Tine - Herman Bang - E-Book

Tine E-Book

Herman Bang

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Beschreibung

Eine Liebe in Zeiten des Krieges: Herman Bang erzählt die bewegende Geschichte eines jungen Mädchens, das sich angesichts des Sterbens in ein Dickicht aus Konvention und Pflichtgefühl, leidenschaftlicher Sehnsucht und Lebensgier verstrickt.

Tine, die Tochter des Küsters auf einer malerischen dänischen Ostseeinsel, ist bei dem jungen Ehepaar Berg ein gern und häufig gesehener Gast. Vor allem mit Frau Berg verbindet sie eine innige Freundschaft. Doch dann bricht jäh der Krieg in die Idylle ein: Tines friedliches Heimatdorf liegt plötzlich am Rand eines Schlachtfelds, Flüchtlinge und Verwundete werden einquartiert, während der Kanonendonner immer näher rückt. Inmitten der spannungsgeladenen Atmosphäre wird sich Tine ihrer lange verdrängten Gefühle für Berg bewusst …

Vor dem Hintergrund des deutsch-dänischen Krieges 1864 entfaltet sich eine leise, melancholische Liebesgeschichte, in verhaltenen Gesten und zaghaften Blicken zunächst nur angedeutet. Eindringlich und mit großer stilistischer Feinheit schildert Herman Bang die schmerzhafte Sehnsucht und stumme Verlorenheit seiner Protagonistin.

  • Neuübersetzung zum 100. Todestag Herman Bangs am 29.1.2012

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Seitenzahl: 274

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MANESSE BIBLIOTHEK DER WELTLITERATUR

Inhaltsverzeichnis

MANESSE BIBLIOTHEK DER WELTLITERATURKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10VORWORT ZUR ERSTEN AUSGABEANMERKUNGENNACHWORTCopyright

1

Noch immer lief Tine weinend neben dem Wagen her, während Frau Berg die letzten Worte laut in die Dunkelheit und den Wind hinausrief:« Dann bringen Sie noch alles in Ordnung – in der blauen Kammer – heute Abend … heute Abend noch.»

« Ja – ja», antwortete Tine und konnte vor Tränen nicht sprechen.

« Und grüßen Sie mir – und grüßen Sie!», rief Frau Berg schluchzend, der Wind verschluckte ihre Worte.

Noch ein letztes Mal sprang Tine heran und griff nach ihrer ausgestreckten Hand, bekam sie aber nicht mehr zu fassen. Dann blieb sie stehen; und wie ein großer Schatten glitt der Wagen schnell ins Dunkel hinein, und schon war er nicht mehr zu hören.

Tine ging durch die Allee und über den Hof, wo die Jagdhunde leise winselten, zur Forstmeisterei zurück. Sie öffnete die Tür zum Flur, der so leer wirkte mit den kahlen Kleiderhaken, und auch Herlufs1 Spielzeugecke war ausgeräumt. Sie ging in die Küche, wo das Talglicht zwischen den Resten vom Teetisch glomm.

In der Gesindestube saßen die Leute schweigend am Tisch, Lars am oberen Ende.

« Ich soll grüßen», sagte Tine mit erstickter Stimme, und wieder wurde es still. Nur Maren, die mit der Schürze über dem Kopf, einem wiegenden Bündel gleich, am Ofen saß, heulte klagend auf.

« Ja», sagte Lars nach einer Weile nachdenklich.« Jetzt sind sie fort», sagte er, und der Häusler nickte bekräftigend.

« Dann müssen wir noch diese Sachen zum Forstmeister hinübertragen», sagte Tine leise wie zuvor und ging, begleitet von Sofie, der Hausmagd. Im Flur öffnete sie die Tür zur Wohnstube. Auf dem leeren Tisch brannte die Lampe still vor sich hin, und die Türen zu den anderen Zimmern, die wie drei stumme und dunkle Schlünde vom verlassenen Raum wegführten, standen offen.

« Den Nähtisch hat sie mitgenommen», sagte Sofie.

« Ja», seufzte Tine. Der Platz auf dem Sockel war leer.

« Und auch die Bilder», sagte Sofie und zeigte zur Wand.

Auf der Tapete waren rings um den Spiegel helle Flecken, Spuren der abgenommenen Porträts.

Wieder war Tine den Tränen nahe, und sie wandte sich ab:«Komm, packen wir es an», sagte sie, und sie stiegen mit dem Licht die Treppe zur Schlafkammer hinauf. Die zwei Betten standen nebeneinander, unter einem einzigen Überwurf – jenem, den Tine zur letzten Weihnacht gestrickt hatte; am Fußende stand Herlufs Gitterbett, leer.

Beim Anblick des leeren Bettes heulte Sofie wieder los, das Talglicht in der Hand. Sie sprach von jener Zeit, als«der Junge»klein war; sie war Herlufs erstes Kindermädchen gewesen, und für sie gab es keinen anderen Jungen auf der Welt.«Kaum war er geboren, da wurd’ ich sein Kindermädchen», sagte sie in ihrem Jütländisch, einem seltsam gepressten Idiom. Es schien ihr schwer zu fallen, den Mund richtig zu öffnen, und die allermeisten E’s verschluckte sie.«Er wollt’ nie von jemand anders als von mir getragen werden und dann von der Gnädigen» – sie schniefte nach jedem Wort;«nein, das wollt’ er nicht… Ich hab’ ihn manchmal zur Gnädigen rübergetragen», sagte sie,«morgens … denn dort wollt’ er hin» – sie lächelte plötzlich zwischen den Tränen –«und warm wollt’ er’s haben, der Schlingel», schloss sie und heulte wieder los.

