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Darien ist die Hauptstadt eines mächtigen Königreiches. Seit tausend Jahren regieren von hier aus die zwölf mächtigsten Familien das Land. Doch diese Ära neigt sich dem Ende entgegen, denn König Johannes ist schwach und ängstlich. Als das Militär einen Mordanschlag auf den König plant, um den Thron für einen starken Herrscher frei zu machen, ändert sich das Leben von fünf ungleichen Helden für immer: Ein Jäger, ein Krieger, ein Dieb, eine Magierin und ein Wesen aus einer längst vergangenen Zeit – sie alle führt ihr Weg aus den entferntesten Ecken des Reiches nach Darien, denn nur gemeinsam können sie ihre Welt vor dem Untergang bewahren...
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Seitenzahl: 552
Das Buch
Darien ist die Hauptstadt eines mächtigen Königreiches. Seit tausend Jahren regieren von hier aus die zwölf mächtigsten Familien das Land. Doch die Herrschaft der Zwölf neigt sich dem Ende entgegen, denn ihr Oberhaupt, König Johannes, ist schwach und ängstlich. Als das Militär einen Mordanschlag auf den König plant, um den Thron für einen starken Herrscher frei zu machen, ändert sich das Leben von fünf ungleichen Helden für immer: Ein Jäger, ein Krieger, ein Dieb, eine Magierin und ein Wesen aus einer längst vergangenen Zeit – sie alle führt ihr Weg aus den entferntesten Ecken des Reiches nach Darien, denn nur gemeinsam können sie ihre Welt vor dem Untergang bewahren …
Der Autor
Conn Iggulden, geboren 1971, ist einer der erfolgreichsten Autoren historischer Stoffe. Iggulden lehrte Englisch an der University of London, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. Mit seiner Serie um die Rosenkriege wird Iggulden als Erneuerer des historischen Romans gefeiert und mit dem Darien-Epos legt er nun seine erste Fantasy-Serie vor. Iggulden lebt mit seiner Familie in Hertfordshire, England.
CONN
IGGULDEN
DARIEN
Die Herrschaft der Zwölf
ROMAN
Aus dem Englischen vonKirsten Borchardt
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Titel der Originalausgabe
DARIEN – EMPIRE OF SALT
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Deutsche Erstausgabe 09/2017
Redaktion: Werner Bauer
Copyright © 2017 by Conn Iggulden
Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN: 978-3-641-21293-3V001
www.heyne-fantastisch.de
Für Jillian Taylor
Erster Teil
1
Wagnis
Elias Post war Jäger. Und zwar ein guter. Die Dorfältesten sprachen mit so viel Stolz von seinen Fähigkeiten, als ob ein Teil seiner Gabe ihnen selbst zuzurechnen sei. Die Menschen von Wyburn verließen sich darauf, dass er ihnen Fleisch besorgte, selbst in den dunkelsten Wintermonaten, wenn anderswo die Alten und die Kinder dahingerafft wurden.
Das Land rund um das Dorf war ausgelaugt, aber dennoch bestellten sie es hartnäckig weiter. Irgendwie gelang es ihnen auch, jedem noch so verkrauteten Feld eine kleine Ernte abzuringen, die sie während des Heranreifens aufmerksam vor den Krähen und den ausgehungerten Tauben beschützen mussten. Auch grasten noch Schafe auf den kahlen Hügeln. Zuchttauben pickten und gurrten in ihren Käfigen. Bienen summten in ihren säuberlich aufgereihten Stöcken. Vielleicht hätte es für alle gereicht, wenn ein Teil der Wälder ungerodet geblieben wäre und man nicht alle Bäume gefällt hätte, um an ihrer Stelle Ölsaat für die Stadt anzupflanzen – was zwar Geld brachte, aber keine Nahrung. Elias wollte nicht darüber urteilen, ob solche Entscheidungen richtig oder falsch waren. Als der Getreidespeicher nur noch einen kümmerlichen Rest dessen enthielt, was sie in den Vorjahren erwirtschaftet hatten, und als alle Kleintiere in ihren Bauen aufgestöbert und gefangen waren, da fasste der Hunger mit seinen dünnen Fingern ins Dorf und warf einen begehrlichen Blick auf die alten Männer, die sich kaum bewegend am Feuer saßen.
Schon als Junge war er auf die Jagd gegangen, und wenn er zu seiner Mutter zurückgekehrt war, hatte er stets triumphierend ein paar Enten an den Füßen hochgehalten oder sich so viele Hasen unter den Gürtel geschoben, dass es aussah, als trüge er einen Rock aus grauem Pelz. Zur Sommerszeit gab es von allem reichlich. Es waren die tiefen Winter, in denen sich Elias das Lob des Dorfrates erst wirklich verdiente. Wenn sich der Frost über das Land legte und die Welt weiß und still wurde, dann wusste er, wie man Wild aufspürte: Rebhühner und Hasen, ja, sogar Wölfe oder Bären, wenn der Schnee wirklich hoch lag. Nur Füchse jagte er nicht, obwohl er ihnen Fallen stellte, damit die Hasen sich vermehren konnten. Das Fuchsfleisch schmeckte eklig, und den Geruch ertrug er nur mit größtem Widerwillen.
Als er vierzig wurde, bot man ihm einen Platz im Dorfrat an, und voll Stolz nahm er an den Treffen teil, die jeweils am ersten Tag des Monats stattfanden. Abgesehen von seinen Fähigkeiten als Jäger verfügte er über eine natürliche Autorität, die mit jedem Jahr größer wurde, wie ein Mantel, den er nun einmal trug, ob er wollte oder nicht. Er sprach nicht viel und erhob die Stimme auch nur dann, wenn er genug über die betreffende Sache wusste, um sich seines Urteils sicher zu sein.
Unverständnis brachte man allein der Tatsache entgegen, dass er keinen Lehrling annahm, aber andererseits war allen klar, dass sein Sohn in Elias’ Fußstapfen treten würde, sobald er alt genug dazu war. Was spielte es schon für eine Rolle, dass Elias seine Kenntnisse nur an die eigene Familie weitergeben wollte? Es gab natürlich immer solche, die missmutig murrten, wenn alle anderen Jäger in die Wälder zogen und dünn und mit leeren Händen zurückkehrten, die Bärte weiß befroren. Und wenn dann Elias kam, gebeugt unter dem Gewicht eines toten Tiers, das er auf den Schultern trug, und ganz schwarz war vor gefrorenem Blut. Er lachte nicht und tat sich nicht groß vor den anderen Jägern, aber manch einer hasste ihn trotzdem deswegen. Auch sie hatten ihren Stolz, und es gefiel ihnen nicht, vor ihren Familien erniedrigt zu werden, auch wenn er das Fleisch mit ihnen teilte und andere Waren oder Münzen dafür annahm. Aber sie hielten Frieden, denn sie waren nicht dumm, und das Dorf brauchte Elias Post mehr als die anderen Jäger. Niemand wollte aus der Dorfgemeinschaft verstoßen werden, um dann in die Stadt wandern und dort sein Dasein als Bettler oder Wachmann fristen zu müssen. So etwas ging nie gut aus, das wusste jeder. Wenn junge Mädchen nach Darien fortliefen, dann kam die Familie sogar zu einer kleinen Beerdigung zusammen, denn es war auch so stets ein endgültiger Abschied. Und vielleicht hofften sie auch, die anderen Mädchen damit abzuschrecken.
Die Seuche war im Sommer mit dem Wagen eines Wundermittelverkäufers aus der Stadt ins Dorf gekommen; jedenfalls erzählte man sich das. Zuerst hatte sie sich als Heimsuchung und Geißel dort breitgemacht, wo die Menschen zu eng beieinander hausten und Wange an Wange mit Flöhen und Läusen lebten. Auch schien es eine Strafe für sündige Vereinigungen zu sein. Schließlich erkannte man nicht erst im Alter, dass in einem gesunden Leben wenig Platz für Vergnügungen blieb. Die Krankheit begann mit einem Ausschlag, und bei den meisten Menschen blieb es auch dabei. Ein paar Tage Fieber und Juckreiz, und dann wurden sie wieder gesund. Darauf hofften alle, doch bei manchen kam es anders, und sie lagen nach einer Woche voller Qualen steif und mit offenen Augen auf ihrem Bett. Es war ein grausames Jahr, das keine Günstlinge kannte.
Als die Vorsteher des Dorfes sich am Tag der Sommersonnenwende trafen, überraschte es sie nicht, dass Elias’ Platz bei dieser Zusammenkunft leer blieb. Voller Sorge und Mitleid raunten sie leise seinen Namen. Natürlich hatten sie es alle schon gehört. Wyburn war schließlich klein.
