Tod am Schwedenkai - Jochen Bender - E-Book + Hörbuch

Tod am Schwedenkai E-Book und Hörbuch

Jochen Bender

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Beschreibung

IHRE LETZTE REISE Nur noch kurz auf die Toilette, dann schnell zurück ins sichere Auto … Svenja Behrendt ahnt nicht, dass genau dort der Tod auf sie lauert. Sie wird niemals mit der Fähre nach Schweden kommen. Erdrosselt bleibt sie in ihrem Wagen am Kai zurück als der Morgen dämmert. In dem brutalen Mordfall befragt Kommissarin Frauke Knoop das Umfeld des Opfers. Sie konfrontiert den schönen Doktor samt seiner exotischen Geliebten und zahlreiche weitere Verdächtige mit dem unnatürlichen Ableben der Zahnarztgattin. Aber alle sagen nur Gutes über die Tote. Während die Kieler Ermittlerin Svenjas Mörder zwischen Kiel, der Künstlerkolonie Carlshöhe in Eckernförde und der Carlshütte in Rendsburg jagt, verhärtet sich ihr Gefühl, ein entscheidendes Detail zu übersehen.

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Seitenzahl: 374

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Zeit:9 Std. 15 min

Sprecher:Katharina Hensgens
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Dieses Buch widme ich meiner Frau Nicole. Durch sie lernte ich ihre Heimat Kiel und die Holsteiner Ostsee-Küste kennen und lieben.

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Die Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2022 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com und Adobe StockEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8429-0

Jochen BenderTod am Schwedenkai

Tag 1

Die Saison neigte sich ihrem Ende zu. Doch noch wollten viele Reisende von Kiel aus mit der Fähre über die Ostsee nach Skandinavien. Daher waren die Spuren für die Auffahrt auf die Stena Germanica gut gefüllt. Aber das würde sich bald ändern. Hatte es am Schwedenkai kürzlich noch vor Familien auf dem Weg nach Göteborg gewimmelt, dominierten nunmehr Paare in den besten Jahren und Rentnerinnen und Rentner.

Ole Hinrichsen war ein ausgeglichener Typ, seine Gemütsruhe nahezu legendär. Ein bisschen erfüllte es den alten Seebären mit Stolz, dass „seine“ Fähre als weltweit erste klimaneutral mit Methanol fuhr. Wenige Meter von ihm entfernt hupte ein fettes, schwarzes SUV mit Münchner Kennzeichen. Der Fahrer gab Gas und drängte mit Zentimeterabstand vor einem weißen Kleinwagen auf die Rampe. Ole schüttelte missbilligend seinen Kopf. Der Münchner kam durch seine Aggression keine Sekunde früher in Schweden an. Er begriff die nervöse Ungeduld der Passagiere nicht, die jene selbst in ihrem Urlaub oder gar in ihrem Ruhestand verbreiteten. Etwas weiter entfernt setzte ein wütendes Hupkonzert ein, dessen Ursache ein Kombi war, der sich nicht augenblicklich in Bewegung setzte. Als sich der Wagen dahinter endlich traute, die durchgezogene weiße Linie zu überfahren, um das Hindernis zu umkurven, stoppte das Hupen wieder.

Ole war nicht nur ein ausgeglichener, sondern ebenfalls ein ausgesprochen hilfsbereiter Typ. Gemächlich verließ er seinen Platz an der Auffahrtrampe in die Fähre und stapfte durch den morgendlichen Nieselregen in Richtung des Kombis. Dank seines gelben Ostfriesennerzes unter seiner neongrünen Warnweste war er eigentlich nicht zu übersehen. Trotzdem hielt er möglichst großen Abstand zu den auf die Stena Germanica drängenden Blechkarossen, traute er deren Lenkern doch einiges an Rücksichtslosigkeit zu, zumindest manchen unter ihnen. Schließlich näherte er sich dem Kombi von der Beifahrerseite. Als Erstes registrierte er das bis unters Dach vollgestopfte Gepäckabteil des geräumigen Mercedes, aus dem er auf eine verspätete Familie schloss. Starke Lichtmasten erhellten die morgendliche Dunkelheit so weit, dass er lange, blonde Haare hinter dem Lenkrad ausmachte. Auf der Beifahrerseite klopfte er an die Fenster­scheibe.