« Ja», sagte Tine, die auf der Bettkante saß.

Sie dachte an die Wintermorgen, als sie, sobald es dämmerte, ein Tuch um den Kopf gebunden, zum Forstmeisterhof hinunterlief und dreimal vorsichtig an die Schlafkammertür klopfte, um Frau Berg und Herluf zu wecken, die beide noch süß schlummerten. Zu Hause hatte sie schon fast das halbe Tagwerk getan.

Schläfrig richtete sich Frau Berg in ihrem Bett auf.«Tine, Tine», rief sie, und schlug mit den Händen aufs Federbett.«Kaffee, Ka-ffee», schrie sie mit ihrer frohen Stimme, dass es unten in der Küche zu hören war und Herluf vor Freude in seinem langen Nachthemd wie ein Eichhörnchen im Bett herumzuhüpfen begann.

Während sie plauderten, streifte Tine die Schuhe ab, stieg am Fußende in Bergs Bett – die Fensterscheibe war vereist, so kalt war es – und zog die Bettdecke hoch, um sich zu wärmen. So saßen und schwatzten sie stundenlang. Herluf war«der Chinese»mit den gespreizten Fingern, er schlug Purzelbäume über alle Bettdecken hinweg. Frau Berg und Tine lachten, dass die Betten nur so wackelten. Und Sofie stellte sich mit einem Kaffeerest in der Tasse in die Tür, um am Spaß teilzuhaben. Doch dann konnte Sofie in Herlufs Namen plötzlich gekränkt sein, und sie sagte:«Das Kind soll hier doch nicht herumhopsen und den Clown machen», sagte sie und zog ihn aus dem Bett, um ihn in die Wohnstube zu tragen und in der Wärme anzukleiden.

Frau Berg und Tine blieben, munter drauflosplappernd, in den Betten – Frau Bergs Mundwerk stand niemals still, wenn sie mit Küsters Tine zusammen war –, bis Tine plötzlich mit einem Satz aus dem Bett sprang: Die Haustür war gegangen.

« Der Forstmeister!», rief sie und bekam in der Eile kaum die Schuhe an.

« Schließen Sie, schließen Sie», rief Frau Berg,« schließen Sie doch ab!», und Tine schaffte es, den Schlüssel umzudrehen.

« Ja, ja, ich zieh mich an, ich zieh mich an, Henrik», rief sie Berg zu, der anklopfte, und sie ließ Tine mit dem Waschgeschirr rasseln, sodass er glauben musste, sie wäre schon aufgestanden.

Sofie stand noch immer mit der Kerze vor dem Gitterbett, redete von ihrem Herluf und vergoss Tränen über Gutes und weniger Gutes.«Aber ein Trotzkopf war er, jawohl», sagte sie.«Ja, das war er», wiederholte sie.

Tine saß auf der Bettkante und lächelte: Ja, was Frau Berg nur für Einfälle hatte – so lustige Einfälle. Sie dachte an jenen Morgen, als der Forstmeister, just wie sie im Bett saßen und munter drauflos plauderten, zur Haustür hereinkam. Da packte Frau Berg sie blitzschnell an den Beinen – der Forstmeister war schon auf der Treppe – und zog sie unter die Bettdecke. Schon war er an der Tür.«Still, still», flüsterte Frau Berg… Bereits hatte er das Zimmer betreten – Tine lag mucksmäuschenstill. Und Frau Berg erzählte und unterhielt sich mit dem Forstmeister, der zuhörte, lachte und sich setzte – mitten auf sein Bett.

« Du setzt dich auf Tine, du setzt dich auf Tine», schrie Frau Berg atemlos vor Lachen … Mit knallrotem Kopf und den Tränen nah sprang Tine aus dem Bett und lief aus dem Zimmer, die Treppe hinab, geradewegs zur Schule. Sie blieb der Forstmeisterei drei Tage lang fern, so sehr schämte sie sich.

Tine erhob sich, und sie legten das Bettzeug des Forstmeisters vor die Tür.«Nimm jetzt das Licht», sagte Tine, sie mochte die leere Kammer nicht mehr sehen.

Sie trugen Decken und Matratzen die Treppe hinunter und durch die Räume, deren Türen hinter ihnen offen blieben.

« Es ist so leer, als wären wir alle abgereist», sagte Sofie.

« Ja», sagte Tine, die eine Matratze schleppte.

In der blauen Gästekammer war es kalt wie in einem Keller; seit letztem Sommer hatte niemand dort geschlafen. Das eine Gästebett sollte hinaus, und das andere wurde an die Wand geschoben. Während sich Tine und Sofie immer noch mit Bettzeug und Waschgeschirr abmühten, kamen die alten Bøllings, um ihre Tochter abzuholen.