Binnen einer kurzen Woche war sein Sohn dahingerafft worden, ein kleiner Junge mit schwarzem Haar und lachendem Mund, den es mitten aus dem Leben gerissen hatte. Sein Vater behielt ein Stück Eis im Herzen zurück. Der Jäger war in jener Nacht, die er bei seinem Kind gewacht hatte, um ebenso viele Jahre gealtert, wie sein Junge sie gelebt hatte. Kurz vor dem Ende war Elias zum kleinen Tempel hinuntergegangen, der eine Meile entfernt an der Straße lag, und hatte ein Bündel goldenen Heus, das er von der Ernte zurückbehalten hatte, als Opfergabe dargeboten. Die Schnitterin hatte ihr Gesicht abgewandt und an ihrer eisernen Kette gedreht. Als er zu seinem Haus nahe dem Dorfplatz zurückkehrte, war der Junge kalt und steif. Elias saß noch lange bei ihm und sah ihn nur an.
Als die Sonne aufging, weinten seine Frau und seine Töchter und versuchten, sich nicht an den Schwellungen zu kratzen, die sich nun bei ihnen zeigten. Alle drei stumm vor Angst und blass wie Hühnerhaut. Elias hatte sie geküsst und dabei das Salz hellen Schweißes geschmeckt. Tatsächlich hoffte er darauf, dass ihn die Krankheit nun selbst dahinraffen würde, und als er eine Weile geschlafen hatte und wieder wach wurde, war es ihm beinahe eine Erleichterung, dass auch bei ihm Ausschlag auftrat und seine Stirn feucht war. Seine Frau hatte daraufhin laut zu jammern begonnen, aber er hatte sie und ihre beiden Töchter in einem Knäuel aus Armen und Tränen und Leid an sich gezogen.
»Und was sollte ich ganz allein wohl anstellen, mein Schatz? Du und die Mädchen, ihr seid alles, was ich noch habe, jetzt, da Jack nicht mehr da ist. Ich sah die Möglichkeit, glücklich zu sein, und sie wurde mir genommen. Ich will nicht allein zurückbleiben, Beth! Nein. Wo auch immer wir hingehen, ich gehe mit euch. Was spielt es jetzt noch für eine Rolle, mein Schatz? Wir werden Jack folgen. Wir werden ihn einholen. Wir werden gemeinsam mit ihm weitergehen, wo immer er auch sein mag. Er wird sich freuen, uns zu sehen, das weißt du doch. Also, ich sehe schon sein Gesicht vor mir.«
Als die Dunkelheit kam, stellte Elias fest, dass er es nicht ertrug, den rasselnden Atemzügen seiner Familie in der nächtlichen Stille zu lauschen. Er erhob sich von seinem Stuhl und blieb eine Weile am Fenster stehen, sah auf die mondbeschienene Straße. Es wurde zu jener Zeit früh dunkel, und er wusste, die Taverne würde offen sein. Aber er war nicht auf Bier oder auf Branntwein aus. Dafür hatte er weder das Geld, noch schmeckte ihm dergleichen überhaupt. Es gab vielmehr andere Dinge, die im Licht und im Lärm einer größeren Menge für ihn zu holen waren.
Das ängstliche Volk würde ihn rauswerfen oder sogar töten, wenn man die Schwellungen an seinen Armen und am Bauch sah, das wusste er. Er verzog das Gesicht; der Juckreiz machte ihn verrückt. Vielleicht konnte man es sogar als eine Art Mord betrachten, was er vorhatte, aber das glaubte er dann doch nicht so ganz. Manche Menschen fielen der Krankheit zum Opfer, andere blieben verschont. So war das eben. Sie alle wussten, dass sie durch Berührungen verbreitet wurde, obwohl niemand wirklich verstand, wie das vor sich ging. Seuchen hatte es immer schon gegeben. Sie flammten in den Sommermonaten auf und brannten dann in der Winterkälte richtig aus. Auf gewisse Weise war das so gewöhnlich wie der Wechsel der Jahreszeiten, auch wenn ihm das keinen Trost bot.
Elias zuckte die Achseln. Ein altes Hemd und ein langer Mantel würden die verräterischen Anzeichen verbergen. Er hatte eine Schwellung auf der Kopfhaut und eine unterhalb der Kehle inmitten des gekräuselten Brusthaars. Im Spiegel sah sie aus wie die Landkarte einer Insellandschaft, weiß in einem rosafarbenen Meer. Er schüttelte den Kopf, dann knöpfte er sich das Hemd bis oben hin zu.
Die Jagd war eine saubere Sache, vor allem, wenn es kalt und dunkel war. Er streifte durch den Wald, nutzte seine Gabe und fing das Wild mit bloßen Händen. Das war tatsächlich eine Gabe, von der er anderen noch nie erzählt hatte. Allerdings hatte er gehofft, auch sein Sohn würde diese Fähigkeit eines Tages zeigen, wenn er älter war. Bei diesem Gedanken überkam ihn so viel Trauer, dass es ihn nicht mehr im Haus hielt. Er nahm einige dicke Kleidungsstücke von einem stinkenden Haufen und warf sie sich über, dann schob er sich einen Filzhut mit eingerissener Krempe auf den Kopf, um sein Gesicht zu verbergen. Sich einfach hinlegen und sterben, das konnte er nicht. Dies hatte er schon immer für sich als Schwäche gewertet.
In der Stadt gab es Medizin. Das war bekannt. Dort gab es angeblich Doktoren, die es sogar schafften, dass die Toten wieder aufstanden und tanzten. Aber für solche Wunder brauchte es mehr Geld, als ein einfacher Jäger vom Lande je gesehen hatte. Im Herbst schlachtete Elias Schweine auf den Höfen der Umgebung und bekam dafür Bratenstücke oder Nieren mit. Oder er schlug Holz im Austausch für ein oder zwei Krüge Honig. Wenn ihm rote oder weiße Füchse in seine Fallen gingen, dann zog er ihnen das Fell ab, wartete, bis er eine stattliche Anzahl beisammen hatte, und verkaufte sie dann an einen Mann ein paar Meilen flussabwärts. Dafür erhielt er richtige Silberstücke. In der Stadt war Elias nie gewesen, aber er wusste, dass es dort jede Menge gelehrter Männer gab, die so gut wie alles zu tun vermochten. Für Geld jedenfalls, nicht aus Freundlichkeit oder Liebe. Das verstand sich von selbst, und das ging für ihn auch in Ordnung. Die Welt schuldete niemandem etwas.
Dennoch war es ihm gelungen, ihr ein wenig Geld abzutrotzen, das er in einem Krug auf dem Kaminsims aufbewahrte; er hatte etwas zurückgelegt für die Jahre, in denen er nicht mehr im Schnee auf die Jagd gehen würde, weil seine Finger das Messer nicht mehr richtig zu fassen bekamen oder wenn ihn vielleicht sogar seine Gabe verließ, so wie andere Männer ihr Augenlicht oder ihr Gehör verloren. Jetzt berührte er den kleinen Beutel in seiner Tasche, gefüllt mit den Münzen, die er zuvor auf dem Küchentisch ausgebreitet und gezählt hatte. Vielleicht hatte er es schon immer vorgehabt, er wusste es nicht. Der Verstand war ein seltsam vielgestaltiges Ding, langsam und tiefgründig, mit vielen übereinanderliegenden Schichten. Sein Vater hatte gesagt, dass er sich oft fühlte wie ein Junge, der einen großen Ochsen ritt, ohne dass er eine Ahnung davon hatte, was dem Ochsen durch den Kopf gehen mochte.
Ein Dutzend Jahre Handel mit Fleisch und Pelzen hatte gerade so viele Münzen eingetragen, dass er sie in einer Hand halten konnte. Dennoch waren seine kostbaren Silberstücke ganz sicher nicht genug, um Medizin zu kaufen. Doktoren waren reiche Leute. Reiche Leute erwarteten Goldmünzen, in deren weiches Metall die Köpfe anderer reicher Männer geprägt waren. Eine Goldmünze hatte Elias noch nie gesehen, aber er wusste, dass ein Nobel zwanzig Silberstücken entsprach – und tatsächlich denselben Wert hatte. Es war ein bisschen wie mit den Soldatenhauptmännern, die manchmal im Frühjahr durchs Land zogen und nach jungen Männern Ausschau hielten, um sie anzuwerben. Jeder Hauptmann befehligte über zwanzig Mann, sagte ihnen, was sie tun und wohin sie gehen sollten. Elias fragte sich, während er die Straße entlangschritt, wie viele Hauptmänner ein General wohl kommandierte. Ein Dutzend? Zwanzig? Gab es ein Metall, das noch wertvoller war als Gold? Falls ja, dann hatte er nie davon gehört.
Solche und andere Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er zur Taverne ging, erfüllt von Trauer und Zorn und rücksichtsloser Entschlossenheit. Er hatte sein Leben lang hart gearbeitet und vier Kinder in die Welt gesetzt. Eines davon war nach nur wenigen Tagen wieder von ihnen gegangen. Damals waren er und seine Frau jünger gewesen und eher in der Lage, so etwas zu überwinden. Er hatte zu Beth gesagt, sie hätten eines zurückgegeben, und das hatte seine Frau getröstet. Er hatte gesagt, mit dieser Trauer hätten sie den Zins für ihr Leben bezahlt.