„Hallo! Brauchen Sie Hilfe?“

Nichts rührte sich. Der letzte Pkw fuhr soeben auf die Fähre. Sein an der Rampe gebliebener Kollege gestikulierte auffordernd in seine Richtung. Ole beugte sich ganz dicht an die Scheibe, schirmte mit seiner rechten Hand Lichtspiegelungen ab und starrte suchend in das Fahrzeug. Der Beifahrersitz war leer, die Fahrerin lehnte an der Rückenlehne und rührte sich nicht. Ole klopfte und rief erneut. Als die Frau noch immer nicht reagierte, öffnete er zögernd die Tür.

Durch die Innenraum-Beleuchtung strahlten der honigfarbene Teint und die äußerst wohlproportionierten Gesichtszüge einer jungen Frau auf, mit der es das Leben offensichtlich gut meinte. Zumindest empfand Ole es beim Anblick der sündhaft teuren Ledersitze in der Luxuskarosse so. Zugleich stieg ihm der verführerische Duft ihres Parfüms in die Nase. Sinnliche Erregung erfasste ihn, auch wenn er wusste, dass er nicht in der Liga der Fahrerin spielte. Aber vielleicht würde sie ihm für seine Hilfe ein Lächeln schenken? In der Hoffnung auf ein solches streckte er seinen Kopf in den Wagen, den Blick gebannt auf das hübsche Antlitz der Fahrerin geheftet.

„Wenn Sie jetzt nicht losfahren, verpassen Sie die Fähre!“

Noch immer reagierte die Schönheit nicht, saß einfach nur reglos da. Ole schluckte schwer. Hier stimmte etwas nicht. Plötzlich erschien ihm der Teint der Schönheit nicht mehr honigfarben, sondern eher wächsern. Endlich gelang es ihm, seinen Blick von ihrem hübschen Antlitz zu lösen. Ängstlich ließ er ihn den Körper der jungen Frau hinabwandern, woraufhin er seinen Kopf eilig aus dem Wagen zurückzog, sich umdrehte und sein Frühstück erbrach.

Frauke Knoop war nervös wie ein Backfisch, was nicht mit ihrer Arbeit bei der Mordkommission zusammenhing. Mit ihren zweiundvierzig Jahren, von denen sie die letzten zwölf mit Mordermittlungen verbracht hatte, schreckte sie kein noch so blutiger oder grausiger Anblick mehr. Anders verhielt es sich mit den zarten menschlichen Regungen. Eigentlich hatte sie an ihrem vierzigsten Geburtstag geglaubt, mit dem Thema Männer ein für alle Mal durch zu sein. Frauke war mit Leib und Seele Polizistin, eine Vollblut-Ermittlerin, die für die Aufklärung einer Gewalttat weder sich noch andere schonte. So hatte sie schmerzlich akzeptieren müssen, dass es bei ihrer Faszination für grausige Gewalttaten und bei ihrem Arbeitseifer kein Mann an ihrer Seite aushielt. Zumindest hatte sie das geglaubt, auch wenn sie seit einiger Zeit ahnte, dass die Ursachen ihres permanenten Scheiterns in Liebesdingen nicht allein in ihrer Arbeit lagen.

Aus einer Laune und ehrlicherweise auch aus einer leichten Verzweiflung heraus war sie in ihrem zwangsweise verordneten Sommerurlaub allein an die türkische Riviera geflogen. In Urlaubszeiten litt sie immer besonders unter ihrem Single-Dasein. Bereits nach zwei Tagen hatte sie ihre Entscheidung schwer bereut und am Telefon ihrer Freundin Melanie ihr Leid über die türkische Macho-Kultur geklagt. Wie hätte sie ahnen können, dass sie bereits am Tag darauf völlig unerwartet ihr Herz verlieren würde, noch dazu an einen Macho? An seiner Seite hatte sie die beiden schönsten Wochen ihres Lebens verbracht.

