Tiefenpsychologische Schriftauslegung - Anselm Grün - E-Book

Tiefenpsychologische Schriftauslegung E-Book

Anselm Grün

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Beschreibung

Die Tiefenpsychologische Schriftauslegung hilft uns, die Bilder zu verstehen, in denen die Bibel das Geschehen um Jesus Christus erzählt. Es sind heilende Bilder, durch die uns Gott berührt, um unsere Wunden zu heilen. Das Ziel der bildhaften Auslegung ist immer die Begegnung mit Gott und die Verwandlung unserer eigenen Existenz.

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Printausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2021

ISBN 978-3-7365-0356-4

Neuausgabe des erstmals 1992 erschienenen gleichnamigen Titels (Münsterschwarzacher Kleinschriften, Band 68).

E-Book-Ausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024

ISBN 978-3-7365-0624-4

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Erstellung: Sarah Östreicher

Covergestaltung: Finken und Bumiller, Stuttgart

Covermotiv: © shutterstock.com

www.vier-tuerme-verlag.de

Anselm Grün

Tiefenpsychologische Schriftauslegung

Edition Münsterschwarzach Band 8

Vier-Türme-Verlag

Inhalt
Vorwort
I. Tiefenpsychologische und spirituelle Schriftauslegung
Spirituelle Auslegung in der frühen Kirche
Die historisch-kritische Methode
Philosophische Hermeneutik
Tiefenpsychologische Auslegung
II. Auslegung verschiedener Textgattungen
Heilungsgeschichten
Die Heilung eines Kranken am Teich Betesda (Johannes 5,1–9)
Die Heilung eines Blindgeborenen (Johannes 9,1–12)
Die Auferweckung des Lazarus (Johannes 11,17–44)
Gleichnisse
Von den zehn Jungfrauen (Matthäus 25,1–13)
Vom gottlosen Richter und der Witwe (Lukas 18,1–8)
Beispielerzählungen
Vom ungerechten Verwalter (Lukas 16,1–8)
Vom reichen Mann und vom armen Lazarus (Lukas 16,19–31)
Wortüberlieferungen
Vom Glauben (Lukas 17,6 und Markus 11,23)
Von der Nachfolge (Lukas 9,57–62)
Von den zwei Wegen und von der engen und der verschlossenen Tür (Matthäus 7,13f und Lukas 13,22–30)
Vom Bekenntnis (Matthäus 10,34)
Vom Ernst der Nachfolge (Lukas 14,25f)
Vom leichten Joch Jesu (Matthäus 11,29f)
Begegnungsgeschichten
Der Gang Jesu auf dem Wasser (Matthäus 14,22–33)
Maria und Marta (Lukas 10,38–42)
Passionsgeschichte
Auferstehungsgeschichten
Die Verklärung Jesu (Lukas 9,28–36)
Die Erscheinung Jesu vor Maria von Magdala (Johannes 20,1–18)
Schluss
Anmerkungen

Vorwort

Über tiefenpsychologische Schriftauslegung haben schon andere Theologen viel geschrieben, wie beispielsweise Eugen Drewermann, John Sanford und Maria Kassel. Zwei Gründe haben mich dazu bewogen, dem Drängen der Teilnehmer an meinen Kursen »Tiefenpsychologische Schriftauslegung« doch nachzugeben und selbst etwas zum Thema zu schreiben:

Zum einen suchen viele Menschen nach Hilfen für ihre eigene Schriftlesung, aber nicht jeder kann die umfangreichen Bücher Drewermanns lesen.

Zum anderen hat es Drewermann versäumt, die tiefenpsychologische Schriftauslegung in den Zusammenhang der Auslegungstradition zu stellen, wie sie seit der frühen Kirche bestand. Schon für die frühen Kirchenväter war es ein wichtiges Problem, wie sie die Schriften des Alten und Neuen Testaments auslegen sollten. An ihrem Ringen um eine spirituelle Schriftauslegung darf man nicht vorbeigehen, wenn man sich der tiefenpsychologischen Bibelinterpretation nähert. Im Folgenden benutze ich immer wieder die beiden Bände »Tiefenpsychologie und Exegese«1 von Drewermann, denen ich wichtige Einsichten verdanke, und ein Buch von Sanford, einem Schüler C. G. Jungs, der schon vor über 20 Jahren die Bibel tiefenpsychologisch ausgelegt hat.2

Zum anderen schöpfe ich aus meinen Kursen über tiefenpsychologische Schriftauslegung. Im gemeinsamen Gespräch über Bibelstellen haben die Teilnehmer oft Einsichten geäußert, die mir die Augen für ein neues Verständnis geöffnet haben. Es geht nicht darum, die Bibel wissenschaftlich zu deuten, sondern den Bildern zu trauen, die in uns hochkommen, wenn wir an die Texte herangehen. Eine Gruppe kann da eine gute Bereicherung sein. Denn jeder trägt seine eigenen inneren Bilder bei und entdeckt auf dem Hintergrund seiner persönlichen Lebensgeschichte neue Aspekte am Text.