Dass Jack diesem Kind nun gefolgt war, das war kein Teil der Abmachung gewesen, und auch nicht, dass die Kratzkrankheit seine Töchter befiel. Elias war davon ausgegangen, dass die meisten, die krank wurden, auch wieder genasen. Daher war er zunächst ganz ruhig gewesen, in der sicheren Überzeugung, dass Jack es überstehen würde. Er hatte nicht wahrhaben wollen, was da vor sich ging, bis zu dem Augenblick, als er spürte, dass sich die Hand seines Sohnes seltsam kühl anfühlte. Die Haut hatte noch dieselbe Farbe wie zuvor, aber die Wärme war nicht mehr da. Da hatte er es begriffen.
Er hatte den Jungen das Lesen gelehrt, einen Buchstaben nach dem anderen. Es konnte schlicht nicht sein, dass es jetzt mit diesem Unterricht vorbei sein sollte, dass er nie wieder das zögernde Zusammensetzen einzelner Worte hören oder das lachende Gewicht des Jungen spüren würde, wenn er von einem Türpfosten auf den Rücken seines Vaters sprang. Vielleicht war es eine Art von Wahnsinn, die ihn befallen hatte, aber Elias hatte das Gefühl, dass ihm an diesem Abend nichts und niemand auf der Welt Einhalt gebieten konnte – so, als sähe er sein Leben durch eine Glasscheibe und erkannte, dass gar nichts wichtig war, abgesehen von jenen, die er liebte und die ihn liebten.
Heute war einer der wenigen Tage im Jahr, an dem die Farmer ihre Wolle verkauften. Das große Erntefest stand kurz bevor, und das war eine Gelegenheit zum Feiern, wenn der Schinken ausnahmsweise einmal dick geschnitten wurde und die Dorfbewohner sich gegenseitig zuprosteten und aßen, bis sie sich kaum noch bewegen konnten. Aber erst kam der Wollverkauf, wenn der Sommer sich dem Ende neigte. An diesem Abend würden Männer mit echten Silberstücken in der Taverne sitzen und ganz mit sich zufrieden einen Krug des schweren braunen Biers nach dem anderen trinken.
Elias befeuchtete seine Lippen mit der Zunge, merkte aber, dass die kühle Luft die Haut gleich wieder straffte und austrocknete. Noch nie zuvor hatte er seine Gabe in menschlicher Gesellschaft eingesetzt. Dieses besondere Gespür war der tiefen Stille vorbehalten, den dunklen Hügeln und dem Frost. Die Vorstellung, es zu benutzen, während die Augen anderer auf ihm ruhten, fühlte sich an, als wollte er mit heruntergelassenen Hosen in die Wirtsstube treten. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn, und er hatte schon die Hand ausgestreckt, um sich erneut zu kratzen. Nein, heute Nacht nicht. Er würde seine Hände ruhig halten müssen, ganz gleich, wie sehr ihn der Juckreiz quälte. Überall im ganzen Land wurde vor der Krankheit gewarnt, und alle wussten, dass sein Sohn dahingegangen war.
Dann erinnerte er sich wieder, dass die Göttin ihr Antlitz trotz seines Opfers von ihm abgewandt hatte, und er musste sich so lange auf die Lippe beißen, bis der Schmerz ihn erschauern ließ, damit er die Schnitterin nicht laut verfluchte. Denn auch wenn sie für das Flehen der Menschen taub sein mochte – ein böses Wort hörte sie ganz sicher. Es war schwer, sich von dem Zornesausbruch abzulenken, der aus ihm herauswollte. Aber nun stolperte er dem Licht entgegen, das durch die Fenster auf die Straße schien, angelockt vom Lachen und dem Klappern irdenen Geschirrs.
Elias mischte sich unter die Trinkenden und Redenden, ohne dass irgendjemandem seine Anwesenheit auffiel. Selbst in jüngeren Jahren war er nicht groß gewesen, und er trug den grau gesprenkelten Bart kurz gestutzt. Vierundvierzig Jahre lebte er nun schon an diesem Ort, und wenn es nun damit vorbei sein sollte, dann blickte er doch mehr auf gute als auf schlechte zurück. Er nickte ein oder zwei Bekannten zu und drängte sich an ihnen vorüber. Sie sahen ihm staunend nach. Niemand hatte Elias je zuvor in der Taverne gesehen, kein einziges Mal in all der Zeit, seit er auf die Jagd ging. Er war kein besonders geselliger Mensch. Er würde auch niemals Vorsteher von Wyburn werden, auch wenn er vielleicht ein Wörtchen dabei mitreden würde, auf wen zu gegebenem Zeitpunkt die Wahl tatsächlich fiel.
Weiter hinten in der Wirtsstube standen die Spieltische, auf die Elias es abgesehen hatte, und hier saßen auch bereits die Farmer, die er dort erwartet hatte. So ernst die Lage auch war: Seine Mundwinkel zuckten leicht, als er sich daran erinnerte, wie ihn seine Mutter vor genau dieser Taverne und den dort blühenden Lastern gewarnt hatte. Sie war nun schon lange Jahre unter der Erde, in einem Loch, das er mit seinen eigenen Händen gegraben hatte. Seitdem hatte er zweimal Erde aufgefüllt, um einen kleinen Hügel aufzuschütten, nachdem der Boden eingesackt war. Dennoch hallten ihre Worte noch immer in ihm nach.
Jetzt schon befanden sich kleine Münzstapel vor den Männern an den Tischen. Elias fasste in seine Tasche und holte das kleine Dutzend Silberstücke hervor, das er besaß. Um deutlich zu machen, dass er ein Recht darauf hatte, hier zu stehen, hielt er die Münzen deutlich sichtbar hoch und sah sich nach dem Anführer der Gruppe um. Im Großen und Ganzen kannte er die Männer nicht, auch wenn er ein oder zwei vielleicht schon einmal in den Läden vor Ort gesehen haben mochte. Zwar waren sie alle Kerle, die es gewohnt waren, ein Schaf aus einem Dornengestrüpp oder einem schlammigen Graben zu ziehen, aber einer hatte einen härteren Blick als die anderen. Elias wandte den Kopf ab, als die Augen des Fremden über sein Gesicht glitten, überzeugt, dass gleich ein Ruf des Ekels und der Warnung vor der Seuche folgen würde. Der Mann hätte vom Aussehen her eher Türsteher in einem Hurenhaus sein können; jünger als die anderen und angetan mit einer eleganten gelben Weste über einem weißen Hemd, das ihn schon allein von allen anderen unterschied. Weiße Hemden trug man allgemein nur bei Beerdigungen und Hochzeiten – wenn man denn überhaupt eins besaß. Die strapazierfähige Kleidung der anderen am Tisch war in Farben gehalten, auf denen Dreck nur wie eine weitere Schattierung wirkte. Das Gelb und das Weiß waren an sich schon eine Herausforderung. Wer auch immer dieser Kerl sein mochte – mit den Händen arbeitete er jedenfalls nicht.
Elias spürte, dass er sein Gegenüber ebenso interessierte, und das wiederum brachte ihn dazu, sich erneut seinem Blick zu stellen. Der Fremde hatte zwar breite Schultern, aber nichts vom bulligen Körperbau der übrigen Bauern am Tisch. Er war eher Schäferhund als Mastiff, überlegte Elias, und konnte sich eher auf Schnelligkeit denn auf Kraft verlassen. In den Augen des Mannes lag eine Drohung, bei der es Elias kalt den Rücken herunterlief.
Dennoch hielt er seine Münzen weiter ausgestreckt, fest eingeklemmt zwischen den Fingern mit den schwarzen Nägeln. Noch nie zuvor hatte er seine Gabe auf diese Art und Weise eingesetzt, und er spürte, wie seine Hände zitterten, weil er im Grunde selbst nicht daran glaubte, dass es überhaupt funktionieren würde.
Der junge Mann zuckte die Achseln und deutete mit einer Kopfbewegung auf einen leeren Stuhl. Als Elias darauf zuging, sah er, dass eine dieser neuen Pistolen, wie man sie jetzt in der Stadt herstellte, an jeder Hüftseite des Fremden hing, Dinger aus schwarzem Metall, die glatt und gut geölt im Halfter steckten. Es hieß, sie machten einen Riesenlärm und konnten eine Rinderhälfte glatt durchbohren. Elias betrachtete diese Dinger mit Furcht und Ehrfurcht gleichermaßen, und der Besitzer dieser neuartigen Waffen bemerkte sein Interesse und grinste ihn breit an.
