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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author /
© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau,
herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
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Alles rund um Belletristik!
1
»Herr Jörgensen, ich würde Sie gerne unter vier Augen
sprechen«, sagte Kriminaldirektor Bock, mein direkter Vorgesetzter
bei der Kripo Hamburg.
»Ich geh dann schonmal«, meinte mein Kollege
Kriminalhauptkommissar Roy Müller.
»Okay«, meinte ich.
»Ich warte auf dem Flur.«
»Gut.«
»Bis gleich.«
»Bis gleich, Uwe.«
Herr Bock wartete, bis Roy Müller den Raum verlassen hatte.
Was die Geheimniskrämerei sollte, wusste ich nicht. Roy und ich
verbringen mehr Zeit miteinander als manche Ehepaare. Und viele
Geheimnisse voreinander haben wir auch nicht. Herr Bock weiß das
eigentlich auch. Aber sei’s drum. In diesem Moment legte Herr Bock
nunmal Wert darauf, dass wir unter vier Augen waren.
»Herr Jörgensen, es geht nochmals um diesen sogenannten
‘Albaner’...«
»Ah ja…«
Der sogenannte ‘Albaner’ war ein Profi-Killer, den
irgendjemand aus irgendeinem Grund auf mich angesetzt hatte und der
seitdem versuchte, mich zu töten. Bislang ohne Erfolg. Sonst könnte
ich darüber auch jetzt nichts berichten und sie könnten nun meinen
Nachruf lesen.
Die Frage war nicht nur, wer sich hinter diesem Decknamen
verbarg.
Die Frage war auch, wer den Albaner beauftragt hatte.
Bislang waren wir da einfach nicht weitergekommen.
Ich machte Dienst wie immer. Natürlich achtete ich darauf, ob
irgendetwas Eigenartiges in meiner Umgebung geschah. Ich war
ohnehin vorsichtig und hatte auch in letzter Zeit schon zweimal die
Wohnung gewechselt. Aber jede Vorsicht hat eben auch ihre Grenzen.
Man muss auch leben und man kann sich nicht vor lauter Angst in
irgendeine Höhle am Ende der Welt zurückziehen. Die Frage wäre
ohnehin, ob ich da denn überhaupt sicherer wäre.
»Was die kalabrische ‘Ndrangheta ist, brauche ich Ihnen ja
nicht zu sagen, Herr Jörgensen.«
»Die mächtigste Mafia-Organisation Europas.«
»Richtig. Ein Haupterwerbszweig ist die illegale
Müllentsorgung.«
»Ja.«
»In letzter Zeit gibt es da allerdings Konkurrenz durch die
sogenannte Shanghai-Connection, die auf diesen Markt drängt.«
»Habe ich auch von gehört.«
»In Stade wurde jetzt ein Mann gefunden, der für die
‘Ndrangheta gearbeitet hat. Erschossen. Wir nehmen an, dass es die
Chinesen waren.«
»Der Spitzname dieses Mannes lautete ‘der Albaner’, wie wir
jetzt erfahren haben.«
»Oh…»
»Wussten Sie, dass es seit den Türkenkriegen ein paar uralte
albanische Sprachinseln in Kalabrien gibt?«
»Nein.«
»Das Albanisch, das die sprechen, ist natürlich noch auf einem
quasi spätmittelalterlichen Stand und unterscheidet sich stark von
dem Albanisch, dass man in Albanien und dem Kosovo spricht.«
»Hm.«
»Aber dieser tote Killer stammt aus einem dieser albanischen
Dörfer. Daher seine Bezeichnung.«
»Denken Sie, dass das der Albaner sein könnte, der hinter mir
her ist?«
Herr Bock hob die Schultern.
»Wäre möglich.«
»Das heißt, ich kann mich in Zukunft wieder beruhigt
zurücklehnen und brauche nicht jedesmal nachzusehen, ob jemand
einen Sprengsatz unter meinem Wagen angebracht hat…«
»Nein, das würde ich nicht empfehlen, Herr Jörgensen. Ich
bleibe an der Sache dran. Aber wenn Sie Glück haben, dann hat
irgendein Handlanger der sogenannten China-Connection oder
Shanghai-Connection, ganz wie man will, Ihnen einen Gefallen
getan.«
*
Das Geräusch einer gewaltigen Detonation drang durch die
Nacht. Flammen schlugen aus dem Dach des großen Lagerhauses heraus.
Teile des Mauerwerks brachen heraus und wurden regelrecht
herausgeschleudert. Alarmsirenen schrillten, gingen aber im Lärm
weiterer Detonationen unter. Es dauerte nur Augenblicke, und die
Flammen griffen auf das nächste Lagerhaus über. Die Nacht wurde
beinahe taghell.
Ein beißender Geruch hing in der Luft.
Schreie gellten.
Ein Mann rannte als lebende Fackel durch die Nacht, brüllte
dabei vor Schmerz und wand sich verzweifelt.
Unweit der Einfahrt zum Firmengelände, in sicherem Abstand zu
der lodernden Flammenhölle stand eine junge Frau. Das blonde Haar
fiel ihr über die schmalen Schultern. Mitleidlos starrte sie auf
den brennenden Mann, der sich jetzt zu Boden warf. Er rollte sich
auf dem Asphalt herum, versuchte die brennende Kleidung zu löschen.
Ein weiteres Lagerhaus ging in diesem Augenblick mit einem
lauten Knall in Flammen auf. Verglasungen barsten, Trümmerteile
flogen durch die Luft. Ein Wellblechtor brach aus seinen
Halterungen heraus. Eine Flammenfontäne schoss heraus. Brennende
Flüssigkeit kroch wie ein heißer Lavastrom über den Asphalt bis zu
einem abgestellten Tankwagen hin.
Ein kaltes Lächeln erschien in dem fein geschnittenen Gesicht
der jungen Frau.
»Ja, brennen soll es ...«, flüsterte sie vor sich hin. »Es
soll brennen, brennen, brennen ...«
Stakkatohaft wiederholte sie dieses eine Wort.
Sie atmete tief durch. Ihre Brüste drückten sich gegen den
dünnen weißen Stoff ihrer Bluse. Und ihre Lippen formten immer
wieder, wie in zwanghafter Wiederholung, dieses eine Wort.
»Brennen … brennen ...«
Schon züngelten die Flammen an der Fahrerkabine des Tankwagens
empor. Der Kraftstofftank explodierte zuerst. Es wirkte wie eine
Initialzündung für die nächste Detonation, bei der die Ladung in
die Luft flog. Der Geruch war beinahe unerträglich.
Der Mann am Boden hatte es unterdessen geschafft, seine
brennende Kleidung zu löschen. Er kam auf die Füße, taumelte
vorwärts. Im Hintergrund waren die Sirenen der Einsatzwagen des
Feuerwehr zu hören. Bis sie hier draußen im Gewerbegebiet ankamen,
würden noch ein paar Minuten vergehen.
Nichts wird dann noch zu retten sein, ging es der jungen Frau
mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck durch den Kopf. Nichts!
Die werden noch Mühe haben, ein Übergreifen der Flammen auf andere
Grundstücke zu verhindern.
Die Augen tränten ihr durch die beißenden Gase, die bei der
Verbrennung der hier gelagerten Chemikalien entstanden waren. Als
schmutzig brauner Qualm zogen sie in den Nachthimmel.
Der Mann taumelte auf sie zu.
»Hey, Sie ...« ächzte er, dann schüttelte ihn ein
Hustenkrampf.
Seine Worte rissen die junge Frau aus der Erstarrung. Ein Ruck
durchfuhr sie. Sie wich einen Schritt zurück.
»Bleiben Sie stehen!«, rief der Mann.
Er streckte die Hand in ihre Richtung aus, taumelte vorwärts.
Die Augen waren weit aufgerissen, das vom Schein der Flammen
beschienene Gesicht krebsrot. Die Flammen hatten ihn übel versengt.
Von seinen Haaren war nicht viel übrig geblieben, die Kleidung war
teilweise verkohlt.
»Bleiben Sie ...«, krächzte er noch einmal.
Ein Schuss krachte. Er fuhr dem Mann genau zwischen die
Schulterblätter.
