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Mit der Katze zum Tierarzt? Für viele Katzenhalter beginnt der Stress bereits beim bloßen Gedanken daran. Katzen gelten zu recht als besonders schwierige Patienten und zeigen häufig Angst oder Abwehrverhalten während des Transports und bei der tierärztlichen Behandlung. Dahinter steckt seitens der Katze jedoch keine böse Absicht. Sie reagiert so, weil sie durch die Situation überfordert ist und diese als unangenehm empfindet. Das muss nicht so bleiben. Werden Sie ein Team mit Ihrer Katze und überwinden Sie gemeinsam Ihre individuellen Hürden! Erfahren Sie, welche Aspekte rund um den Tierarztbesuch für die Katze eine besondere Herausforderung darstellen. Dieses Buch erklärt in ausführlichen Trainingsanleitungen, wie Sie mit Ihrer Katze für den Tierarztbesuch und für verschiedene Untersuchungen und Behandlungen üben können. Sie lernen, wie Sie bislang Unbekanntes und Beängstigendes für Ihre Katze spielerisch in etwas Tolerierbares verwandeln. Behandelt werden u.a. Grundlagen des Tierarzttrainings, besondere Trainingstechniken, Transportboxtraining, Berührungstraining, Training für Blutabnahme, Spritzen und Co, Medikamenteneingabe, katzenfreundliche Tierarztpraxis.
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Seitenzahl: 340
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Eva Bruns und Ida Weißelberg für das tolle Bildmaterial.
Eure vielen wunderbaren Fotos hätten einen eigenen Bildband verdient. Ich danke euch nicht nur für die Erlaubnis, die Bilder zu verwenden, sondern vor allem auch für euer Engagement und eure Zeit, extra für dieses Buch Fotos zu machen.
Christina Nissen für das Textlektorat.
Ca, vielen Dank für deine Hilfe und dein Engagement, die vielen gefundenen Fehler und Verbesserungen. Du bist eine Heldin!
Gerd Schreiber für das inhaltlich-trainingstechnische Lektorat.
Dank dir hat dieses Buch an so mancher Stelle den perfekten Feinschliff bekommen.
Dr. Corinna Cornand für das Vorwort und ihren krititschen tierärztlichen Blick.
Coco, ich danke dir für deine wertvollen Anregungen, die nicht alle namentlich gekennzeichnet sind. Und ich möchte dir an dieser Stelle von Herzen für dein Vertrauen in und den Glauben an meine Arbeit danken. Und für den einfühlsamen Umgang mit allen deinen Patientenkatzen, zu denen glücklicherweise auch Eazy und ZsaZsi gehören.
Tuto für die schönen Fotosessions und seine Anwesenheit in meinem Leben.
Lieber Tuto, noch nie waren Fotoaufnahmen für Eazy und ZsaZsi so entspannt wie mit dir. Das müssen wir ausbauen. Und ich danke dir für deine Geduld mit mir und für deinen Zuspruch in aufregenden Bücherschreibzeiten -also fast immer!
Und außerdem Sonja und Kathia für ihre aufmunternden Einschätzungen, die sehr gut getan haben.
Vorwort
Einführung
Warum ist der Tierarztbesuch für viele Katzen so schwierig?
Über Tierarzttraining
Erwartungen an Tierarzttraining
Einfühlsames Training im persönlichen Raum der Katze
Tierarzttraining: Planung, Vorbereitung, Hilfsmittel
Was möchten Sie erreichen?
Status quo: Bestimmung der aktuellen Grenze
Rahmenbedingungen für das Training
Angekündigt ist halb bewältigt
Auswahl von Belohnungen
Markermagie
Häppchenweise: das Formen von Verhalten
Warum funktioniert das?
Einstiegsübungen ins Tierarzttraining
Geliebte Matte
Konditionierte Entspannung
Transportboxtraining
Der „böse Blick“
Gewöhnung an Geräusche und Gerüche
Grundlagenübungen Berührungstraining
Der Wohlfühlpunkt
Berührungen mit der Hand
„Drück dich an mich!“
Berührung mit Gegenständen
Weitere allgemeine Trainingshinweise
Generalisierung
Ihre Katze ist schwer belohnbar
Umgang mit Nicht-Kooperation
Notwendige Zwangsmaßnahmen
Und außerdem
In der Tierarztpraxis
Ihre neue Ausgangsbasis
Absprache mit der Tierarztpraxis
Anwendung des Trainings in der Praxis
Was Sie noch tun können
Merkmale einer katzenfreundlichen Praxis
Wieder zurück im Mehrkatzenhaushalt
Die Patientin ist aggressiv
Die Nicht-Patientin ist aggressiv
Präventive Maßnahmen
Spezielle Trainings
„Halte durch“-Signal
Der Haltegriff: Festhaltetraining
Targetberührung: Ein Auftrag für Dich
Augentouch
„Pille“ – Tablettenübergabe
Tablettenverstecke & Co
Direkte Tabletteneingabe
Flüssiges aus der Pipette
Zahnkontrolle mal anders
Ohrenkontrolle und -tropfen
Augenkontrolle und -berührungen
Pfotenkontrolle und -berührungen
Krallen schneiden
Exkurs: Ein Fallbericht und die Fotostars
Bericht von Jonah mit Katja Pesch
Die Fotostars dieses Buchs
Weitere Trainingsanregungen
Fellpflege: Bürsten und Schneiden
Blutabnahme am Vorderbein
Spritzentraining & Co
Asthmaspray aus Katzeninhalator
Schermaschine (und andere „Summer“)
Fieber messen
Urinprobe
„Pause bitte“-Signal für Ihre Katze
Tischtraining
Türtraining
Warteplatz-Training
Kreativität für scheue Katzen
Schmerzen
Quellen
Literatur
Links und Empfehlungen
Yahoo-Groups und Foren – Austausch mit Gleichgesinnten
Thundershirt für die Katze
Cat friendly practice – Katzenfreundliche Tierarztpraxis
Markertraining / Clickertraining
Mehr Tierarzttraining
Über die Autorin
Bildnachweise
„Eines schönen Morgens schlummere ich friedlich auf dem Bett meiner Menschen, in meinen Träumen von flatternden Schmetterlingen und sommerlichem Wind mischt sich das Knarren einer alten Weide…Weide…WeideKORB!!! Mit einem Mal packt mich mein ansonsten recht zivilisierter Mensch, zerrt und schleppt mich in die Küche, wo mit der Öffnung nach oben der Weidekorb wartet. Ich schaukele hilflos darüber, mein Mensch redet wirr und aufgeregt und stopft mich, der ich mich mit instinktiv ausgefahrenen Krallen dagegenstemme, in das schaukelnde Ding, drückt mir den Kopf feste runter und knallt das Gitter zu. Dann hebt das Ding ab wie ein Ufo und im nächsten Moment finde ich mich inmitten brüllender Monster, die Räder statt Pfoten haben und ein irres Gefauche und Geknurre von sich geben. In diesem Wahnsinnsgetöse starrt mir mein Mensch aus nächster Nähe in die Augen und sagt das, was ich immer höre, wenn es RICHTIG ÄRGER gibt: ´Ist guuut, Mikeschko, ist alles guuut.`…..“