In diesem Moment befand er sich auf dem Weg nach Kiel. Er reiste nicht etwa nur zu Besuch an, sondern um zu bleiben. Jedenfalls behauptete er das. Sie würde ihn in einer Stunde am Bahnhof abholen, weshalb der Inhalt ihres Kleiderschrankes weitgehend über ihr Schlafzimmer verstreut war, während sie noch immer nicht wusste, was sie anziehen sollte! Noch viel weniger wusste Frauke, ob sie überhaupt wollte, dass er blieb. Der Gedanke, dass ein Mann nur wegen ihr nach Kiel zog, schmeichelte ihr ungemein und erfreute sie durchaus. Aber auf der anderen Seite verursachte er schubweise Panikattacken, weckte so ein Schritt doch erhebliche Erwartungen an sie.

Ihr Handy klingelte. Ob er sich verspätete? Oder hatte er im letzten Augenblick kalte Füße bekommen? Mit Bauchgrimmen griff sie nach ihrem Telefon. Das Display zeigte ihren Chef.

„Ich bin heute nicht im Dienst!“, begrüßte sie Andreas.

„Wir haben eine Tote!“

„Na und? Ich bin nicht die einzige Ermittlerin in der Mordkommission!“

Frauke wappnete sich gegen seine Überredungskünste, aber er schwieg.

„Andreas? Bist du noch dran?“

„Willst du wirklich Uta die Leitung der Ermittlungen überlassen? Zumal es sich bei dem Opfer um eine junge Frau handelt!“

Frauke stöhnte vernehmbar auf.

„Warum ausgerechnet Uta? Es ...“

„Sie ist bereits vor Ort! Entweder du fährst zu ihr an den Schwedenkai und übernimmst von ihr die Leitung der Ermittlungen oder du beharrst auf deinem freien Tag! Das ist allein deine Entscheidung!“

„Aber heute kommt doch ... Hallo?“

Sie konnte es nicht fassen. Andreas hatte einfach aufgelegt! Wütend pfefferte sie ihr Telefon aufs Bett. Wie konnte ihr Chef ernsthaft erwägen, Uta eine Mordermittlung zu übertragen? Natürlich war die Kollegin eine korrekte Polizistin, absolut loyal und hart im Nehmen. Auch saß Utas Herz am rechten Fleck. Aber das war eben auch schon alles, einem Mörder käme Uta nie auf die Spur. Es sei denn, er würde ihr auf dem Silbertablett präsentiert werden. Na und, was ging sie das an? Sie hatte frei und es war höchste Zeit, endlich einmal ihrem Liebesleben Priorität einzuräumen!

Wütend packte sie die Kleider zurück in den Schrank. Bei einem Blick auf die Uhr erschrak sie. Rasch warf sie erst einen prüfenden Blick in den Spiegel, dann einen ins Wohnzimmer. Alles war tipptopp, das Eichenparkett glänzte. Der Blick durch die bodentiefen Fenster über die Förde war wie immer grandios, an diesem Morgen sogar noch etwas schöner als sonst, brach doch just in diesem Augenblick die Morgensonne durch die Wolken und ließ die eben ausfahrende Stena Germanica blütenweiß leuchten. Ihr Gast würde von ihrer großzügigen Wohnung mit Blick auf die Förde gebührend beeindruckt sein, wohnte eine kleine Polizistin wie sie normalerweise doch deutlich bescheidener.

Frauke eilte die Treppen hinab in die Tiefgarage, wo ihr Dacia Duster auf sie wartete. Die Kommissarin stieg ein, fuhr die Rampe hinauf und verließ das auf ehemaligem Marinegelände errichtete Neubauviertel. Durch Holtenau steuerte sie die Hochbrücke an, auf der die B 503 den Nord-Ostsee-Kanal querte. Unter ihr warteten zwei Frachter darauf, durch die Schleusen auf Kieler Seite die verkehrsreichste künstliche Wasserstraße der Welt in Richtung Ostsee zu verlassen. Die Bundesstraße führte ins Zentrum Kiels. Frauke käme auf dem Weg zum Hauptbahnhof mehr oder weniger am Schwedenkai vorbei. Wohin wollte sie? Nach kurzem Zögern rief sie über die Freisprechanlage ihren neuen Geliebten an.

