Thron des Blutes - Conn Iggulden - E-Book
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Thron des Blutes E-Book

Conn Iggulden

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Beschreibung

Ein Mann. Sieben Könige. Der blutige Thron Englands.

England im 10. Jahrhundert: Das Land ist geteilt und gezeichnet von jahrelangen Machtkämpfen. König Æthelstan, ein Enkel Alfreds des Großen, hat geschworen, das Reich unter einer Krone zu vereinen. An seiner Seite steht Dunstan von Glastonbury – ein Mönch, Politiker, Visionär und, in den Augen vieler, ein Verräter. Sieben Königen dient Dunstan durch Krieg, Feuer und Wahnsinn, um Æthelstans Traum wahr werden zu lassen. Doch zu welchem Preis?

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Seitenzahl: 763

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Das Buch

Wenn du den ersten König von England gesehen hättest, wie er dort im Schein der Kerzen stand, würden sich dir die Nackenhaare sträuben, genauso wie es mir erging. Er war damals vierundvierzig Jahre alt. Sein Blick schweifte prüfend in die Runde und suchte nach jedem noch so kleinen Anzeichen von Widerstand. Ich sah, wie Æthelstan die geballte rechte Faust hochreckte, eine große, narbige Faust, die an einen Hammer erinnerte.

»Als ihr mich zum König gewählt habt, gelobte ich, mich niemandem zu beugen außer Gott. Britannien ist mein Land. England ist mein Land. Ich werde kämpfen – und ich werde ins Heer einberufen.«

Jetzt brach ein brüllender Jubel aus, die Männer sprangen auf und warfen begeistert die Arme hoch. Ich weiß nicht, ob sich eine Stimme gegen diese übereilte Entscheidung erhob. Ich konnte es in dem Tumult nicht erkennen, es waren auch zu viele, die hier schrien und jubelten, als dass man einen Widerspruch hätte wahrnehmen können. Und das sollte ein Witan sein, eine ernsthafte Ratsversammlung? Das war das Herz von Æthelstans Regierung? Ich hatte sachliche Gespräche erwartet, über die Ernennung neuer Vögte, über Grund-und-Boden-Streitigkeiten, oder eine Abstimmung darüber, ob man Geldverleiher besteuern solle – aber niemals hatte ich mit einem Ruf aufs Schlachtfeld gerechnet.

Der Autor

Conn Iggulden, geboren 1971, ist einer der erfolgreichsten Autoren historischer Stoffe. Iggulden lehrte Englisch an der University of London, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. Neben seinen Romanen stürmte er auch mit dem Sachbuch »Dangerous Book for Boys« die Bestsellerlisten. Iggulden lebt mit seiner Familie in Hertfordshire, England.

Lieferbare Titel

Die Rosenkriege:

Sturmvogel, Das Bündnis, Drei Könige, Brüderschlacht

Einzeltitel:

Sparta

CONN IGGULDEN

Historischer Roman

Aus dem Englischen übersetztvon Christine Naegele

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe DUNSTANerschien 2017 bei Michael Joseph, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 04/2021

Copyright © 2021 by Conn Iggulden

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Stefanie Wewetzer

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,unter Verwendung von Motiven von © AdobeStock (Manuel) und© shutterstock (Dm_Cherry, Evannovostro, Stephen Barnes)

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-22501-8V002

www.heyne.de

Für Louise Moore

Æthelstan, Edmund, Eadred

Edwy und Edgar

Edward und Ethelred

Drei Brüder

Zwei Söhne

Zwei Enkel

Offensichtlich sollte dieses Manuskript nie von jemandem gelesen werden. Es enthält Hinweise, dass es eigentlich vernichtet werden sollte, und wir können nur darüber spekulieren, warum dies nicht geschehen ist. Obwohl die Erinnerung an die Ereignisse ganz außergewöhnlich klar, fast fotografisch ist, weist es Lücken auf, ebenso wie es Begriffe enthält, die nahezu unübersetzbar sind. Einige Passagen waren nach Jahrhunderten unsachgemäßer Lagerung zu stark beschädigt oder verblichen, um sie lesen zu können. Diese Lücken habe ich gefüllt, so gut ich konnte.

Übersetzung ist immer zu gleichen Teilen Kunst und Handwerk, und ich habe versucht, den Fluss der Handlung in Gang zu halten, wenn er unklar wurde. Der Autor gliederte den Text in Absätze, abgesehen davon gab es keine weitere Zeichensetzung. Dies machte es mitunter zu einer Herausforderung, den Sinn zu erfassen.

Die Kapitelüberschriften und die Aufgliederung in mehrere Teile ist mein Beitrag. Ich hoffe, das Ergebnis ist unterhaltsam und wirft ein Licht auf ein Ausnahmetalent des zehnten Jahrhunderts. Trotz seiner Fehler und Selbstzweifel war Dunstan ein großer Mann, der die Regierungszeit von sieben Königen erlebt hat.

Conn Iggulden

PROLOG

Was ist der erste Satz anderes als eine Tür, die von einer unsichtbaren Hand aufgestoßen wird?

Also bitte, ich habe einen Anfang gemacht, endlich. Ähnlich wie ein Krähenfuß, der in Tinte getaucht und über die Seite gezerrt wird, so zittert meine Hand. Soll ich dieses schwarze Gekritzel von dem feinen Pergament wieder absanden? Dies sind keine grauen, mehrmals verwendeten Bögen. Vor mir liegen jungfräuliche Flächen, die auf den Pflug warten. Meine beste Tinte breitet sich aus wie eine Todsünde, die sich eingenistet hat. Hier bin ich. Falls du Dunstan suchst, ich werde mich nicht verleugnen.

Meine erste Erinnerung ist wie süßer Honig, stibitzt aus einem Topf vom Bord meiner Mutter, als ich drei oder vier Jahre alt war. Mit klebrig verschmiertem Gesicht schlief ich in der Sonne ein, und ich glaube, ich bin niemals wieder so glücklich gewesen. Doch ich wachte auf, als ein ahnungsloses Tier auf mir landete, eine Fliege oder ein Falter, der sich von der klebrigen Fläche zu befreien suchte. Ich sprang auf und wischte mir panikartig übers Gesicht, als ich die flatternden Flügel auf meinen Lippen spürte.

Ich rief, und meine Mutter kam, ihr Schatten fiel auf mich. Diese Empfindung habe ich niemals vergessen, dieses merkwürdige Gefühl von Furcht und Abscheu – und jetzt empfinde ich es wieder. Die Erinnerung an meine frühesten Geheimnisse regt sich, sie steigen empor wie jene geflügelten Tiere und wollen ausgesprochen werden. Sie wollen mir entrissen werden wie Gebete, wie nackte Neugeborene.

Meine Gelübde habe ich gebrochen. Ich habe die verraten, die ich geliebt habe, ebenso wie die, die mich liebten. Ich habe Unschuldige umgebracht. Hier steht es, in unmissverständlichem Englisch für alle, die lesen können. Zu viele beherrschen jetzt die englische Sprache. Ich sehe, was ich geschrieben habe, und ich fürchte mich, obwohl ich meine siebzig Jahre gelebt habe. Ich sollte mich vor nichts fürchten. Zwar zittert meine Hand, doch mein Herz schlägt, und mir ist leicht zumute, ganz leicht.

Vielleicht werde ich diese kostbaren Bögen dem Feuer übergeben. Niemand wird mich nun mehr stören, das habe ich auch verdient. Diese Hände, die die Feder halten, bestehen ja selbst nur noch aus papierener Haut und aus Knochen, die rascheln wie Pergament, wenn sie flüsternd aneinanderreiben. Bruder Talbot sagte einst, es seien die Fäuste eines Arbeiters, grob und vernarbt. Nun, er hat seine Zeit gut genutzt, nicht wahr, mit seinen zarten Schreiberhänden? Mit bloßen Füßen habe ich die Erde über seinem toten Gesicht festgetreten, und nur der Mond war Zeuge.

Ich habe mein ganzes Leben lang gearbeitet, seit ich sechs Jahre alt war. Damals habe ich Ziegel für die Arbeiter auf dem Land meines Vaters aufgestapelt, ein paar Brotrinden und ein Schluck Most waren mein Lohn. Ich habe gebetet, und mein Schweiß ist in die Esse getropft. Schwerter habe ich geschmiedet und sie auch benutzt. Ich habe im Leben auch das ein oder andere Fass Wein gekeltert, mit Trauben von verschiedenen Reben. Ich habe auch ein- oder zweimal in eine Flasche gepisst, wenn ich jemanden nicht leiden konnte – und ich habe zugesehen, wie er genießerisch geschmatzt und behauptet hat, es schmecke mild und ganz ausgezeichnet. Dies hat mich fast dazu verleitet, meinen eigenen Jahrgang ebenfalls zu probieren. Ich habe eine Frau geliebt, die mich ruiniert hat. Ich habe einen König geliebt und ihn dennoch ruiniert. Und alles, was mir mein Leben voller Mühe und Arbeit eingebracht hat, sind Ruhm, Macht, Bedienstete und eine Abtei.