So beginnt der Bericht des Katers Mikeschko von seinem Tierarztbesuch. Als Tierärztin mit – jawohl! - Vorliebe für sogenannte „schwierige Katzenpatienten“ war ich natürlich sofort wie elektrisiert, als ich Keschkos Aufruf im Cat-Chat las. Meine Katzen lassen mich manchmal mit ihrem Passwort einloggen, wenn sie es für sinnvoll halten. Keschko und seine Katzenkameraden haben an uns Menschen appelliert, diesen unwürdigen und vor allem überflüssigen Katzenkatastrophen endlich ein Ende zu bereiten. Ganz offensichtlich hat Christine Hauschild diesen Aufruf nicht nur auch erhalten und problemlos dechiffriert – ist sie doch in meinen Augen ohnehin eine verkleidete Katze – sie hat auch prompt gehandelt. Mit dem vorliegenden Buch hat Christine Hauschild jedem Menschen die Möglichkeit an die Hand gegeben, seiner Katze den Besuch beim Tierarzt so stressarm wie möglich zu gestalten. Wenn jeder Katzenhalter dieses Buch gelesen und auch nur die Grundlagen verinnerlicht hat, ist die Katze-Mensch-Welt ein riesengroßes und schönes Stück weiter in Richtung einer wirklich heilen Welt. Und was den heilenden Teil dieser Welt angeht, uns Tierärzte, sollte dieses Buch zur Pflichtlektüre werden für alle, die noch nicht verstanden haben, wie sich eine Katze in der Tierarztpraxis fühlt und warum. Es ist nämlich auch Zeit für „ Katzentraining für Tierärzte“ …
Hamburg, Januar 2013
Dr. med. vet. Corinna Cornand, Fachtierärztin für Kleintiere
Es gibt sie, die gelassenen Katzen, die neugierig den Behandlungsraum der Tierarztpraxis erkunden, dem Praxispersonal „Guten Tag“ sagen und lässig und geduldig alle Untersuchungen über sich ergehen lassen. Aber leider gibt es diese Wunderexemplare nicht sehr häufig. Den meisten Katzen ist das ganze Prozedere aus Anreise, fremden Räumen und von fremden Menschen angefasst zu werden, mindestens suspekt. Oft reißt diesen Katzen früher oder später aus Angst oder Verärgerung der Geduldsfaden und sie beginnen sich gegen die Behandlung zu wehren. Andere Katzen geraten schon in Panik, wenn ihr Mensch nur „Tierarzt“ denkt.
Wenn man sich ein klein wenig Zeit nimmt, sich in die Katze einzufühlen und zu überlegen, wie ein Tierarztbesuch wohl aus ihrer Perspektive aussieht, dann wundert man sich über ihre Reaktionen nicht mehr. Allerdings finden die Untersuchungen und Behandlungen ja aber nicht zum Vergnügen, sondern aus medizinischer Notwendigkeit statt und sollen unseren Katzen Leid ersparen und ihre Gesundheit sichern. Wir können deshalb auch nicht einfach sagen: „Lucy findet den Tierarztbesuch immer so stressig. Dann fahren wir eben nicht hin. Ihr Zahn wird schon irgendwie wieder werden.“ Andauernde Schmerzen sind für Lucy schließlich erst recht eine Zumutung.
Aber was wäre, wenn es Möglichkeiten gäbe, dem Tierarztbesuch den Schrecken zu nehmen? Wenn wir dafür sorgen könnten, unseren Katzen die größte Angst zu nehmen, ihre Anspannung zu lindern und ihre Geduld zu steigern? Wie fänden Sie es, wenn Sie wüssten, dass Ihre Katze immer sofort in die Transportbox steigt, sobald Sie diese hervorholen? Wäre es nicht beruhigend zu wissen, dass Sie selbst die eventuell erforderliche Weiterbehandlung übernehmen können, weil Ihre Katze das zulässt und sich nicht fürchtet?
Wenn Sie dieses Buch einmal durchlesen, gehören alle früheren Schwierigkeiten der Vergangenheit an. Kleiner Scherz. Denn dieses Buch ist in erster Linie ein Trainingsbuch. Es wird Ihnen Wege zeigen, wie Sie Ihre Katze liebevoll und spielerisch in vielen kleinen Schritten und manchmal mit größeren Umwegen auf den Besuch in der Tierarztpraxis und vor allem auf verschiedene Behandlungen vorbereiten können. Das wird für Sie beide viele, viele kleine schöne gemeinsame Lerneinheiten bedeuten, die Ihre Bindung und Ihr Vertrauen zueinander stärken werden. Es wird aber entsprechend auch bedeuten, dass Sie dieses Buch immer wieder in die Hand nehmen und sich dem Tierarzttraining mit einem gewissen Maß an Zeit und Energie widmen müssen, um Fortschritte zu machen. Wenn Sie die Übungseinheiten aber nicht nur für Ihre Katze, sondern auch für sich selbst spielerisch angehen, dann können diese zu einer ganz besonderen Zeit zwischen Ihnen und Ihrer Katze werden.
Jeder Mensch, der dieses Buch liest, wird mit seiner Katze einen anderen Ausgangspunkt für das Tierarzttraining haben, und möglicherweise ein anderes Ziel verfolgen. Sie werden Anleitungen finden, Ihre Katze genau dort abzuholen, wo sie gerade steht. Und durch die Vielzahl an verschiedenen Übungen sollten Sie am Ende auch in der Lage sein, sich einen Trainingsplan für die ganz besondere medizinische Behandlung Ihrer Katze zu erstellen, falls diese nicht ohnehin in diesem Buch beschrieben wird.
Mit vielen Katzen kann man durch sensibles Üben große Fortschritte bei der Akzeptanz von tierärztlichen Untersuchungen erreichen. Bei besonders scheuen oder traumatisierten Katzen muss man prüfen, ob es überhaupt stressfreie Ansatzpunkte für das Trainieren von bestimmten Behandlungen gibt. Manchmal ist das tatsächlich (noch) nicht der Fall. Aber gerade für diese Katzen gibt es einige lohnenswerte Übungen, kleine Tricks, die hilfreich sein können.
Zunächst werden wir jedoch einmal die Perspektive unserer Katzen einnehmen und versuchen zu verstehen, warum der Tierarztbesuch für so viele Katzen ein mehr oder minder schweres Problem darstellt. Die darauf folgenden Übungs- und Trainingsvorschläge sind dann nichts anderes als Hilfen für unsere Katzen, unbekannte, beängstigende oder manchmal aus ihrer Sicht auch einfach empörend übergriffige Situationen kennen, ertragen und sogar schätzen zu lernen. Die Übungen sind unterteilt in Einstiegs- und Grundlagenübungen, spezielle Trainings sowie weitere, dann etwas kürzer gehaltene Trainingsanregungen am Ende des Buches.