»Ah, Euch sind meine kleinen Spielzeuge aufgefallen? Mein Kriegsbringer? Keine Angst, Meneer. Ich heiße Vic Deeds. Falls Ihr schon von mir gehört habt, dann wisst Ihr sicherlich, dass ich in dieser Gesellschaft keine Waffe ziehen würde.«
»Ich habe keine Angst«, sagte Elias. Er sprach mit so offensichtlicher Überzeugung, dass der andere ihm einen seltsamen Blick zuwarf. Bevor der Schütze noch mehr Fragen hätte stellen können, wurden die Karten verteilt, und Elias setzte sich und schob seine erste Münze in die Mitte. Abgesehen von ein paar Runden am Küchentisch mit seiner Frau und seinem Sohn, hatte er selten gespielt, und nie in der Öffentlichkeit. Er wandte den übrigen Gästen den Rücken zu und wusste immerhin, dass er nun darauf achten musste, dass ihm niemand in die Karten guckte. Schließlich hatte er schon davon gehört, dass Männer ihre Freunde hinter den Mitspielern platzierten und sich dann Zeichen geben ließen, ob man ein gutes oder schlechtes Blatt hielt.
Das Spiel begann zunächst mit dem Einsatz, dann gab es die Möglichkeit, das eigene Blatt noch einmal zu verbessern, bevor noch einmal gesetzt wurde. Vom Betrag her schien es keine Grenzen zu geben, und Elias war klar, dass er in nur einer Runde all sein Geld verlieren konnte, wenn es schlecht lief. Seine ersten Karten taugten nichts, und daher legte er sie mit der Bildseite nach unten auf den Tisch und ließ die anderen allein weiterspielen, verzweifelt bemüht, die Ruhe zu erlangen, die er brauchte.
Da. Da war es. Seine Gabe, genau so stark wie immer. Selbst hier, inmitten von Menschen, lautem Gerede und Gelächter, dem Scharren von Stühlen, konnte er sie zu sich rufen. Ganz plötzlich überkam ihn eine Welle von Selbstvertrauen, und er lächelte, als eine Karte nach der anderen umgedreht wurde. Als er den Kopf hob, stellte er fest, dass der Pistolenschütze ihn wieder ansah, mit einer so vollkommenen Konzentration, dass es ihn nervös machte. Als ob dieser Vic Deeds die Gabe sehen konnte, die Elias an diesen gottvergessenen Ort geführt hatte, während all seine Hoffnungen nur wenige Straßen weiter langsam aus dieser Welt glitten.
Elias senkte den Kopf erneut, damit ja niemand seinen Ausschlag sah, und war dankbar für den Hut und das lange Haar, das ihm ins Gesicht fiel. Eine seiner Silbermünzen wanderte auf den Stapel eines anderen Mannes, eine Münze, die etwa eine Woche Jagd bedeutete. Aber immerhin hatte Elias jede Karte vorhersagen können. Als die zweite Runde gegeben wurde, nutzte er wieder seine Gabe und runzelte die Stirn, während er so weit wie möglich vorzugreifen versuchte. Jetzt ging es langsamer, da die Männer ihren Einsatz überdachten, hin und her überlegten, zögerten. Er konnte nicht so weit vorausblicken, wie es nötig gewesen wäre. Bedauernd kam er zu dem Schluss, dass er sich an jeder Runde würde beteiligen und sein Gespür so gut würde einsetzen müssen wie nur möglich, um die Ergebnisse einigermaßen vorherzusagen.
Zwei weitere Runden wurden gespielt, bevor er das erste Mal gewann und dabei nicht nur seinen bisherigen Einsatz zurückerhielt, sondern noch vier weitere Silberstücke einstrich. Der Pistolenschütze brummte verärgert, da er den Großteil des eigenen Geldstapels auf ein schwaches Blatt gesetzt und verloren hatte. Elias schob die Münzen vor sich zusammen und fürchtete schon fast, ohnmächtig zu werden, weil sein Herz so stark hämmerte. Wenn er hier genug Geld gewann, dann konnte er sich vielleicht das Pferd von Witwe Joan leihen und in die Stadt reiten, um Medizin zu kaufen. Mit etwas Glück wäre er beim Morgengrauen schon wieder zurück, mit allem, was seine Frau und seine Töchter brauchten. Das konnte er schaffen. Die Gelegenheit war doch zum Greifen nahe, oder?
Als das nächste Blatt gegeben wurde, spürte er jedoch, wie alles um ihn herum zusammenbrach. Der Mann rechts neben ihm hatte schon an seinem blonden Bart gekaut und Elias mit sauren Blicken bedacht, seit er am Tisch Platz genommen hatte. Nun griff der Farmer ohne Vorwarnung nach Elias’ Mantel. Seine Finger bekamen jedoch nur Luft zu fassen, weil Elias sich blitzschnell zurücklehnte. Doch der schöne Traum zerbrach in scharfe Splitter.
»Sag mal, was versteckst du da unter deinem Ärmel?«, fragte der Mann. Die Hälfte der Mitspieler erstarrte bei diesen Worten, und der Pistolenschütze hob den Kopf und zeigte scharfe, weiße Zähne. Der alte Farmer war sich offenbar gar nicht bewusst, dass seine Frage wie ein Betrugsvorwurf klang. Er deutete mit seiner knochigen Hand auf Elias.
»Du schwitzt wie ein Schwein und ziehst trotzdem den Mantel nicht aus. Der alte Hut, den du da trägst, hat Staub auf der Krempe. Den trägst du nicht jeden Tag, oder? Zeig mir deine Arme, Mann! Wenn du sauber bist, dann werde ich mich entschuldigen und dir die Hand reichen. Verdammt noch eins, ich werde dir sogar einen Drink spendieren. Aber erst mal zeigst du mir, dass du nicht ansteckend bist!«
Elias stand da und legte die Finger an den Hut.
»Ich will keinen Ärger, Meneer. Ich will nur eine Runde Karten spielen.« Er zuckte zusammen, noch bevor der Ruf hinter ihm erschallte. Das war unvorsichtig, aber die Anspannung war einfach zu groß, und sein Verstand war von Schwäche und Fieber vernebelt. Einer der Männer, der den gesamten Gewinn dieses Jahres verloren hatte, stand nun brüllend auf und packte die Tischkante mit beiden Händen, als stünde er kurz davor, das Möbelstück vor Zorn und Gier umzuwerfen.
Da wusste Elias, dass es ein Fehler gewesen war, ein schöner, verrückter Traum, der ihn nun vielleicht das Leben kosten würde. Und er begann vorzugreifen, als um ihn herum der Kampf entbrannte.
Vic Deeds lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und wurde Zeuge, wie ein Mann dem Tod von der Schippe sprang. So etwas hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht erlebt, und das, obwohl er den größten Teil seiner sechsundzwanzig Lebensjahre mit Dieben oder bei der Armee verbracht hatte. Der Unterschied zwischen beiden war dabei manchmal so gering gewesen, dass er sich im Nachhinein gar nicht mehr erinnerte, bei welcher Art von Truppe er zuletzt gewesen war. Inzwischen schlugen die Farmer vor Wut spuckend aufeinander ein, aber keiner von ihnen traute sich, Deeds anzugehen, der still dasaß und die eine Hand locker auf die langläufige Pistole gelegt hatte, die auf seinem Schenkel ruhte. Einer der Männer stolperte sogar über seine ausgestreckten Beine und lüpfte daraufhin entschuldigend seinen Hut, aber das war es nicht, was den Schützen so überrascht hatte. Die meisten Farmer spürten, dass er nicht gezögert hätte, sie zu töten, so wie Schafe sich eng aneinanderdrängen, wenn sich ihnen ein Hund nähert, der ihnen nur zu gern die Kehle herausreißen würde.
Was ihn tatsächlich so ungläubig dreinblicken ließ, war der kleine Kerl, der eine hohe Summe auf ein riskantes Blatt gesetzt und dabei einen dicken Batzen Geld gewonnen hatte, bevor man ihn bezichtigte, an der Seuche erkrankt zu sein. Zumindest deswegen machte sich Deeds keine Sorgen. Vor ein paar Monaten hatte man ihm auf Drängen der Armee, die ihn gerade mit ein paar neuen Pistolen ausgestattet hatte, eine schwache Mixtur auf den Arm gepinselt, einen Sirup, der offenbar ein Vermögen kostete. Das war das Problem – wahrscheinlich würde das Heilmittel deswegen nie bis in diese elenden Dörfer gelangen, wo man mit feuchter Wolle handelte.
Allgemein war Deeds durchaus der Meinung, dass es nicht schaden konnte, die Herde ein wenig auszudünnen und dabei vor allem ein paar Alte und Schwache loszuwerden. Das sagte einem doch schon der gesunde Menschenverstand. Außerdem ging es ihn nichts an, wofür die Zwölf Familien von Darien ihr Geld ausgaben – oder eben auch nicht. Dennoch war sein Abend ruiniert. Er hatte gehofft, beim Spiel genug Geld zu gewinnen, damit er sich die nächsten ein, zwei Monate ein schönes Leben machten konnte. Farmer, die nicht in der Lage waren, die Gewinnchancen eines Blattes in Blitzesschnelle einzuschätzen, waren ihm dabei die liebsten Partner.