Ein zweiter folgte unmittelbar darauf. Sein Körper zuckte und
fiel dann reglos zu Boden.
Die junge Frau starrte mit weit aufgerissenen Augen erst auf
den Sterbenden, dann in die Flammenhölle. Jemand hatte den Mann von
hinten erschossen.
Ein zufriedenes Lächeln erschien auf dem Gesicht der jungen
Frau.
2
Als wir die Adresse Osterbrookweg in Schenefeld an der Grenze
Hamburgs erreichten, war es noch sehr früh. Ich hatte meinen
Kollegen Roy Müller an der bekannten Ecke abgeholt, um mit ihm zu
unserem Dienstgebäude am Bruno-Georges-Platz zu fahren. In den
Radionachrichten erfuhren wir von dem Brand im Industriepark
Schenefeld, das am Rande von Hamburg lag.
Die Bewohner der Umgebung waren offenbar für einige Stunden
angewiesen worden, Fenster und Türen geschlossen zu halten.
Dann hatte uns der Anruf von Kriminaldirektor Bock mit der
Order erreicht, unverzüglich zum Industriepark Schenefeld zu
fahren. Die örtliche Polizeidienststelle schloss einen Zusammenhang
mit dem organisierten Verbrechen nicht aus. Daher hatte man uns
angefordert.
Eine Rauchsäule schwebte noch immer über den offenbar bis auf
die Grundmauern ausgebrannten Lagerhäusern des Industrieparks.
Feuerwehr und die Kollegen des Schenefelder Polizeidienststelle
waren mit zahlreichen Einsatzfahrzeugen am Ort des Geschehens.
Uniformierte hatten das Gebiet abgeriegelt.
Ich stellte den Sportwagen in einiger Entfernung an den
Straßenrand.
Wir stiegen aus.
Roy gähnte.
»Ist wohl noch nicht ganz deine Zeit?«, meinte ich.
»So weit ich weiß, gibt es keine Vorschrift, die besagt, dass
ein Kriminalhauptkommissar auf ein Privatleben verzichten muss,
Uwe!«
Ich grinste.
»Kommt immer darauf an, wie anstrengend sich das
gestaltet!«
»Sehr witzig!«
»Die Blonde, die du mir vorgestern vorgestellt hast, sah
jedenfalls so aus, als hätte sie keinerlei
Konditionsprobleme.«
Roy fuhr sich mit der Hand über die Augen und meinte dann:
»Verschone mich bitte mit deinen Anspielungen, bis ich wenigstens
eine Tasse von Mandys Kaffee bekommen habe!«
Auf den berühmten Kaffee der Sekretärin unseres Chefs würde
Roy wohl noch eine Weile verzichten müssen. Zunächst lag ein Berg
an kniffliger Ermittlungsarbeit vor uns.
Die uniformierten Kollegen ließen uns passieren, nachdem wir
ihnen unsere Dienstausweise hingehalten hatten.
Wir sahen uns ein bisschen um.
Auf dem Gelände von TURNBERG & WEISS sah es aus wie nach
einem Krieg. Von den Lagerhallen standen nur noch Grundmauern, in
einem Fall nicht einmal mehr die. Nur noch wenige Stahlträger
ragten wie ein Skelett empor. Mehrere ausgebrannte Fahrzeuge,
darunter auch ein Tankwagen, befanden sich auf dem
Grundstück.
Und dann war da die weiße Kreidemarkierung auf dem rußigen
Asphalt. Eine Markierung, die anzeigte, dass dort ein Toter gelegen
hatte. In der Nähe hielten sich einige Beamte in Zivil auf.
Ein Mann mit dickem schwarzen Schnauzbart und gelocktem, tief
in die Stirn hängendem Haar begrüßte uns.
»Kriminalhauptkommissar Georg Stelzer, Chef der Mordkommission
der Schenefelder Polizeidienststelle«, stellte er sich vor und
lockerte dabei die grellbunte Krawatte.
»Uwe Jörgensen, Kriminalpolizei«, erwiderte ich und deutete
dann auf meinen Partner. »Dies ist mein Kollege Roy Müller.«
»Man hat mir gesagt, dass Sie auch Spurensucher
schicken.«
»Die Kollegen sind noch unterwegs«, erklärte ich.
Und Roy ergänzte: »Sie müssten jeden Augenblick hier
eintreffen.«
Ich deutete auf die Kreideumrisse.
»Es hat hier einen Toten gegeben ...«
Kriminalhauptkommissar Georg Stelzer nickte.
»So ist es. Der Mann heißt Adam Kerntner und gilt als
Strohmann für einige Größen in der Müll-Mafia.«
Herr Bock hatte uns am Telefon bereits ein paar Andeutungen in
diese Richtung gemacht.
»Ist Kerntner Eigentümer dieses Grundstücks?«
»Nein, es gehört einem gewissen Ludwig F. Schnitter aus
Hamburg, der es vor drei Jahren aus der Konkursmasse von TURNBERG
& WEISS herauskaufte. Leider war Herr Schnitter bislang nicht
zu erreichen.«
»Und was hat Kerntner mit diesem Grundstück zu tun?«, fragte
Roy.
Kriminalhauptkommissar Stelzer zuckte die Achseln.
»Das wissen wir nicht.« Stelzer trat etwas vor und kniete dann
vor der Kreidemarkierung nieder. »Kerntners Leiche wies
Verbrennungen auf, aber daran ist er nicht gestorben.« Der Chef der
Mordkommission deutete in Richtung der ausgebrannten Ruinen.
»Kerntner kam von dort, war offenbar auf der Flucht vor den Flammen
... Dann wurde er von schräg hinten erschossen.«
»Der Name Kerntner ist uns durchaus ein Begriff«, meinte ich.
»Leider hatten wir bislang nicht genug gegen ihn in der Hand, um
ihn festzusetzen.«
»Vermutlich ist er nur ein kleines Licht gewesen«, war
Stelzers Auffassung.
Das 'Geschäft' lief immer nach derselben Methode ab.
Chemiefirmen wurde für viel Geld die Entsorgung von Giftmüll
versprochen. Aber die teure Entsorgung fand nie statt. Der Müll
wurde einfach irgendwo abgeladen. Zumeist auf Grundstücken, die von
Strohmännern erworben wurden. Wenn die Gefahr bestand, dass die
Sache aufflog, verschwanden die Strohmänner und die Behörden fanden
dann ein Grundstück mit hochbrisanten Altlasten vor. Dass dabei
Gifte ins Grundwasser gelangten oder Menschen durch giftige
Dioxin-Dämpfe gefährdet wurden, wenn sich beispielsweise ein
illegales Plastiklager selbst entzündete, war den Hintermännern
dieser Machenschaften völlig gleichgültig. Müll war schon seit
langem ein Zweig des organisierten Verbrechens, der es an Umsatz
und Brutalität mit dem Rauschgift oder dem Waffenhandel aufnehmen
konnte.
»Gibt es irgendwelche Zeugen?«, erkundigte sich Roy.
»Ein Nachtwächter. Jonas Koserski, 47 Jahre alt,
Ex-Bundeswehrsoldat. Er war uns gegenüber ziemlich einsilbig. Aber
ich kann Ihnen gerne die Personalien geben. Im Moment ist er
allerdings in ärztlicher Behandlung. Er hat ein paar
Brandverletzungen davongetragen, vielleicht auch einen Schock. Im
Moment befindet er sich im West-Klinikum.«
»Hat der Mann irgendeine Aussage gemacht?«, hakte ich
nach.
Georg Stelzer schüttelte den Kopf.
»Nein. Er war dazu wohl auch gar nicht in der Lage.«
»Sie sollten ihn bewachen lassen. Er wäre nicht der erste
Zeuge, den die Müll-Mafia aus dem Weg räumt.«
»Wie Sie meinen.«
Inzwischen trafen die ersten Kollegen ein. Wir begrüßten
Doktor Schöner aus unserem Chemie-Labor und Alfred Barkow, unseren
Chef-Feuerwerker. Wenig später erreichten auch unsere
Erkennungsdienstler Martin Horster und Daniel Folder den Ort des
Geschehens. Eine Menge Kleinarbeit lag jetzt vor ihnen. Wie uns
Stelzer berichtete, hatte allerdings selbst die Feuerwehr bereits
Hinweise auf eine Brandstiftung gefunden. Das Feuer war an mehreren
Stellen gleichzeitig ausgebrochen. Das allein war schon ein Indiz.