Ich erlebe, dass die Menschen heute wieder mehr nach Verstehenshilfen für die Schriftlesung suchen. Sie möchten die Bibel lesen. Aber oft legen sie sie wieder enttäuscht zurück, weil sie sie nicht verstehen. Ich werde immer wieder gefragt, ob ich nicht zu allen Stellen der Bibel etwas sagen könnte. Aber das wäre unendlich viel und würde meine Kompetenz übersteigen. Daher kann ich mich nur auf ein paar Hilfen beschränken, wie wir heute die Bibel auslegen können, dass sie uns wieder betrifft. Der wichtigste Grundsatz ist dabei für mich, dass wir sie bildhaft auslegen, so wie es bei vielen Kirchenvätern üblich war. Sobald man in Bildern denkt und fühlt, erschließen sich biblische Texte ganz neu. Aber für viele Menschen ist bildhaftes Denken fremd. Sie verstehen jeden Text nur auf der Ebene der Information. Aber ein rein rationales Verständnis von alten Texten hilft uns nicht weiter. Es geht mir im folgenden nicht um eine rein tiefenpsychologische Schriftauslegung, sondern um einen Weg, die Bibel bildhaft zu sehen und zu verstehen, um eine Weiterführung der spirituellen Bibelauslegung, wie sie seit dem 4. Jahrhundert im Mönchtum üblich war. Das Ziel der bildhaften Auslegung ist immer die Begegnung mit Gott und die Verwandlung meiner eigenen Existenz durch Jesus Christus, das Aufgebrochenwerden für den heilenden und heiligen Geist Gottes, der mich im Wort und durch das Wort heilen und verwandeln will.

I. Tiefenpsychologische und spirituelle Schriftauslegung

Die Frage nach der Auslegung von überlieferten Texten hat die Menschen schon immer beschäftigt. Das Problem wurde erstmals von den griechischen Philosophen formuliert. Im Umgang mit den großen Epen griechischer Dichtung sahen sie sich gezwungen, nach deren bleibendem Wert zu fragen. Sind das nur anstößige Göttergeschichten oder haben sie für alle Menschen eine erzieherische oder religiöse Bedeutung? So haben sie die allegorische Auslegungsmethode entwickelt, bei der sie das Dargestellte als Bild für etwas anderes interpretieren. Sie wollten zeigen, dass die Epen einen bleibenden religiösen und ethischen Wert haben. Das können sie aber nur, wenn die Geschichten einen tieferen Sinn haben, wenn sie noch etwas anderes aussagen. Damit war die Hermeneutik geboren, die Wissenschaft vom Verstehen.

Spirituelle Auslegung in der frühen Kirche

Auch das Judentum hat Auslegungsmethoden entwickelt. So können wir schon innerhalb des Alten Testaments beobachten, dass die Propheten die geschichtlichen Tatsachen symbolisch auslegen, dass das Geschehene Symbol für etwas Tieferes ist, und zugleich Beispiel für das Zukünftige. Die Rabbiner, die jüdischen Gesetzeslehrer, haben sich intensiv mit dem Problem der Auslegung beschäftigt. Ihre Deutungsschemata zeigen sich noch beim Apostel Paulus, der den Durchgang durch das Rote Meer im ersten Brief an die Korinther 10 typologisch auslegt, als Vorbild für die Taufe und für Tod und Auferstehung Jesu. Paulus kennt auch die allegorische Auslegung, wenn er die beiden Frauen Abrahams, Sarah und Hagar, im Brief an die Galater 4 als Bilder für die beiden Testamente sieht, das eine, das vom Berg Sinai stammt und Knechtschaft bedeutet, und das andere aus der Verheißung, das das himmlische Jerusalem bedeutet.