Doch die Insekten kreisen um mich herum, die Worte drängen aus mir heraus. Ich werde meine Geschichte dem Kalbsleder anvertrauen, mit Tinte und Feder, auf einem Schemel aus englischer Eiche sitzend, gekleidet in schwarzen Wollstoff und glattes, kühles Leinen. Ich bin ein Mann dieser Welt und der nächsten, aber du wirst mich keiner Unehrlichkeit bezichtigen können. Lug und Trug liegen hinter mir.

Ich glaube, ich erblickte im Jahre des Herrn 920 das Licht der Welt. Meine Eltern waren kein ideales Paar, und es war ihnen wichtiger, sich in Sicherheit zu bringen, als meine Geburt eintragen zu lassen. Sie flohen vor den älteren Söhnen meines Vaters, wie meine Mutter mir später anvertraute, das dumme alte Huhn. Vier von ihnen waren gegen diese Verbindung und drohten, den Alten umzubringen.

Geboren wurde ich, als König Edward der Ältere noch auf dem Thron war, der Sohn Alfreds des Großen und der Vater König Æthelstans. Diese drei Männer eigneten sich unser kleines Königreich Wessex an der Südküste an – und mit Kriegen, Gerissenheit und Klugheit formten sie England daraus. Das ist das Entscheidende. Als ich aufwuchs, regierte Edward der Ältere, und ich dachte damals, er würde immer da sein, wie eine große Eiche im Wald. Nun ja, damit lag ich falsch. Seine Söhne und Enkel sollten mir wichtiger werden.

Von allen Ständen, zu denen ein Mensch auf der Welt gehören kann, ist es am besten, als nobler, brüllender Sohn eines Königs geboren zu werden. Ich habe gesehen, wie mächtige Lords vor einem Säugling auf die Knie gefallen sind, nur weil die Wiege mit einer Krone verziert war. Doch es gibt mehr Menschen als Throne, deshalb ist nur wenigen dieses Glück vergönnt. Und wenn du nicht als König geboren werden kannst, kannst du zum König gemacht werden, doch dieser Weg ist dornig. Wenn gewalttätige Menschen dir die Krone sichern, werden sie dir immer auch ein Messer an die Kehle halten. Es gibt aber noch eine Möglichkeit, und sie ist keineswegs unwesentlich: Wenn du weder als König geboren wirst noch zum König gemacht werden kannst, kannst du immerhin noch einen anderen zum König salben.

In mancher Hinsicht übertrifft diese dritte Möglichkeit alle anderen. Ich wählte die Kirche. Einfacher gesagt, mein Vater hatte mit seiner Frau eine schlechte Wahl getroffen und um den Preis ihrer Jugend und ihres unbekümmerten Lachens seine nachgeborenen Kinder um ihr Erbe gebracht. Aber ein Mensch kann sich noch so sehr anstrengen bei dem Versuch, sein Leben zurückzuspulen, es ist nie ein glatter Faden, er wird immer verworrener. Es gibt niemals nur eine Wahrheit, nur eine Liebe oder nur einen Feind. Ich wünschte, es wäre so einfach gewesen.

Das Kalbsleder unter meiner Hand fühlt sich glatt an. Die Tür steht offen, und doch, aus irgendeinem Grund, zögere ich noch. Ganz ruhig, Dunstan! Diese Hallen sind der richtige Ort für die Wahrheit, viel geeigneter als der Beichtstuhl. Nein, der nicht, obwohl ich in meinem Leben dort so manchen Priester gelangweilt habe. Ein Mensch muss beichten, sonst gilt er als reuloser Sünder, aber nur ein Narr hält das Beichtgeheimnis für unverbrüchlich. Diese Worte würde ich einem Priester im Beichtstuhl allerdings nicht anvertrauen, viel weniger noch einer ganzen Gemeinde. Soll ich einem Mann, der mich eines Tages für ein höheres Amt vorschlagen könnte, etwa erzählen, dass ich bei einer Frau gelegen habe und mit einer unbekannten Krankheit geschlagen wurde? Gelübde können gebrochen werden, und weiß Gott, ich habe sie alle gebrochen.

Es gab keine Sünde, die ich nicht bereitwillig begangen hätte. Und doch sitze ich hier, mit einer Feder und einem Fläschchen schwarzer Eichengallustinte, und kratze drauflos. Die Tinte heißt encaustum, oder »die Bissige«, weil ihre Säure sich in das Pergament frisst und ewig hält. Wörter können beißen – und Erinnerungen können dich plagen wie ein Hund. Die Flammen flackern lustig hin und her, während ich schreibe. Wenn ich fertig bin, müssen sie alles verzehren. Sie können auch mich verzehren, ganz zum Schluss, aber erst werden sie mich wärmen. Vielleicht wird man mich finden, wie den armen Bruder Severus, dessen Körper zu Asche verbrannte, bis auf die Füße und eine Hand, die noch auf dem Stuhl lag! Welcher Teufel hat ihn geholt, dass er verbrannte, noch ehe er in die Hölle kam?

Fürchte ich mich vor diesem anderen Ort? Welcher Narr täte das nicht? Doch ich habe große Kirchen gebaut, die meine Sünden aufwiegen. Es ist mein sehnlichster Wunsch, dass mich jetzt keine ewige Verdammnis erwarten möge. Wie würden sie feixen, die Toten, wenn sie sehen würden, wie tief der alte Dunstan gefallen ist! Vielleicht erst wieder verjüngt, um dann zu ihrer Belustigung erneut zerrissen und zerbrochen zu werden. Ich weiß, wenn ich jünger wäre, würde es mir weniger ausmachen. Wie würden diese Heiligen lachen und ihre fetten Köpfe schütteln. Manchmal frage ich mich, ob ich es fühle, wie sie um mich geschart sind, all jene, die vor mir gegangen sind. Ihre Seelen beobachten mich, wie Bienen, die sich an einer Glasscheibe drängen. Aber vielleicht ist es auch nur der Wind und das Knacken des Holzwurms im Gebälk.

Ganz ruhig jetzt, Dunstan. Erzähl deine Geschichte.

ERSTER TEIL

SEHTDENKNABEN

A.D. 934

Gedenke weder der Sünden meiner Jugend noch meiner Übertretungen.

PSALM 25:7

1

Ich hätte den ganzen Tag an dieser Klippe hängen können, wenn sie mir nicht die Finger gebrochen hätten. Meine Hände waren immer kräftig, aber mit gebrochenen Knochen sind sie kein verlässlicher Anker mehr, nicht einmal in einem Meer von Wut. Dennoch klammerte ich mich noch eine Weile fest. Als ich sie schließlich anstarrte, allerdings weder Mitleid heischend noch bittend, erstarb ihr Gelächter und ihr Spott, was mir eine gewisse Befriedigung war. Die kleine Gruppe von Männern und Frauen stand am Rand und wartete darauf, dass ich abstürzte. Sie sahen zu, wie ich mich mit geschundenen und geschwollenen Händen an die brüchige Erde klammerte und ihnen trotzte.

Ich sah, dass Encarius beschämt war, er, der einst mein Freund gewesen war. Ich suchte nach Worten, um ihm zu sagen, dass ich ihm verzieh, denn ich hatte keine andere Möglichkeit, mich zu rächen, und ich wollte, dass er später jedes Mal zusammenzuckte, wenn er an mich dachte. Rache ist süß, aber Verzeihen kann genauso grausam sein.

Ich fürchtete den Tod nicht. In meiner Jugend, glaube ich, vermochte ich ihn mir nicht vorzustellen. Ich knirschte mit den Zähnen, während meine Fingernägel an den Steinen abbrachen, und ich erinnere mich, dass ich versuchte, zwischen meinen ausgestreckten Armen nach unten zu spähen, und gleichzeitig merkte, dass mein Griff sich lockerte. Knochen splitterten, aber ich war immer noch da und dachte daran, was ich ihnen antun würde, falls ich überlebte. Ich war fünfzehn Jahre alt, aber ich hatte breite Schultern, und meine Arme waren schwarz behaart. Ich wirkte männlicher als einige von denen, die doppelt so alt waren und jetzt dort standen und ihre priesterlichen Hände falteten wie Bettler. Oh, diese scheinheiligen Gesichter! Ich sehe sie heute noch vor mir.

Als ich merkte, dass ich mich nicht länger würde festhalten können, rief ich Encarius und bat ihn, das Kreuzzeichen auf meine Stirn zu machen, sodass ich das Fegefeuer schneller hinter mir lassen würde und in den Himmel käme. Er trat vor, um mir diesen kleinen Dienst zu erweisen, der mir so viel bedeutete. Ich sah, wie er sich herunterbeugte, und unsere Blicke trafen sich, obwohl er es zu vermeiden suchte. Er war der Urheber meines Unglücks, mein Ankläger, doch er schüttelte traurig den Kopf, als sei alles nur meine Schuld.

»Ich würde dir dieses Schicksal ersparen, wenn ich könnte, Dunstan«, sagte er. Er befeuchtete seinen Finger mit der Zunge und nahm damit etwas Staub auf, den er mit Spucke vermischte, ehe er meine Stirn mit seiner kalten Hand berührte.