Als Madam Bølling die Wohnstube betrat, in der es von allen Seiten zog, blieb sie auf dem Läufer stehen und sah sich mit Tränen in den Augen um.«Ja – jetzt sind sie fort», sagte sie und faltete die Hände. Die beiden Alten setzten sich still auf ihre gewohnten Plätze, zwei Stühle, die etwas abgerückt am Sofatisch standen – im Forstmeisterhof wollten sie nicht auf dem Sofa sitzen, das war Frau Bergs Platz. Währenddessen ging Tine ständig ein und aus, und Sofie trug Feuerholz zum blauen Kachelofen. Sie hatte inzwischen«das Kopftuch»umgebunden. Das Kopftuch war das Zeichen dafür, dass die Abreise ihr«Kopfweh»hervorgerufen hatte. Sie bekam es regelmäßig an fünf der sieben Wochentage und verspürte dann herzlich wenig Lust, mehr von sich zu geben als«ja»oder« nein»oder einen Handgriff über das Allernotwendigste hinaus zu tun. Nach der großen Wäsche ruhte sich Sofie acht Tage lang in«ihrem Kopfweh»aus und schikanierte das ganze Haus.

Tine erschien in der Tür.«Wollt ihr mal sehen», sagte sie,«jetzt sind wir fertig.»

« Ja, das wollen wir», antwortete der alte Bølling, und sie gingen durch des Forstmeisters Stube zur blauen Kammer, wo das eine schmale Bett verlassen an der hellblauen Wand stand. Es war so kalt, dass es die beiden Alten schauderte. Alle drei warteten jetzt vor dem Bett – Tine hatte Frau Bergs Bild über dem Kopfende aufgehängt.

« Na, hier liegt der Forstmeister ja wahrhaftig herrschaftlich», sagte Bølling und versuchte zu lächeln. Alle drei drohten ihrem Kummer zu erliegen.

« Ja, wenn es jetzt schön warm wird», sagte die Madam,«wenn es hier warm wird.»

Sie gingen in die Wohnstube zurück und setzten sich wieder, Tine auf den Sockel, wo das Nähtischchen gestanden hatte. Sie sagten nicht viel, nur einen vereinzelten Satz ab und an, während sie dasaßen und alle den gleichen Gedanken nachhingen.

Madam Bølling schüttelte immerfort den Kopf und schaute sich in der Stube um.«Ja – das war ein herrliches Haus, wahrlich ein herrliches Haus», sagte sie. Die beiden alten Bøllings gebrauchten unablässig das Adverb«wahrlich», das ihnen sozusagen von Handwerks wegen, Bøllings häufigem Umgang mit der Bibel, vertraut war.

Die Madam saß wieder eine Weile stumm da, bis ihre Gedanken eine andere Richtung nahmen.«Haben sie auch alles gut verpackt mitgenommen?», fragte sie.«Und die Brombeeren, waren die an der Reisetruhe auch gut festgezurrt?»

Die Brombeeren, das waren zwei Töpfe Marmelade, die Madam Bølling eingemacht hatte, damit sie Frau Berg nach Kopenhagen mitnehmen konnte.«Denn das ist ihre beste Marmelade, Tine», hatte die Madam gesagt,«so ist es … und es heißt, dass sie in der Stadt keine Brombeeren haben.»

« Der Forstmeister persönlich hat sie festgezurrt, Mutter», sagte Tine.

« Ja, wir haben hier unten manchmal», Madam Bølling fuhr in dem gleichen leisen Ton fort, « Brombeeren bekommen – und dann Marmelade… zum Zwieback», schloss sie nach einer Pause.

« So war es», sagte Tine und starrte vor sich hin. Sie dachte an jene Abende, als – zumeist wenn der Forstmeister fort war – nach ihnen in der Schule geschickt wurde und sie sich hinunter zum Tee begaben und Marmeladentöpfe und Zwieback auf den Tisch kamen und sie von den Untertellern aßen, während sie drauflosschwatzten und lachten und sangen.

« Ein Lied, Tine, ein Lied», rief Frau Berg und schlug auf die Sofalehne; und sie begannen mit«Herr Peder»und«Flieg, Vogel, flieg, über Fure-Sees Wogen»und«Im Königshain»,2 bis daraus ein Walzer wurde und sie über den Teppich schwebten und Frau Berg atemlos nach dem Milchpunsch verlangte, der in einem Steinkrug gebracht wurde.

« Ja, die sollten schon für einige Abende ausreichen, Tine», sagte Madam Bølling, die noch immer an die Brombeeren dachte,«sodass sie es in der Stadt haben können wie hier bei uns.»

Und der alte Bølling, der mit gefalteten Händen dasaß und nicht hörte, was die anderen sagten, sondern seinen eigenen Gedanken nachhing  – jetzt waren dreizehn aus dem Kirchspiel eingezogen, hatte er ausgerechnet –, der sagte:« Ja, ja, Gottes Wille geschehe», sagte er und erhob sich.

Die Alten wollten nach Hause: Tine wolle ja noch bleiben und auf den Forstmeister warten. Aber Tine ließ sie nicht ziehen, erst mussten sie ihr helfen; sie ertrug die hell leuchtenden Flecken rings um den Spiegel nicht, da musste man etwas aufhängen – etwas, das die Flecken bedeckte. Sie holte«König Frederik», die« Schlacht bei Isted»und«Fredericia»3 aus dem Wintergarten, die beiden Alten hielten die Bilder, während Tine den Spiegel von der Wand nahm. Madam Bølling stand mit den Helden von Isted da, die mit der weißen Binde um die Stirn weiterkämpften. Sie konnte den Blick nicht von ihnen wenden, und ein paar kleine Tränen fielen auf das Glas – sie dachte an jene, die jetzt ihre Gesundheit und das Leben verlören.