Bestenfalls endet das Training nicht vor dem Tierarztbesuch, sondern geht in der Praxis weiter. Deshalb geht es auch um die Gestaltung einer konstruktiven Zusammenarbeit mit Ihrer Tierärztin oder Ihrem Tierarzt und um die wichtige Frage: Wie sieht eine katzenfreundliche Tierarztpraxis aus?
Den Stars dieses Buches, den Katzen auf den Fotos, ist im hinteren Teil des Buches ein eigenes kleines Kapitel gewidmet. Sie werden sehen, dass diese Katzen genauso besonders oder genauso normal sind, wie Ihre Katze auch. Also: Nur Mut!
Warum sind Katzen oft schwierige Patienten? Mit Sicherheit nicht, weil sie garstig, bockig oder gar böse sind. Der Besuch in der Tierarztpraxis und die tierärztliche Behandlung stellen für viele Katzen schlichtweg eine Überforderung dar und deshalb verwandeln sich die sonst so lieben Schmusekatzen in schwer händelbare Minitiger. Um das zu verstehen und mit möglichem Training an den richtigen Punkten anzusetzen, lassen Sie uns für dieses Kapitel einmal unsere eigenen Wünsche und Sorgen außen vor lassen und stattdessen das Thema Tierarztbesuch aus den Augen der Katze betrachten. Welche Aspekte daran sind häufig besonders schwierig und warum?
Minitiger
Ich habe eben den Begriff Minitiger benutzt und möchte jetzt daran anknüpfen, und zwar mit der Betonung auf den ersten zwei Silben: Minitiger. Katzen sind klein. Das ist für uns etwas völlig Selbstverständliches und Normales. Katzen reichen uns meist noch nicht mal bis ans Knie, wir können sie von Größe und Gewicht her leicht hochheben, festhalten, herumtragen. Selten machen wir uns im Alltag klar, dass Katzen die Welt nicht nur anders sehen als wir, weil sie eben Katzen sind. Ihre geringe Größe spielt eine entscheidende Rolle für die Wahrnehmung und Einschätzung der Umwelt. Um zu verdeutlichen, wie klein Katzen tatsächlich sind, möchte ich mit Ihnen ein Rechenbeispiel durchführen: Nehmen wir an, die durchschnittliche Hauskatze ist auf Kopfhöhe ca. 35 cm groß und wiegt als moderne Wohlstandskatze 5 kg. Für einen durchschnittlichen Menschen veranschlage ich 1,70 m Körpergröße und als Gewicht 70 kg. Jetzt stellen Sie sich vor: Sie stehen vor Ihrer Katze, die zu Ihren Füßen sitzt und zu Ihnen hoch schaut. Meine Frage lautet: Wie groß wäre für uns ein Wesen, das im Vergleich so groß ist, wie wir es für die Katzen sind? So ein Wesen wäre über 8 m groß – das entspricht etwa einem dreigeschossigen Haus. Und es würde knapp eine Tonne wiegen (980 kg).
Wie entspannt wären Sie, wenn dieses Wesen über Sie drüber steigt, während Sie gemütlich auf dem Teppich liegen? Oder wenn es sich neben Sie aufs Sofa plumpsen lässt? Oder Sie festhält und hochhebt?
Grundvertrauen?
Dass Katzen überhaupt in der Lage sind, so locker und entspannt mit uns Riesen zusammenzuleben, ist der sogenannten sensiblen Phase zu verdanken. So wird die Zeit bezeichnet, die etwa von der zweiten bis zur siebten, achten Lebenswoche der Katze dauert. In dieser Zeit können Katzen lernen, dass Lebewesen anderer Arten freundlich sein können, obwohl sie theoretisch Fressfeinde sind. Aufgrund unserer Größe und unserer nach vorn gerichteten Raubtieraugen sind wir nämlich potenziell genau das. Wenn eine Katze aber in diesen ersten Wochen regelmäßige entspannte und positive Kontakte zu Frauen, Männern und Kindern hat, erwirbt sie ein Grundvertrauen in uns Menschen. Entsprechend verhält sie sich uns gegenüber grundsätzlich erst einmal recht vertrauensvoll. In den ersten Lebenswochen wird also das Fundament für eine vertrauensvolle Beziehung der Katze zum Menschen gelegt. Das heißt aber nicht, dass ab der neunten Lebenswoche alles geklärt ist. Die Katze befindet sich dann noch mitten in der Sozialisierung. In dieser lernt sie nicht nur die Etiquette im Umgang mit ihren Artgenossen, wie so oft beschrieben wird. Die Erfahrungen, die die junge Katze in den kommenden Monaten mit ihrer Umwelt macht, sind häufig prägend, im Guten wie im Schlechten. Während Katzenkinder eine Phase fast ohne Ängste durchlaufen, entwickeln junge Katzen im Laufe der Zeit nicht selten eine gewisse allgemeine Vorsicht. Im Alter von 6 bis 12 Monaten kommt es häufiger zu Brüchen: Halter berichten dann, dass ihre vorher lustige und verschmuste Katze plötzlich ängstlich ist.1 Es scheint besonders leicht zu sein, dem Vertrauen einer noch recht jungen Katze einen Knacks zu versetzen. Bedenkt man, dass Erlebnisse vor dem Hintergrund früherer Erfahrungen bewertet werden, ist das leicht nachvollziehbar. Wenn es noch nicht sehr viele positive Erfahrungen gibt, wiegt ein schlechtes Erlebnis besonders schwer. Außerdem zeigen junge Katzen während der in diesen Lebensmonaten stattfindenden Pubertät oft ähnliche emotionale Instabilität, Stimmungsschwankungen und eine erhöhte Erregbarkeit wie menschliche Teenager. Unangenehme Erfahrungen fallen damit auf besonders „fruchtbaren“ Boden. Mit Ende der sensiblen Phase ist also die Sicht der Katze auf den Menschen noch nicht in Stein gemeißelt. Ihr Vertrauen muss (und kann) durch zahlreiche gute Erfahrungen vertieft und gefestigt werden.