Die Explosionen waren vermutlich durch die gelagerten Chemikalien
verursacht worden - und nicht durch Sprengstoff.
Kriminalhauptkommissar Stelzer gab uns ein paar
Polaroid-Abzüge von den Tatort-Fotos. Auf den Bildern war deutlich
zu sehen, daß Adam Kerntner schwere Verbrennungen davongetragen
hatte.
Gemeinsam mit Kriminalhauptkommissar Stelzer folgten wir der
vermutlichen Schusslinie, die sich wie ein gerader Strich über das
Firmengelände zog. Ganz am Rand befand sich ein Flachdach-Bungalow,
der ursprünglich wohl mal für Büroräume genutzt worden war. Im
Gegensatz zu den anderen Gebäuden hatte dieser Bungalow
verhältnismäßig wenig von der Wucht der Detonationen
mitbekommen.
Stelzer deutete mit der ausgestreckten Hand.
»Der Killer muss dahinten an der Ecke gestanden haben.«
»Was hat Kerntner hier mitten in der Nacht zu suchen gehabt?«,
fragte ich. »Ich meine, dass der Nachtwächter da war, lässt sich
erklären, aber Kerntner muss einen besonderen Grund für seine
Anwesenheit gehabt haben.«
»Vielleicht kann dieser Jonas Koserski etwas dazu sagen, wenn
er wieder beieinander ist«, war Roys Ansicht.
3
Adam Kerntner hatte einen schmucken Bungalow im Außenbezirk
von Schenefeld bewohnt. Die Adresse war im Heideweg. Roy und ich
fuhren dorthin, um mit der Witwe des Ermordeten zu sprechen. Die
Kollegen von der Schenefelder Polizeidienststelle hatten uns
bereits die unangenehme Aufgabe abgenommen, Frau Kerntner die
Nachricht vom Tod ihres Mannes zu überbringen.
Wir klingelten an der Tür.
Ein breitschultriger Mann öffnete uns.
Sein Blick wurde starr, als wir ihm die Dienstweise
zeigten.
»Uwe Jörgensen, Kriminalpolizei. Und wer sind Sie?«
Der Mann im T-Shirt zögerte kurz. Dann sagte er: »Cord
Suhrbier. Ich sorge hier für die Sicherheit.«
»Wir möchten gerne mit Frau Kerntner sprechen.«
»Frau Kerntner ist im Moment in keiner guten Verfassung.
Vielleicht kommen Sie ein anderes Mal wieder.«
»Tut mir leid ...«
»Ach, wirklich?«
»Wir müssen Frau Kerntner jetzt sprechen.«
Er zuckte die Achseln. Mit einer Handbewegung bedeutete er
uns, ihm zu folgen. Suhrbier führte uns in ein weiträumiges
Wohnzimmer. Auf der linken Seite befand sich ein Steinway-Flügel,
rechts war die Sitzecke. Frau Kerntner war offensichtlich nicht
allein. In einem der Sessel saß ein Mann mit völlig haarlosem Kopf.
Sein Gesicht wirkte aufgeschwemmt. Er trug einen teuren Anzug in
dunkelgrau. Sein Alter schätzte ich auf Mitte vierzig. Der
Leibwächter stellte uns vor.
Frau Sabrina Kerntner war eine attraktive Mittdreißigerin. Sie
saß in sich zusammengesunken auf der Couch, strich sich mit einer
flüchtigen Geste das lange, brünette Haar zurück. Die Augen waren
rotgeweint, das Make-up etwas verlaufen.
»Frau Kerntner, es tut mir leid, aber wir müssen Ihnen ein
paar Fragen stellen«, erklärte ich vorsichtig.
Der Kahlköpfige sprang auf, umrundete den niedrigen Tisch und
blieb dann stehen.
»Sehen Sie nicht, dass meine Mandantin überhaupt nicht in der
Lage ist, auch nur einen Ton herauszubringen? Sie steht unter
Schock.«
Ich wandte mich in seine Richtung.
»Mandantin?«, echote ich.
Er reichte mir eine Visitenkarte.
»Ferdinand S. Kleemann jr., ich gehöre der Kanzlei Kleemann,
Rettig & Partner an und vertrete die Interessen von Frau
Kerntner.«
»Entspricht das den Tatsachen?«, erkundigte sich Roy an die
Witwe gewandt.
Sabrina Kerntner nickte.
»Ja«, flüsterte sie mit belegter Stimme.
»Ich denke, Ihnen liegt genauso wie uns daran, den Mörder
Ihres Mannes zu finden. Darum sollten Sie uns helfen.«
»Ich wüsste nicht wie.«
»Haben Sie eine Ahnung, was Ihr Mann mitten in der Nacht auf
dem Gelände von TURNBERG & WEISS wollte?«
»Nein, nicht die Geringste.«
»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«
Fast hilfesuchend blickte Sabrina Kerntner zu ihrem Anwalt
hin. Dann sagte sie: »Am Morgen, als er zu einem Geschäftstermin
aufbrach.«
»Ihr Mann war Immobilienkaufmann.«
»Ja.«
»Er hatte sein Büro hier im Haus?«
»So ist es.«
Roy wandte sich an den Leibwächter.
»Könnten Sie mir das Büro zeigen?«
Ferdinand S. Kleemann nickte Suhrbier zu, woraufhin dieser Roy
aus dem Raum führte.
Ich wandte mich an Sabrina Kerntner.
»Sagt Ihnen der Name Ludwig Schnitter etwas?«
»Nein, wer soll das sein?«
»Der Besitzer des Grundstückes, auf dem Ihr Mann ermordet
wurde.«
»Tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.«
»Hatte Ihr Mann irgendwelche Feinde?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Aber Sie leisten sich einen Bodyguard.«
»Herr Suhrbier ist ...« Sabrina brach ab, so als hätte sie
Angst, etwas Falsches zu sagen. Sie blickte kurz zu Kleemann
hinüber.
»Ich habe Frau Kerntner die Dienste von Herrn Suhrbier
vermittelt«, erklärte der Anwalt dann.
»Gab es dafür einen konkreten Anlass?«
»Herr Kerntner fragte mich nach einem guten Security-Mann, und
da habe ich ihm Suhrbier empfohlen«, erklärte Kleemann etwas
ungeduldig. »Nach dem Grund habe ich nicht gefragt. Aber jemand,
der reich und erfolgreich ist, wie Herr Kerntner es zweifellos war,
ist immer in der Gefahr, Opfer eines Verbrechens zu werden. Das
brauche ich Ihnen ja wohl nicht näher auseinanderzusetzen, Herr
Jörgensen.«
4
Wenig später saßen wir wieder in unserem Sportwagen. Die
Durchsuchung des Büros hatte keine neuen Erkenntnisse
ergeben.
»Schon merkwürdig, dieses Büro«, meinte Roy. »Der Computer zur
Reparatur, kein Terminplaner vorhanden ...«
»Da hatte jemand gründlich aufgeräumt!«
»Das kannst du laut sagen. Ich habe übrigens Suhrbiers Waffe
überprüft. Eine 7.65er Automatik. In letzter Zeit ist nicht damit
geschossen worden.«
»Wäre auch zu einfach gewesen!«
»Jedenfalls sollten wir eine Personenabfrage über Suhrbier
starten. Ich kann dir nicht sagen, warum, aber ich traue ihm nicht
über den Weg, Uwe.«
»Dasselbe gilt für diesen Anwalt.«
»Ich könnte schwören, dass ich den Namen schon mal gehört
habe!«
5
Unsere Kollegen Stefan Czerwinski und Ollie Medina waren von
unserer Dienststelle zu einer Adresse in Wandsbek geschickt worden.
Dort stand ein mehrstöckiges Gebäude mit Apartments und Büros.
Unter anderem befand sich hier die Residenz von Ludwig F.
Schnitter, dem das TURNBERG & WEISS-Grundstück in Schenefeld
gehörte.