»Du bist ein guter Mensch, Encarius«, flüsterte ich. »Würdest du mir die Beichte abnehmen?«

Er sah, wie meine Arme zitterten, doch immer noch sah er mich zweifelnd an, als ob er mir selbst jetzt nicht traute. Ich schwieg und sah ihn nur flehend an, bis er sich herabbeugte. Als er mir ganz nahe war, stieß seine Frau oder irgendeine der anderen Schlampen einen Warnschrei aus, aber es war zu spät. Ich packte sein Gewand und riss ihn mit in die Tiefe, oh, ich stürzte hinab wie Luzifer lange vor mir.

Das erste Mal brachte mein Vater mich zur alten Glastonbury, meiner geliebten Insel, zu der wir durch den Nebel gelangten. Hier hatte König Arthur sein Leben beendet, als Excalibur in die Salzmarschen der Umgebung geschleudert wurde. Mein Vater hoffte auf ein Wunder für mich, für seinen Sohn, der von Teufeln besessen oder aufgefressen wurde. Ich litt damals unter Anfällen und Krämpfen.

Manchmal denke ich, der Alte war ebenso sehr Heide wie glühender Anhänger Christi. Er trug einige merkwürdige Amulette an seinem Mantel und an seinem Kettenpanzer. Glastonbury gab es schon, lange bevor der wahre Glaube auf unserer Insel ankam. Der feuchte Boden hier ist getränkt mit Hexenwerk und Zauberkult aus Tausenden von Jahren, so sagt man. Ich bin einige Male in der Mittsommernacht hinausgegangen, fiebernd vor Aufregung, um die nackten Frauen zu sehen. Ich habe sie nie gefunden, kein noch so kurzer Blick auf eine Brust oder ein Bein. So erging es mir immer.

Ich erinnere mich, wie das Wasser im Kielraum des Bootes hin und her schwappte. Ich war dreizehn Jahre alt, und ich zupfte meinen Vater am Ärmel, um ihn darauf aufmerksam zu machen. Ich konnte nicht verstehen, wie ein Boot schwimmen und gleichzeitig Wasser aufnehmen konnte. Ich hatte Angst, das Wasser könnte steigen und über uns zusammenschlagen, samt dem Bootsmann, der uns stakte. Er hatte ein rotes Gesicht und schien nicht ganz richtig im Kopf.

Mein Vater entzog mir seinen Ärmel, und ich ließ ihn los. Es heißt, Heorstan sei vor dreißig Jahren ein starker Mann mit breiter Brust gewesen, als er damals ein Lehnsmann König Edwards von Wessex geworden war. In seiner Jugend, die für mich so weit zurücklag wie die Zeit König Arthurs, hatte mein Vater Alfred Magnus, den Großen, gekannt. Er war der Mann, der Wessex zu dem Königreich machte, das eines Tages ganz England regieren würde. Damals gab es längere Regierungszeiten. Heutzutage scheint es, dass man sich nur umzudrehen braucht, und schon sitzt die Krone auf einem neuen Gesicht.

Mein jüngerer Bruder Wulfric stand im Bug, während der Bootsmann uns stakte.

»Pass auf, Junge!«, fuhr mein Vater ihn an.

Wulfric versuchte, ein schuldbewusstes Gesicht zu machen, aber er war viel zu fasziniert von der Fremdartigkeit der Insel und dem Nebel, der über allem lag. Kriechende Kreaturen fielen ins stille Wasser, als wir durch das Schilf glitten. Das dunkle Marschland erstreckte sich bis dorthin, wo das Meer sich in seinen Rand fraß, ein Dutzend Meilen weit entfernt. Es hob und senkte sich mit den Gezeiten und war so dick von Salz verkrustet, dass kaum etwas darauf gedeihen konnte.

Hin und wieder schreckte ein schlafender Vogel auf und stieg wild flatternd in die Luft. Die Wasserwege umgaben uns wie unsichtbare Adern, sie veränderten jedes Geräusch und sorgten für gespenstische Echos.

Ich sah, wie Wulfric nach den weißen Nebelfetzen griff, er konnte nicht verstehen, wie etwas so greifbar wirken und doch vor den Augen verschwinden konnte. Ich will bekennen, dass ich ihn liebte, aber sein Kopf hätte genauso gut ein polierter Knochen sein können, so nutzlos war er. Wenn Wulfric sprach, konnte er sich gut ausdrücken, aber das Schreiben meisterte er noch nicht. Als sein älterer Bruder pflegte ich ihn damit zu ärgern.

In vieler Hinsicht bin ich nicht mehr der Junge, der ich war, mit meinen Bosheiten und schnellen Urteilen. Ich war mir damals so sicher, dass ich von Feinden umgeben war! Es hat Generationen gedauert, bis ich einsah, dass ich sie mir selbst gemacht hatte. Doch wenn ich zurückdenke, mit welcher Grausamkeit ich Wulfric quälte, muss ich immer noch lachen.

Mein Bruder versuchte, vom Bug aus auf den Anlegesteg zu springen, und ich sah, wie mein Vater ihn zurückhielt. Er sorgte sich mehr, dass Wulfric ins Wasser fallen und ertrinken könnte, als er sich je um meinetwegen gesorgt hätte. Der Alte muss damals ungefähr siebzig gewesen sein, seine beiden Jungen waren von einer Frau geboren worden, die vierzig Jahre jünger war als er. Heorstan bot meiner Mutter ein schönes Heim auf fast 500 Hektar Land, eine angemessene Entschädigung für das Geschenk ihrer Jugend. Vielleicht brauchte er eine Pflegerin, und ich war das erfreuliche Ergebnis. Vielleicht hatte sie ihn auch ins Leben zurückgestreichelt.

Nach Glastonbury kamen damals nicht viele Besucher, längst nicht so viele wie heute. An der Anlegestelle wurden wir von zwei Jungen begrüßt, die unsere Taschen trugen, außerdem von zwei irischen Mönchen, die nur Gälisch sprachen, was ich nicht verstand. In dem Nebel, der um uns waberte, erschien mir der Fluss ihrer Sprache merkwürdig, fast wie ein Zauber, als brauchte ich nur aufmerksam genug zuzuhören, damit es nicht mehr klang, als würde jemand erwürgt.

Ehrerbietig beugte mein Vater den Kopf, dabei war er ein Lehnsmann, der Könige gekannt hatte. Ich sagte nichts, aber Wulfric sprang mit begeisterten Ausrufen neben ihnen her, während ich mich vor Verlegenheit wand und wünschte, er würde den Mund halten.

Ich sah, dass die Jungen, die unser Gepäck trugen, sich amüsierten. Sie stießen sich an und grinsten, und natürlich grinste der einfältige Wulfric zurück, als seien sie seinesgleichen.

Energisch zog ich ihn an mich und beugte mich hinab, um ihm zuzuflüstern, dass dies keine Freunde seien, als ich merkte, dass ein schrecklicher Gestank von ihm ausging. Angewidert schob ich ihn fort. Die Bootsfahrt hatte lange gedauert, und Wulfric hatte sich beschmutzt. Doch er hüpfte fröhlich den Weg zu der kleinen Abtei entlang, wo damals so viele Wunder geschahen, dass es fast alltägliche Begebenheiten waren.

Unsere Gruppe stapfte dahin, und der Nebel begann sich aufzulösen, als wir höheres Gelände erreichten. Niemand sprach, unsere Schritte waren das einzige Geräusch.

Ich flüsterte: »Du hast dich eingeschissen, Wulfric.«

Ich hatte es wütend gezischt, denn er war so fröhlich, aber selbst damals merkte ich, dass es seine Art war, auf mich und besonders auch auf unseren Vater zu reagieren. Heorstan schien in seinen späteren Jahren derartige Dinge nicht mehr zu bemerken, doch ich fühlte mich verpflichtet, auf seine Würde zu achten.

Wulfric wirkte beleidigt, als sei ich im Unrecht und nicht er. Er wurde tiefrot und blickte auf die beiden Jungen, die unsere Taschen trugen. Sie hatten noch nichts bemerkt, würden es aber sicher bald tun.

»Geh nach vorn, Wulfric«, sagte ich. »Der Wind kommt von hinten. Geh vor uns, damit wir dich nicht riechen müssen.«

Er schien den Tränen nahe, als er meinem Rat folgte. Ich glaube, ich hasste ihn in dem Moment wegen seiner Schwäche. Einer der irischen Mönche rief ihm etwas zu, aber niemand verstand ihre seltsame Sprache, und mein Vater war so erschöpft, dass er kaum aufblickte. Es war schwierig genug für den Alten, mit den anderen Schritt zu halten, seine Pelze und sein Kettenpanzer mussten für ihn schwer wie ein Mühlstein gewesen sein.