« Komm, Mutter», sagte Bølling und ergriff das Bild, aber auch er hielt es so lange, dass Tine es ihm aus den Händen nehmen musste. Die Bilder wurden aufgehängt, und die Alten, die schon die Mäntel anhatten, setzten sich wieder auf die zwei Stühle und betrachteten die Helden von Isted und«den König».

Tine war hinausgegangen und kam mit einem vierten Bild zurück. Es war ein Porträt König Christians als Thronfolger in der Uniform der berittenen Leibgarde, das in einem der Gästezimmer gehangen hatte. Sie schlug einen Nagel unter König Frederiks Bild ein und hängte es an den leeren Platz.

Sie verharrten alle drei eine Weile still vor den vier Bildern.

« Ja, ja, das ist ganz gut, Tine», sagte dann Bølling,« er ist doch der König.»

Die Alten traten in den Flur hinaus, die Talgkerze in der Küche war beinahe erloschen. Tine stellte das Licht ins Fenster, sodass es den Eltern auf dem Hofplatz ein wenig leuchten konnte. Aus dem Waschhaus war Spektakel zu hören. Es war Maren, die sich vor lauter Kummer abrackerte und inmitten der schwärzesten Nacht scheuerte, während sie zur Melodie«Wer weiß, wie nahe mir mein Ende!»4 sang, dass es über den Hof gellte:

« Der König liegt jetzt auf der Bahre und schlummert süßen Todesschlaf. Des Volkes Dankestränen fließen viele Jahre. Als Dank ans Volk des Königs kühner Mund gar oft getan hat kund: Ich versage nicht in der Gefahren Stund!»5

Die Eltern waren fort, Tine blieb aber auf der Treppe stehen. Sie horchte nach den Jagdhunden, die in ihrem Zwinger knurrten. Plötzlich lächelte sie: Sie wollte sie holen – das würde den Forstmeister freuen, wenn er heimkam. Dann würde ihn doch etwas Lebendiges begrüßen. Und sie überquerte den Hofplatz und öffnete die Türen zur Scheune und zum Hundezwinger. Ajax und Hektor sprangen leise bellend an ihr hoch und liefen dann ihr voran durch die offene Tür ins Haus. In der Wohnstube setzte sich Tine auf den leeren Sockel. Ihr war, als sei sie noch nie so traurig, so beklommen und betrübt gewesen wie jetzt, während sie hinaus auf den verlassenen Hof starrte. Noch einmal flackerte die Kerze im Küchenfenster über das Weiß der Scheunenwand – dann verlöschte auch sie, und Tine sah nur noch den Schatten des Walnussbaums in der Mitte des dunklen Hofs.

Gestern Abend war es gewesen, Frau Berg saß hier bei ihr auf dem Sockel und schaute zum kahlen Baum hinaus.«Ob ich wieder daheim bin, wenn er blüht?», hatte sie gesagt und geweint und den Arm um Tines Hals gelegt.

Draußen im Waschhaus sang Maren unentwegt weiter, dass es im dunklen Hof schrill widerhallte:

« Drum wein ich, weinst auch du, drum ist der Freuden Türe zu; der Dank der Herzen bindet den Kranz, der blühen soll so flott: Erinnerung sich allzeit findet an Danmarks Frederik, der nun ruht bei

Gott!»

Tine saß da, die Hände im Schoß gefaltet, während Ajax und Hektor mit großen Augen ihr zu Füßen auf dem Teppich lagen.

Die Hunde sprangen auf, und der Wagen fuhr vor. Es war der Forstmeister. Er betrat den Flur, wo Sofie mit der Kerze stand, und er brachte Grüße von Herluf und der gnädigen Frau.« Und dann bin ich einberufen worden», sagte er knapp. Er betrat die Stube, Tine folgte ihm. Langsam löschte sie die Kerzen, eine nach der anderen, die sie auf dem Klavier angezündet hatte.«So kommt alles auf einmal», sagte Berg.

Das hatte auch Tine gedacht: Derlei kam immer auf einmal; und dann dachte und fragte sie:« Weiß es die gnädige Frau?»

« Ja – Jessen hat die Nachricht zum Dampfschiff gebracht.»

Sie setzten sich an den Tisch, den Tine gedeckt hatte, und begannen mit etwas matten, schleppenden Stimmen zu besprechen, wie jetzt alles werden sollte mit dem Betrieb und den täglichen Verrichtungen: Mit den Leuten würde es schwierig. Lars müsse vielleicht einrücken, und die meisten Häusler ebenso. Die Waldarbeit müsse wohl ruhen, größtenteils; es würden die Leute fehlen.

« So ist es», sagte Tine.

Sie sprachen über die Eingezogenen. Bald sei von jeder Hütte im Sprengel ein Mann betroffen. Von einem Tag auf den anderen würden sie von Haus und Hof geholt. Ja, beim Dachdecker Anders herrsche großer Jammer. Heute sei Ane mit ihren zwei Kleinen auf dem Arm in der Schule gewesen – sie habe geweint und geweint … Anders sei jetzt weg – darum weine sie …

Als sie das sagte, zuckte es auch um Tines Mund.