Das Gebäude war durch martialisch wirkende private
Security-Leute völlig abgeschottet. Videoüberwachungsanlagen
zeichneten das Geschehen in der Eingangshalle und auf den Fluren
auf.
Die Residenz von Ludwig F. Schnitter lag im obersten
Stock.
Stefan und Ollie standen vor einer gläsernen Tür, die
Schnitters Residenz vom Rest des Gebäudes trennte. Dahinter befand
sich ein Vorraum, von dem aus entsprechend beschriftete Türen
sowohl zu den Privaträumen, als auch zum Büro führten.
»Wenn einer sich hier ein Büro leisten kann, muss er was vom
Geschäft verstehen«, meinte Ollie. Der Kollege rückte sich die
dunkelrote Seidenkrawatte zurecht.
»Bin wirklich gespannt, mit wem wir es zu tun haben«, sagte
Stefan.
Er betätigte die Gegensprechanlage. Die Stimme einer Frau
meldete sich.
»Ja, bitte?«
»Czerwinski, Kriminalpolizei Hamburg«, antwortete Stefan. »Wir
müssen Herrn Ludwig Schnitter sprechen.«
»Herr Schnitter ist leider nicht im Hause«, erwiderte die
Frauenstimme.
»Dann machen Sie bitte trotzdem die Tür auf. Wir haben einen
richterlichen Durchsuchungsbeschluss.«
Einige Sekunden lang geschah gar nichts.
Ollie grinste.
»Vielleicht bist du nicht der Typ dieser Dame«, witzelte
er.
»Ha, ha...«
Schließlich öffnete sich die Tür zu den Privaträumen.
Eine junge Blondine trat heraus. Das gelockte Haar fiel ihr
bis über die Schultern. Durch die hochhackigen Schuhe, die sie
trug, wirkten ihre Beine noch länger, als sie ohnehin schon
waren.
Stefan hielt seinen Dienstausweis hoch und presste ihn gegen
die Glasscheibe. Die junge Frau näherte sich, musterte die beiden
Kollegen misstrauisch und öffnete schließlich.
Ollie und Stefan traten ein.
»Wo befindet sich Herr Schnitter jetzt?«, fragte Stefan.
»Ich habe keine Ahnung«, erklärte die junge Frau und
verschränkte die Arme unter den Brüsten.
Ollie wandte sich inzwischen der Tür mit der Aufschrift BÜRO
zu, öffnete sie mit der Hand an der SIG Sauer P228, die er am
Gürtel trug. Im nächsten Moment entspannte sich seine
Körperhaltung.
»Niemand da!«, brummte er. »Ich nehme mir jetzt den
Privatbereich vor.«
»Das habe ich Ihnen doch gesagt«, maulte die Blondine. »Was
ist überhaupt los? Was wollen Sie von Ludwig?«
»Wir stellen hier die Fragen«, sagte Stefan bestimmt. »Wer
sind Sie?«
»Mona Jascher. Sie können meinen Führerschein und meinen
Personalausweis sehen, wenn Sie daran irgendwelche Zweifel
haben.«
»Arbeiten Sie für Herrn Schnitter?«
»Ich halte hier für ihn die Stellung, während er seinen
Terminen nachgeht.«
Stefan hob die Augenbrauen.
»Sie kamen gerade aus dem privaten Bereich ...«
Mona lächelte kühl.
»Sie sind ein guter Beobachter ... Aber ich würde sagen, dass
Sie dieser Umstand nichts angeht, Herr Czerwinski!«
»Ihr Arbeitgeber war Besitzer des ehemaligen Firmengeländes
von TURNBERG & WEISS in Schenefeld. Wissen Sie, was dort heute
Nacht passiert ist?«
»Es kam in den Nachrichten.«
»Haben Sie mit Herrn Schnitter heute Morgen darüber
gesprochen?«
»Nur kurz, Herr Schnitter hatte zahlreiche auswärtige Termine
...«
»Wo ist sein Terminplaner?«
Ihr Blick wurde eisig.
»Der befindet sich in Herrn Schnitters Aktenkoffer.« Sie sah
auf die Uhr an ihrem Handgelenk und wirkte zunehmend nervös.
Ollie kehrte in diesem Moment aus dem Privatbereich von Ludwig
Schnitters Residenz zurück. Er zuckte die Achseln.
»Die Wohnung sieht wie abgeleckt aus«, meinte er. »Als ob da
nie jemand gewohnt hat!«
»Herr Schnitter war viel unterwegs und selten zu Hause«,
erklärte Mona Jascher.
In diesem Augenblick ertönte ein ohrenbetäubender Knall.
Stefan wirbelte herum. Er sah durch die geöffnete
Bürotür.
Eine Feuerwand flammte grell auf, schoss aus der Tür heraus.
Die Scheiben der Glastüren barsten unter der Druckwelle. Die Hitze
war mörderisch. Stefan taumelte zurück, warf sich zu Boden.
Glasscherben regneten auf ihn nieder. Rauch breitete sich
aus.
Beißender Qualm, der einem den Atem raubte. Stefan versuchte
sich aufzurappeln. Sein erster Gedanke galt Ollie. Er blickte sich
um, schützte die Augen notdürftig mit der Hand vor dem beißenden
Qualm.
Ollies Körper lag reglos auf dem Boden.
Mona Jascher befand sich in der Nähe der zerborstenen Glastür.
Sie hustete, krümmte sich, kam dann aber mühsam auf die
Beine.
Stefan rang nach Luft. Er kämpfte sich durch die
Rauchschwaden.
Viel Zeit blieb ihm nicht. Innerhalb von wenigen Augenblicken
konnte die Bewusstlosigkeit einsetzen. Und das war angesichts der
immensen Rauchentwicklung ein Todesurteil.
Das gesamte Büro glich einer Flammenhölle.
Als Stefan Ollie erreichte, fasste er ihn unter den Achseln,
zog ihn mit sich.
Augenblicke später hatte er ihn hinaus auf den Flur
geschleift. Noch war die Rauchkonzentration hier geringer, aber das
würde sich bald ändern. Stefan hustete, blickte sich um. Von Mona
Jascher war nirgends eine Spur. Sie hatte sich offenbar in
Sicherheit gebracht.
Dann dröhnten Schritte durch den Flur.
Einige der Security-Leute rannten im Laufschritt den Korridor
entlang, ausgerüstet mit Gasmasken und Feuerlöschern. Gegen die
Feuersbrunst im Büro hatten sie damit allerdings kaum eine Chance.
Bis die reguläre Feuerwehr eintraf, konnte es noch einige Zeit
dauern. Inzwischen aktivierte sich die Sprinkleranlage. Lauwarmer
Regen kam aus den Düsen an der Decke des Korridors. In Ludwig F.
Schnitters Residenz selbst war vermutlich die entsprechende
Elektronik durch die Detonation zerstört worden.
Zwei der Security-Leute kümmerten sich um Ollie, trugen ihn
davon. Zweifellos war er schwer verletzt. An seiner rechten Seite
war die Kleidung teilweise verkohlt. Vermutlich hatte die
Druckwelle ihn gegen die Wand geschleudert.
Einer der anderen Security-Leute rief über Funk die
Notfallambulanz, ein anderer kümmerte sich um den sich unter einem
Hustenanfall krümmenden Stefan.
6
Mona Jascher atmete tief durch, als sie sich endlich im Freien
befand. Ihre Augen tränten, sie spürte noch immer ein unangenehmes
Kratzen im Hals. Außerdem hatte sie eine Schnittwunde an der Hand,
verursacht durch die Scherben der geborstenen Glastür. Mit einem
Taschentuch stillte sie notdürftig die Blutung. Ihre exquisite
Garderobe sah ziemlich ramponiert aus. Entsprechend neugierige
Blicke hatten sie auf ihrem Weg aus dem Bürokomplex
begleitet.
Ihr Wagen stand hinter der nächsten Straßenecke, etwa
zweihundert Meter entfernt. Im Hintergrund waren die Sirenen der
Feuerwehr zu hören.
Ich muss mich beeilen, sonst ist hier gleich alles durch
Einsatzfahrzeuge blockiert, ging es ihr durch den Kopf.