Im Nachhinein weiß ich, dass ich mich schämen sollte, weil Wulfric vom Wege abkam. Plötzlich verschwand er. Er war über einen Vorsprung gefallen und hart auf einem Stein gelandet, wobei er sich die Ferse brach. Obwohl wir müde und hungrig waren, mussten wir warten, während die beiden Mönche hinabkletterten und ihn wieder nach oben brachten. Sie murmelten etwas, als sie ihn humpeln sahen, aber wir erfuhren erst später, dass in seinem Fuß etwas gebrochen war. Er weinte und sah mich anklagend an. Ich schämte mich für ihn. Wenn er in die Marsch gefallen und ertrunken wäre, wäre das ein Grund zur Trauer gewesen, aber ich hätte ihn bereits vergessen. Ich versuchte immer, Wulfric zu beschützen, aber manche Menschenleben stehen unter einem dunklen Stern.

Die Sonne stieg über meine rechte Schulter, während wir auf einem hölzernen Steg weitergingen, der sicher noch aus der Zeit Cäsars stammte. Ich ging neben meinem Vater und blickte unwillig auf Wulfric, der stark humpelte und seine Verletzung schlimmer erscheinen ließ, als sie war. Mein Vater atmete schwer und schwitzte wie ein Ackergaul. Erleichtert nickte er mir zu, als wir die Außenmauer des verwahrlosten Anwesens erreichten, das man wagte, ein Kloster zu nennen. Doch selbst nach dem Frieden Alfreds und König Edwards wussten die Mönche eine gute Schutzmauer immer noch zu schätzen. Sie war keine dieser hölzernen Palisaden, sondern aus schönem, honiggelbem Wessex-Stein gebaut. Doch das Tor, das man für uns aufwuchtete, war aus Holz, und die zwei Iren mussten es anheben, damit es den aufgeweichten Boden nicht zerpflügte.

Damals war es nirgendwo wirklich sauber, wo Menschen arbeiteten und schliefen. Unter unseren Füßen wurde das Gras zu Morast, doch das ist der Lauf der Welt und hat nichts weiter zu bedeuten. Schließlich nutzen wir den Morast, um daraus Ziegel und Dachpfannen herzustellen. Dann kannst du ruhig weiter in deiner feuchten Hütte frösteln, ich aber sitze im Trockenen und wärme mir die Hände.

Wulfric wurde einer fürsorglichen Hausmutter übergeben. Ich sah, wie die Frau ihren starken, rosigen Arm um ihn legte, um ihn zu stützen. Als er sich umwandte, bedachte ich ihn mit einem finsteren Blick und machte eine ruckartige Kopfbewegung, die ihn daran erinnern sollte, nicht zu viel zu reden, wachsam zu sein und sich an seinen Namen und seine Manieren zu erinnern. Heorstan wurde von einem Mann in schwarzem Wollzeug begrüßt, dessen Kopfhaut mit ihren Beulen und Leberflecken mich an ein braun gebranntes Knie erinnerte. Geduldig stand ich da, während die beiden sprachen, und betrachtete neugierig den Innenhof der Abtei. Ich blickte nach oben, wo ein paar Männer arbeiteten, und dieser Blick sollte mein weiteres Leben gänzlich verändern.

Im Hof stand ein Wagen, hoch beladen mit Getreidesäcken, und darauf standen vier junge Mönche. Über ihnen gestikulierten zwei weitere am Fenster, das wohl zu einem Kornspeicher gehörte, aber genau konnte ich es nicht sagen. Was mich jedoch faszinierte, war ein doppelter Flaschenzug mit Seilen, die in glatt polierten hölzernen Rillen liefen. Ungelogen, ich merkte, wie sich mir die Haare im Nacken sträubten.

Ich habe diese Geschichte schon ein Dutzend Mal erzählt, und immer gibt es jemanden, der lacht und spöttelt und meint, ganz so dramatisch wird es wohl nicht gewesen sein, aber es ist die reine Wahrheit. Ich sah diese Seilrollen und erfasste sofort, dass, wenn man ein Seil über diese Rollen laufen lässt, das Gewicht dessen, was daran hängt, halbiert wird. Für mich war diese Vorrichtung eine so wunderbare Erfindung, dass es mir wie das Werk von Engeln erschien. Damals wusste ich noch nichts von der Mathematik Euklids oder von den Prinzipien eines Archimedes. Ich war wie ein leeres Blatt, das darauf wartete, beschrieben zu werden.

Gebannt stand ich da, während mein Vater mich am Ärmel zupfte, um mich aus meiner Versunkenheit zu wecken und mich Abt Clement vorzustellen. Was ich begriffen hatte, war, dass vier Seilrollen noch besser wären, das Verhältnis wäre dann vier zu eins, während das Seil die vierfache Strecke zurücklegen müsste. Es war eine regelrechte Erleuchtung, und wenn du noch nie ein derartiges Erlebnis hattest, nun, dann tust du mir leid. Es gibt so viele Wunder auf der Welt, man muss sich nur umschauen.

Jetzt kenne ich sie alle. Auch heute noch könnten diese alten Hände die sechs großen Maschinen der Griechen nachbauen, die die moderne Welt geschaffen haben und noch weitere tausend Jahre ihre Wunder vollbringen werden, falls nicht der Jüngste Tag unseren Anstrengungen ein Ende bereitet. Der Hebel, das Rad und die Achse, die schiefe Ebene, die Schraube, der Keil – und das Wunder des Flaschenzugs, das für Seeleute unersetzlich ist. Ohne ihn könnte man kein Großsegel hochziehen. Mit diesen sechs einfachen Geräten beherrschen wir die gesamte natürliche Welt. Ich sah das erste davon in der Abtei von Glastonbury, und es wies mir einen neuen Weg.

»Dunstan! Ich schwöre, der Junge hat den Kopf in den Wolken. Dunstan!«

»Ja, Vater, es tut mir leid. Ich habe … die Seilrollen beobachtet, wie sie die Säcke hochziehen.«

Natürlich verstand er meine Faszination nicht.

»Also, jetzt pass mal gut auf, Junge! Beuge endlich das Knie vor Vater Clement, oder du bekommst eine Ohrfeige.«

Ich kniete nieder, obwohl ich wie berauscht war. Ich beugte den Kopf, versuchte aber immer noch, nach den Seilrollen zu schielen, selbst als ich die Hand des Abts auf der Schulter spürte.

»Jungen, Heorstan, nicht wahr? Immer woanders mit ihren Gedanken in diesem Alter. Doch es gibt schlimmere Dinge als Flaschenzüge, um sie in Versuchung zu führen, habe ich recht?«

Mein Vater lächelte, als stimme er zu. Sein Gesicht war rot, und ich merkte, dass er sich über mich ärgerte.

»Es tut mir leid, Herr Abt«, sagte ich und sah auf. Ich wagte nicht, ohne Erlaubnis meines Vaters aufzustehen. »Ich heiße Dunstan von Baltonsborough. Ich erweise Euch Ehre und freue mich, Euch kennenzulernen. Ich habe noch nie eine solche … Vorrichtung gesehen. Bitte verzeiht mir, wenn ich Euch beleidigt haben sollte.«

Der Abt zog die Augenbrauen in die Höhe, dann grinste er mich an, wobei drei braune Zähne von ungewöhnlicher Länge zum Vorschein kamen.

»Für dich bin ich Vater Clement, Junge. Dein Vater und ich sind schon seit so langer Zeit befreundet, dass es mir fast wie ein anderes Zeitalter vorkommt. Es ist eine Überraschung für mich, ihn wiederzusehen, noch dazu mit so jungen Söhnen – und natürlich bist du hier willkommen –, ein Junge aus unserer Gegend, der Christus folgen wird.«

»Danke, Vater Clement«, sagte ich und neigte abermals den Kopf. Wie ich später merkte, war er tatsächlich einer der wahren alten Gläubigen, der Gott auf seinen Schultern trug und überzeugt war, dass das Böse aus einem Jungen herausgeprügelt werden konnte. Er sollte nur noch ein Jahr leben, und nahezu alle meine Erinnerungen an ihn sind bitter. Doch jetzt lächelte er, gesund und braun gebrannt von seiner Arbeit an der Sonne.

»Vielleicht solltest du nachsehen, wie es Wulfric geht, Dunstan«, sagte mein Vater, »damit ich mit Vater Clement über unseren Aufenthalt hier sprechen kann.«

»Ich würde mich lieber mit den Männern beim Wagen dort unterhalten, Vater, wenn ich darf«, sagte ich. Meine Antwort war unbedacht und naiv, aber ich sah am Gesicht meines Vaters, dass ich wieder einen Fehler gemacht hatte. Das Gesicht des Abts verhieß ebenfalls nichts Gutes, doch bei ihm erkannte ich die Gefahr noch nicht so deutlich wie bei meinem Vater. Heorstan war zu alt und zu langsam, um hinter mir herzurennen, aber gleichzeitig wagte ich nicht, ihm auszuweichen. Also blieb ich stehen, und er ohrfeigte mich, dass ich in den Dreck flog.

»Sieh nach deinem Bruder«, fauchte er mich an.