Finden während der sensiblen Phase hingegen keine oder nicht ausreichende Kontakte statt oder macht das Kätzchen schlechte Erfahrungen mit Menschen, dann entwickelt sie kein Grundvertrauen. Jeder neue Mensch wird unter Generalverdacht gestellt: Im Zweifel definitiv nicht für den Angeklagten! Diese Katzen können es schaffen, eine vertrauensvolle Beziehung zu einer Bezugsperson aufzubauen. Sie sind aber nicht gut darin, die positiven Erfahrungen, die sie mit diesem Menschen machen, auf andere Menschen zu verallgemeinern, nach dem Motto: „Mein Mensch hat mir noch nie was getan. Unsere Streicheleinheiten und Spiele sind toll, und leckeres Futter bekomme ich auch immer. Dann sind die anderen Menschen bestimmt auch okay.“ So läuft es leider so gut wie nie. Und das ist für die betroffenen Halter dieser Katzen zwar schwierig (und für die Katzen auch), stellt aber gleichzeitig eine einfach nur sinnvolle kätzische Reaktion dar: Es ist klug, potenziellen Beutegreifern und Gefahren aus dem Weg zu gehen. Täuscht die Katze sich nämlich im Gegenüber, dann war die freundliche Begrüßung ihre letzte Tat.
Die kluge Angst
Wir Menschen bewerten Angst oft als etwas Unschönes, Unerwünschtes, Hinderliches und vor allem wirklich Unangenehmes. Erst einmal ist Angst aber eine geniale Einrichtung der Natur. Angst macht ein Lebewesen auf mögliche Gefahren aufmerksam und gibt ihm damit die Möglichkeit, entsprechend zu reagieren und sich zu schützen. Angst hilft beim Überleben. Und zwar besonders, wenn man wie die Katze ein vergleichsweise kleines Beutetier ist. Katzen sind zwar Raubtiere, aber sie haben Fressfeinde. Diese Tatsache scheint für viele Katzen, ob nun unbewusst oder bewusst sei dahin gestellt, eine große Rolle zu spielen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob in der Umwelt einer Katze wirklich ernsthafte Gefahren lauern. Rein theoretische, potenzielle oder auch gefühlte Gefahren sind für viele Katzen völlig ausreichend, um mit großer Vorsicht und manchmal sogar ängstlich durchs Leben zu gehen oder bei sonstiger Gelassenheit in besonderen Situationen mit Misstrauen oder Angst zu reagieren.
Viele Katzen sind gut sozialisiert und haben mit ihren Menschen auch nur gute Erfahrungen gemacht und vollstes Vertrauen zu ihnen. Dass sie aber grundsätzlich keine Angst vor Menschen haben, heißt noch lange nicht, dass sie keine Angst bekommen können. Erinnern Sie sich noch einmal an den Minitiger-Größenvergleich und versetzen Sie sich in seine Lage. Wahrscheinlich können Sie sich vorstellen, zu „Ihrem“ Riesenwesen Vertrauen aufzubauen und sich von ihm herumtragen zu lassen etc. Aber wie wäre es, wenn Sie in eine völlig fremde Umgebung gebracht werden und dort ein fremdes Riesenwesen kommt, Sie festhält, berührt, anstarrt und ihnen vielleicht sogar Schmerzen zufügt? Das würde für Sie sicherlich eine Ausnahmesituation darstellen, die größere Emotionen in Ihnen auslöst. Nicht viel anders werden viele Katzen den Besuch in der Tierarztpraxis wahrnehmen. Und auch hier gilt wieder: Wenn die Katze sich gegen wahrgenommene Bedrohungen wütend oder panisch wehrt, dann ist diese Katze weder verrückt noch zickig. Sie handelt klug, denn sie versucht, ihr Leben zu retten.
Typische Reaktionen auf Angstauslöser
Bevor wir genauer betrachten, welche Faktoren beim Tierarztbesuch so schwierig sind, lassen Sie uns einen Moment in der normaleren Lebensumgebung der Katze bleiben. Im echten Leben begegnet die Katze immer mal wieder Objekten oder Lebewesen, die ihr im ersten Moment Angst einjagen. Wie gehen Katzen normalerweise damit um? Insgesamt lassen sich drei typische Reaktionsmuster identifizieren: Rückzug und Flucht, Beobachtung und Erkundung sowie Selbstverteidigung und Angriff. Welche der drei Möglichkeiten gewählt wird, ist abhängig davon, wo die Katze auf den Angstauslöser stößt. Je zentraler im eigenen Revier die Konfrontation erfolgt, desto größer sind oft Mut bzw. Verteidigungsbereitschaft der Katze. Je weiter sie vom Zentrum ihres Reviers entfernt ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich eher zur Flucht entscheidet und Auseinandersetzungen vermeidet.
Ein zweiter, entscheidender Faktor auf das Verhalten der Katze angesichts eines angstauslösenden Reizes ist ihre Nähe bzw. Distanz zu ihm. Um ein vielleicht gefährliches Objekt näher in Augenschein nehmen zu können, braucht die Katze zunächst einen gewissen Sicherheitsabstand, am besten einen leicht geschützten Beobachtungsposten. Ein kleiner Sicherheitspuffer zwischen sich und dem „Ding“ ist hilfreich. Passiert dann nichts weiter Bedrohliches, überwindet sich die kleine Tigerin vielleicht sogar und kommt langsam näher, um es mit langem Hals und vielleicht ein paar Pfotenschlägen zu erkunden und zu testen, bevor das „Ding“ schließlich berochen wird. Vorausgesetzt natürlich, das fremde Objekt oder Lebewesen erweist sich im Rahmen der Prüfung als ungefährlich. Diese Art der Erkundung braucht Zeit. Und es ist wichtig für die Katze, dass sie selbst das Tempo der Annäherung bestimmt. Manche Katzen brauchen erst die Möglichkeit, aus einer getarnten, vielleicht erhöhten Position heraus wirklich ausgiebig zu beobachten, bevor sie eine gewisse Neugier und den nötigen Mut zur Kontaktaufnahme entwickeln.
Kommt eine Erkundung des Angstauslösers aufgrund der empfundenen Bedrohung nicht in Frage, bleiben Flucht oder Verteidigung. Welche Option die Katze wählt, ist einerseits eine Typfrage. Die einen versuchen zu meiden, was ihnen Angst macht, die anderen versuchen es zu vertreiben. Andererseits muss eine Katze auch ihre Chancen abwägen. Flucht ist erfolgversprechender, wenn die Katze einen gewissen Vorsprung hat, da sie Verfolgung und eine Attacke von hinten fürchten muss. Sieht die Katze die potenzielle Bedrohung eher aus der Ferne, wird sie sich häufig für die Flucht bzw. einen ruhigen und würdevollen Rückzug entscheiden. Wird hingegen die sogenannte Fluchtdistanz unterschritten und damit die Flucht riskant, ist die Katze in gewisser Weise gezwungen, sich ihrem Gegenüber zu stellen. Sie wird versuchen, es durch körpersprachliche und lautsprachliche Drohungen2 zum Rückzug zu bewegen. Manche Katze wird auch versuchen, ihr Gegenüber zu beschwichtigen und die Situation zu entschärfen. Typische Signale dafür wären das Abwenden des Kopfes, langsames Blinzeln und Ducken. Die Katze möchte mit diesen Beschwichtigungssignalen nicht zu größerer Nähe einladen, sondern einen erwarteten Angriff abwehren.
