Einer der Security-Leute war zusammen mit Stéphane und Boubou
in den Raum getreten. An seinem Uniformhemd stand der Name Ravik
Haldache. Er wirkte ziemlich blass, nachdem er Glaciers Leiche
gesehen hatte, die immer noch ziemlich aufrecht auf der Couch saß.
Das aus der Wunde geströmte Blut hatte sich in den Teppichboden
hineingesaugt.
Stéphane wandte sich an Haldache, riss den Security-Mann aus
seinen Gedanken heraus.
„Was ist mit dem Schloss?“
Haldache machte eine ruckartige Bewegung, sah Stéphane dann
mit glasigen Augen an und schluckte. Das, was er hier mitbekam,
kannte Haldache nur aus Filmen. Leute wie er waren schließlich auch
dazu da, Verbrechen gar nicht erst geschehen zu lassen, nicht, um
sie aufzuklären. Und das Sicherheitssystem des Mantillon Tours galt
als eines der modernsten im gesamten Marseille.
Haldache hob die Augenbrauen.
„Was soll mit dem Schloss sein?“
„Sie kennen sich besser damit aus. Hatten Sie den Eindruck,
dass da irgendwie herummanipuliert wurde?“
Er schüttelte den Kopf.
„Nein. Ist mir ein Rätsel, wie der oder die Täter es geschafft
haben, hier hereinzukommen, ohne mit der Brechstange zu agieren.
Wir vom Security-Service haben zwar die Möglichkeit, in die
Wohnungen hineinzukommen, aber in jedem Fall ist der Scan eines
Fingerabdrucks erforderlich, wie Sie ja vorhin gesehen haben.
Normalerweise der Abdruck des Besitzers, in diesem Fall der Abdruck
eines autorisierten Security-Mitarbeiters.“
„Verstehe. Gibt es irgendeine Möglichkeit, dieses System
auszutricksen?“
„Wenn Sie nicht die richtigen Linien am Finger haben, dann
nicht.“
„Wäre es möglich, den Scanner mit einer künstlichen,
nachmodellierten Fingerkuppe zu täuschen?“
„Erstens müssten Sie dann an die Original-Abdrücke herankommen
…“
„Jemand könnte in die entsprechenden Datenbanken
hereingekommen sein.“
„Aber zweitens würde der Sensor keine Fingerkuppe akzeptieren,
die die Temperatur von fünfunddreißig Grad Celsius
unterschreitet.“
„Ich dachte, die normale Körpertemperatur liegt höher.“
„Könnte ja mal sein, dass Sie an einem frostigen Tag Ihre
Handschuhe vergessen haben.“
„Was ist mit entsprechend manipulierten Handschuhen aus einem
sehr feinen Gewebe – Latex zum Beispiel?“, mischte sich Boubou
ein.
Haldache zuckte die Achseln.
„Es bleibt das Problem, an die Daten heranzukommen. Übrigens
lässt sich über den Zentralrechner feststellen, wann die Tür
zuletzt geöffnet wurde, ob von einem Angehörigen des
Sicherheitspersonals, dem Wohnungsbesitzer oder einer anderen
autorisierten Person.“
In diesem Moment betraten die Erkennungsdienstler den Raum.
Sie trugen weiße, hauchdünne Schutzoveralls, die verhindern
sollten, dass sie ihrerseits irgendwelche Spuren hinterließen, die
das Ergebnis verfälschen konnten.
„Wir beginnen dann mit unserer Arbeit, Commissaire Caron“,
meinte einer von ihnen.
Stéphane nickte und sagte dann: „Fangen Sie bitte mit dem
elektronischen Schloss an!“ Dann wandte sich Stéphane wieder an
Haldache. „Die Flure werden doch videoüberwacht, oder?“
„Ich bringe Sie in unsere Security-Zentrale. Ich denke, da
werden Sie alles vorfinden, was Sie brauchen.“
11
Die Security-Zentrale des Mantillon Tours war vom Feinsten.