Doch nun konnte Deeds den Blick nicht von dem Fremden lösen, der sich durch die Menge bewegte, als folge er einem Pfad, der schon lange zuvor festgelegt worden war. Der Jäger in seinem langen Mantel tat jeden Schritt mit Überlegung, hielt kurz inne, um eine Faust vor seinem Gesicht vorüberzischen oder einen Stock seinen Schlag vollenden zu lassen.
Elegant wie eine Katze glitt Elias beiseite, damit er nicht von einem durch den Raum geschleuderten Tisch getroffen wurde, lenkte die Holzplatte aber ganz sanft mit der Handfläche in eine andere Richtung, damit sie nicht auf einen Mann prallte, der soeben zu Boden gegangen war. Es war, als ob man einem Tanz zusah, aber Deeds hatte den Eindruck, als ob das sonst niemandem auffiel. Die übrigen Gäste der Taverne waren so sehr damit beschäftigt, ihre persönlichen Feindseligkeiten auszutragen und sich dieser herrlichen Schlägerei hinzugeben, dass sie ein gutes Dutzend Augenblicke verpassten, die jede Regel verletzten, welche Deeds bisher für allgemein verbindlich gehalten hatte.
Deeds war nie von sanfter Natur gewesen, schon als Kind nicht. Blitzschnell kam er zu einer Entscheidung und hob die Pistole, als Elias gerade noch zwei Schritte davon entfernt war, durch die Tür auf die Straße zu entwischen. Ohne zu zögern, schoss er zweimal, und der Knall erschütterte den engen Raum so heftig, dass danach ein heller Ton in seinen Ohren pfiff. Doch dann klappte ihm der Mund auf, als sein Verstand begriff, was er da eben gesehen hatte, als er zum Zielen über den Lauf blickte.
Elias hatte ihn über die Menge hinweg angesehen, bevor der erste Schuss fiel, und sich dann einen Hauch zur Seite gewandt, sodass die Kugel ihn verfehlte. Beim zweiten hatte sich Deeds beim Zielen mehr auf seinen Instinkt verlassen und in einer Geschwindigkeit angelegt, die einem älteren Mann die Tränen in die Augen getrieben hätte. Und dann sah er, wie die Kugel unter dem Arm des Jägers hindurchging, zwischen Körper und Ellenbogen. Sie riss einen anderen Gast, der hinter Elias stand, von den Beinen. Deeds konnte nur staunen. Sie standen höchstens zwölf Fuß voneinander entfernt. Auf eine solche Entfernung hatte er bisher noch nie danebengeschossen!
An der Tür wandte sich Elias kurz um und blickte mit einer Mischung aus Zorn und Traurigkeit durch den Pulverdampf. In der Stille, die plötzlich eingekehrt war, riss er die Tür mit lautem Krachen auf und verschwand.
2
Der Neue
Der alte Mann war früher einmal Soldat gewesen, jedenfalls erzählten sich das die Leute, wenn sie glaubten, dass er nicht zuhörte. Falls es stimmte, dann war es ganz bestimmt schon vierzig Jahre her. Tellius mochte früher einmal eine mächtig breite Brust gehabt haben, aber im Laufe der Jahre waren seine Arme so dürr geworden wie Krähenbeine und beinahe genauso schuppig. Doch egal, wie es sich in Wahrheit verhalten mochte, er war streng zu den Jungen, das war bekannt. Wer nicht arbeitete, bekam nichts zu essen. Und wer nichts zu essen bekam, hatte nur noch eine Hoffnung: den großen Ziegelbau der Armenhäusler an der Frith Street. Vielleicht war es einfach nur eine unglückliche Fügung, dass das Waisenhaus der Stadt wie ein großer Bäckereiofen aussah. Es hatte nur wenige Fenster, und es waren keine schönen Geschichten darüber im Umlauf. Keiner der Jungen, die für Tellius auf Diebestour gingen, hätte an diesem Ort saubere Schlafsäle erwartet oder gar gehofft, dort Lesen und Schreiben lernen zu können.
Manchmal wurden kleine Langfinger, die sie kannten, von der Stadtwache geschnappt, von der neuen Truppe, die man die Königstreuen nannte. Vor Gericht verbargen die Jungen ihre Angst so gut wie möglich, wenn sie auf der Sünderbank saßen, so sauber geschrubbt, wie es eben ging, das Haar glänzend und glatt zu einer Seite gekämmt. Sie versprachen den Freunden zurückzukommen, sobald sie entwischen konnten, und zu erzählen, wie es dort gewesen war. Aber keiner von ihnen war je zurückgekehrt oder war überhaupt jemals wieder gesehen worden. Nein, die Jungen stahlen, weil sie sich alle anderen Möglichkeiten, die sich ihnen boten, noch viel finsterer vorstellten. Durch die Stadt ziehen und klauen, das war alles, was der Alte von ihnen verlangte, und wenn sie auch nicht besonders sauber waren, so litten sie doch zumindest keinen Hunger. Sie erzählten sich untereinander außerdem gern die Geschichte, dass ihnen der alte Tellius, sobald sie etwa vierzehn waren, eine Lehrstelle in einer richtigen Schmiede oder bei einem Töpfer besorgen würde. Niemand fragte ihn je, ob das wirklich so war, weil sie viel zu viel Angst hatten, dass es doch nicht stimmte. Solche Aussichten stellte man besser nicht auf den Prüfstein, denn mit ein bisschen guter Pflege konnte ein schöner Traum jahrelang Trost und Hoffnung bieten.
Tellius schlurfte an den dreckigen, stinkenden Jungen vorbei, die sich in einer Reihe aufgestellt hatten. Er trug einen Filzbeutel mit Zugband bei sich, den er ihnen allen hinhielt, und nahm in Augenschein, was sie erbeutet hatten. Dabei klackerte sein Verstand wie die Kugeln eines Abakus, wenn sie ihre karge Beute ablieferten, Münzen, eine Brosche oder eine silberne Anstecknadel. Man sah ihn nie mit einem Kassenbuch oder auch nur einem Stück Papier. Dennoch kam es immer wieder vor, dass er seinen langen Arm ausstreckte und einen Jungen am Kragen packte, weil dessen Hände nicht flink genug waren und er mehr aß, als er einbrachte. Tellius tippte sich dann an die Schläfe, und während der Junge sich in seinem Griff wand, listete er alle Beutestücke auf, die ihm der Betreffende in ihren kleinen Laden getragen hatte, als ob sie auf einem Tisch vor ihm ausgebreitet lagen. Manchmal griff er sogar scheinbar nach einem Stück, das nur in seiner Fantasie existierte, als wollte er es näher betrachten. Anschließend musste sich der gescheiterte Dieb ein oder zwei Tage lang draußen hungernd allein durchschlagen, aber Schläge mit dem Gürtel gab es nicht, auch wenn sie alle das erwarteten. Das Leben auf der Straße war hart, wenn man niemanden hatte. Jene, die reumütig zu Tellius zurückkehrten, zitternd und ausgemergelt, hatten ihre Lektion gelernt. Jene, die nicht zurückkehrten, fand man manchmal später tot im Fluss treibend.
Tellius rümpfte die Nase, als er an seiner ordentlich aufgereihten Truppe vorüberschritt, und zeigte seine fehlenden Zähne und die Zunge, die für seinen Mund zu groß geraten schien, sodass er stets nuschelte. Um schnell sprechen zu können, musste er sie in seine Wange schieben, was sein Gesicht dann etwas schief und sardonisch wirken ließ, weil ein Auge schimmernd erhoben wurde, während sich das andere unter Knitterfalten und Augenbraue verbarg.
Er sah den letzten Jungen in der Reihe an, der immerhin nicht so dumm gewesen war, so zu tun, als hätte er irgendetwas in den dunklen Beutel fallen lassen. Sie alle hatten es schon einmal damit probiert, wenn sie eine schlechte Nacht gehabt hatten. Manche baten einen Freund, für Ablenkung zu sorgen, während sie einfach nur kurz die Hand aufmachten oder vielleicht sogar einen Kiesel hineinwarfen, damit zumindest die schon vorhandenen Münzen klappernd aneinanderschlugen. Aber Tellius merkte es jedes Mal und packte sie dann so hart an ihren dünnen Handgelenken, dass sie vor Schmerz keuchten. »Das hier ist deine einzige Gelegenheit«, sagte er dann gewöhnlich. »Mach es das nächste Mal besser oder verschwinde.«
Der Junge, der sich nicht gerührt hatte, war Donny, einer der am wenigsten Geschickten in ihrer kleinen Gruppe. Tellius war sich darüber im Klaren, dass er ihn schon längst wieder hätte auf die Straße setzen sollen. In der Anfangszeit, als er gerade erst nach Darien gekommen war, hätte er das auch getan. Aber das war über die Jahre und Jahrzehnte allmählich anders geworden, auch wenn es Tellius jetzt kaum auffiel, wie selten er einen Jungen hinauswarf. Es hätte ihn überrascht, wenn man ihm gesagt hätte, dass das letzte Mal schon Jahre zurücklag.