Es gibt eine weitere kritische Distanz, die Individualdistanz: Jede Katze (und jeder Mensch) hat einen persönlichen Raum um sich herum, in den niemand einfach so eindringen darf, der nicht eingeladen wird. Geschieht dies doch, so geht das mindestens mit einer gewissen Anspannung einher.3 Die Weite dieser Individualdistanz ist abhängig vom Individuum, von der Situation und von der Wahrnehmung des Gegenübers. Der vertraute Mensch oder Katzenkumpel darf in entspannter Atmosphäre jederzeit direkt neben die Katze kommen und sie sogar berühren. Beobachtet die Katze aber gerade ihren Erzfeind vor dem Fenster, sieht die Situation schon anders aus. Auch ein wirklich geliebter Mensch oder Katzenkumpel sollten sie jetzt besser nicht berühren, wenn Sie keine unwirsche Reaktion ernten wollen. Überschreitet nun ein Angstauslöser nicht nur die Fluchtdistanz, sondern dringt unmittelbar in den persönlichen Raum der Katze ein, wird sie auch in einer sonst entspannten Situation mindestens ihre Drohungen verschärfen, möglicherweise immer wieder unterbrochen von Beschwichtigungssignalen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird die Katze als Reaktion auf die Unterschreitung der Individualdistanz früher oder später zum Angriff übergehen, um sich selbst zu verteidigen, die Bedrohung zu vertreiben oder sich die Möglichkeit zur Flucht zu erkämpfen.4
Angstauslöser rund um den Tierarztbesuch
Unterschiedliche Katzen fürchten sich natürlich vor unterschiedlichen Dingen. Sie haben unterschiedliche Empfindungen und sind mit verschiedenen Gegebenheiten unterschiedlich gut vertraut. In diesem Abschnitt möchte ich Ihnen eine Idee geben, welche Faktoren von einer Katze als beängstigend wahrgenommen werden können.
Die Reise
Katzen beziehen viel Sicherheit aus Routinen, und sie kennen ihre Menschen und merken ihnen Anspannung oder Entspannung an. Der Stress geht deshalb oft bereits zuhause los: „Mit meinem Menschen stimmt was nicht. Die ist anders und guckt mich die ganze Zeit von der Seite an. Und was ist das denn? Normalerweise hat die morgens nie viel Zeit für mich und jetzt kommt sie plötzlich so verkrampft angeschmust?“ Und dann wird auch noch der Transportkorb geholt, obwohl der doch sonst immer, immer, immer nur auf dem Schrank steht. Diese kleineren und größeren Anzeichen für eine Abweichung vom Alltag gekoppelt mit einem angespannten Menschen können ausreichen, um die Katze zumindest etwas skeptisch und vorsichtig werden zu lassen. Ob die ungewohnten Situationen harmlos sind oder nicht, prüft der Minitiger dann nicht selten lieber aus einem Sicherheitsabstand heraus.
Weiß die Katze schon, was die Box bedeutet, und gerät in Panik, beginnt der Tierarztbesuch nicht selten mit einer Verfolgungsjagd und dem eher unsanften Eintüten der Katze in die Box. Die Katze erlebt dies sicherlich als einen körperlichen Übergriff. Auch Katzen, die sonst in ihrer Transportbox schlafen, finden es meist nicht lustig, wenn deren Tür geschlossen wird. Eingesperrt in der Box kann die Katze nicht mehr fliehen. Kein schönes Gefühl, besonders wenn man sich ohnehin schon fürchtet und eigentlich überall sonst lieber wäre. Beim Anheben der Box gerät die Welt der Katze plötzlich ins Schwanken – der Boden wackelt und ruckelt und alles dreht sich um sie herum. Für eine Wohnungskatze beginnt hinter der Wohnungstür eine unbekannte Welt. Sie hat aber keine Chance, sich mit dieser langsam vertraut zu machen, sondern sie wird einfach hindurch getragen und ins Auto gesetzt. Das Auto riecht komisch. Und das unvertraute Motorengeräusch und die Vibration in Kombination mit der jetzt vorbeirauschenden Welt machen zwar manche Katzen wohlig schläfrig, versetzen viele aber in Angst und Panik.
Im Wartezimmer5
Ist die Autofahrt überstanden, wird es aus Sicht der kleinen Zwangsreisenden meist nicht wirklich besser. Sie kommt in Räume, die von oben bis unten voller Gerüche sind. In ihrem Zuhause, in ihrem Revier beziehen Katzen ganz viel Sicherheit über vertraute Gerüche. Solange alles bekannt riecht, können kein fremder Beutegreifer, kein Rivale und auch sonst keine Bedrohung besonders nah sein. Unvertraute Gerüche hingegen wecken einerseits die Neugier der Katze, lassen aber auch schnell alle Alarmglocken klingeln. Die typischen klinischen Gerüche nach Desinfektionsmittel und Alkohol sind für Katzen nicht nur unvertraut, sondern dürften mit deren feinen Nasen möglicherweise auch als beißend wahrgenommen werden.
Von uns völlig unbemerkt nimmt die Katze darüber hinaus die Angst früherer Patienten wahr, die über Pfotenabdrücke und Ausdünstungen spezielle Angstpheromone zurückgelassen haben. Verschiedene Studien an Menschen6 haben gezeigt, dass der Geruch von Angstschweiß (unbewusst) in uns Menschen u.a. Ängste oder Meideverhalten auslösen kann. Letztes meint den Wunsch, den Ort des Geruchs möglichst schnell zu verlassen: Wenn andere hier Angst hatten, scheint es ein gefährlicher Ort zu sein. Es erscheint plausibel, dass es Katzen nicht anders gehen wird. Vermutlich werden sie geruchliche Informationen eher intensiver wahrnehmen und verarbeiten als wir Menschen. Die Katzen werden also durch die Angstgerüche in der Praxis alarmiert – aber sie können sich nicht in Sicherheit bringen.
Genauso wenig kann die Katze sich in Eigenregie vor den Fressfeinden schützen, die regelmäßig auch in der Tierarztpraxis verkehren und denen sie im Wartezimmer nun vielleicht unmittelbar gegenüber sitzt. Sie ahnen es, es geht um Hunde. Und zwar nicht nur um Hunde, die ganz ruhig und still in einer Ecke liegen, sondern auch um solche, die aufgeregt und unruhig auf und ab laufen, mit der Leine oder dem Körper an Stühle und Tische rumpeln, hecheln und japsen, vielleicht bellen und im schlimmsten Fall ihre Nase direkt an die Transportbox drücken. Das Verhalten der Hunde ist natürlich verständlich, stellt aus Sicht der Katzenpatientin aber mindestens eine Zumutung, recht wahrscheinlich sogar eine empfundene Bedrohung dar. Die Katze ist in dieser Situation völlig ausgeliefert. Sie kann nicht nur nicht fliehen, sie kann noch nicht mal den Abstand vergrößern oder sich besser verstecken.
