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Luiz Heinrich Mann (1871-1950) war ein deutscher Schriftsteller aus der Familie Mann. Er war der ältere Bruder von Thomas Mann. Ab 1930 war Heinrich Mann Präsident der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, aus der er 1933 nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ausgeschlossen wurde. Mann, der bis dahin meist in München gelebt hatte, emigrierte zunächst nach Frankreich, dann in die USA. Im Exil verfasste er zahlreiche Arbeiten, darunter viele antifaschistische Texte. Seine Erzählkunst war vom französischen Roman des 19. Jahrhunderts geprägt. Seine Werke hatten oft gesellschaftskritische Intentionen. Die Frühwerke sind oft beißende Satiren auf bürgerliche Scheinmoral. Mann analysierte in den folgenden Werken die autoritären Strukturen des Deutschen Kaiserreichs im Zeitalter des Wilhelminismus. Resultat waren zunächst u. a. die Gesellschaftssatire "Professor Unrat", aber auch drei Romane, die heute als die Kaiserreich-Trilogie bekannt sind. Im Exil verfasste er die Romane "Die Jugend des Königs Henri Quatre" und "Die Vollendung des Königs Henri Quatre". Sein erzählerisches Werk steht neben einer reichen Betätigung als Essayist und Publizist. Er tendierte schon sehr früh zur Demokratie, stellte sich von Beginn dem Ersten Weltkrieg und frühzeitig dem Nationalsozialismus entgegen, dessen Anhänger Manns Werke öffentlich verbrannten.
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Seitenzahl: 13
Es wird nun schon wieder bald ein ganzes Jahr her sein, daß ich auf meinem Wege die Frau fand, mit der ich seither bis vor kurzem mein Leben geteilt habe. Mir scheint diese Episode um so merkwürdiger, als sich die Empfindungen, welche das Mädchen unzweifelhaft in mir weckte, nicht wiederum in bezug auf sie selbst als Gegenstand äußerten: sie war für mich nur da, um mir eine Erinnerung zu verkörpern, die im Laufe einer langen Zeit nicht verblaßt, aber vergeistigt und nahezu gestaltlos geworden war. Ich sah, während ich mit ihr zusammen lebte, ein ganz anderes Wesen an meiner Seite als dieses Mädchen, das ich mir eines Tages vom Pflaster aufgegriffen hatte.
Ich begegnete ihr damals in einer Straße, die ich zu jener Zeit täglich in derselben Abendstunde zu passieren hatte. Da die Passanten – und zumal solche wie dieses Mädchen – in solcher von einer Hauptverkehrsader abgezweigten Nebenstraße zu bestimmten Stunden meist die gleichen zu sein pflegen, so ist es wahrscheinlich, daß sie mir schon früher zu Gesichte gekommen ist. Aber erst damals wurde meine Aufmerksamkeit, durch etwas Zufälliges und Absonderliches, auf sie gerichtet.
Wie ich an ihr vorüberschreiten wollte, konnte ich von hinten – sie stand vor einem Schaufenster – bemerken, daß sie mit der Hand vorn an den etwas auseinandergeklappten Stehkragen ihres Jacketts fuhr. Sie tat dies mit einer eigentümlich eckigen und dabei doch angenehmen, vielleicht ein wenig kindlichen Armbewegung, welche sofort eine unbestimmte und, wie mir schien, etwas wehmütige Erinnerung in mir weckte. Es war mir, als müßte ich schon einmal irgendwann jemand ganz auf diese selbe Art sich gegen den Zugwind schützen gesehen haben.