Ich rappelte mich auf, und meine Wange brannte, als ich mich vor den beiden verbeugte. Ich wagte erst zu gehen, als mein Vater mich mit einer abrupten Geste entließ. Er hatte dem anderen gezeigt, dass er immer noch Macht über seinen Sohn hatte, das war ihm wichtig. Und ich akzeptierte es aus Liebe zu ihm, falls das Sinn macht. Ich hätte mich tatsächlich tausendmal lieber von ihm verprügeln lassen, als ihn vor einem Fremden gedemütigt zu sehen. Und wenn ich jetzt zurückdenke, empfinde ich es immer noch so. Wäre er noch am Leben, ich würde auch heute auf seiner Seite stehen. Aufseiten des Abts jedoch nicht. Dieses alte Ekel würde ich erwürgen und in den Abtritt werfen.

2

Wulfric saß auf einer kleinen harten Pritsche im Spital und plauderte mit der mütterlichen Frau, die seinen Fuß verband und die er »Mutter Afra« nannte. Ich bemerkte, dass sie kleine geweihte Gedenkmünzen zwischen die Schichten des Verbands legte, damit mein Bruder doppelt so schnell gesund würde wie jemand, der diese Hilfe nicht hatte. Sie hätten große Heilkraft, erklärte sie mir, als ich misstrauisch fragte, was sie da tue.

Die Abtei war damals eine seltsam zwanglose Einrichtung, in der sich ledige und verheiratete Frauen um die Mönche kümmerten, von denen die Hälfte weder ordiniert noch echte Benediktiner waren. Dem Kellermeister zahlte man sogar einen Lohn, stell dir das vor! Sie besaßen ein kleines Stück Land, aber es war kaum groß genug, um das Nötigste zum Essen anzubauen. Sie lebten hauptsächlich von den Zuwendungen reicher Familien. Ich glaube, das Kloster wäre innerhalb einer Generation zugrunde gegangen, wenn ich nicht an der Fallsucht erkrankt und zu ihnen gebracht worden wäre, um geheilt zu werden.

Ich trat näher an meinen Bruder heran. Um ehrlich zu sein, ich wollte nur wissen, ob er es in der Zwischenzeit irgendwie geschafft hatte, sich zu säubern. Über meine eigene Krankheit spreche ich nicht gern. Damals war sie einfach ein Ärgernis. Ich fiel manchmal hin, zuckte und zitterte. Es hieß, meist stotterte ich vorher auch. Es ist merkwürdig, aber dieser wichtige Teil von mir ist etwas, von dem ich nichts weiß und woran ich mich nicht erinnere. Es passiert nicht oft, Gott sei Dank, aber es macht mich hilflos wie ein Kind, also ist jedes Mal ein Mal zu viel. Dennoch fühlte ich mich nie als der schwächere Bruder. Jetzt saß ich hier in einem Raum mit kühlen Bänken aus Buchenholz und Stapeln frisch gefalteter Wäsche und sah zu, wie Afra Wulfric wie einen Invaliden behandelte, der einfältig grinste und so tat, als bemerke er mein finsteres Gesicht nicht.

»Vater sagt, mein Bruder Dunstan könnte hier mit den Reliquien des Klosters geheilt werden. Er sagt, die Abtei hat Gebeine von St. David und St. Patrick – und einen geweihten Saphir.«

Afra schien erfreut, dass der Junge so viel wusste. Sie tätschelte sein Bein, dann riss sie die Binde ein und verknotete die Enden.

»Bewege mal die Zehen, mein Kleiner. Na also, in ein paar Tagen ist alles wieder in Ordnung, vielleicht schon früher, wenn du am Reliquienschrein betest. Jetzt besorge ich dir noch eine Krücke.«

»Das ist nicht nötig, Madam. Ich kann ganz gut laufen«, sagte er. Er wollte zeigen, wie tapfer er war, stieß aber doch einen Schmerzenslaut aus, als er den Fuß belastete. Ich sah, wie sie ihm einen Apfel gab, und merkte mir, wo er ihn hinsteckte. Er dachte vermutlich, ich hätte es nicht gesehen.

»Unten im Kreuzgang sind Dutzende von Stöcken und Krücken von Menschen, die wir hier geheilt haben.« Sie rief einen der Jungen von der Anlegestelle herbei, vollgerotzt und mager, mit spitzen Ellbogen. »Hol eine von den Krücken, James, eine von den brauchbaren, für diesen netten kleinen Burschen hier.«

Er rannte los, und die sanfte, behäbige Frau wandte sich wieder an uns.

»Wir könnten Geld damit verdienen, wenn wir sie verkauften, aber Abt Clement sagt, sie sollen bleiben, wo sie sind – als Zeugnis dessen, was wir hier tun, damit noch mehr Menschen kommen. Es sind Zeugnisse unseres Glaubens, sagt er. Weiß Gott, wir brauchen das Geld, das die Pilger mitbringen, aber das reicht gerade, um Leib und Seele zusammenzuhalten. Nach Canterbury kommen sie natürlich alle, sogar aus Rom. Wenn der Glaube zuerst nach Wessex gekommen wäre statt nach Kent, müssten wir im Winter nicht so kämpfen, um satt zu werden, das könnt ihr mir glauben!«

Sie quasselte weiter, und ich nickte und grinste, sie nervte mich ziemlich. Der Junge, der James hieß, kam zurück mit einer grob geschnitzten Krücke, die ein wenig zu lang für meinen Bruder war, deshalb stand Wulfric etwas schief, während er seinen verletzten Fuß anhob. Ich sah die Augen des Bengels bösartig aufblitzen, als er ihn ansah, und fasste es als Beleidigung auf. Ich bedeutete James, er solle verschwinden, und half mit meinem Stiefel nach. Er rieb sich den Steiß und funkelte mich böse an, aber er verstand, dass er sich vor mir in Acht nehmen müsse – und dass ich es nicht dulden würde, wenn man sich über Wulfric lustig machte. Wulfric konnte weiß Gott eine Plage sein, aber er war trotzdem mein Bruder.

Wir wurden durch offene Kreuzgänge geführt, wo ein kalter Wind an uns zerrte. Weiter ging es durch ein großes Refektorium, wo mehrere Mönche saßen, die Köpfe über ihre Teller gebeugt. Einer von ihnen stand an einem Lesepult und las aus Augustinus’ Predigten vor. Ich nahm alles in mir auf, so gut ich konnte, aber ich glaube, mein Entschluss stand bereits jetzt fest. Mein Vater war ein Lehnsmann des Königs. Mein Onkel war Bischof. Wir waren zwar nicht königlicher Abstammung, standen aber dennoch so weit über den gemeinen Bauern und Leibeigenen, dass sie eine andere Zucht hätten sein können. Unser Wessex ist bevölkert von Earls, Bauern und Leibeigenen. Oder Lehnsleuten, gemeinen Bürgern und Sklaven – und darüber steht ein König, wie Gott es bestimmt hat. Doch Heorstan hatte sich schon lange zur Ruhe gesetzt, zu unbedeutend und zu alt, um mich bei Hofe unterzubringen oder einen solchen auf mich aufmerksam zu machen. Er hatte keine Titel, die er seinen Söhnen aus zweiter Ehe verleihen konnte, und mir stand ein Leben harter Arbeit bevor, auf Grund und Boden, der mir nicht gehörte. Das Kloster hingegen war ein Ort der Gelehrsamkeit – von Flaschenzügen über Latein bis zur geheimen Alchemie. Irgendwo in der Nähe hörte ich den Klang eines Schmiedehammers. Es klang wie eine Glocke, und sie läutete für mich.

Ich dachte über meine Zukunft nach, als wir zu Abend aßen. Uns wurde die Ehre der langen Tafel zuteil, an der auch der Abt saß, der mit meinem Vater ins Gespräch vertieft war. Alle anderen Plätze waren natürlich auch belegt. Die Mönche wollten so viel wie möglich von der Welt draußen hören, Neuigkeiten, die Besucher wie wir mitbrachten. Ich hatte gedacht, das Kloster sei durch die Marsch von der Welt abgeschnitten, aber Abt Clement sprach lebhaft und voll Interesse über König Æthelstan und alles, was er unternahm, um das Reich zu schützen und die Dänen fernzuhalten. Mir gegenüber saß Wulfric, der mit weit offenem Mund kaute, sodass ich genau sehen konnte, wie jeder Bissen zu Brei wurde. Ich versuchte, unter dem Tisch nach ihm zu treten, aber er saß zu weit weg.

Ich hätte sicher eine Gelegenheit gefunden, das Thema anzuschneiden, dass ich am Unterricht im Kloster teilnehmen wollte, aber es war gar nicht nötig. Ich ahnte nicht, dass es in dem Gespräch zum Teil auch um meine Zukunft ging. Vermutlich hatte mein Vater mich bereits verkauft, noch ehe wir an diesem Abend das Brot gebrochen hatten.

Clement sprach über die Dutzend Jungen, die hier unterrichtet wurden. Sie hielten den Tagesablauf des Klosters ein und lernten ihre Gebete, außerdem Pflanzenkunde und verschiedenes Handwerk. Ich sog seine Worte förmlich in mich auf, und als ich mich meinem Vater zuwandte, lag ein Lächeln auf seinem Gesicht, und die Sorgenfalten um seine Augen waren verschwunden. So erinnere ich mich am liebsten an ihn, an diesen fürsorglichen Blick.