Sind keine Hunde im Wartezimmer, wenn die Katze ankommt, ist das natürlich schon viel angenehmer. Allerdings müssen wir erneut bedenken, wie ausgeprägt die Riechfähigkeit der Katze ist. Sie wird wahrnehmen, dass sich hier vor kurzem verschiedene Hunde aufgehalten haben. Ob die nun in sicherer Entfernung sind oder im nächsten Moment wieder auftauchen, kann der Minitiger hingegen nicht erschnuppern. Die hundlichen Gerüche alleine können also bei einer nicht ausgesprochen hundegewohnten Katze einen zusätzlichen Stressfaktor darstellen.
Als potenzielles Beutetier ist es für die Katze wichtig, sich in ihrer Umgebung auszukennen. Nur dann weiß sie bei Gefahr sofort, welche Fluchtwege ihr zur Verfügung stehen, wohin sie sich retten und wo sie sich verstecken kann. Die Räume der Tierarztpraxis sind der Katze in der Regel unbekannt, auf jeden Fall sind sie ihr nicht vertraut. Dies trägt ebenso wenig zu ihrem Sicherheitsgefühl bei wie die unbekannten Menschen, auf die sie in der Praxis trifft. Sollte sich die Katze hingegen noch an das Praxispersonal erinnern, dann sind diese Erinnerungen oft nicht die angenehmsten.
Im Behandlungszimmer
Aus dem Wartezimmer geht es dann in den Behandlungsraum, in dem die Gerüche sich vermutlich noch intensivieren. Vorher hat die Katze die latent bedrohliche Umgebung aus ihrer Transportbox heraus beobachtet bzw. beobachten müssen. Im Behandlungsraum wird ihr nun noch dieses letzte Refugium genommen: Sie wird mehr oder weniger freundlich aus der Box befördert und findet sich auf einem ungewohnt kalten und komischen Metalltisch wieder, auf dem die Katzenpfoten keinerlei Halt finden. Die Katze hat keine Zeit, sich mit dem Raum oder den Menschen vertraut zu machen. Sie wird vielleicht von ihrem Halter, vielleicht aber auch von einer fremden Person gehalten, von der Tierärztin angefasst und vielleicht mit komischen Gegenständen berührt, die die Katze vorher nicht auf ihre Gefährlichkeit hin überprüfen kann. Dieser fremde Mensch hält ihr zum Beispiel so eine komische Schlange an die Brust (Stethoskop), piekst ihr in den empfindlichen After (Fieberthermometer) oder drückt ihr einen beißenden Ast in die Seite (Spritze). Bei alldem wird die Katze von mehreren Personen angestarrt und beobachtet. Ist Ihnen bewusst, dass anhaltendes Anstarren unter Katzen eine große Provokation bis hin zu einer ernsten Drohung bedeutet?
In vielen Tierarztpraxen ist es üblich, die Katze während der Untersuchung richtig gut festzuhalten, möglicherweise wird dabei mit einer Hand ein fester Nackengriff angesetzt. Vielleicht wird die Katze sogar schon am Nacken aus der Box geholt? Das Motiv für dieses Vorgehen liegt sicherlich in dem Wunsch nach Kontrolle über die „schwierige Patientin“ Katze. Als Begründung für den Nackengriff wird die Analogie bemüht, dass Kätzinnen ihre Jungen am Nacken tragen und der Kater die Kätzin während des Deckakts im Nacken festhält. Aber die Katze in der Tierarztpraxis ist keine Kätzin, die gerade gedeckt wird, wobei übrigens nur eine kleine Hautfalte gepackt wird und nicht das ganze Nackenfell. Die Katze in der Tierarztpraxis ist auch kein junges Kätzchen von wenigen hundert Gramm mehr, das von seiner vertrauten Mutter getragen wird. Und der die Katze am Nackenfell haltende Mensch ist eben ein fremder Mensch und keine Katze. Wenn eine erwachsene Katze im Nacken von einem größeren Lebewesen gepackt und gehalten wird, dann ist das in der freien Natur in der Regel das letzte, was sie erlebt: Der Biss eines Beutegreifers, der sie gleich schütteln und totbeißen wird. Wir können also davon ausgehen, dass eine Katze den Nackengriff als großen Stress empfindet, möglicherweise sogar dabei in Todesangst gerät. Ist sie unter diesen Bedingungen kooperativ und erduldet die Untersuchung, dann ermöglicht das für den Moment ein einfaches Arbeiten. Die Katze wird beim nächsten Tierarztbesuch aber noch größere Angst haben.
Die gleichen negativen Nebenwirkungen kann auch der Einsatz sogenannter „Clips“ haben. Bei diesen Clips handelt es sich um Klemmen, die den beim Friseur verwendeten Haarspangen nicht unähnlich sind. Diese werden am Nacken der Katze angebracht und führen zu einer Fixierung und einem entsprechenden Erstarren der Katze. Unter der werbeträchtigen Bezeichnung „Clipnosis“ schwappt dieses Vorgehen gerade aus dem englischsprachigen Raum nach Deutschland herüber. Wenn eine vertrauensvolle Katze in sicherer Umgebung geclippt wird, kann es sein, dass sie dies ohne Unbehagen dulden kann. Für die meisten Katzen wird das in tierärztlicher Umgebung aber leider nicht gelten.
Jedes starke Fixieren des Katzenkörpers, selbst ohne Nackengriff, erhöht das Gefühl von Bedrohung für die Katze. Sie kann sich nicht zurückziehen, sie kann nicht kommunizieren, sondern wird körperlichem Zwang ausgesetzt. Das ist ein guter Weg, selbst eigentlich angenehme Prozeduren zu etwas Bedrohlichem zu machen. Stellen Sie sich vor, Sie gehen wegen eines juckenden Ausschlags zum Arzt. Der Arzt will eine lindernde und kühlende Salbe auftragen und einmassieren. Das könnte ganz angenehm werden, wenn Sie sich dabei auf die Liege legen, die Augen schließen und merken, wie sich die Wirkung entfaltet. Aber nun kommt der Arzthelfer, packt Sie von hinten, hält Ihre Arme auf dem Rücken und drückt Sie auf die Liege. Und nun beugt sich der Arzt über Sie. Wie fühlen Sie sich? Können Sie die wohltuende Wirkung der Salbe noch wahrnehmen?
Um sie richtig untersuchen zu können, müssen sich die Tierärztin und ihre Helferin nah an der Katze aufhalten und sie berühren. Daran führt kein Weg vorbei. Aber alle Beteiligten sollten sich immer wieder bewusst machen, dass sie damit in den persönlichen Raum der Katze eindringen. Die Katze wird dabei in der Regel nicht nach ihrer Zustimmung gefragt und ihre zunächst vielleicht subtileren Abwehr- und Angstsignale werden übergangen. Erinnern Sie sich an das vorangehende Kapitel über die Distanzen? Wenn eine Katze unmittelbar in ihrem persönlichen Raum bedroht wird, ist es aus ihrer Sicht folgerichtig und sinnvoll, sich zu verteidigen.