« Ja», sagte Berg,«die haben doch den Bruder  – mit weggeschossenen Beinen vom letzten Krieg …»

« Ja», sagte Tine leiser, und nach einer Pause:« Die Krüppel sind’s, die den Leuten Angst machen.»

Sie schwiegen eine Weile. Von Zeit zu Zeit näherten sich die Hunde bettelnd, doch sie beachteten sie nicht. Berg sprach wieder über den Betrieb. Eine Vertretung war ihm sicher. Den einarmigen Baron Staub konnte er jederzeit haben, der war disponibel.«Der hat sein Teil weg», sagte er,«durch einen Fehlschuss …»Und fast übergangslos sagte er, indem er sich an die Wand lehnte und ins Licht blickte:«Jetzt sind sie weit draußen, auf dem Wasser.»

Tine war es, als folge er ihnen mit den Augen übers Wasser, während er das sagte; und sie wollte unbedingt etwas sagen, das ihn aufmuntern, auf andere Gedanken bringen konnte.«Darum sitzt du wohl hier», sagte sie zu sich selbst,«es fehlt nur, dass du noch flennst.»Aber ihr fiel nichts ein. Zwischen dem Forstmeister und ihr wurden ohnehin nie allzu viele Worte gewechselt; nie hätte sie es gewagt, mit ihm so offen zu sprechen wie mit dem Amtmann oder dem Kaplan bei Gøtsches oder jedem anderen, vor dem man nicht solchen«Respekt»hatte. In der Forstmeisterei redete man immer nur mit Frau Berg. Schließlich sagte sie in einem Ton, der munter klingen sollte:«Und wir, die wir uns so abgemüht haben mit der blauen Kammer – das hätten wir uns ersparen können, Sofie und ich!»Sie erhob sich.

« Ist die denn schon hergerichtet? Sie denken aber auch an alles, Tine.»Berg ergriff ihre Hand, und Tine schoss das Blut ins Gesicht – das geschah aus geringstem Anlass, wenn sie im Forstmeisterhof war.

« Der Forstmeister sollte sich die Kammer ansehen», sagte sie, und sie öffnete die Tür. Doch sie blieb plötzlich im Arbeitszimmer stehen, und er betrat allein die Gästekammer.

« Wie angenehm und warm es hier ist», sagte Berg, als er zurückkam.

Tine wollte jetzt gehen. Sie fühlte sich so seltsam beklommen, als wären sie zu zweit allein im Haus – im verlassenen Haus. Aber der Forstmeister trat an den Tisch und sagte:«Die neuen Zeitungen berichten von der Beisetzung. Wollen wir das nicht erst lesen.»

Für Tine war es ein Fest, wenn der Forstmeister vorlas, aus den Zeitungen, sobald diese mittwochs und samstagabends eintrafen, oder aus einem der Bücher aus dem Bücherschrank – aus Oehlenschlägers6 gesammelten Tragödien.

« Ja, bitte», sagte sie,«aber auch Sofie würde sicher gern zuhören.»Und sie ging hinaus, um das Mädchen zu holen, das schlafend mit vermummtem Kopf neben dem Herd saß und ihr jetzt in die Stube folgte, um sich in die Ecke beim Bücherschrank zu setzen, wo sie so oft zugehört hatte, wenn vorgelesen wurde.

Langsam öffnete Berg die schwarzumrandete Zeitung.«Jetzt hat er seinen Frieden», sagte er leise und bewegt. Er begann halblaut den Bericht über«des Königs letzte Reise»7 vorzulesen. Im ganzen Haus war kein Laut zu hören – außer seiner gedämpften Stimme.

Tine folgte den Worten nicht; sie hörte nur die Stimme, die ihr von so vielen stillen Abenden her vertraut war, und wieder sah sie Frau Berg vor sich, wie sie dort unter der Lampe saß, und hörte sie lachen, wie sie über Tines Tränen lachte. Tine, die so lebenslustig war, konnte wahre Tränenströme über Büchern vergießen  – Tränen, die jetzt wieder hervorquollen, eine nach der anderen…

« Bald wurden Laternen und Fackeln angezündet, die des Königs letzte Reise erleuchteten, und die Bevölkerung entlang des Weges wetteiferte darin, dem Heimgegangenen die letzte Ehre zu erweisen. Von allen Türmen läuteten die Glocken, und jeder Hof und jedes Haus – bis zur ärmsten Hütte – hatte Kerzen in allen Fenstern stehen. Vielerorts hatten sich Gruppen stummer Zuschauer in der dunklen Nacht versammelt …»

Drüben in der Ecke ging Sofies Schniefen in lautes Weinen über, aber der Forstmeister las weiter:« … Dicht am Bahnhof hielt der Wagen an; die acht schwarz verhüllten Pferde wurden ausgespannt und von den Stallbediensteten, die ihrem hohen Herrn zu Fuß gefolgt waren, weggeführt; eine Segeltuchdecke wurde über den Wagen gespannt, um den Sarg vor dem leichten Regen zu schützen, der zu fallen begann. Husaren hielten die letzte Nachtwache für König Frederik den Siebten …»Berg hielt inne – seine Stimme wurde allmählich heiser.

Tine saß da und starrte vor sich hin. Sie dachte an die Tragödien, die sie wieder und wieder gelesen hatten, die von Axel und die von Königin Zoë …8 Im fünften Akt weinte jeweils auch Frau Berg, und kam dann etwas richtig Schönes, drückten sie einander unter dem Tisch die Hände.