Modernste Sicherheitstechnologie fand sich hier.
Sobald jemand versuchen sollte, irgendeines der elektronischen
Wohnungsschlösser zu manipulieren oder aufzubrechen, gab es einen
Alarm.
„Sie sehen, wir arbeiten hier auf dem neuesten Stand“, meinte
Christian S. Gervais, der Sicherheitschef des Tours.
Haldache stand etwas abseits und überließ seinem Chef das
Wort.
„Leider hat nicht einmal dieser hohe Sicherheitsstandard die
Morde in Apartment 234 C verhindern können“, erwiderte
Stéphane.
Christian Gervais hob die Augenbrauen.
„Absolute Sicherheit ist leider eine Illusion.“
Wenig später standen sie vor einem Bildschirm. Nach den
gespeicherten Daten war die Tür von 234 C zum letzten Mal am Morgen
um 8.45 Uhr geöffnet worden. Vom Besitzer, wie das Protokoll
auswies.
„Es ist mir schleierhaft, wie der Täter ins Apartment gekommen
ist, ohne dass das auffiel“, murmelte Gervais.
Die exakten Zeitangaben erleichterten das Auffinden der
Videoaufzeichnung vom Flur.
Um genau 8.44 Uhr traf ein Mann in Lederjacke und Baskenmütze
vor der Apartmenttür ein. Unglücklicherweise hatte er den Kragen
seiner Jacke hochgestellt, so dass von seinem Gesicht nur die
Partie zwischen Nasenspitze und halber Stirn zu sehen war. Über der
Schulter trug der Mann eine Sporttasche mit der Aufschrift SUPER
ACTIVE. Vermutlich steckte darin die DX-3, mit der er auf den
vermeintlichen Bertrand Aspesse gezielt hatte. Der Eindringling
steckte einfach eine Chipkarte in den Schlitz des elektronischen
Schlosses, die Schiebetür flog zur Seite, und er trat ein.
Christian Gervais fiel der Kinnladen herunter. Er musste
unwillkürlich schlucken.
„Könnte es sein, dass es sich um eine Person handelt, die von
Monsieur Glacier autorisiert wurde, die Wohnung zu betreten?“,
fragte Boubou in die entstandene Stille hinein.
Christian Gervais schüttelte den Kopf.
„Nein, dann wäre das in unseren Datensätzen
verzeichnet.“
„Wir brauchen eine Kopie des Bildmaterials“, forderte Stéphane
Caron.
Christian Gervais nickte. „Selbstverständlich.“
„Haben Sie die Möglichkeit, Bildausschnitte zu
vergrößern?“
„Allerdings. Was interessiert Sie?“
„Die Hand mit der Chipkarte. Vielleicht lässt sich dabei
irgendetwas erkennen, was uns weiterbringt.“
„In Ordnung, ist kein Problem.“
„Was ist mit anderen Kameraperspektiven?“
„Sind auch vorhanden.“
„Ich möchte nämlich gerne etwas mehr von seinem Gesicht
sehen.“
Aber was diesen Punkt anging, erlebte Stéphane eine
Enttäuschung. Der Killer hatte offenbar genau gewusst, was er tat.
Der sehr hohe Kragen seiner Lederjacke wurde durch einen
Reißverschluss zusammengehalten. Wie ein Schlauch umfasste er den
Kopf des Killers über die Ohren.
„Ein paar biometrische Merkmale könnten wir aus dem
vorhandenen Material vielleicht trotzdem gewinnen“, war Boubou
relativ zuversichtlich. „Zum Beispiel den Abstand der Augen
untereinander, zur Nase und zu den Ohren. Und wenn wir die
vorhandenen Daten mit den Bilddateien unserer Archive vergleichen
…“
„… müssten wir schon großes Glück haben!“, seufzte
Stéphane.
„Im Moment greifen wir doch nach jedem Strohhalm!“