Plötzlich umspielte ein Lächeln ihren Mund.
Von Ludwig Schnitters Büro würde so gut wie nichts
übrigbleiben. Nichts, was die Kriminalpolizei oder andere
Polizeibehörden verwenden konnten ...
Sie hob plötzlich die Hand, blickte auf das dunkelrot mit Blut
vollgesogene Taschentuch, dass ihre Finger auf den Handballen
pressten.
Das einzige, worum ich mir vielleicht Sorgen machen müsste,
ist das hier, überlegte sie. Schließlich hatte sie vermutlich DNA
hinterlassen.
Aber ob davon noch etwas übrig sein würde, wenn die
Löscharbeiten beendet waren, stand in den Sternen.
7
Am nächsten Morgen saßen wir alle mit ziemlich ernsten
Gesichtern im Besprechungszimmer von Kriminaldirektor Bock. Außer
dem Kollegen Roy Müller und mir waren noch Stefan Czerwinski sowie
die Kollegen Ludger Mathies und Tobias Kronburg sowie die
Innendienstler Max Warter und Norbert Nahr anwesend.
Stefan berichtete uns über den Zustand unseres Kollegen Ollie
Medina, der zur Zeit in der Asklepios Klinik in Wandsbek auf der
Intensiv-Station lag. Ollie hatte Verbrennungen und eine schwere
Rauchvergiftung, außerdem eine ernste Schädelprellung. Wie eine
Puppe musste die Druckwelle ihn gegen die Wand geschleudert haben.
Stefan war glimpflicher davongekommen. Aber auch er war durch die
Folgen der Detonation noch gezeichnet.
»Wenn wir hier fertig sind, werden Sie nach Hause fahren und
sich schonen«, erklärte Herr Bock, unser direkter Vorgesetzter bei
der Kriminalpolizei Hamburg, an Stefan gewandt.
Stefan Czerwinski wollte gerade etwas erwidern, aber Herr Bock
brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Das ist eine dienstliche Anweisung, Herr Czerwinski.«
»Ich bin fit!«, behauptete er.
»Das sieht man«, erwiderte Herr Bock. Er schüttelte energisch
den Kopf. »Sie haben schon genug getan. Immerhin haben wir diese
Frau durch Ihre Angaben auf den Video-Aufnahmen der
Überwachungsanlage identifizieren und ein einigermaßen brauchbares
Bild für die Fahndung erstellen können.«
»Mona Jascher«, nickte Stefan. »Kurz bevor die Flammenhölle
losbrach, wirkte sie verdammt nervös ...«
»Meinen Sie, sie wusste von dem bevorstehenden Inferno?«
»Vielleicht ist sie dafür verantwortlich!«
»Eine kühne Schlussfolgerung, für die wir bisher allerdings
keinen Anhaltspunkt haben.«
»Jedenfalls ist sie genauso spurlos verschwunden wie dieser
Ludwig Schnitter.«
Jetzt kam der Augenblick von Max Warter, einem unserer
Innendienstler aus der Fahndungsabteilung.
»Ludwig F. Schnitter hat nie existiert«, erklärte Warter. »Es
handelte sich um eine sorgfältig aufgebaute Tarnidentität.«
Herr Bock hob die Augenbrauen.
»Haben Sie herausgefunden, wer dahintersteckt?«
»Ich habe die Bänder der Video-Überwachungsanlage des Gebäudes
in Wandsbek sehr gründlich untersucht. Der Mann, der von einigen
der Security-Leute als Herr Schnitter identifiziert wurde, ist
niemand anderes als Adam Kerntner!«
Herr Bock nickte.
»Unser langgehegter Verdacht gegen Kerntner war also
gerechtfertigt. Kerntner kaufte unter falscher Identität
Industriebrachen auf, die dann als illegale Abladeflächen für
Sondermüll fungierten. Das übliche Vorgehen in der Branche
...«
»Für wen hat Kerntner vermutlich gearbeitet?«, mischte ich
mich in das Gespräch ein.
Herr Bock wandte sich an Norbert Nahr, unseren Spezialisten
für Wirtschaftskriminalität und das Verfolgen verborgener
Geldströme.
»Wir wissen, dass Kerntner erhebliche Summen über
Postfach-Firmen auf den Cayman-Inseln und in Liechtenstein erhielt
- insbesondere über eine gewisse Turento Investment Group, die
offenbar in beiden Ländern aktiv ist.«
»Wenn man das Unterhalten von Postfachadressen als
wirtschaftliche Aktivität bezeichnen will«, kommentierte Roy.
Herr Bock fragte: »Gibt es irgendwelche Hinweise darauf, wer
mit dieser Turento Investment Group seine Geschäfte tarnt?«
Der Kollege Norbert Nahr hob die Augenbrauen.
»Ja, Hinweise gibt es schon - aber leider auch nicht mehr.
Eine wichtige Rolle scheint ein gewisser Maik Peirat zu spielen.
Ihm gehört eine Kette von Diskotheken hier an der Küste.«
»Bisher dachten wir immer, Peirat wäre Geldwäscher.«
»Das ist er wahrscheinlich auch«, bestätigte Nahr.
»Aber er wäre auch ein idealer Mann, um Gelder von
interessierten Leuten gut getarnt in der Müll-Branche zu
investieren.«
»Hinter Peirat muss also noch jemand viel Größeres stecken«,
schloss ich aus Norbert Nahrs Ausführungen.
Unser Wirtschaftsexperte nickte. »Zweifellos.«
Jetzt meldete sich Max Warter zu Wort: »Peirat war immer sehr
geschickt, so dass es äußerst schwer ist, ihn einer bestimmten
kriminellen Vereinigung zuzuordnen. Aber Tatsache ist, dass er nach
Norberts Ermittlungen Geld wie Heu haben muss. Mehr jedenfalls, als
seine Discotheken erwirtschaften können, selbst wenn man annimmt,
dass er sich mit dem Vertrieb von Designer-Drogen noch ein Zubrot
verdient.«
Langsam begann der Fall Konturen anzunehmen. Adam Kerntner war
nichts weiter als ein kleiner Wasserträger im System der Müll-Mafia
gewesen. Und es lag nahe, dass sein Tod mit Vorgängen hinter den
Kulissen dieser Branche des Verbrechens zu tun hatte, die wir
bislang noch nicht durchschauten.
Zwei Brandanschläge innerhalb kürzester Zeit, beide in
Zusammenhang mit Kerntner. Auch das konnte kein Zufall sein.
Die Gutachten unserer Spurensicherer waren eindeutig. Das
ehemalige Gelände von TURNBERG & WEISS war vorsätzlich in ein
Flammenmeer verwandelt worden.
Herr Bock wandte sich an Roy und mich.
»Versuchen Sie noch mal mit diesem Nachtwächter zu reden. Er
ist schließlich ein wichtiger Zeuge und selbst wenn er unter Schock
steht ...«
»Wir werden unser Bestes tun, die Ärzte zu überreden«,
versprach ich.
»Außerdem will ich so viel wie möglich über diesen Peirat
wissen.« Unser Chef wandte sich an Ludger und Tobias. »Das werden
Sie übernehmen.«
»Bleibt nur noch die Frage, wo diese blonde Lady aus Wandsbek
geblieben ist«, meinte Stefan Czerwinski.
»Den Video-Aufzeichnungen nach betrat sie das Gebäude gestern
zum ersten Mal«, meldete sich Warter zu Wort. »Allerdings reichen
die Aufnahmen nur etwa zwei Wochen zurück ...«
»Von einem regelmäßigen Arbeitsverhältnis kann aber trotzdem
wohl keine Rede sein«, kommentierte Roy.
8
Als Roy und ich eine Stunde später das West-Klinikum
erreichten und uns nach Jonas Koserski, dem Nachtwächter vom
ehemaligen TURNBERG & WEISS-Gelände erkundigten, erlebten wir
eine unangenehme Überraschung. Von der Pflegedienstleitung der
Station bekamen wir die Auskunft, dass Koserski früh am Morgen
abgeholt worden war.