In der frühen Kirche hat sich als erster Clemens von Alexandrien mit der Frage der Auslegung beschäftigt. Clemens verteidigt die allegorische Auslegung der Bibel und zeigt, dass sie kein isoliertes Phänomen ist, sondern sich auch bei den griechischen Philosophen und Dichtern und bei den Ägyptern in ihrer symbolischen Theologie findet. Für Clemens ist die allegorische Auslegung die Bedingung, dass man zur wahren Erkenntnis Gottes gelangen kann.3

Systematischer als Clemens hat Origines die Frage der Schriftauslegung behandelt. Für ihn sind nicht die in der Schrift bezeugten Tatsachen wichtig, sondern die darin enthaltene Wahrheit, die geoffenbart ist und einen übergeschichtlichen Wert hat. Er unterscheidet dabei drei Schriftsinne: den leiblichen oder historischen, den psychischen oder moralischen und den spirituellen oder mystischen. Dabei ist ihm der spirituelle Schriftsinn am wichtigsten. Origines meint, die Schrift habe ebenso wie der Mensch einen Leib, eine Seele und einen Geist. Diesen drei Bereichen ordnet er die dreifache Schriftauslegung, die drei Schriftsinne, zu.

Der leiblichen Auslegung geht es um die Fakten und um die richtige Bedeutung der Worte. Der seelischen bzw. psychischen Auslegung geht es um die moralische Interpretation der Bibel. Damit sind für Origines alle biblischen Geschichten moralische Vorbilder für uns. Mit dieser Art der Schriftauslegung will Origines die Masse der Christen erbauen. Beim dritten Schriftsinn, der spirituellen Auslegung, geht es um die tiefere Bedeutung der Texte, um die mystische Dimension der Bibel, um die Möglichkeit, mit Gott eins zu werden. Den Unterschied zwischen moralischer und mystischer Schriftauslegung beschreibt Origines in seinen Predigten zum Buch Numeri:

»Das Sinnbild des Auszugs aus Ägypten kann auf zweifache Weise genommen werden ... Denn auch wenn einer aus der Finsternis des Irrtums zum Licht der Anerkenntnis gelangt und sich von erdhaftem Wandel zu geistiger Lebensführung bekehrt, zieht er aus Ägypten aus und gelangt in jene einsame Wüste, nämlich in jenen Abschnitt seines Lebens, wo er durch Schweigen und Ruhe sich in den göttlichen Gesetzen üben und die himmlischen Aussprüche in sich einsickern lassen muss, um dadurch neugestaltet und geleitet den Jordan zu durchschreiten und weiterzueilen bis zum verheißenen Land ... Aber der Auszug aus Ägypten ist auch das Gleichnis der Seele, die die Finsternis dieser Welt und die Blindheit der körperlichen Natur verlässt, um in eine andere Welt überzusiedeln, welche entweder Schoß Abrahams wie in der Lazarusgeschichte, oder Paradies, wie beim gläubigen Schächer am Kreuz genannt wird, oder wenn es sonst noch Orte und Wohnungen gibt, die Gott kennt, durch welche die gottgläubige Seele hindurchwandert, um hinzugelangen zu jenem Flusse, der die Stadt Gottes erfreut, und an seinem anderen Ufer das den Vätern verheißene Los zum empfangen ... Wenn die Seele aus Ägypten dieses Lebens auszieht, um zum verheißenen Land zu wandern, schlägt sie notwendig gewisse Wege ein ... und kommt durch bestimmte Haltestellen«.4

Die moralische Auslegung nimmt alle Geschichten als Bilder und Appelle für das Handeln, die mystische Auslegung dagegen als Bilder für den Weg der Seele zu Gott, psychologisch gesprochen als Bilder der Selbstwerdung. Dabei werden alle Personen und Orte als Bilder der Seele gesehen, die auf dem Weg zu Gott ist. Sie beschreiben den inneren Entwicklungsweg der Seele, den Prozess der Selbstwerdung, der im Einswerden mit Gott mündet.