„Hey ...“

„Gleich bin ich bei dir! Neumünster haben wir schon passiert, jetzt trennt uns bald nichts mehr und ich darf dich endlich wieder in meine Arme schließen!“

Die Vorfreude in seiner Stimme war nicht zu überhören.

„Tut mir leid, aber wir haben eben eine Tote reinbekommen. Du weißt ja, wie das ist, zumal wir nur eine kleine Mordkommission sind!“

Rolands Schweigen verriet grausam seine Enttäuschung. Sie bat ihn trotzdem, im Blauen Engel, einem Café nicht weit vom Bahnhof direkt an der Förde gelegen, auf sie zu warten. Sie selbst würde sich am Schwedenkai nur einen ersten Eindruck verschaffen und dann rasch zu ihm stoßen. Er entgegnete nichts, wusste er als ehemaliger Mordermittler doch zu gut, was am Tatort über Frauke hereinbrechen würde.

Zehn Minuten später stieg die Kommissarin am Schwedenkai aus ihrem allradgetriebenen Duster. Überwacht von Kriminaltechnikern in ihren Schutzanzügen, wurde soeben ein Kombi mit einem Kennzeichen der weiter im Westen an der nächsten Förde liegenden Hafenstadt auf einen Transporter verladen.

„Moin.“

Uta trat, einen Pappbecher dampfenden Kaffees in der Hand, zu ihr.

„Moin. Was haben wir?“

„Unser Opfer heißt Svenja Behrendt. Sie fuhr allein mit dem Wagen her und verließ ihn für einen Toilettenbesuch. In ihrer Abwesenheit stieg eine dunkel gekleidete Person, vermutlich ein Mann, hinten ein. Fünf Minuten nachdem sie wieder auf dem Fahrersitz saß, verließ er den Wagen wieder. In der Zwischenzeit erdrosselte er sie von hinten mit einem dünnen Seil oder einem dicken Draht.“

Frauke erschauderte bei der Vorstellung, sich ahnungslos im eigenen Wagen in Sicherheit zu wiegen, während sich plötzlich von hinten eine Schlinge um den Hals legte, die einem keine Chance ließ.

„Fünf Minuten? Wollte ihr Mörder ganz sichergehen, dass sie tot ist?“

„Er könnte sie auch unnötig gequält haben. Zumindest hat sie sich bei ihrem verzweifelten Versuch, die Schlinge abzustreifen, mehrere Fingernägel abgebrochen und sich selbst tiefe Kratzer zugefügt.“

Die Kommissarin schluckte schwer.

„Somit haben wir es höchstwahrscheinlich mit einem starken persönlichen Motiv zu tun, also Rache für eine erlittene Kränkung, Eifersucht oder Hass. Können wir einen brutalen Raubmord ausschließen? Immerhin dürfte es, wer so einen Luxuswagen fährt, kein armer Schlucker sein.“

„Ich denke schon, in ihrer Handtasche fanden wir fast Tausend Euro Bargeld und zwei Kreditkarten. Einzig ein Handy konnten wir nicht finden.“

„Ihr Handy ist verschwunden? Möglicherweise, um Spuren zu verwischen? Das spricht doch ebenfalls für eine persönliche Beziehung des Mörders zu seinem Opfer! Wieso konnte er übrigens einfach hinten einsteigen? Hat sie das Auto etwa unverschlossen stehen lassen?“

„Nein, bei der rechten Fond-Tür funktioniert die Zentralverriegelung nicht.“

Die beiden Ermittlerinnen sahen sich an.

„Dann war das entweder ein unglaublicher Zufall ...“

„... oder die Tat war gründlich vorbereitet!“

Frauke überlegte.

„Woher weißt du, dass der Mörder am Schwedenkai eingestiegen ist? Er könnte doch schon im Auto gewesen sein!“

Uta zeigte auf einen der Lichtmasten.

„Das ganze Gelände verfügt über eine Videoüberwachung.“

„Wir haben demnach eine Aufnahme vom Täter?“

Ungläubig sah die Kommissarin ihre Kollegin an.