Bei einem Besuch in der Tierarztpraxis passieren also viele kleine und große Dinge, die aus der Perspektive der Katze alles andere als einfach zu händeln sind. Erschwerend kommt nun noch hinzu, dass auch der vertraute Mensch ganz komisch ist. Er riecht womöglich ebenfalls nach Stress und Angst, er atmet anders, sein Körper ist angespannt, seine Stimme klingt komisch. Und häufig versteht er nicht, dass die Katze in dieser Stresssituation vielleicht nicht mehr empfänglich ist für Streicheleinheiten und Nähe. Manche Katzen gewinnen Sicherheit aus dem engen (Körper-)Kontakt zu ihrer Bezugsperson und entspannen sich sichtlich in seinen Armen. Für andere Katzen wird hingegen in angstvollen Situationen die Ansprache durch ihren Menschen mit seinem Gesicht oder seiner Hand direkt an der Tür der Transportbox eher zu einem weiteren Stressfaktor.
Zusammenfassung
Wenn man sich einmal wirklich vor Augen hält, wie ein Tierarztbesuch aus der Sicht der Katze aussieht, ist leicht verständlich, warum viele Minitiger dabei zu Angsthasen oder aber brüllenden Löwen werden. Alles, was Katzen normalerweise Sicherheit gibt, ist nicht vorhanden – mit Ausnahme des begleitenden Menschen: Vertraute Gerüche, weitere vertraute Lebewesen, bekannte Umgebung, ausreichende Distanz zu unvertrauten Dingen, Zeit für Erkundung im eigenen Tempo. Stattdessen wird die Katze mit lauter Ereignissen, Gegenständen und Menschen konfrontiert, die sie nicht kennt. Sie bekommt keine Zeit, sich mit diesen Situationen und Objekten auseinanderzusetzen und diese zu erkunden, während ihr gleichzeitig jeder Rückzug verwehrt wird. Beginnt sie sich zu wehren, wird meist der Druck erhöht. Das führt natürlich nicht dazu, dass die Katze sich besser fühlt, sondern sie wird in ihrer Wahrnehmung bestätigt, dass ihr gerade Schlimmes angetan wird. Die Voraussetzungen für den nächsten Tierarztbesuch und zukünftige Behandlungen haben sich damit verschlechtert. So entsteht ganz leicht ein Teufelskreis, der für alle Beteiligten unschön ist. Die Katze ist allerdings diejenige in diesem Spiel, die keinerlei Einfluss auf die Gestaltung des Praxisbesuchs und die Abläufe in der Praxis hat. Aber sie ist unsere Schutzbefohlene und deshalb sollten wir ihr helfen, so dass sie die notwendige medizinische Versorgung bekommen kann, ohne diese als gefährlich und übergriffig zu empfinden.
Die große Frage lautet also: Was können wir tun, damit unsere Katze beim Tierarztbesuch weniger Unbehagen, weniger Empörung und vor allem weniger Angst empfindet als unter „normalen“ Bedingungen?
Und die Antwort heißt: Wir können unsere Katze mit den verschiedenen Elementen rund um den Tierarztbesuch vertraut machen, die bei ihr bekannterweise schlechte Gefühle auslösen oder die ihr voraussichtlich Schwierigkeiten bereiten werden. Vieles verliert seinen Schrecken, wenn die Katze weiß, was sie zu erwarten hat (und was nicht). Vertrauen bei und Vertrautheit mit tierärztlichen Prozeduren, bestimmten Berührungen, Untergründen und Gerüchen fällt nur selten vom Himmel, sondern ist in der Regel Übungssache.
1 Nicht selten wird dies in einen Zusammenhang mit der Kastration gebracht, die als Operation aus Katzensicht ja auch durchaus traumatisierendes Potenzial hat. Mir sind dazu leider keinerlei Zahlen oder Studien bekannt. Der größere Anteil der Katzen scheint nach der Kastration verblüffend schnell wieder quietschvergnügt durchs Leben zu tapsen.
2 Dazu gehören u.a. Anstarren, Anheben einer Pfote zur Schlagandrohung, Fauchen, Knurren und Jaulen. Dies alles dient noch der Kommunikation.
3 Denken Sie daran, wie wir Menschen in einem vollen Fahrstuhl alle so tun, als wären wir schwer beschäftigt. Wir haben Strategien entwickelt, die uns helfen, mit dieser Unterschreitung der Individualdistanz friedlich umzugehen.
4 Eine grafische Darstellung dieser Distanzen finden Sie in Schroll (2004).
5 In diesem Abschnitt wird beschrieben, wie ein Tierarztbesuch aus Katzensicht typischerweise aussieht. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen verschiedenen Katzen und es spielt eine große Rolle, wie die Abläufe in der Praxis aussehen. Hier wird gezeigt, wie es leider häufig vonstatten geht. Im späteren Kapitel über die katzenfreundliche Tierarztpraxis werden Vorschläge zu Praxis- und Ablaufgestaltung gemacht, wie sie in einigen Vorreiterpraxen bereits umgesetzt werden.
6 Zusammenfassender Bericht z.B.: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/forschak/1728381/vom 12.4.2012.
Wenn Sie mit diesem Buch arbeiten, wünschen Sie sich möglichst entspannte Tierarztbesuche für Ihre Katze und sich selbst. Häufiger Anlass für die Beschäftigung mit diesem herausfordernden Trainingsthema ist eine akute Erkrankung der Katze oder ein anstehender Tierarztbesuch. Sie erhoffen sich vermutlich durch gezieltes Training schnell Erfolge. Oder vielleicht sorgen Sie sich nach einer bestimmten Diagnose akut um Ihre Katze und wollen durch das Training die Behandlungsfähigkeit sicherstellen? Großer Ehrgeiz, Druck und Anspannung seitens des Menschen können das Tierarzttraining erschweren. Denn Sie werden gemeinsam mit Ihrer Katze Dinge üben, die Ihrer Katze zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich mindestens suspekt sind, ihr möglicherweise sogar Angst machen. Die Kunst wird darin bestehen, die individuellen Grenzen Ihrer Katze nur anzutippen und sie langsam und sanft immer weiter auszudehnen. Eine Überforderung im Training wäre kontraproduktiv und würde weder Ihrer Katze noch Ihnen helfen.
Es ist nicht möglich, die späteren Übungsvorschläge im Detail so zu beschreiben, dass der Trainingsaufbau für jede einzelne Katze perfekt geeignet ist. Jedes Katze-Mensch-Team bringt ganz eigene Voraussetzungen mit und wird an unterschiedlichen Punkten beginnen und verschiedene Ziele verfolgen. Sie werden aber lernen, wie Sie den richtigen Ansatzpunkt für Ihre Katze finden.