Berg fuhr fort, über den Trauerzug und die Ansprache vorzulesen. Seine Stimme war so bewegt, dass man sie kaum verstehen konnte:«  … Er ist nun abberufen von seinem Volke, aber dessen Liebe begleitet ihn mit einem innigen Lebewohl bis ins Grab. Sie wird ihm von allen Kreisen der Bürgergesellschaft entgegengebracht, vom Krieger, der für ihn und das Vaterland auf der Walstatt kämpfte, von jenen, die in Friedenszeiten in ihrem Wirken erkennen, wie sehr sich unter ihm Unternehmensgeist und Wohlstand vermehrt haben; von des Bauern ehrbarem Stande, für den Frederik der Siebte vollendet hat, was Frederik der Sechste begonnen …»

« Ja», sagte Berg,«das ist wahr.»

Tine zuckte zusammen, als er innehielt, und als er wieder anhob, lauschte sie den Worten. Es war doch der letzte Abend, an dem sie lasen – für lange Zeit, für wie lange …

« … Und wieder wurde der Sarg von seinem Platze emporgehoben und in die Kapelle getragen, an deren Stufen die Herolde und ein Teil des Gefolges Aufstellung genommen hatten. Mit der Geistlichkeit an der Spitze bewegte sich die Prozession durch das Portal der Kapelle. Der Sarg wurde auf seinen Platz gesetzt, der Bischof von Seeland verrichtete auf einer schwarz bezogenen Kanzel ein Gebet, die letzte Bestattungszeremonie nahm ihren Lauf. Salutschüsse vor der Kirche verkündeten, dass König Frederik jetzt beigesetzt war.»

Sofie hielt die Hände vors Gesicht, Tine sah nur Berg an, der las:« … Unter Orgelklängen verließ das Gefolge schweigend die Kirche, und Ihre Majestäten kehrten nach Kopenhagen zurück. »Berg faltete die Zeitung zusammen; ohne dass gesprochen wurde, erhob sich Tine zum Abschied.

Darauf sagte Berg, indem er den Kopf an die Wand lehnte und ins Zimmer blickte – wie einmal zuvor:«Wie der Junge doch weinte, als er ins Boot kam.»

Sofie sollte Tine begleiten, und sie zündeten die Laterne an. Ihr flackerndes Licht fiel ungleichmäßig über Hecken und Weiden. Sofie redete über Weissagungen und Vorzeichen.«Es gab genug davon – es ist nicht allzu gemütlich im Forstmeisterhof, jetzt im Sommer – nachts hat es so gespukt.»Den ‹Wagen› allein habe sie dreimal gehört – sehr deutlich sei er das letzte Mal vorgefahren. Und als sie vor der Tür nachschauten, sei da nichts gewesen als Luft – nichts als Luft, das habe auch die gnädige Frau gesehen.« Und das weiß man ja», schloss Sofie schniefend,« was so eine Fuhre bedeutet… wenn man sie dreimal sehen konnte …»

Tine sprach nicht, und sie gingen durch das Dunkel. Der Hund in Pér Eriks’ Hof bellte auf, und bei den Jungfern Jessen erwachte der Mops.

« Ja, Gott möge seine Hand über den Herrn und die Gnädige halten», sagte Sofie in einem Ton, als würfe sie Erde auf beide.

Tine holte Luft wie eine, die fröstelnd erwacht.« Wie kalt mag es jetzt am Danewerk sein», sagte sie.

Sie hatten die Kurve beim Wirtshaus erreicht, und Tine wusste, dass Sofie Angst hatte, nachts dem Friedhof zu nahe zu kommen.«Jetzt kann ich allein weitergehen, Sofie», sagte sie.«Danke  – Sofie. Und dann sorgst du noch für den Tee des Forstmeisters, wie er es gewohnt ist – nicht wahr?»

« Ja – adieu, Jungfer Tine.»

« Leb wohl.»

Tine hörte die Hunde, die Sofies wegen erneut anschlugen, während sie selbst langsam heimwärts in Richtung Schule ging.

Tine klopfte an und hörte zuerst Dagge, der losbellte, und dann die Mutter, die aus dem Bett stieg und zur Tür kam.«Ich bin’s, Mutter», sagte sie. Madam Bølling schloss auf, im Nachthemd und einem Häubchen mit Bommeln.« Der Forstmeister ist einberufen», sagte Tine nur, als sie den Flur betrat.

« O mein Gott, o mein Gott», jammerte die Madam und ließ die Türen im Gehen bis zu Bølling hinein offen stehen;«o mein Gott – mein Gott!»

« Das war ja zu erwarten», sagte Bølling, der sich im Bett aufrichtete.

Tine musste berichten, wie alles vor sich gegangen war, dass Jessen die Nachricht zum Dampfschiff gebracht hatte.«So? Dann weiß sie es, dann weiß sie es», wiederholte die Madam die immer gleichen Worte.«Dann weiß sie es, die Ärmste …»

« Ja, Gott steh uns bei», sagte Bølling mit gefalteten Händen, als es endlich still wurde.