„Ja, haben wir. Allerdings zeichnet die Kamera einen großen Bereich auf – und es regnete. Man sieht eine dunkel gekleidete Gestalt, vermutlich trägt sie einen weiten Mantel mit einer tief ins Gesicht gezogenen Kappe, das ist auch schon alles. Die Kriminaltechnik meint, da ist nicht viel zu machen.“

„Schade! Gibt es Angehörige?“

„Ihr Mann ist Zahnarzt. Seine Praxis liegt in der Innenstadt.“

„Wie hast du das so schnell herausgefunden?“, fragte Frauke überrascht.

„Ganz einfach, ich habe diese Adresse in mein Smartphone eingetippt.“

Uta zeigte auf die Kofferraumklappe des Mercedes. Dort war mit silbernen Buchstaben www.zahnarzt-Behrendt.de aufgeklebt.

„Auf der Homepage der Praxis gibt es ein Bild, das die Tote mit ihrem Mann, dem Zahnarzt, zeigt. Die Praxis ist geöffnet, du kannst direkt dorthin fahren.“

Frauke seufzte. Todesnachrichten zu überbringen war emotional belastend. Andererseits gehörte ein Gatte beim Mord an einer Frau automatisch zum engsten Kreis der Verdächtigen. Seine Reaktion, beim Überbringen der Todesnachricht genau zu beobachten, war daher von immenser Bedeutung.

„Kommst du mit?“

„Klar.“

Eine Viertelstunde später standen die beiden Ermittlerinnen vor der angegebenen Adresse. Es handelte sich um ein Ärztehaus in gediegener Innenstadtlage. Ein gleichzeitig dezent und edel wirkendes Schild wies auf die gesuchte Zahnarztpraxis hin. Als sie las, dass Doktor Behrendt auch mit Hypnose arbeitete, war für Frauke klar, dass aufgrund ihres hohen Kontrollbedürfnisses für sie persönlich eine Behandlung bei ihm nicht infrage käme. Aber deshalb waren sie heute nicht hier, auch wenn die Kommissarin in diesem Augenblick selbst eine Wurzelbehandlung der belastenden Aufgabe vorzöge als einem Mann die Nachricht über den Mord an seiner hoffentlich von ihm geliebten Frau zu überbringen.

Um ein bisschen Zeit zu schinden, stieg Frauke langsam die Stufen in den dritten Stock hoch, statt den Aufzug zu nehmen. Viel zu schnell erreichten sie die Milchglastür der Praxis und läuteten. Der Summer ertönte, die Ermittlerin drückte die Tür auf und trat ein. Ein schwarz glänzender Boden und weiße Putzwände bildeten einen würdigen Rahmen für ausgewählte Kunstwerke. Gemeinsam erzeugten sie eine Aura gediegener Exklusivität. Hinter dem Tresen lächelte ihnen eine exotische Schönheit professionell entgegen und entblößte zwei Reihen makellos weißer Zähne. Ein besseres Aushängeschild für seine Arbeit konnte sich der Herr Doktor kaum wünschen. Mit leichtem Neid registrierte Frauke, dass die junge Frau auch problemlos als Model arbeiten könnte. Die Kommissarin streckte der Schönheit ihren Dienstausweis hin.

„Wir müssen dringend mit Doktor Behrendt sprechen.“

Mit gerunzelter Stirn studierte die Arzthelferin die Plastikkarte. Ihr Lächeln wich Irritation.

„Jetzt?“

„Ja! Jetzt sofort!“

„Aber er ist gerade mitten in einer Behandlung!“

Im Hintergrund ertönte ein Zahnarztbohrer, dem ein lautes Stöhnen folgte.

„Nun, dann warten wir ausnahmsweise, bis die Behandlung abgeschlossen ist.“

Da der Zahnarzt wahrscheinlich nicht in der Lage sein würde, die Behandlung nach Erhalt der Todesnachricht fortzusetzen, blieb ihnen auch gar nichts anderes übrig. Schließlich konnten sie schlecht verantworten, dass ein Patient mit frisch gebohrtem Loch die Praxis verlassen musste. Die Arzthelferin nickte.