»Hättet Ihr Platz für einen weiteren Schüler, Vater Clement?«, fragte Heorstan.

Ich hielt den Atem an. Der Abt neigte den Kopf, als müsse er nachdenken, der alte Heuchler.

»Vielleicht sogar für beide Jungen, Herr, wenn es Euch recht wäre?«

Dass ich die Wunder dieser Klosterwelt mit Wulfric würde teilen müssen, hatte ich nicht bedacht. Ich schüttelte vorsichtig den Kopf, aber meine Meinung interessierte niemanden, und die beiden Männer fuhren in ihrer Unterhaltung fort, als seien sie ganz unter sich.

Abt Clement errötete vor Freude. Er räusperte sich und fuhr mit dem Finger durch eine Bierlache auf dem Tisch.

»Mylord Heorstan, wenn es Euer Wunsch ist, werde ich Eure Jungen in unsere Schule aufnehmen. Ich werde sie unterrichten und erziehen, um sie Euch danach als junge Männer zurückzugeben. Jedoch … ich erinnere mich, dass der heilige Augustinus in Rom eine Zeit lang Latein unterrichtete. Seine Klassen waren immer überfüllt, und damals war es üblich, dass erst am letzten Tag des Trimesters bezahlt wurde. Doch an diesem Tag blieben die Bänke auf wundersame Weise immer leer. Seitdem hat man die praktische Sitte eingeführt, das Schulgeld immer am ersten Tag zu kassieren statt am letzten – obwohl ich Euch damit absolut nicht beleidigen will, Euer Ehren.«

Das Gesicht meines Vaters verdunkelte sich. Ich wusste, dass Clement sich auf dünnem Eis bewegte, doch es war die Armut des Klosters, die ihn dazu zwang. Allein die Möglichkeit, dass wir nicht bezahlen könnten, war ein zu großes Risiko. Ich sah den Abt verächtlich an, so wie ich es von meinem Vater vermutete. Als er plötzlich eine heftige Bewegung machte, zuckte ich zusammen, doch es war nur der Beutel, den er mit Schwung über den Tisch gleiten ließ.

Abt Clement öffnete ihn nicht, er berührte kaum die Münzen, als er ihn verschwinden ließ. Vermutlich konnte er den Inhalt bereits am Gewicht abschätzen. Der Stolz meines Vaters hätte geboten, ihm das Doppelte dessen zu geben, was er verlangt haben mochte. Vielleicht hatte Clement darauf spekuliert, denn er war ein kluger Mann – und ein gerissener Kerl zudem. Er und mein Vater nickten sich zu, und damit war das Thema erledigt.

Wulfric riss die Augen so weit auf, dass man das Weiße darin sah, während er ohne jeglichen Anstand erst Vater, dann mich, dann Abt Clement anstarrte. Mich störte es nicht. Glücklich schob ich meinen Holzteller fort, auf dem ich das Essen kaum angerührt hatte.

Mein Vater reiste am nächsten Morgen ab. Wulfric und ich wachten im Morgengrauen auf, die Mönche allerdings waren schon längst bei der Arbeit. Nach einer kurzen Katzenwäsche pinkelten wir in ein halbiertes Fass, das die Mönche zum Bleichen von Wolle benutzten. Bei Wulfric ging es natürlich daneben. Ich wischte es mit einem Lappen auf, deshalb war er der Erste, der in die Sonne hinaustrat.

Draußen standen Abt Clement und mein Vater, der in seinen Pelzen immer noch eine stattliche Erscheinung war, trotz seines Alters. Beide lächelten gerade über etwas, als Wulfric und ich auf den Hof traten.

»Wir werden uns zu Weihnachten wiedersehen«, sagte Heorstan ernst. »Bis dahin seid fleißig. Benehmt euch. Betet täglich und vernachlässigt eure Seelen nicht, auch wenn der Leib vergeht. Seid wahrhaftig, meine Jungen. Und seid folgsam.«

Wulfric und ich standen nebeneinander, starrten auf unsere Sandalen im Dreck und warteten darauf, entlassen zu werden. Ich ahnte nicht, dass ich den Alten nie wiedersehen würde.

Ich wünschte, ich könnte den Jungen, der ich damals war, ein letztes Mal aufblicken lassen, um jeden Moment dieses Morgens festzuhalten wie eine Kostbarkeit – aber das kann ich nicht. Dieser Lümmel, dieser dreizehnjährige Dickkopf dachte nur daran, was er hier im Kloster lernen würde. Unser Anwesen lag weniger als ein Dutzend Meilen von Glastonbury entfernt, was nicht sehr weit schien. Ich glaube, Jungen fühlen sich nie wirklich weit weg von zu Hause, solange sie es zu Fuß erreichen können.

Mein Vater umarmte keinen von uns. Ich glaube, das hat er nie getan, und das ist auch richtig, wenn man seine Söhne auf die Welt vorbereiten will. Meine Mutter umarmte mich ständig, und ich vermisse sie auch schmerzlicher, aber in diesem Jammertal wird uns nun mal unsere Rolle zugewiesen, die wir spielen müssen. Daran können wir nichts ändern. Ein Vater vermittelt Kraft und macht einen Mann aus uns. Eine Mutter härtet das Eisen mit ihren Tränen und ihrer Liebe. Aber zu viel von beidem erzeugt Schwäche.

Heorstan war zu alt, um einen weiteren Winter zu überstehen, das war die einfache Tatsache. Er erlebte das nächste Christfest nicht mehr. Aber er hatte bei mir für einen guten Start gesorgt, und mehr kann man nicht verlangen.

Abt Clement gab mich in die Obhut von Bruder Caspar, ein hagerer Mann und noch größer als ich. Er führte mich in ein kleines leeres Klassenzimmer, wo er Platz nahm und unter viel Räuspern anfing, mit Feder und Papier zu hantieren, während ich vor ihm stand.

Es brach mir fast das Herz, als ich zum Fenster hinausblickte und Wulfric sah, der sich nervös auf den Weg zur Prim machte. Ich musste hier stehen und zuhören, wie dieses Klappergestell, um die dreißig Jahre alt, an einer stumpfen Feder herumschabte und sie ungeschickt zu schärfen versuchte, während er leise schnaufend durch die Nase atmete.

Er forderte mich auf, meine Krankheit ausführlicher zu beschreiben, als ich es je vorher getan hatte. Ich machte den Fehler zu sagen, dass es mich manchmal traf, wenn ich müde und hungrig war. Ich hätte sagen sollen, es sei schlimmer, wenn ich gut schlief und wie ein König speiste.

Bruder Caspar wollte einen meiner Anfälle sehen, aber natürlich konnte ich auf Wunsch keinen herbeizaubern. Meine Hände blieben ruhig und mein Geist völlig klar, während er mich wartend anstarrte, vor sich hin murmelte und die Schreibfeder immer wieder durch seine Hand gleiten ließ.

»Dein Vater befürchtet, dass es sich um einen Fluch handelt«, sagte er, »oder dass du vielleicht von einem Dämon besessen bist. Wenn das der Fall wäre, würde dieses Geschöpf sich vor uns verstecken, und genau das scheint es jetzt zu tun. Oh, ich sehe deine Unverschämtheit, Junge – und ich frage mich, woher sie kommt. Ich frage mich, ob er mich jetzt hört, dieser Freund.«

»Ich habe keinen Freund, Bruder Caspar«, sagte ich und überlegte, ob ich ihm ausweichen könnte, falls er sich auf mich stürzen sollte. Bei Caspar hatte man immer das Gefühl, dass der Wahnsinn in ihm lauerte, dass er einem ohne Warnung an die Gurgel gehen könnte. Seine Augen glänzten zu hell, als dass man in seiner Gegenwart ruhig bleiben konnte.

»Ich kann doch nicht Tage und Wochen mit dir verschwenden!«, bellte er. »Wir müssen ihn hervorlocken. Auf, Junge, nach diesem vergeudeten Morgen. Renne um den Hof, ich werde solange lesen.«

Es ist mir nie schwergefallen, jemanden zu hassen, den ich für dumm halte. In meiner Unschuld verstand ich seine Worte als Herausforderung. Mein Körper hatte mich noch nie im Stich gelassen, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er es jetzt tun würde. Ich glaube, ich lächelte sogar, als ich zu laufen anfing. Es sollte für lange Zeit das letzte Mal sein.

Ich lief los, als die Mönche noch bei der Prim waren. Ich schwitzte stark, als die Brüder aus der Kirche kamen und zum Frühstück gingen, neugierig blickten sie mich an, sagten aber nichts. Es schien nicht viel Zeit zu vergehen, ehe sie wieder herausströmten, um in die Werkstätten und Gärten zu gehen. Die Regel des heiligen Benedikt heißt, zu beten und zu arbeiten. Sie sorgt für gesunde Männer, die lange leben, auch wenn sie dazu neigen, schlecht gelaunt zu sein.