»Das waren zwei Kollegen von Ihnen«, meinte die vollbusige
Pflegedienstleiterin. Das dunkle Haar hatte die Frau zu einem
Knoten zusammengefasst. Sie hieß Marita-Rosalia Oscher. Auf dem
kleinen Schild am Revers ihres weißen Kittels war kaum Platz genug
für den ganzen Namen.
»Kollegen von uns?«, echote ich. »Das ist
ausgeschlossen.«
»Sie haben Dienstausweise vorgezeigt, die auch die beiden
Polizisten von der Schenefelder Polizeidienststelle überzeugten,
die hier Wache hielten.«
»Ging es Koserski denn wieder so viel besser?«
»Die hatten einen Krankentransporter inklusive Pfleger
dabei.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo der Zielort dieses
Krankentransportes war?«
»Nein. Wir bekamen die Auskunft, dass der künftige
Aufenthaltsort von Herrn Koserski geheim bleiben soll, um ihn zu
schützen, da er ein wichtiger Zeuge sei.«
»Das ist er in der Tat«, murmelte ich.
»Wollen Sie die Verfügung sehen, die uns gegeben
wurde?«
»Ja, geben Sie es uns. Es handelt sich um ein
Beweisstück.«
Wir verständigten die Schenefelder Polizeidienststelle und das
Hauptquartier. Leider konnte sich niemand an das Kennzeichen des
Krankentransporters erinnern. Ein Pförtner glaubte zu wissen, dass
es sich um einen Mercedes gehandelt hatte.
Die Fahndung lief auf Hochtouren.
Roy und ich fuhren zu Jonas Koserskis letzter Adresse.
Das war unser einziger Anhaltspunkt. Vielleicht fanden wir
dort etwas, das uns weiterbrachte.
»Du fürchtest, dass ein paar Killer des Müll-Syndikats sich
den einzigen Zeugen geschnappt haben, der etwas darüber sagen
könnte, was in der Nacht des Brandes auf dem TURNBERG &
WEISS-Gelände geschah«, sagte Roy, während ich den Sportwagen, den
uns die Fahrbereitschaft der Kriminalpolizei Hamburg zur Verfügung
stellte, in den Süden von Schenefeld lenkte.
Die Rundumleuchte auf dem Dach sorgte dafür, dass wir etwas
schneller vorwärts kamen.
»Die werden kurzen Prozess mit ihm machen«, vermutete ich.
Unsere Chancen, das Leben des Zeugen zu retten, standen äußerst
schlecht. Und trotzdem würden wir alles versuchen.
Koserski besaß ein kleines Haus am Stadtrand.
»Ich wusste gar nicht, dass Nachtwächter-Jobs so gut bezahlt
werden«, meinte Roy, als wir das Haus erreichten.
»Kommt immer drauf an, was man bewacht«, erwiderte ich.
»Na ja, Diamanten waren es in diesem Fall ja nicht gerade
...«
Ich parkte den Sportwagen am Straßenrand. Wir stiegen
aus.
Koserskis blau angestrichenes Holzhaus wurde von einem
schlichten Rasengrundstück umgeben.
Wir gingen zur Haustür. In der Einfahrt stand ein blauer Ford,
der schon etwas Rost angesetzt hatte. Es war also anzunehmen, dass
jemand im Haus war. Über Koserskis persönliche Verhältnisse wussten
wir nur, dass er bei der Bundeswehr gewesen war. Möglicherweise
lebte er mit jemandem zusammen.
Roy klingelte.
Die einzige Reaktion war ein unterdrückter Schrei, der sofort
verstummte. Dann ein klapperndes Geräusch, als ob ein Möbelstück
umgestoßen wurde.
Beinahe gleichzeitig griffen Roy und ich zu unseren
Dienstpistolen.
Roy presste sich neben der Haustür gegen die Wand, fasste die
Pistole mit beiden Händen.
»Ich versuch's von hinten!«, sagte ich und lief in geduckter
Haltung los. Ich schlich unter den Fenstern her.
Nach wenigen Augenblicken hatte ich die Ecke erreicht, hinter
der sich die Rückfront mit der Veranda befand. Ein Mann trat durch
die Verandatür ins Freie.
In der Linken hielt er eine Maschinenpistole vom isrealischen
Typ Uzi im Anschlag. Er trat die dreistufige Verandatreppe
hinunter, ließ den Blick schweifen. Dann trat er noch ein paar
Schritte auf den Rasen hinaus. Ich wartete an der Ecke. Mein
Gegenüber ließ die Uzi sinken. Ich schnellte hervor, riss die
Pistole empor.
»Kriminalpolizei! Waffe fallenlassen!«, rief ich.
Der Kerl wirbelte herum, ließ die Uzi losknattern. Eine Garbe
von Projektilen hagelte in meine Richtung. Ich warf mich zu Boden,
während die Kugeln der Uzi das Geländer der Veranda buchstäblich
zerfetzten. Dicht gingen die Schüsse über mich hinüber, schlugen
rechts und links von mir ein.
Der Mann schwenkte die MPi wild hin und her.
Ich rollte mich herum. Dort, wo ich vor Sekundenbruchteilen
noch gelegen hatte, fetzten Kugeln in den weichen Boden, ließen
Rasenstücke durch die Luft wirbeln.
Der erste Schuss, den ich mit meiner SIG abgab, ging ins
Leere.
Der zweite traf.
Der Mann mit der Uzi taumelte zurück. Die Schulter, an der ihn
die Kugel erwischt hatte, wurde durch die Wucht des Geschosses
zurückgerissen. Eine MPi-Salve ging in die Luft.
»Fallenlassen, verdammt noch mal!«, schrie ich.
Mein Gegner ließ mir keine Wahl. Er richtete den kurzen Lauf
der Uzi in meine Richtung. Der Zeigefinger krampfte sich um den
Stecher. Bevor er abdrücken konnte, ließ ich die SIG in meiner
Faust loswummern. Der Schuss traf ihn in der Herzgegend.
Aus der Uzi löste sich noch ein paar ungezielter Schüsse, dann
fiel sein Körper schwer auf den weichen Rasen.
Ich rappelte mich auf, stürmte zur Veranda. Mit einem einzigen
Schritt nahm ich die drei Stufen, duckte mich dann. Durch die
halboffene Tür feuerte jemand eine Shotgun in meine Richtung ab.
Der Knall war ohrenbetäubend. Der Schuss ging dicht an mir
vorbei.
Ich erreichte die Tür, presste mich daneben gegen die Wand,
fasste die SIG im Beidhandanschlag.
Sekundenbruchteile später wummerte die Shotgun meines Gegners
erneut los. Dicht neben mir riss der Schuss ein etwa handgroßes
Loch in die Holzwand.
Ich wirbelte herum, tauchte aus meiner Deckung hervor und
stand einen Sekundenbruchteil mit der Pistole im Anschlag in der
Tür.
Dann erstarrte ich.
Sah in das grinsende Gesicht meines Gegners. Und die
angstgeweiteten Augen seiner Gefangenen. Sie war mit Händen und
Füßen an einen Stuhl gefesselt, außerdem geknebelt. Vermutlich
hatte sie den unterdrückten Schrei ausgestoßen, den Roy und ich
gehört hatten.
Ich schätzte den Mann auf ungefähr dreißig. In der Rechten
hielt er die doppelläufige Shotgun, in der linken einen Revolver,
dessen Lauf auf die Schläfe der Frau gerichtet war.
Die Shotgun hatte zwei Schuss - und die hatte der Kerl bereits
abgefeuert. Dass er seit dem letzten Schuss zum Nachladen gekommen
war, konnte man ausschließen.
Der Mann mit der Baseballmütze lachte dreckig.
»Leg dein Eisen auf den Boden!«, zischte er. »Ich denke, du
weißt, wie der Kopf dieser Frau aussieht, wenn ich jetzt abdrücke
...«
»Geben Sie auf! Sie machen alles nur noch viel
schlimmer!«
»Spar dir dein Gerede!«
Er presste den Lauf des Revolvers so hart gegen die Schläfe
der Frau, dass sie aufstöhnte.
Ich hatte keine Wahl. Vorsichtig bückte ich mich und legte
meine Pistole auf den Boden.