Dass Donny etwas für sich zurückbehielt, glaubte Tellius nicht – der Junge kämpfte schließlich verzweifelt darum, hierbleiben zu dürfen. Die Göttin allein wusste, wovor er weggelaufen war, dass ihm ihre verlauste kleine Familie so viel mehr bedeutete als sein altes Leben. Dennoch, die Welt war grausam, und eine Wahrheit ließ sich nicht beiseiteschieben: Tellius konnte kein Essen aus der Luft zaubern.
»Hast du nichts für mich, Donny?«, fragte er leise.
»Ich hab ’nen neuen Jungen«, sprudelte Donny hastig hervor. Er wusste, dass er alle Chancen aufgebraucht hatte. »Du hast gesagt, das wäre genauso gut. Hast du gesagt.«
Tellius wandte seinen Blick nun dem Jungen neben Donny zu, obwohl der ihm sofort aufgefallen war, als er den Raum betreten hatte. Da war ein stiller Fleck gewesen, während alle anderen herumliefen und sich voreinander großtaten und gegenseitig schubsten. Tellius hatte es gelegentlich mit verletzten Hunden zu tun gehabt, die ihre Umgebung mit einem ähnlich misstrauischen, leicht verstockten Blick betrachteten, als wollten sie jeden Augenblick angreifen. Er kannte das. Allerdings musste sich der Junge, der da neben Donny stand, offenbar in einem Abort gewälzt haben; er war von Kopf bis Fuß mit stinkendem Unrat beschmiert. Tellius rümpfte die Nase, als er sich hinunterbeugte, um den Jungen näher in Augenschein zu nehmen.
Donny hob den Kopf und sah seinen Ekel.
»Wir sind halt abgehaun. Er ist in die Karre mit der Scheiße. Ich bin drunter. Dann sind sie vorbeigerannt.«
»Und wieso hat man dich verfolgt, Donny? Das ist schon eine komische Sache, wenn du nichts hast, das du mir für meine Suppe und deinen Schlafplatz in der Ecke geben kannst.«
»Meine Rasierklinge war stumpf und hat irgendwie nicht geschnitten, und als ich dann an dem Geldbeutel gezogen hab, hat sie’s gemerkt …«
»Und du bist weggerannt.« Tellius seufzte. »Mit leeren Händen.«
»Aber ich hab dir den hier mitgebracht. Ich hab ihn gesehen, und er sah aus, als ob er Hunger hätte, und da hab ich gesagt, er soll mal mitkommen, weil du doch mal gesagt hast, ein neuer Junge ist so gut wie ’n Perlenohrring.«
»Ist gut, Donny. Ich weiß, was ich gesagt habe. Geh hinein und iss deine Suppe mit den anderen. Heute gibt es Fisch. Mit so viel Pfeffer, dass dir die Augen tränen werden.«
Donny senkte den Kopf und schlurfte davon. Zehn Jahre alt, nur Arme und Beine, die sommersprossige Haut so straff über dem Gesicht, dass es aussah, als würde sie platzen, wenn er lächelte.
Tellius wandte sich nun an den Neuankömmling.
»Also. Was bist denn du für einer? Abgesehen davon, dass du verdammt verdreckt bist.«
Der Junge starrte ihn schweigend und mit großen Augen an. Er war so dürr wie Donny, und der Gestank, der an ihm haftete, kratzte in Tellius’ Kehle, bis er sich hustend räusperte. Er war den Jungen kein Vater, der sich um ihre Sauberkeit oder dergleichen gekümmert hätte. Aber bei diesem kleinen Kerl hier juckte es ihn, ihn in das Regenfass hinter dem Haus zu stecken, bevor der Mief sich im ganzen Haus festsetzte. Tellius schniefte und stellte mit Erleichterung fest, dass seine Erkältung wieder zurückkehrte und zumindest ein Nasenloch verstopfte.
»Hat es dir die Sprache verschlagen? Oder sprichst du nicht?«
Der Junge schüttelte den Kopf, woraufhin Tellius’ daumenbreite Augenbrauen ein gutes Stück in die Höhe schnellten.
»Du sprichst nicht?«, hakte er nach. Wieder schüttelte der Junge feierlich den Kopf.
»Aber du kannst mich verstehen?« Jetzt ging der Kopf langsam nach unten und wippte dann wieder hoch.
»Bei der Göttin, das wird mir langsam zu viel«, brummte Tellius. Er hatte früher schon mit Jungen zu tun gehabt, denen es buchstäblich die Sprache verschlagen hatte. Traurig war das. Meist waren es Kinder, die so dunkle Dinge erlebt hatten, dass er sich angewöhnt hatte, nicht weiter in sie zu dringen. Und meist konnte man diesen kleinen Krabben ohnehin nicht helfen. Einige blieben, andere verschwanden einfach irgendwann. Bei der Göttin, er konnte ihnen nicht allen ein Vater sein. Ein bisschen konnte er vielleicht für sie tun, aber wenn das nicht reichte … er biss sich auf die Zunge. Die Göttin hörte es, wenn alte Männer sie verhöhnten. Und solche Männer holte sie sich mitten in der dunkelsten Nacht und zog sie aus dem Bett. In Darien, der Stadt des Königs, achtete man besser auf das, was man sagte.
»Donny und die anderen Jungs arbeiten für mich«, erklärte Tellius stattdessen. »Ich habe nicht mehr als diese Räume, die früher mal meine Werkstatt waren, aber immerhin gehören sie mir, und ich muss niemandem Miete zahlen. Und auch keine Steuern, weil das Haus als abbruchreif gilt. Deswegen schleichen wir uns auch immer durch den Hintereingang rein und raus. Ich kann dich nicht hierbehalten, wenn du nicht arbeitest, und wenn ich keine Arbeit für dich finden kann, dann gehst du da raus und besorgst mir deinen Tageslohn mit flinken Fingern. Du schnappst dir eine Börse oder eine Schuhschnalle oder ein paar hübsche Bratenstücke für mein Abendessen. Kapiert? Wenn du das tust, dann bekommst du zwei Mahlzeiten und ein warmes Bett, und keiner tut dir was. Wenn du groß bist, kannst du machen, was du willst. Allerdings habe ich auch ein paar Freunde, die immer Verwendung für einen guten Arbeiter haben. Oh, und du wirst dich gleich erst einmal in kaltem Wasser baden, weil du stinkst.«
Der kleine Junge hatte ihn während dieses Vortrags wie ein Käuzchen beobachtet. Tellius lächelte ihn an und hätte ihm beinahe durchs Haar gewuschelt, wäre das nicht so ekelhaft verklebt gewesen.
»Du brauchst also flinke Finger, Kleiner. Oder würdest du lieber Kamine emporklettern, mit einem Lappen über dem Gesicht? An den meisten Tagen brauche ich ein paar von der einen und ein paar von der anderen Sorte, damit wir über die Runden kommen. Du hast ja offenbar einen starken Magen. Vielleicht könntest du auch die Sickergruben bei den Häusern der Reichen ausschöpfen. Wie sieht’s aus? Ach ja. Vielleicht nickst du einfach? Flinke Finger und Diebereien?« Der Junge starrte ihn immer noch an, und Tellius fragte sich, wie viel er überhaupt verstand. Vielleicht war er eins dieser Waisenkinder, denen es manchmal gelang, sich bis in die Stadt durchzuschlagen. Dann kam ihm ein Gedanke, und der Alte griff in seine Taschen und zog einen schrumpeligen Apfel, einen Fingerhut aus grünem Glas und einen Papierkorken hervor, der deutliche Rotweinflecken zeigte.
»Pass auf, ich zeig’s dir. Flinke Finger.« Er warf die drei Dinge in die Luft und begann mit lässigem Geschick zu jonglieren; der Junge folgte seinen Bewegungen mit scharfen Augen. Tellius musste sich ein stolzes Lächeln verkneifen. Dann streckte der Junge seine Hände aus.
»Oh, du möchtest es auch einmal probieren?« Tellius reichte ihm die drei kleinen Gegenstände. »Aber das gehört mir – ich will sie alle zurück, weil …« Er verstummte, als der Junge sie ebenso geschickt in die Luft warf wie er selbst und sofort den richtigen Rhythmus fand. Der Alte sah ihm eine Weile zu, aber nichts fiel herunter. Dann griff er schnell zu, fing Apfel, Fingerhut und Korken, und der Junge fasste ins Nichts und sah ihn mit gerunzelter Stirn an.
»Das war gut … äh … Bei den Wunden der Göttin, ich werde dir irgendeinen Namen geben müssen! Schließlich kann ich dich hier ja wohl schlecht ›Junge‹ nennen, nicht wahr! Wie heißt du denn, mein Kleiner? Weißt du zumindest das? Könntest du es aufschreiben? Nein?« Wieder schüttelte der Junge den Kopf. »Na, das habe ich mir wohl gedacht. Dann nenne ich dich … Arthur, wie klingt das? Arthur. Das bedeutet, wie ein Bär, glaube ich.«
Der verdreckte Junge sah ihn mit diesem allumfassenden Schweigen an, bis der Alte die Achseln zuckte.