Ich rannte weiter, angetrieben von meinem Stolz. Der Morgen verging, aber Bruder Caspar schien nicht zu bemerken, dass ich anfing zu taumeln. Immer und immer wieder bot ich meinen ganzen Willen auf, ich zählte erst Dutzende, dann Hunderte Runden um den Hof, schließlich hörte ich bei sechshundert auf zu zählen. Der Schweiß strömte an mir herab und brannte mir in den Augen, dass ich kaum sehen konnte.

Ich rannte, bis es um neun Uhr zur Terz läutete, drei Stunden nach der Prim. Ich hatte auf dieses Läuten gewartet und mir vorgenommen, bis dahin auszuhalten, auch wenn ich mit blutigen Füßen rennen müsste. Als es endlich ertönte, erfasste mich eine Woge der Erleichterung, ich war fast in Ekstase. Ich blieb stehen, und ohne Warnung stand Bruder Caspar in seiner schwarzen Kutte vor mir. Er sprach kein Wort. Mit seinem kalten Daumen schob er mein Augenlid in die Höhe und betrachtete mich, wie man ein Pferd prüft, das man kaufen will. Angewidert schüttelte er den Kopf, und als ich nach Atem rang, trat er mir gegen die Beine, sodass ich fiel.

»Zeige dich, Geschöpf«, sagte er leise und blickte auf mich herunter.

Ich versuchte, mich aufzurappeln, weil ich einen Stock in seiner Hand sah, aber jetzt fing er an, mich mit der Kraft und Ausdauer eines Wahnsinnigen zu bearbeiten. Schließlich splitterte der Stock und zerbrach in spitze Teile, aber immer noch holte er aus und prügelte wie besessen auf mich ein. Er stöhnte vor Anstrengung, und in seinen Mundwinkeln hatte sich Speichel gesammelt. Es sah aus wie der weiße Schaum, den man im Frühjahr oft an Grashalmen sieht und unter dem sich kleine grüne Tiere vor der Sonne schützen.

»Zeige dich«, sagte er wieder, wobei er fast so stark keuchte wie ich. Ich weiß noch, dass ich seinen Speichel sah, dann wurde es um mich herum immer heller, und ich fiel ins Bodenlose. Ich glaube, dass ich mich ihm in dem Anfall, der jetzt folgte, sehr deutlich gezeigt habe. Der Anfall war so heftig, dass es sich anfühlte wie ein kleiner Tod.

Im Spital aß ich weich gekochte Eier und grüne Kohlsuppe, bis ich dachte, meine Eingeweide würden platzen von den übel riechenden Blähungen, die sie mir verursachten. Ich weiß noch, dass ich Angst hatte, man könnte den Gestank als einen weiteren Beweis dafür ansehen, dass ich entweder vom Teufel besessen war oder andere Dämonen mein Inneres zersetzten. Ich wollte nicht wieder Bruder Caspars Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Als die Luft immer schlechter wurde, kniff ich meinen Hintern fest zusammen und humpelte ans offene Fenster. Vorsichtig zog ich meine Pobacken auseinander und ließ die schlechte Luft so leise wie möglich entweichen. Afra hatte viel zu tun und eilte geschäftig hin und her, doch wenn ich sie kommen hörte, war ich immer brav im Bett.

Ich musste dies im Laufe dieses Nachmittags wohl ein Dutzend Mal gemacht haben. Mein linkes Auge war zugeschwollen, und ich sah alles verschwommen. Ich sah nur das helle Fenster, aber ich wusste nicht, dass auf der anderen Seite des Hofes ein Klassenzimmer war. Die Jungen, die dort unterrichtet wurden, konnten beobachten, wie ich vorsichtig ans Fenster schlich und mich umdrehte, um meinen Hintern in die frische Luft zu halten.

Es war Bruder Encarius, der die Klasse unterrichtete. Er fühlte sich gestört, weil ich seine Schüler immer wieder zu hilflosem Gelächter veranlasste. Vermutlich musste er jeden Einzelnen verprügeln, und diese Anstrengung verlieh ihm die frische Farbe, die ich an ihm bemerkte, als er versuchte, den dauernden Störungen auf den Grund zu gehen. Vielleicht dachte er, ich sei ein böswilliger, ordinärer Junge, der es aus Schabernack tat. Als er an mein Bett trat, zuckte er sichtlich zusammen.

»Oh«, sagte er. »Davon habe ich natürlich gehört, wir sind ein so kleines Kloster. Bruder Caspar ist … ein leidenschaftlicher Sucher der Wahrheit.« Es klang fast wie eine Entschuldigung, aber ich erwiderte nichts, ich hatte gelernt, vorsichtig zu sein. Encarius wartete einen Moment, ehe er fortfuhr.

»Die Fallsucht ist eine faszinierende Krankheit, nicht wahr? Mein Bruder war auch davon besessen. Er wurde bewusstlos von seinen Anfällen, ganz ähnlich wie du, vermute ich. Er war noch jung, als er bei einem Überfall auf unser Dorf niedergeschlagen wurde und man ihn für tot hielt. Sein Kopf war danach merkwürdig eingedrückt. Er pflegte beim Lesen immer seinen Daumen in die Delle zu legen. Ungefähr hier.« Er zeigte auf die Stelle, während ich ihn finster ansah und schwieg. »Wenn er einen Anfall hatte, war er danach den ganzen Tag schwach und wie benebelt.«

Ich starrte ihn nur an. Ich würde ihnen keinen Vorwand mehr geben. Er schien die Wut in meinem Blick zu spüren und errötete noch stärker.

»Du heißt Dunstan, nicht wahr? Der Heilkunde gehört mein ganz besonderes Interesse. Falls du irgendwann eine ähnliche Verletzung hattest wie mein Bruder, könnte ich Abt Clement bitten, dass ich dich stattdessen untersuchen darf.«

Er wollte damit keineswegs andeuten, dass ich lügen solle. Er überließ es mir, seine Worte zu interpretieren. Jetzt war Encarius mir sympathisch. Schwer zu glauben, dass er erst zwanzig Jahre alt war. Ich war sieben Jahre jünger und betrachtete ihn als Erwachsenen, nicht wie jemand, der wie ein Mädchen errötete und sich noch nicht einmal überall rasieren musste, außer an der Oberlippe und an der Spitze des Kinns.

»Meine Mutter sagte, ich sei als kleines Kind mal gestürzt«, sagte ich. »Sie erzählte, ich sei mit dem Kopf so hart auf die Kaminplatte aufgeschlagen, dass ich zwei Tage bewusstlos war. Sie sagte immer, sie habe damals gedacht, ich würde nie mehr aufwachen.«

Encarius schien hocherfreut. Er tastete meinen Kopf ab und untersuchte meine Stirn, als suche er nach einer Narbe. Ich glaube, er war enttäuscht. Dann tätschelte er mein Bein, aber ich zog es schnell zurück, falls er einer von diesen Männern war, die Jungen statt Mädchen lieben. Doch das war nicht der Fall, Gott sei Dank. Er liebte keine Jungen, und Mädchen liebte er auch nicht.

»Was wurde aus deinem Bruder?«, fragte ich. Mein Gesichtsausdruck war immer noch düster, aber ich hatte noch von keinem Menschen gehört, der ebensolche Anfälle bekam wie ich, und ich wollte es wissen. Encarius senkte den Kopf, und ich hatte es erraten, noch ehe er sprach.

»Er starb jung … er war nur ein Jahr älter, als du jetzt bist. Er verrenkte seine Glieder so sehr, wenn er einen Anfall hatte, dass wir ihn festbinden mussten …« Seine Stimme erstarb, zweifellos dachte er an seinen Zuhörer. »Doch trotz all seines Gebrülls und seiner Schmerzen habe ich niemals den Teufel in ihm gesehen. Ich weiß, ein unbedachter Mensch kann ihn anlocken, aber mein Bruder war so jung – er war ein unschuldiges Kind. Hast du jemals deine Seele aufgegeben, Dunstan? Ich spüre heute einen großen Zorn in dir – statt Buße und Vergebung. Hast du jemals getobt und deinen Feinden den Tod gewünscht, egal, um welchen Preis? Wenn das der Fall wäre, könnte deine Krankheit sündhaft sein, ein Vergehen vor Gott. Dann könnte ich dir nicht helfen, ohne meine eigene Seele in Gefahr zu bringen.«

Ich war das Heucheln so gewohnt, dass ich ihn überrascht ansehen konnte, obwohl er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. »Niemals«, sagte ich und blickte ihm ins Gesicht. »Ich gestehe zwar, dass ich ein Sünder bin, aber meine Seele gehört mir.« Das ist der Schlüssel zum Umgang mit Mönchen. Wenn du behauptest, du seist unschuldig, bezichtigen sie dich der Sünde des Stolzes. Behaupte stattdessen, du seist ein elendes, sündhaftes Geschöpf – und sie werden dich lieben und als einen von ihnen anerkennen.

»Dann werde ich im Namen des heiligen Lukas, des Schutzheiligen der Ärzte, und des Engels Raphael, dessen Name bedeutet ›Gott heilt‹, versuchen, dir zu helfen. Ich werde es mit Gebeten und pflanzlicher Medizin und heilsamen Erden tun, so wie es Gott gefällt.«

Diese Aussage gefiel mir nicht. Wenn ich an diesen Morgen zurückdenke, als ich die Wahl hatte zwischen Caspars Prügel und Encarius’ Medizin, ich wünschte ehrlich, ich hätte mich für die Prügel entschieden.