»Jetzt kick das Eisen zu mir 'rüber!«, befahl der Kerl mit der
Baseball-Kappe.
Ich gehorchte. Die Pistole rutschte über den Boden. Der Mann
stoppte sie mit dem Fuß wie ein Fußballer. Dann bückte er sich, um
die Waffe aufzuheben. Er ließ die Shotgun zu Boden sinken, griff
nach meiner Dienstwaffe. Keine Sekunde wich dabei der Lauf des
Revolvers von der Schläfe seiner Geisel.
Er nahm die Pistole. Ein Grinsen entblößte eine
Zahnlücke.
Er richtete die Waffe auf meinen Kopf.
»Geh zur Hölle, Bulle!«, zischte er.
Dann drückte er ab.
9
Mona Jascher trat aus der Dusche ihres Apartments im Hotel
Christall in der Dorothenallee. Sie trocknete sich ab und zog sich
anschließend einen hauchdünnen Kimono über, dessen fließender Stoff
sich perfekt an ihre Körperformen anschmiegte. Dann ging sie quer
durch das Apartment, nahm das Telefon und bestellte sich eine
Mahlzeit vom Zimmerservice. Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte,
atmete sie tief durch und wandte sich dem Fenster zu. Die Haare
klebten ihr noch feucht am Kopf.
Wasser - das dem Feuer entgegengesetzte Element, dachte sie.
Aber das Feuer war mächtiger.
Mächtiger als alles andere.
Sie schloss für einen Moment die Augen. Durch das Fenster
ihres Apartments schien die Sonne herein. Durch ihre Augenlider sah
sie nichts weiter als die Farbe rot. Rot wie Feuer.
Erinnerung stiegen ihr auf. Bilder erschienen vor ihrem
inneren Auge. Emporlodernde Flammen, furchtbare Schreie. Eine
brennende Hauswand, die in sich zusammenbrach. Wie verschmorte
Streichhölzer knickten die mächtigen Dachbalken ein.
»Nein!«, sagte Mona dann laut. Sie öffnete die Augen. Das
Sonnenlicht wirkte furchtbar grell. Verzweifelt versuchte sie die
Bilder der Erinnerung abzuschütteln. Sie wusste, dass das letztlich
zwecklos war. Sie kamen immer wieder. Auch die Schreie.
»Du wirst nie wieder das Opfer sein!«, sagte sie laut, wie
eine Beschwörung. Ihre Hände ballten sich dabei unwillkürlich zu
Fäusten, krampften sich regelrecht zusammen. Ihr fein geschnittenes
Gesicht wurde zu einer verzerrten Maske.
»Nie wieder!«, schrie sie.
Es war ein Ritual, mit dem sie mühsam die Traumata ihrer
Vergangenheit in Schach hielt. Mona atmete tief durch, rang
förmlich nach Luft. Der Puls schlug ihr bis zum Hals. Sie ließ sich
in den Sessel fallen.
Ganz ruhig!, sagte sie sich selbst. Es geht vorüber. Du kennst
das doch ...
Das Telefon schrillte.
Eine willkommene Ablenkung, dachte Mona. Sie stand auf, nahm
den Hörer ab.
»Ja, bitte?«
Eine sehr tiefe männliche Stimme meldete sich.
»Wir müssen uns dringend treffen, Mona.«
»Sind Sie wahnsinnig, hier anzurufen, Rottmann?«
»Heute Abend, 21.00, Chico's Bodega, Langestraße.«
Der Anrufer hatte aufgelegt.
Ich werde verdammt vorsichtig sein müssen, ging es ihr durch
den Kopf. Schon die Sache mit Ludwig F. Schnitters Büro war äußerst
heikel gewesen. Zwei Kriminalpolizei-Beamte waren ihr begegnet. Aus
den Nachrichten im Radio hatte sie erfahren, dass einer der beiden
schwer verletzt war. Aber sie musste damit rechnen, das inzwischen
ein Phantombild von ihr existierte, zumal es in dem Bürokomplex in
Wandsbek auch eine nahezu lückenlose Videoüberwachung gab.
Ich werde mein Äußeres radikal verändern müssen, überlegte
sie. Und zwar noch bevor ich mich mit Rottmann treffe ...
10
Ich sah in die Mündung meiner eigenen Waffe, sah wie das
Mündungsfeuer herausspie. Instinktiv duckte ich mich. Die Kugel
zischte über meinen Kopf, aber einer der nächsten Schüsse würde
mich erwischen. Es gab keine Deckung, keinen Schutz, nichts.
Gleichzeitig mit dem ersten Schuss ertönte ein anderes
Geräusch von der gegenüberliegenden Seite des Raums. Die Tür wurde
eingetreten. Sie sprang aus dem Schloss. Ein Scharnier brach mit
einem ächzenden Laut heraus. Die Tür klappte zur Seite.
Roy stürzte mit seiner SIG im Beidhandanschlag herein.
Der Kerl mit der Baseball-Kappe wirbelte herum.
Roys Schuss traf ihn rechts im Oberkörper, riss ihn zurück. Er
fiel auf den niedrigen Tisch. Dessen Beine knickten ein.
Sekundenbruchteile später war Roy bei ihm, richtete den Lauf der
SIG auf ihn.
»Waffe weg!«
Der Mann ächzte. Sein Hemd färbte sich rot. Er lag wie ein
Käfer auf dem Rücken, die Hände immer noch um die Griffe der beiden
Waffen gekrallt. Dann löste sich diese Umklammerung. Er sah ein,
dass er keine Chance mehr hatte.
Der Mann keuchte, rang nach Luft.
Ich beugte mich über ihn, nahm meine Pistole und seinen
Revolver an mich.
Roy holte inzwischen mit der Linken sein Handy hervor, um erst
den Notarzt und dann die Kollegen zu rufen. Nachdem das geschehen
war, machte ich mich daran, die Geisel von ihren Fesseln zu
befreien.
Fünfzehn Minuten später kam der Notarzt. Die Kollegen der
Schenefelder Polizeidienststelle waren sogar noch etwas
schneller.
Roy und ich hatten inzwischen erste Hilfe geleistet und die
Wunde des Verletzten notdürftig verbunden. In seiner Jackentasche
fanden wir einen Führerschein, der auf den Namen Benno Gerard
ausgestellt war.
Ich war gespannt, was die Personenabfrage ergeben würde.
Nachdem Gerard abtransportiert war, wandte ich mich der Geisel
zu, die in der letzten Viertelstunde wie konsterniert dagesessen
hatte. Sie zitterte leicht.
Kriminalhauptkommissar Stelzer und ein weiterer Kollege von
der Schenefelder Polizeidienststelle untersuchten inzwischen den
Toten im Garten.
»Wer sind Sie?«, fragte ich die Frau, deren Alter ich auf
Mitte dreißig schätzte. Das brünette Haar wies einen deutlichen
Rotstich auf. Ihre Figur wirkte sehr athletisch, was durch den eng
anliegenden Jogging-Suit, den sie trug, noch betont wurde.
Sie sah mich an, wirkte noch immer verstört. Nach dem, was sie
soeben durchgemacht hatte, war das auch kein Wunder.
»Anne Köppen«, murmelte sie abwesend. »Mein Name ist Anne
Köppen.«
»Sie befinden sich hier im Haus von Herrn Jonas
Koserski.«
»Ja.«
»In welcher Beziehung stehen Sie zu ihm?«
»Ich bin vor einem halben Jahr bei ihm eingezogen.« Ihr
Gesicht veränderte sich, bekam einen besorgen Ausdruck. »Was ist
mit Jonas?«
Roy und ich wechselten einen kurzen Blick.
»Es tut mir leid, aber wir müssen Ihnen eine schlimme
Mitteilung machen«, sagte Roy.
Sie schluckte.
»Nun sagen Sie schon, was ist passiert?«
»Er ist in Lebensgefahr.« In knappen Worten fasste ich ihr
zusammen, was geschehen war.
Sie atmete tief.
»Mein Gott«, flüsterte sie und schüttelte dabei fassungslos
den Kopf.