»Du kannst also schon mal jonglieren, und das bedeutet, dass die Zusammenarbeit von Hand und Auge bei dir gut klappt. Aber du bist klein, von daher wirst du wohl kein Soldat werden, es sei denn, dass du über Nacht noch einen Schuss machst. Aber ich denke, du wirst trotzdem eine gute Ergänzung für unsere Truppe sein. Jetzt werde ich mal dafür sorgen, dass Donny dir das Wasserfass zeigt. Du wirst die Scheuerbürste und einen Eimer benutzen müssen. Sei gründlich, Arthur. Anschließend gibt es auch für dich noch Suppe, jedenfalls, wenn du nicht zu lange brauchst.«
Elias stolperte aus der Taverne in die Dunkelheit. Es gab nur eine einzige Straße im Dorf, die auf der einen Seite herein- und auf der anderen wieder hinausführte. Fast hätte er geweint, jetzt, da sich all die bunten Träume, die er zu Beginn des Abends noch gehabt hatte, in Luft aufgelöst hatten. Er hatte nicht genug Geld gewonnen, um Medizin kaufen zu können. Er würde nicht auf dem Pferd von Witwe Joan in die Stadt reiten und seine Frau und seine Töchter retten. Stattdessen würde er ihnen beim Sterben zusehen oder selbst draufgehen. Die Krankheit kannte keine Günstlinge, verschonte weder Kinder noch alte Menschen. Ohne die Hilfe eines Arztes aus der Stadt konnte er genauso gut würfeln, was den Verlauf der Krankheit anging. Das gerade hatte ihn ja dazu gebracht, sich nicht einfach in sein Schicksal zu fügen – der Gedanke, dass er und seine Frau vielleicht sterben würden, während seine beiden Mädchen allein zurückblieben.
Dass er gescheitert war, traf ihn noch umso härter, weil es auf diese Art und Weise geschehen war. Er hatte seine Gabe eingesetzt, und sie hatte ihn im Stich gelassen. Das gab ihm das Gefühl, beschmutzt zu sein, als hätte er eine Sünde begangen, indem er etwas mit anderen geteilt hatte, das ihm zuvor allein vorbehalten gewesen war. Noch immer fühlte er die Augen des Pistolenschützen auf sich ruhen, die sich ungläubig geweitet hatten, als Elias nach ihm ausgriff, um zu sehen, wohin er treten musste, um den Schüssen zu entgehen.
Am schlimmsten war jedoch gewesen, dass die Kugel einen anderen Gast getroffen hatte, nachdem er mithilfe seiner Gabe ausgewichen war. Elias war beiseitegesprungen, obwohl er die Krankheit in seinem Inneren fühlte und wusste, dass ihm der Tod auf der Schulter saß; er war nicht in der Lage gewesen, in Würde abzutreten. Die Scham brannte in ihm, als er auf der Straße stehen blieb und einen Augenblick später Schritte auf den Kieseln hinter sich vernahm.
Vic Deeds war ihm ins Mondlicht hinaus gefolgt und hatte dabei so lange vorsichtig Abstand gehalten, bis er erkannt hatte, dass von dem stolpernden, weinenden Jäger in der Dunkelheit keine Gefahr ausging. Aber dennoch zog er seine beiden Pistolen und richtete sie auf Elias, als der sich umwandte, um ihn anzusehen. Die meisten der Pistolenschützen, die jetzt von sich reden machten, hatten eine stärkere Hand, aber Deeds konnte mit links und rechts gleich gut schießen, und das hatte er schon viele Male bewiesen. Es war tatsächlich so, dass es ihm gefiel, wenn die Menschen bei der Nennung seines Namens zusammenzuckten.
Es war aber nicht nur die zerstörerische Kraft der Waffen in seinen Händen, die sein Herz ein wenig schneller schlagen ließ. Das, was Deeds in der Taverne widerfahren war, hatte ihn nervös gemacht. Er war ein guter Schütze, davon war er überzeugt. Seine Pistolen hatten sich in vielen tausend Übungsstunden seinen Händen angepasst. Es machte ihn zum Angstgegner selbst für meisterliche Schwertfechter, deren ganzes hart erarbeitetes Geschick es nicht mit einem Pistolenlauf aufnehmen konnte. Und dennoch hatte Deeds gerade erlebt, dass ein Mann sich völlig ungehindert durch eine Menschenmenge drängte und dann der Bedrohung durch seine Kugeln völlig mühelos widerstand. Er wusste noch nicht einmal, was er gleich sagen wollte, aber eines war klar: Diesen Jäger musste er mit ins Lager bringen. Der General schätzte es zwar nicht, wenn man ihn mit Kleinigkeiten belästigte, das war Deeds durchaus bekannt. Aber ein Mann, der Schüssen mühelos ausweichen konnte, der war keine Kleinigkeit, ganz gleich, was dahintersteckte.
Deeds atmete tief durch, schob seine Pistolen wieder ins Halfter und hob die leeren Hände.
»Es tut mir leid, dass ich meine Waffen gegen Euch gezogen habe. Ihr habt mich erschreckt, als Ihr so hastig zur Tür seid. Ich will Euch nichts Böses, Meneer, und ich möchte mich aufrichtig dafür entschuldigen, dass ich nahe daran war, Euch in der Taverne zu verletzen.«
»Ihr wart nicht nahe daran«, sagte Elias Post.
Deeds reckte das Kinn vor, als er das hörte, zwang sich aber zu lächeln und sprach weiter.
»Ich halte mein Wort, Meneer. Ich verspreche Euch, ich werde Euch nichts tun und auch nichts Unrechtes versuchen. Schließlich habe ich mit dem Streit dort drinnen auch nicht angefangen.«
»Immerhin habt Ihr zweimal auf mich geschossen«, sagte Elias. »Ich kenne Euch nicht. Ich weiß nur das, was man in den Holzfällerlagern über Euch erzählt.«
Deeds beschloss, darauf nicht weiter einzugehen. Holzfäller konnten sehr gehässig sein.
»Ich bin meinem Lehnsherrn verpflichtet, genau wie Ihr, Meneer. Ich arbeite für die Legion – für General Justan, falls Euch der Name etwas sagt. Er zahlt meinen Lohn – jawohl, und noch einen Bonus, wenn er mit mir zufrieden ist. Ihr seid Jäger, richtig? Dann habt Ihr am Göttinnentag doch sicherlich Euren Zehnten abgeliefert? Und Waren an die Märkte gesandt? Natürlich habt Ihr das. Und es herrscht Frieden, weil die Zwölf Familien von Darien beschlossen haben, dass im ganzen Land Gesetze gelten müssen. General Justan bezahlt ein paar Männer wie mich, damit wir jene verfolgen, die sich nicht an die Spielregeln halten wollen. Er schickt mich aus, wenn er hört, dass es einen Mord oder eine Fehde gegeben hat. Und ich sorge dann für Vergeltung. Oder Gerechtigkeit. Es ist ziemlich dasselbe. Betrachtet mich als jemanden, der ein öffentliches Amt bekleidet, Meneer.«
»Was wollt Ihr von mir? Ich werde nicht zulassen, dass Ihr mich erschießt, nicht heute Nacht.«
»Ach, das werdet Ihr nicht?«, fragte Deeds geradezu gebannt. »Das ist genau der Grund, weshalb ich mir hier draußen quasi einen abfriere und ohne Mantel auf dieser Straße stehe, um mit Euch zu reden. Ich will weiter nichts, als dass Ihr mit mir ein paar Meilen bis ins Lager von General Justan Aldan Aeris reitet. Und nun sagt Ihr mir, was Ihr wollt, und dann schauen wir mal, ob wir nicht einen Weg finden, der uns beide glücklich macht.«
Elias wischte sich die Nase mit dem Ärmel ab und hinterließ dabei eine glitzernde Spur auf dem Stoff.
»Ich habe die Kratzkrankheit, Meneer Deeds«, sagte er müde. »Ihr wollt mir ganz sicher nicht näher kommen.«
»Ach nein? Ich bin immun dagegen, hat man mir gesagt. Wollt Ihr also zu einem Arzt? Würde ich einen Tag Eures Lebens bekommen, wenn ich Euch dafür alle anderen Tage wiedergebe?«
»Ihr wisst von einem Heilmittel?«
Elias beobachtete Deeds genau, als der langsam nickte, und es kostete ihn große Anstrengung, sich nicht anmerken zu lassen, was diese Eröffnung in ihm auslöste. Er wusste, dass Männer wie Deeds achtlos an Sterbenden vorübergingen, die in der Gosse lagen. Sie bückten sich nicht, um Trost zu spenden oder die Lippen der Elenden mit Wasser zu benetzen. Sie sahen sie nicht einmal an.