»Ich werde jetzt mit dir beten, Dunstan, dann sollst du ausruhen und dich erholen. Wenn ich weg bin, geh bitte nicht mehr ans Fenster. Die Jungen finden es sehr lustig.«

Entsetzt und schockiert blickte ich ihn an, mein Gesicht brannte vor Scham. In seiner Stimme lag nicht der leiseste Spott, nur ernste Fürsorge. Er war ein äußerst humorloser Mensch.

Bruder Encarius legte die Hand auf meinen Kopf, und ich starrte hinunter auf die raue Decke, ich war wütend und schämte mich. Er betete eine Weile, während ich mir schwor, mich an Caspar zu rächen. Ich wusste noch nicht wie, aber die Rache würde furchtbar sein.

3

Nach meiner Tracht Prügel lag ich drei Tage im Spital, deshalb bemerkte ich nicht, wie Wulfrics Schwierigkeiten anfingen. Ich war noch nicht wieder völlig gesund, aber wenigstens brauchte ich keine Krücken. Ich konnte mir gut vorstellen, wie man uns verspottet hätte, wenn beide Söhne Heorstans als Krüppel herumgehinkt wären. Wenn ich in diesen ersten Tagen schon mit im Schulzimmer gewesen wäre, hätte ich verhindern können, was später passierte. Aber so kam ich erst dazu, als alle Jungen sich bereits gegen Wulfric verschworen hatten – und damit, unfreiwillig, auch gegen mich.

Wenn ich nicht überall grüne und blaue Flecken gehabt hätte, hätte ich vielleicht sogar jetzt noch meinen Platz behauptet und ihnen klargemacht, dass es klüger wäre, uns nicht zu quälen. Ich weiß es nicht. Auch eine weiße Amsel wird vom restlichen Schwarm getötet – jeder Fremdling verursacht zunächst Unsicherheit und Abwehr bei denen, die ihn nicht kennen. Es wäre wohl in jedem Fall schwer gewesen, von diesem kleinen Wolfsrudel akzeptiert zu werden.

In der Klosterschule herrschten, was Alter und Stand betraf, große Unterschiede. Der Jüngste, James, war neun Jahre alt. Ich hatte ihn bereits einmal mit einem Fußtritt aus der Tür befördert. Hätte ich gewusst, dass er der Sohn eines Earls war, wäre ich vorsichtiger gewesen. Schließlich verfügte sein Vater über eine ganze Armee Soldaten.

Der Älteste war Godwin, fünfzehn Jahre damals und kräftiger, als zu erwarten, wenn man bedenkt, was wir zu essen bekamen. Hätte Bruder Caspar auch nur den Verstand eines Säuglings gehabt, hätte er in Godwin den Teufel gesehen, nicht in mir. Zeige dich, Geschöpf – also wirklich! Der Mann war ein Idiot.

An meinem ersten Tag im Klassenzimmer ließ die Sonne die Schreibpulte golden glänzen, kleine Staubkörner tanzten durch die Luft. Ich verbeugte mich vor Meister Florian, der uns in Latein unterrichten sollte, eine Sprache, in der die Jungen aus Irland und Wales sich mit denen aus Wessex verständigen konnten – und uns mit Virgil, Livius, Cato und den Kommentaren von Plinius und Cäsar bekannt machen würde. Oh, der alte Florian hielt den Schlüssel zu großen Wundern für uns in Händen. Ich erinnere mich immer noch an seine ersten Worte, als ich noch nichts verstand.

Er sprach langsam, wie zu einem Schwachsinnigen – doch auch das half nicht viel.

»Dunstan! Italia … paeninsula est. Britannia insula est!

Dunstan: Estne Britannia aut … insula … aut peninsula?«

Genauso wenig, wie ich Aramäisch sprechen konnte, wusste ich nicht, ob Britannien eine Halbinsel oder eine Insel war. Ich hatte verstanden, dass er mich etwas gefragt hatte. Alle sahen mich an, also wiederholte ich grinsend einen völlig unsinnigen Wortschwall.

»Britannia … insula paeninsula est … aut Italia?«

Es folgte lautes Gelächter, und Meister Florian zog mir seine Rute übers Ohr. Ein scharfer Schmerz durchzuckte mich. Natürlich schrie ich auf, und sofort wurde der Schrei von Godwin nachgeäfft, nur höher und länger, wie ein Lamm, das geschlachtet wird. Meister Florian schien es nicht zu bemerken. Er kehrte zurück zu seinem erhöhten Pult und murmelte bereits eine Berichtigung für einen anderen Jungen. Ich sah ein Glitzern in Godwins Augen. Ich sollte erst später erfahren, dass er der Sohn des Priors Simeon war – des Zweithöchsten unserer Klostergemeinschaft nach Abt Clement. Mit einem fast freudigen Gefühl stellte ich fest, dass ich meinen Feind gefunden hatte, und er den seinen.

In jenen fernen Tagen waren Feinde mir willkommen. Wenn heutzutage jemand mein Feind werden will, müsste er sich so anstrengen, dass ihm wohl vorher die Kraft ausgehen würde.

Wulfric drehte sich mitfühlend zu mir um und bekam prompt einen Hieb auf die Hand dafür. Meister Florian schien es keine besondere Befriedigung zu sein, uns zu schlagen, aber trotzdem benutzte er seine Ruten, von denen er immer einen kleinen Korb voll in verschiedenen Stärken neben seinem Pult hatte, ziemlich großzügig. Die dünnen schmerzten am meisten, aber die dicken hinterließen blaue Striemen, die länger brauchten, ehe sie heilten. Ich glaube, Florian war ein guter Mensch. Ich mochte ihn.

Während mein Ohr immer noch schmerzte und pochte, bekam ich eine dreiteilige Wachstafel und einen hölzernen Griffel. Wir rezitierten im Chor, und die Rute pfiff über Pulte, Hände und Hinterköpfe. So verging der Morgen, bis schließlich das Knurren unserer leeren Mägen die Stille durchbrach. Sonderbare Geräusche, produziert von einem Dutzend hungriger Jungen. Selbst Godwins träges Grinsen verschwand, während er die Glocke zur Sext herbeisehnte. Es roch nach Hammeleintopf mit Knödeln und Steckrüben, so lecker und nahrhaft, dass uns das Wasser im Mund zusammenlief. Wir waren ständig hungrig.

Als es läutete, erhoben wir uns und blieben schweigend stehen. Meister Florian war genauso hungrig wie wir, deshalb zögerte er nicht lange und entließ uns, um zur Kapelle zu gehen. Wir gingen an ihm vorbei und legten unsere Tafeln in einen Kasten, aus dem wir sie am nächsten Morgen wieder herausnehmen würden.

Für Menschen, die das Klosterleben nie kennengelernt haben, mag es lästig erscheinen, dass man Tag und Nacht alle paar Stunden zu den Gebeten eilen muss. Nun ja, das war es auch. Aber ich gebe zu, dass es mir zur zweiten Natur geworden ist, sodass ich selbst jetzt nie länger als ein paar Stunden schlafen kann. Dann fahre ich hoch, bereit, die Matutin zu singen, obwohl meine Stimme eine Krähe noch beschämt hätte.

Wir lernten die Gebete genauso schnell wie unsere anderen Lektionen, nur unter den scharfen Augen und den noch schärferen Strafen der Mönche. Jetzt verstehe ich besser, dass sie an arbeitsreichen Tagen Momente der Ruhe für uns bedeuteten. Unsere Gebete waren wie Bienengesumm; es wurde ganz still um uns. Jeden Morgen zur Prim unterdrückten wir unser Gähnen, wenn die aufgehende Sonne durchs Fenster fiel und Farbflecke auf den Steinboden warf. Doch es gibt schlimmere Arten, einen Tag zu beginnen.

Nach dem kurzen Gebet zur Sext wurden wir endlich in den Speisesaal entlassen. Ich weiß noch, wie ich durch den Kreuzgang lief, die Aussicht auf das Mittagessen hatte mich meine Schmerzen vergessen lassen. Wulfric war dicht hinter mir, als jemand gegen seine Krücke trat. Mit einem Schrei fiel er zu Boden und schlug sich die Knie an den Steinen auf. Ich blieb stehen, obwohl mir der Magen knurrte.

Godwin stand da und grinste mich herausfordernd an.

Ich blickte auf Wulfric herab, sah seine Wunden und seine Demütigung. Obwohl mich meine Verletzungen noch schmerzten, warf ich mich auf Godwin, meine Wut als einzige Waffe. Der Kreuzgang war leer, und niemand sah, wie der Ältere anfing, mich mit seinen Fäusten und knochigen Knien zu bearbeiten, wobei er grunzte wie ein Schwein am Futtertrog. Ich dachte, er würde mich umbringen. Ich wusste nicht, ob absichtlich oder versehentlich, aber ich sah es kommen.