Tine war müde und wünschte gute Nacht. Sie vergewisserte sich, dass die Tür«der Schule»abgeschlossen war, ehe sie die Treppe hinaufstieg; als sie über den Dachboden ging, hielt sie die Kerze vorsichtig wegen des Strohs, auf dem die Gravensteiner ausgebreitet lagen. In der Kammer angelangt, stellte sie die Uhr und setzte den Goldlack vom Fensterbrett auf den Boden.

Unten plauderten die Eltern noch immer, es hörte sich fast an, als wären sie im selben Raum.« Ja, Gott steh uns allen bei», sagte der Vater noch einmal,«jetzt sind es vierzehn aus dem Kirchspiel. »Dann schliefen sie langsam ein, und Tine hörte ihre vertrauten Atemzüge, ruhig und fast im Takt.

Sie konnte nicht schlafen. Sie lag wach und dachte an einen Tag im Herbst – den letzten, den sie im Wald verbracht hatten, Forstmeisters und sie …

Sie wollten, den Proviant in einem Korb, zum Wäldchen hinab, um bei der ersten Lichtung den Forstmeister zu treffen. Unterwegs begegneten sie den Pächtersleuten von Rønhave, die in einer Kalesche zu Bischofs fuhren, und sie hielten mitten auf der Landstraße einen Schwatz, ehe sich ihre Wege wieder trennten.

Sie gingen weiter. Herluf suchte in allen Hecken nach Brombeeren. Die Büsche hingen voller Nüsse. Tine schnappte sich einige im Vorbeigehen. Sie wollten quer übers Feld, aber hinter ihnen kreischte Herluf. Er hatte sich in den Ranken verfangen und heulte, das Gesicht von Brombeeren schwarz verschmiert.

« Der Junge, der Junge», rief Frau Berg und bat Tine, ihn zu befreien; sie selbst lief die Anhöhe hinauf.«Kommt, kommt», rief sie von oben.« Wie herrlich es hier ist.»Es war heute, als könne man die ganze Insel in der klaren Luft erkennen  – Berg und Tal, so grün und so sanft. In der Ferne gingen die Wälder in bläulichen Wolken auf, und die Häuser lächelten aus dem vielfältigen Grün heraus. Der Himmel war grenzenlos.

« Wie herrlich, wie herrlich es hier ist», sagte Frau Berg.

Aber Herluf gab keine Ruhe; er wollte Fangen spielen; und sie liefen, liefen alle drei um den Hügel herum.

« Ja – dieses Land ist das allerherrlichste», rief Tine und hob den eingefangenen Herluf hoch in die Luft. Und alle drei ließen sich in den späten Klee plumpsen.

Sie begaben sich quer über die Wiese zum Wald zurück, wo sie sich in der kleinen Lichtung beim Holzstapel niederließen; hier schien noch immer die Sonne, und es war ziemlich mild. Sie holten die Häkelarbeiten aus den Taschen hervor und plauderten.«Allerhand, wie die von Rønhave jetzt zu Bischofs fahren – bereits zum zweiten Mal …»

« Zum dritten Mal – in zwei Wochen.»

« Und dann der Amtmann auf dem Hintersitz  – als vierter Mann zum L’Hombre9.»

Sie schwatzten drauflos; Herluf gab altklug seinen Senf dazu. Gut unterrichtet waren sie, denn in der Schule wusste man, wohin die Kaleschen rollten: Die Wege kreuzten sich just vor der Tür; man nickte sich zu, sagte«Guten Tag»oder hielt an, während Bølling, die Madam oder Tine auf die Treppe hinaustraten.

Dann schwiegen Frau Berg und Tine ein Weilchen und arbeiteten wieder still unter den Bäumen.«Wie sich der Wald doch in seinem Grün gehalten hat.»

« Das kommt vom Regen, dem vielen Regen im Sommer.»

« Ja.»Ob Tine sich aber an letztes Jahr erinnere  – beide ließen die Häkelarbeit sinken und sahen zum bräunlichen Waldrand hinüber  –, als der Wald im September gelb war. Sie unterhielten sich weiter über den Wald: Wann sie das letzte Mal hier waren, in diesem und in jenem Jahr …

« Nein, letztes Jahr hat man die Nüsse kaum ernten können.»

« Aber neunundfünfzig unternahmen wir im Oktober eine Waldpartie», sagte Frau Berg.

Etwas entfernt rief Herluf durch die Bäume, Tine müsse kommen, Tine müsse zu ihm kommen. Ein starker, krummer Ast hing wie eine Schaukel knapp über dem Boden. Herluf wollte aufsitzen, und Tine schaukelte ihn, dass er weinte und lachte. Dann sollte auch sie aufsitzen, und Frau Berg wollte sie schaukeln:«Aufsitzen, Tine, aufsitzen.»

« Er bricht, er bricht», rief Tine, während Frau Berg den Ast in Schwung versetzte, dass Tine die Röcke um die Beine flogen. Plötzlich schossen Ajax und Hektor aus dem Unterholz und bellten gegen Tines baumwollbestrumpfte Waden.« Der Forstmeister», kreischte sie, und – bums! – saß sie in der Hocke auf der Erde. Frau Berg musste derart lachen, dass sie sich an einen Baumstamm lehnte, ehe sie sich zum Abendessen gesellen konnte, das Tine auf einer Serviette ausgebreitet hatte.

Berg, der hinter seinen Hunden aus dem Gebüsch aufgetaucht war, saß schon auf einem Baumstumpf vor seinem Imbiss und unterhielt sich mit Tine über die Rosen daheim: Es sei bald an der Zeit, sich darum zu kümmern. Die Nächte seien doch schon kühl.