»Ich brauche es. Nicht für mich«, erklärte Elias mit fester Stimme. »In mir wütet die Krankheit noch nicht lange. Ich brauche es für meine Frau und meine beiden Töchter.«
»Abgemacht«, sagte Deeds. »Bei meiner Ehre, ich schwöre es. Mein Pferd steht bei der Taverne, und Ihr könnt hinter mir aufsitzen. Ich werde den Arzt aus dem Lager zu Eurer Familie schicken, und er wird tun, was er kann. Seid Ihr damit zufrieden?«
Elias spürte, wie sein Herz vor Angst hämmerte. Der Schütze lächelte und sah ihn freundlich an, als er ihm die rechte Hand entgegenstreckte. Elias wollte sich einer möglicherweise trügerischen Hoffnung zwar entgegenstemmen, aber es gelang ihm nicht.
»In Ordnung. Ihr habt einen Tag. Wenn Ihr den Arzt schickt, um meiner Familie zu helfen, dann werde ich mit zu Eurem Freund kommen.«
»Oh, er ist nicht mein Freund.« Ein leises Lachen klang in Deeds’ Worten mit. »Aber er wird Euch trotzdem kennenlernen wollen, davon bin ich überzeugt.«
3
Schnell gelernt
Der Regen klang beinahe wie Musik, die von den Dachpfannen und den alten Balken in ein Dutzend Metallschalen und Eimer tropfte. Die Töne kamen schräg und rasselnd, aber hin und wieder fügten sie sich zu etwas zusammen, das wie eine Melodie aus einem Lied klang, an das man sich nur noch schwach erinnerte.
Tellius hatte seinen Spaß an dem Geplapper und den Reiterspielen der Jungen, die hier oben auf dem Dachboden herumtollten. Von seiner eigenen Kindheit sprach er nie, ebenso wenig wie von anderen Dingen, die in seinem Leben geschehen waren, bevor er nach Darien gekommen war. Schließlich ging es sie nichts an, was er getan oder wen er umgebracht hatte.
Ganz sicher hatte er ursprünglich nicht die Absicht gehabt, den Jungen die Tänze seiner Jugend beizubringen, jedenfalls ursprünglich nicht. Er selbst hatte die Mazer-Schritte in einem Heerlager gelernt, vor einem guten halben Jahrhundert, als man ihn gedrillt hatte, bis er Blutblasen an den Füßen bekam. Selbst in Darien rankten sich Legenden um die Legionen des Ostens, deren Soldaten im Kampf Drehungen, Sprünge und Schritte nach komplizierten Mustern vollführten, obwohl man dergleichen, wenn man es sich einmal bildlich vorstellte, meist ins Reich der Fantasie verwies. Über die Jahrhunderte war eine derart vollkommene Kampfkunst irgendwann so unwahrscheinlich geworden wie die Geschichten von Orakeln oder Ungeheuern. Neuntausend Meilen über Meer und Land, so weit entfernt würde niemand von ihnen je reisen. Das war so gut wie eine andere Welt.
Dennoch, irgendwann hatte Tellius mit diesem Ritual begonnen. Schon vor langer Zeit, als die Werkstatt noch Profit abwarf und er bei der Reparatur und Herstellung von Schmuckstücken einen halbwegs respektablen Ruf genoss, und lange bevor auch die ältesten der Jungen, die jetzt bei ihm lebten, zu ihm gekommen waren. Sie hatten es einfach so hingenommen. Jeden Morgen, bevor sie zur Arbeit loszogen, übten sie die seltsamen Schritte, und am siebten Tag ließ Tellius sie stets zusammen tanzen. Das war schließlich der Tag, an dem die Göttin sich angeblich zufrieden zurückgelehnt und sich an der Welt gefreut hatte, die sie vorfand. Geschaffen hatte sie sie nicht. Das war ein anderer Gott gewesen, der nun schon lange verschwunden war. Es hieß jedoch, dass man an manchen Orten noch immer seine Hymnen hören konnte.
Als der neue Junge ins Haus zurückkam, hatte er sich so gründlich abgeschrubbt, dass sein Gesicht und seine Arme rosa Scheuerstellen aufwiesen. Die zerlumpten Kleider stanken noch genauso und waren dick mit Unrat bedeckt, wiesen aber auch feuchte Stellen auf. Sein Haar wirkte jetzt dunkler ohne den Straßenstaub und fiel ihm ins Gesicht, sodass er es sich, um etwas sehen zu können, aus den Augen streichen musste, was er auch immer wieder tat, ohne dass es ihn zu stören schien.
Die Jungen hatten allesamt aufgegessen, und Arthur ging nun zu dem großen Kessel, um dann ausdruckslos in das große, leere Gefäß zu starren. Es sah aus, als sei es inwendig poliert worden. Er reagierte nicht, als Tellius ihm eine Schüssel gegen die Rippen drückte, mit einem Stück Dinkelbrot, das aus einer dicken Masse aus Bohnen und Soße ragte, die unglaublich lecker roch.
»Ich habe dir was aufgehoben«, erklärte Tellius. »Das mach ich nicht wieder, verstanden, aber ich dachte, heute ist ja dein erster Abend hier. Die Jungs sind wie Wölfe, die greifen schnell zu. Deswegen habe ich dir eine Schüssel abgefüllt. Hier, nimm.« Der Alte sah aus, als sei ihm die Geste peinlich; er hielt Arthur die Schüssel hin, als wollte er seine Hand so schnell wie möglich wieder zurückziehen. Der Junge nahm das Essen mit dankbarem Nicken entgegen und kauerte sich an Ort und Stelle auf den Boden, um es sich mit den Fingern in den Mund zu stopfen, während er die Schüssel gegen alle Seiten abschirmte, damit ihm ja niemand etwas daraus stibitzte. Tellius schüttelte den Kopf. Er kannte solche Straßenmanieren, wenn mit Knurren und Fauchen um jede Mahlzeit gekämpft wurde, bevor man sie dann so schnell wie möglich hinunterschlang. Er wartete, bis das geradezu animalische Schmatzen zumindest ein wenig nachgelassen hatte, bevor er weitersprach.
»Sieh dir mal an, Arthur, was Donny da macht. Das wirst du nach und nach auch lernen, wenn du hierbleibst. Das stärkt die Beine.«
Der Junge hob die Schüssel, um sie sauber auszulecken, und sah über den Rand in die Richtung, in die Tellius deutete. Inzwischen hatten die anderen Jungen zu klatschen begonnen, sie gaben Donny einen Rhythmus vor und steigerten das Tempo ganz allmählich mit gut gelaunter Hinterhältigkeit, bis er nicht mehr mithalten konnte. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, war in die Hocke gegangen und federte sich auf den Hacken ab, wobei er wechselweise beide Beine nach vorn warf, vorsichtig darauf achtend, dass er nicht das Gleichgewicht verlor. Zwar war er bereits rot im Gesicht und schwitzte, aber er grinste trotzdem die ganze Zeit.
Arthur sah ihm zu, dann stand er auf und gab Tellius die Schüssel zurück. Er verneigte sich leicht vor dem alten Mann und trat dann in den Kreis der Jungen. Donny war inzwischen umgefallen, lachte und zappelte mit den Beinen. Die lauten Rufe und das Gelächter hatten dabei ihren Höhepunkt erreicht, verebbten jetzt aber, als plötzlich der Kleine mit seinem zerkratzten Gesicht und dem wuscheligen, schwarzen Haar mitten unter ihnen stand.
Tellius betrachtete Arthur, wie er die anderen mit seinem feierlichen Käuzchengesicht ansah, und zuckte dann die Achseln. Vielleicht war er nicht ganz richtig im Kopf.
»Heißt Arthur willkommen, Jungs. Offenbar spricht er nicht, aber er versteht euch.«
Einige der Jungen nahmen das gleichmütig hin, wandten sich schon wieder ab oder unterhielten sich miteinander. Die meisten von ihnen hatten schon ein gutes Dutzend Neuankömmlinge erlebt. Manche kamen mit diesem Leben nicht zurecht und verschwanden schon bald wieder, verfielen in ihre alten Lebensmuster oder wandten sich noch schlimmeren zu. Jedenfalls waren die Jungen auf diesem Dachboden nicht geneigt, allzu viel Sympathie an einen Neuen zu verschwenden, von dem keiner wusste, ob er überhaupt länger als ein paar Tage bleiben würde.
Arthur nahm dieselbe Haltung an wie Donny zuvor, ging in die Hocke, verschränkte die Arme vor der Brust und hob sie dann ein wenig. Tellius sah leise lachend zu und schüttelte den Kopf. Kurz erwog er, dem Treiben Einhalt zu gebieten, aber der Junge hatte schon eine Portion Essen von ihm bekommen, die er vor den Augen der anderen extra für ihn zurückbehalten hatte. Er wollte nicht, dass sie dachten, er würde ihn bevorzugen. Jungen, die im Verdacht standen, dass sie eine Sonderbehandlung bekamen, hatten es bei den anderen oft nicht leicht. Daher blieb Tellius ruhig und wartete darauf, dass Arthur umkippte und sich blamierte.