»Ich weiß, dass das ein Schock für Sie sein muss«, hoffte ich
ihr Gehör zu finden. »Aber ich verspreche Ihnen, dass wir alles tun
werden, um Herrn Koserski zu helfen ...«
»Ja, natürlich ...«
»Außerdem sind wir auf Ihre Mithilfe angewiesen.«
»Was soll ich tun?«, fragte sie. Verzweiflung klang in ihren
Worten mit.
»Uns bleibt vermutlich nicht viel Zeit«, sagte ich. »Aber
vielleicht können Sie uns helfen, indem Sie unsere Fragen
beantworten.«
»Fragen Sie!«
»Haben Sie eine Ahnung, wohin man Ihren Lebensgefährten
gebracht haben könnte?«
»Nein.«
»Was wollten diese Kerle von Ihnen?«
»Ich habe sie überrascht, als ich vom Joggen kam. Sie waren
gerade dabei, die Wohnung zu durchsuchen.«
»Haben Sie eine Ahnung, hinter was sie her waren?«
»Nein.«
»Ihr Mann bewachte ein Grundstück, dass einem Strohmann der
Müll-Mafia gehörte«, stellte ich fest. »Vielleicht hat er gesehen,
wie man den Mann ermordete, für den er arbeitete.«
»Herr Kerntner, ich weiß. Es kam ja ausführlich in den
Lokalsendern.« Sie atmete tief durch. »Im Krankenhaus durfte ich
ihn nicht besuchen ... Er wurde vollkommen abgeschirmt.«
Roys Handy schrillte. Er nahm den Apparat ans Ohr, meldete
sich.
»Jonas Koserski wurde tot aufgefunden«, erklärte Roy einen
Augenblick später.
»Nein!«, entfuhr es Anne Köppen. Tränen glitzerten in ihren
Augen. In ohnmächtiger Wut ballte sie Fäuste. »Diese Schweine«,
flüsterte sie tonlos.
Roy wandte sich an mich.
»Ich fahre zum Fundort der Leiche. Vielleicht ergibt sich dort
irgendein Anhaltspunkt. Vielleicht erfährst du ja hier noch
etwas.«
»In Ordnung«, nickte ich.
»Ich hole dich dann nachher ab.«
Nachdem Roy gegangen war, saß Anne Köppen wieder eine ganze
Weile in sich zusammengesunken da. Inzwischen hatten die Kollegen
der Schenefelder Polizeidienststelle herausgefunden, das der Tote
im Garten Zacharias Bach hieß.
»Er hatte eine Taxi-Quittung in der Hosentasche«, berichtete
unser Kollege Kriminalhauptkommissar Stelzer. Er hielt mir das
sorgfältig in Cellophan eingetütete Stück Papier hin. Ich sah es
mir eingehend an. Danach war Bach am gestrigen Abend in Hamburg
gewesen, hatte sich gegen 23.00 Uhr in der Stadt herumkutschieren
lassen.
»Es müsste eigentlich zu ermitteln sein, wohin die Fahrt
ging«, meinte Stelzer.
Ich wandte mich wieder Anne Köppen zu.
»Je schneller Sie Ihren momentanen Schock überwinden, desto
besser stehen unsere Chancen, die Leute zu fassen, die Herrn
Koserski - und beinahe auch Sie! - auf dem Gewissen haben.«
»Jonas ist ... tot«, murmelte sie, so als ob danach nichts
mehr einen Sinn hatte.
»Ich verstehe Ihre Trauer.«
»Wirklich? Das glaube ich kaum ...«
»Sie haben Herrn Koserski sehr geliebt ...«
»Was interessiert Sie das?«
»Ich will, dass die Männer gefasst werden, die Ihrem
Lebenspartner das angetan haben.«
Anne sah mich an.
»Fragen Sie!«, forderte sie mich auf.
»Was wissen Sie über Herrn Koserskis Job? Hat er Ihnen etwas
darüber erzählt, vielleicht Namen erwähnt?«
»Ihm war klar, dass das kein gewöhnlicher Nachtwächter-Job
war. Dafür hat er auch viel zu viel Geld dafür bekommen. Aber er
hat keine Fragen gestellt.«
»Ist in der letzten Zeit irgendetwas Ungewöhnliches
passiert?«
Anne zog die Augenbrauen zusammen und zuckte dann mit den
Schultern.
»Ich weiß nicht ...«, begann sie nachdenklich und brach dann
ab. »Vor zwei Tagen, da habe ich einen Anruf entgegengenommen. Ein
Mann, den ich nicht kannte, wollte Jonas sprechen. Danach war er
völlig verändert. Ganz bleich.«
»Hat Herr Koserski nicht gesagt, worum es ging?«
»Nur, dass ich mir keine Sorgen machen soll. Ich habe einen
Teil des Gesprächs mitbekommen. Zwischendurch sagte Jonas mal: 'Sie
sind wahnsinnig, Rottmann?'»
»Rottmann?«, vergewisserte ich mich.
»Ja.«
»Gibt es sonst noch etwas, was Ihnen aufgefallen ist?
Vielleicht an der Stimme oder im Hintergrund, als Sie den Anruf
annahmen?«
»Die Stimme war sehr tief, sprach leise. Und der Hintergrund?
Ich glaube, er rief aus einer Bar oder etwas ähnlichem an.
Jedenfalls lief Musik. 'Stand by your man', glaube ich. Aber das
wird Ihnen alles kaum weiterhelfen. Schließlich gibt es allein in
ganz Hamburg vermutlich drei Telefonbuchseiten mit
Rottmanns.«
»Jede Kleinigkeit kann wichtig sein«, erwiderte ich.
»Glauben Sie, der Anruf hat etwas mit dem zu tun, was jetzt
passiert ist?«
»Das bekomme ich heraus«, versprach ich.
Als Roy mich später mit dem Sportwagen abholte, erfuhr ich,
dass es den Erkennungsdienstlern gelungen war, ein Reifenprofil des
Krankentransporters zu sichern, mit dem Koserski entführt worden
war.
11
Punkt 21.00 Uhr betrat Mona Jascher Chico's Bodega in der
Langestraße. Chico's Bodega war eine Bar der gehobenen Kategorie.
Sie gehörte Chico Moreno, einem Exil-Kubaner.
Entsprechend orientierte sich der Stil der Inneneinrichtung an
jenen Bars, wie es sie vor der Revolution in Kuba gegeben hatte.
Man hörte viele spanische Sprachfetzen.
Mona hatte sich beim Frisör in Winterhude einen Pagenschnitt
und eine Tönung machen lassen. Ihr Haar war jetzt schwarz.
Sie trug ein enganliegendes blaues Kleid und eine dazu
passende Handtasche. Ihr Blick schweifte durch den Raum. Dann
entdeckte sie an einem der Tische einen grauhaarigen Mann, Mitte
vierzig. Eine Narbe schimmerte durch das kurz geschorene Haar
hindurch. Seine Nase war zweifellos mal gebrochen gewesen.
Mona ging auf ihn zu, setzte sich zu ihm an den Tisch. Der
Mann hob die Augenbrauen. Er grinste.
»Sie sehen gut aus, Mona.«
»Sparen Sie sich Ihren abgestandenen Charme für die Nutten,
von denen Sie es sich besorgen lassen!«, zischte sie.
Das Gesicht des Grauhaarigen wurde zu einer starren
Maske.
»Warum so kratzbürstig, Mona?«
»Kommen Sie zur Sache, Rottmann! Meine Zeit ist
begrenzt.«
»Alles der Reihe nach ...«
»Rufen Sie mich übrigens nie wieder im Hotel an! Wer weiß?
Vielleicht überwacht die Kriminalpolizei längst Ihr Telefon.«
»So ängstlich, Mona?« Rottmann kicherte, leerte dann das
Tequila-Glas, das vor ihm auf dem Tisch stand in einem Zug.
»So kenne ich Sie ja gar nicht ...«
»Ich hoffe, Sie sind nicht nur hier, um dumm herumzuquatschen
...«
Rottmann langte in die Innentasche seiner Lederjacke, holte
ein braunes Kuvert hervor. Er legte es vor Mona auf den
Tisch.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Alles, was Sie über Maik Peirat wissen müssen.«
»Ich dachte, der erholt sich in Rio von seinen strapaziösen
Geschäften!«