Der Garten war Bergs und Tines gemeinsames Wirkungsfeld. Der Forstmeister war Rosenliebhaber und kreuzte auch Fuchsien; Frau Berg, die ja aus Horsens stammte, wurde mit der Gartenarbeit nie recht vertraut. So war es meistens Tine, die ihm mit diesem und jenem zur Hand ging. Im Frühsommer war abends besonders viel zu tun. Frau Berg saß oben auf der Gartentreppe in ihrem Schal, schaute zu und unterhielt sich über die Wiese hinweg mit den beiden, die unten mit Gießkanne und Gartenschere zugange waren. Wenn es schließlich dämmerte, sah sie sie nur noch als ein Schattenpaar zwischen den Rosen.

Sie hatten eingepackt, um zu gehen. Herluf und Tine spielten auf der Lichtung Fangen, während Berg und Frau Berg Arm in Arm folgten. Sie traten auf die Landstraße hinaus. Hell und klar lag die Abendluft über den gepflügten Äckern – wie doch Tine hinter der Kurve lachte!

« In solcher Luft hört man Tine», sagte Berg und blieb stehen. Der Forstmeister fand stets, Tine habe eine Stimme fürs Freie, so keck wie der liebe Gott sie ihr gegeben hatte.

« Kommen Sie, Tine», rief Frau Berg,«wir wollen singen.»Sie legte den Arm um Tine, und singend gingen sie langsam weiter. Als sie ein paar Verse gesungen hatten, fiel Berg mit seinem gedämpften Bass ein, dass es über die Felder schallte:

« Flieg, Vogel, flieg über Fure-Sees Wogen! Schon naht die schwarze Nacht: Es sinkt die Sonne hinterm Dämmerwald, der Tag entweicht nun sacht. Flieg heim zu deinem Weibchen bald, den Jungen auf dem Ast; morgen, wenn du wieder kommst, erzähl, was du gesehen hast!»

Ringsum wurde Feierabend gemacht. Knechte und Häusler traten vor die Höfe; bedächtig rauchten sie ihre Pfeife.

« Guten Abend – guten Abend», tönte es von den Rauchern friedlich auf den Weg hinaus.

« Guten Abend, Anders Nils. – Guten Abend, Lars Peters.»Tine grüßte sie alle beim Namen. Bei Pér Eriks blieb sie kurz stehen, der Alte war von Gicht geplagt.«Nun, wie geht’s?», fragte sie zum Tor hinauf.

« Ja-a, doch immer etwas besser», antwortete der Schwiegersohn langsam.

« So, dann Gott sei Dank. Und gute Nacht, Hans Lorents», sagte Tine und ging weiter.

Die anderen sangen noch immer, und Herluf hatte den Vater an der Hand gefasst. Vor ihnen lagen Kirche und Schule. Hinter dem alten Turm begann sich der Himmel rot zu färben.

« Flieg, Vogel, flieg über Fure-Sees Kräuseln! Liebe ruft dich nach Haus; lass dich nieder in des Laubes Säuseln, und schmettre deine Liebe hinaus! Könnte wie du im Äther ich schwimmen, wüsste ich schon, wohin sie führte, die Flucht; doch kann im Hain ich nur seufzen und sinnen, das ist meiner Liebe Frucht.»

Sie schwiegen. Das letzte Stück Weges bis zur Schule gingen sie stumm an den Hecken entlang. Die Häuslerfrau Sine, die ihre Kuh ein letztes Mal am Wegrand grasen ließ, ehe sie das Tier heimtrieb, knickste, den Strickbeutel in Händen, als sie an ihr vorbeigingen.

Auf der Treppe vor der Schule saß der alte Bølling mit seiner Pfeife, er kam die Stufen herab und begrüßte sie. Den Strickstrumpf in der Hand, erwartete sie die Madam in der Tür: Sie habe heute frisch gebackene Butterkringel; Frau Berg und Herluf stiegen hinauf und setzten sich auf die Bank, während Bølling und Berg unten stehen blieben und sich über die Holzauktion unterhielten.

Am Teich unten wurde die Schmiede geschlossen, und oben vor dem Wirtshaus nahm Madam Henrichsen breit und wichtig auf ihrer Bank zwischen den beiden weißen Säulen Platz. Sie grüßten einander alle über den Platz hinweg  – auch den beleibten Schmied Knud, der mit seinem Hund nach Hause ging.

Es war, als ob in dieser Nachbarschaft alle gedeihen und kräftig und gesund werden müssten, so wohlgenährt wie sie waren, bei Bøllings, im Wirtshaus und in der Schmiede. Glockengeläute setzte ein, und alle schwiegen. Nur Berg und Bølling plauderten leise. Sine trieb ihre Kuh gemächlich über den Platz zur Tränke. Sie soff und brüllte dumm und lang über den Teich.

Die Glocken verstummten.

« Dann müssen wir wohl nach Hause», sagte Frau Berg, und Tine begleitete sie. Über Hecken und Wiesen färbte sich der Himmel dunkelrot.

Zu Hause in der Wohnstube sang Frau Berg am Klavier, während es dämmerte – das Lied von der«kleinen Grethe». Der Forstmeister ließ die Tür zu seinem Zimmer einen Spaltbreit offen.