Bevor wir zu den eigentlichen Übungen kommen, werden wir uns zunächst mit Vorüberlegungen zum Training, seiner Planung und verschiedenen Trainingstools beschäftigen. Die nächsten Kapitel sollen Ihnen dabei helfen zu lernen und zu entscheiden, welche Übungen für Ihre Katze geeignet und sinnvoll sind und wie Sie das Training am besten aufbauen. Ich möchte Sie ermutigen, sich in diesem Buch das nötige Grundwissen und viele Denkanstöße und Anregungen zu holen. Sie werden feststellen, dass Sie einen Teil der Trainingsanleitungen problemlos übernehmen können. Aber bitte bleiben Sie zu jedem Zeitpunkt aufmerksam und führen nicht einfach „blind“ aus, was Ihnen hier vorgeschlagen wird. Es wird sicherlich nötig sein, die Trainingspläne an der einen oder anderen Stelle an Ihre Katze anzupassen.
Das Ziel von Tierarzttraining besteht darin, die Umstände und Prozeduren der tierärztlichen Untersuchung oder Behandlung so mit der Katze zu üben, dass die Katze diese gut aushalten kann und weitgehend kooperiert. Als Konsequenz ist die Katze besser behandelbar und erfährt eine freundlichere Behandlung, weil Zwangsmaßnahmen überflüssig werden. Der Vorteil für die Katze liegt also in der Reduktion von Angst und Stress, was für die Katze unmittelbar spürbar sein wird.7 Leider kommt jetzt die schlechte Nachricht: Wir können nicht mit jeder Katze alles erfolgreich trainieren. Ein Faktor, der uns das Leben leichter oder schwerer machen kann, ist die Belohnbarkeit der jeweiligen Katze. Probleme auf dieser Ebene lassen sich allerdings in der Regel mit einfühlsamem und kreativen Training lösen und wir kommen darauf in einem späteren Kapitel8 zurück. An Grenzen stoßen wir möglicherweise in den folgenden zwei Konstellationen:
Grenze eins: akute Erkrankung
Wenn eine Katze akut erkrankt oder verletzt ist und unbedingt medizinische Versorgung benötigt, ist keine Zeit für Training. Zwangsmaßnahmen können angebracht sein, wenn die Gesundheit oder gar das Leben der Katze auf dem Spiel stehen. In einer solchen Situation kann es nur darum gehen, Schadensbegrenzung zu betreiben und etwa durch die Wahl einer besonders katzenkundigen und katzenfreundlichen Tierarztpraxis die schlechten Erfahrungen auf ein Minimum zu reduzieren.
Leidet Ihre Katze an einer Erkrankung, die regelmäßige Untersuchungen erforderlich macht, die keinen Aufschub dulden, wird es etwas schwieriger. Gerade, wenn hochwertige Belohnungsmöglichkeiten fehlen, brauchen viele Übungen einfach wirklich Zeit. Diese ist dann aufgrund der Notwendigkeit zur Behandlung nicht gegeben. In diesem Fall können Sie das Training auf verschiedenen Ebenen angehen. Zum einen üben Sie mit Ihrer Katze eben einfach so gut es geht bis zum nächsten Termin und setzen dabei bestimmte Schwerpunkte. (Die „geliebte Matte“ wäre in jedem Fall eine gute Übung, aber vielleicht haben Sie auch gute Chancen auf ein Transportboxtraining? Möglicherweise ist es zwar utopisch, Kooperation für spezielle Untersuchungen zu üben, aber wie wäre es, wenn das Festgehaltenwerden für Ihre Katze richtig positiv verknüpft wäre?) Zum anderen können Sie, vielleicht auch parallel, die Dinge anpacken, die vermutlich mehr Zeit brauchen werden und die dann beim überüber- oder überüberübernächsten Tierarztbesuch angewandt werden können (z.B. die Gewöhnung an den bei der Blutabnahme benutzten Stauchschlauch oder an Geräusch und Berührung einer kleinen Schermaschine).9
Grenze zwei: scheue Katze
Schlecht sozialisierte Katzen, denen das Grundvertrauen in den Menschen fehlt, sowie traumatisierte Katzen, die dieses Vertrauen aufgrund schlechter Erfahrungen verloren haben, setzen dem Tierarzttraining oft Grenzen und lassen es manchmal schier unmöglich erscheinen. Dabei sind gerade diese Katzen es, für die das Training so wertvoll sein könnte.
Als ich begann, mich nicht zuletzt aufgrund eigener Betroffenheit intensiver mit dem Tierarzttraining zu beschäftigen, habe ich ein Seminar bei Ken Ramirez10 besucht, einem amerikanischen Tiertrainer mit jahrzehntelanger Erfahrung in der Arbeit mit Zootieren. Auch für diese stellt die tierärztliche Untersuchung ja etwas potenziell Beängstigendes dar, gleichzeitig sind die Tiere für die Behandler in der Regel in ihrer Abwehr gefährlicher als Hauskatzen. Im Zuge des sogenannten husbandry training lernen Hyänen, Delfine, Elefanten und andere Tiere, dass Kooperation bei körperlichen Untersuchungen sich lohnt. Nach dem Seminar habe ich Ken Ramirez auf die Problematik angesprochen, dass viele Katzen größere Schwierigkeiten mit Berührungen haben. Im Zuge dieses Gesprächs sagte er sinngemäß die folgenden Sätze, die mich im ersten Moment nahezu erschüttert haben:
„Man muss immer abwägen, wie viel Stress das Tierarzttraining für das Tier bedeutet. Ist es für das Tier wirklich stressiger, einmal im Jahr oder alle paar Jahre zwangsbehandelt zu werden als täglich Training an seinen Grenzen erdulden zu müssen?“
Diese Aussage hat mich damals sehr mitgenommen, weil ich zu diesem Zeitpunkt dachte, ich könnte wirklich alles trainieren, wenn ich nur die richtigen Wege kennen lerne. Ich fand das recht desillusionierend. Und auch beängstigend, weil ich selber mit einer misstrauisch veranlagten Katze und einem schlecht sozialisierten Kater zusammen lebte (und das auch immer noch tue). Inzwischen hat sich meine Erschütterung gelegt. Die Aussage von Ken Ramirez hat mich für den Stress sensibilisiert, den gut gemeintes Training für ein Tier bedeuten kann. Das Zusammenleben mit dem Menschen ist für scheue Katzen anstrengend und schwierig. Es fällt ihnen oft schwer, im Alltag Sicherheit aufzubauen, und sie brauchen viel Zeit, um sich entspannen zu können und Vertrauen zu entwickeln. Unsere Hauptaufgabe im Zusammenleben mit einer solchen Katze besteht darin, ihr ein sicheres Zuhause anzubieten, ihr wachsendes Vertrauen als Geschenk zu würdigen und ihr ein möglichst angstfreies Leben zu ermöglichen.