Das Ziel der Schriftauslegung ist für Origines die Kontemplation, die Begegnung mit Jesus Christus und die Schau Gottes. Die spirituelle Schriftauslegung arbeitet mit der Typologie und Allegorie. Die Typologie sieht in den Personen und Geschichten Typen, Urbilder für etwas Zukünftiges. Die Allegorie deutet den Text auf geistige Weise, sie sieht noch etwas anderes hinter den Buchstaben. So wird beispielsweise die Eselin, die die Jünger nach Matthäus 21,2 losbinden, auf die Pflege der Seele hin gedeutet. Die Typologie weist dagegen auf »die künftigen und wahrhaften Güter ... durch Dinge, die im Schatten liegen«.5

Später kommt es zum Streit mit einer anderen Schule, deren Hauptvertreter Theodor von Mopsuestia ist. Sie arbeitet mehr mit den reinen Fakten und lässt neben der historischen Auslegung nur die typologische gelten, nicht aber die allegorische. Sie sieht in den historischen Fakten einen Typos, ein Urbild für das künftige Heil. Und überall sieht sie ein Bild für Christus als die Verheißung aller Geschichten und Erzählungen. Im Grunde unterscheiden sich die beiden Schulen gar nicht so sehr, auch wenn sie sich bekämpft haben. Beide bearbeiten exakt den Wortsinn und versuchen dann den spirituellen Sinn zu erforschen.

Das Mittelalter hat die drei Weisen der Schriftauslegung bei Origines zur Lehre vom vierfachen Schriftsinn weiterentwickelt. Neben dem sensus litteralis (dem wörtlichen Sinn) kennt das Mittelalter noch den sensus allegoricus (der Text sagt noch etwas anderes), den sensus moralis (er bezieht sich auf das menschliche Handeln, der Text wird zum Vorbild für unser Tun) und den sensus anagogicus (er bezieht sich auf die Zukunft, auf die Vollendung der Welt)6. Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn wurde bereits von Cassian formuliert, der neben die historica interpretatio die intelligentia spiritalis stellt, die er wiederum in allegoria, anagoge und tropologia (oder moralis explanatio) einteilt. Bis in die Neuzeit war die Lehre vom vierfachen Schriftsinn die Grundlage jeder Bibelauslegung. Durch die Jahrhunderte hindurch war also eine geistliche Auslegung üblich, die in Bildern dachte und die alles, was in der Bibel stand, subjektiv auf den Ausleger hin verstand. Was die tiefenpsychologische Schriftauslegung will, war also über 1500 Jahre hindurch die übliche Weise, die Bibel zu verstehen. Erst die Neuzeit hat mit ihrem Wissenschaftsbegriff dieser bildhaften Auslegung ein Ende bereitet.

Die historisch-kritische Methode

Auf dem Hintergrund moderner Wissenschaftlichkeit wurde die Frage nach der Auslegung der Bibel zu Beginn unseres Jahrhunderts zu einem zentralen Thema der Theologie, vor allem der protestantischen. Die protestantische Auslegungsforschung entwickelte verschiedene Methoden, die sich alle unter dem Namen »historisch-kritische Methode« vereinen. Da gibt es die religionsgeschichtliche Methode, die die Parallelen in anderen Religionen untersucht, die literaturkritische, die sich um den Urtext sorgt und die formgeschichtliche. Letztere erforscht die verschiedenen literarischen Gattungen, unterscheidet also die Formen von Novelle, Paradigma, Legende, Mythos, Märchen, Wortüberlieferungen und so weiter und billigt jeder Form ihre eigene Wahrheit zu. Die formgeschichtliche Methode hat ihren bleibenden Wert. Sie hat uns von einem Wahrheitsbegriff befreit, der nur auf den Buchstaben sieht, und hat uns die Augen für die Wahrheit eines Märchens oder eines Mythos geöffnet. So wurde die Schöpfungsgeschichte eben nicht mehr als naturwissenschaftlicher Bericht über die Entstehung der Welt, sondern als mythologische Erzählung gesehen, die ihren bleibenden Wert hat, ohne mit dem evolutiven Weltbild in Widerspruch zu stehen.

Die vierte Methode ist die redaktionsgeschichtliche Methode, die nach der Theologie fragt, die die einzelnen Redakteure, also zum Beispiel die Evangelisten, ihrem vorgegebenen Stoff geben. So hat der Evangelist Lukas die griechische Philosophie und Literatur im Hintergrund, wenn er Jesus als den göttlichen Wanderer schildert, der immer wieder bei den Menschen einkehrt und sie mit göttlichen Gastgeschenken beschenkt (Philemon und Baucis). Als Grieche kann er zum Beispiel mit dem Begriff der Sühne als Interpretation für den Tod Jesu nichts anfangen. Aber er sieht den Tod Jesu als Erfüllung der Vision Platons, der über 400 Jahre vor Christus in einer Schrift fragte, was denn wohl geschehen würde, wenn einmal ein ganz und gar gerechter Mensch auftauchen würde. Und er beschreibt, dass sie ihn verspotten und verhöhnen, ihn schlagen und schließlich ans Kreuz schlagen werden. So lässt Lukas den Hauptmann sagen: »Wahrhaft dieser war ein gerechter Mann« (Lukas 23,47), wahrhaft dieser war der Gerechte, auf den wir seit Plato gewartet haben. Lukas übersetzt die Geschichte Jesu so, dass Griechen sie verstehen und annehmen können. Da wir im Herzen alle Griechen sind, kann uns Lukas Jesus Christus auf neue Weise nahe bringen. Die redaktionsgeschichtliche Methode zeigt uns die verschiedenen Weisen auf, wie die biblischen Autoren Christus jeweils für eine andere Mentalität interpretiert haben.

Diese vier Methoden der historisch-kritischen Methode haben einen bleibenden Wert. Sie sind auch Voraussetzung für die tiefenpsychologische Schriftauslegung, die ohne sie willkürlich und unwissenschaftlich würde.

Philosophische Hermeneutik

Die Frage nach der Auslegung wurde in der Philosophie der Neuzeit immer wieder gestellt. Es wurde die Hermeneutik entwickelt, die Wissenschaft vom Verstehen. Heidegger hat die Hermeneutik zu einer Frage nach dem Sinn weitergeführt. Diesen Ansatz greift dann H. G. Gadamer, ein Schüler Heideggers, in seinem Buch »Wahrheit und Methode«7 auf und geht noch einen Schritt weiter. Gadamer meint, wir gingen immer schon mit unserem Vorverständnis an einen Text. Wir verstehen uns und unser Leben schon, bevor wir einen Text auslegen. Der Text hat aber ein anderes Verständnis von Welt und Leben. Das Vorverständnis des Textes tritt dann in Dialog mit unserem Vorverständnis und so geschieht Horizontverschmelzung.

Für Gadamer geht es in der Auslegung eines Textes immer um ein Gespräch, in dem sich der Horizont des Lesers und der des Textes miteinander vereinen. Der Text will uns nicht in erster Linie Informationen geben, sondern ein neues Selbstverständnis. Der Text stellt mein Selbstverständnis in Frage, er verändert es und will mir durch ein neues, erweitertes Selbstverständnis zur Wahrheit selbst verhelfen. Auslegen eines Textes heißt für Gadamer immer, den Text verstehen und darin sich selbst, die Welt und Gott verstehen. Im Verstehen des Textes soll die Sache selbst zur Sprache kommen. Die Sache selbst, das ist immer die Wahrheit des Seins, das ist letztlich immer Gott, der durch das Wort hindurch aufleuchtet.

Für Gadamer geht es nicht darum, sich subjektiv in die Situation des Verfassers zu versetzen. Wir brauchen also nicht zu überlegen, was Markus genau gedacht hat, ob er alle unsere Gedanken und Assoziationen mitbedacht hat. Der Text steht da in seinem Anspruch. Und diesem Anspruch sollen wir uns stellen. Im Text will sich das Sein selbst für uns auslegen. Es wird offenbar. Wir haben teil an seiner Wahrheit, an seiner »aletheia«, seinem Unverhülltsein. Es geht also nicht um irgendwelche Verstehensregeln, sondern um die Teilhabe an der Wahrheit des Gesagten. Der Text hat immer eine Wahrheit in sich. Im Auslegen sollen wir daran teilnehmen.

Dabei geschieht Auslegung immer in und durch die Sprache. Auslegung ist nicht die Erkenntnis einer vom Text unabhängigen Sache, sondern im Finden einer gemeinsamen Sprache geraten Text und Ausleger unter die Wahrheit der Sache selbst.

Die Wahrheit stellt sich im sprachlichen Vorgang dar, sie ist nicht ohne ihn zu haben. So ist jede Auslegung eines Textes immer »eine Verwandlung ins Gemeinsame hin, in der man nicht bleibt, was man war«.8

Gadamer sagt: Jede erzählte Geschichte hat in sich ihre Wahrheit. Sie leuchtet dem Leser von selbst ein, sie braucht nicht bewiesen zu werden, sie muss auch nicht geglaubt werden. Denn in der Geschichte stellt sich die Wahrheit selbst dar. Und indem sie sich für mich darstellt, habe ich teil an ihr.9