„Ich gebe dem Herrn Doktor Bescheid.“

Sie erhob sich und kam um den Tresen. Natürlich war sie groß gewachsen, von schlanker Statur und mit einer reizvollen, aber noch natürlichen Oberweite gesegnet. Frauke fragte sich, ob nicht auch sie unter dem dunklen Mantel gesteckt haben könnte. Es brauchte weder besonderes Geschick noch viel Kraft, jemanden von hinten zu erdrosseln. Als sie an ihr vorbei wollte, hielt die Kommissarin sie zurück.

„Augenblick, gibt es eine Möglichkeit, ungestört mit Doktor Behrendt zu sprechen?“

Die dunklen Augen starrten hochmütig auf die Kommissarin herab. Frauke konnte keinerlei Nervosität in ihnen erkennen.

„Ich muss ihn erst fragen!“

Das Model eilte davon. Der Zahnarztbohrer verstummte, setzte aber kurz darauf erneut ein. Frauke wurde auf unangenehme Weise bewusst, dass sie selbst dringend mal wieder ihre Zähne kontrollieren lassen müsste. Schließlich war die quälende Maschine nicht mehr zu hören. Die Minuten verstrichen und die Ermittlerinnen fragten sich, wo die Sprechstundenhilfe blieb. Endlich kehrte jene zurück und führte die Polizistinnen in einen leeren Behandlungsraum. Da sich keine der beiden freiwillig auf die Zahnarztliege setzen oder gar legen wollte und es sonst nur noch einen Schemel als Sitzgelegenheit gab, blieben die beiden stehen.

Es dauerte nicht lange, dann betrat ein Weißkittel den Raum. Doktor Behrendt entpuppte sich als attraktiver Mittdreißiger. Groß gewachsen, mit trainiertem Körper, blauen Augen und blonden Haaren besaß er bestimmt einen Schlag bei Frauen, zumindest, wenn er lächelte. Gerade jedoch blickte er empört und abweisend.

„Was fällt Ihnen ein, hier mitten in meine Behandlung hineinzuplatzen! Ich habe einen engen Zeitplan und ...“

„Setzen Sie sich!“

Frauke sah ihn streng an. Überrumpelt hielt er einen Augenblick inne, fasste sich jedoch rasch wieder.

„Das ist ja wohl eine Unverschämtheit! Ich ...“

„Setzen Sie sich bitte! Wir sind nicht zu unserem Vergnügen hier, sondern weil wir Ihnen etwas Ernstes zu sagen haben!“

„Etwas ...“, er erblasste. „Was ist passiert?“

„Setzen Sie sich bitte!“

Endlich gab er nach und ließ sich auf den Schemel sinken.

„Nun reden Sie schon! Geht es um Svenja? Hatte Svenja einen Unfall?“

Eindringlich sah er die Kommissarin an.

„Wir sind tatsächlich wegen Ihrer Frau hier ...“

„Wo ist sie? Ich muss sofort zu ihr!“

Er wollte aufspringen, Frauke drückte ihn dessen ungeachtet mit beiden Händen entschlossen zurück auf den Schemel und fixierte ihn mit ihren Augen.

„Bitte bleiben Sie sitzen! Es tut mir außerordentlich leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Frau verstorben ist!“

Mit großen Augen starrte er zu der Polizistin auf, blinzelte mehrmals und schnappte wie ein Fisch stumm nach Luft.

„Ver...“, er schluckte laut, „verstorben? Sie meinen ...“, Furcht erschien in seinen Augen. Flehend blickte er zur Kommissarin auf, „... Svenja ist ... tot?“

Frauke hielt seinem Blick stand. Bedächtig nickte sie.

„Tot!“, schrie er, riss beide Arme in die Höhe, bis seine Hände an seine Schläfen klatschten, während er nach hinten umkippte, gegen die Liege prallte und vom Schemel rutschte.

„Tot! Wie …?“, fassungslos, mit gequältem Blick sah er zu Frauke auf, versuchte, sich aufzurappeln, „… wie ist sie gestorben? Bei einem Unfall?“

„Ihre Frau wurde ermordet!“

„Ermordet?“

Sofern das überhaupt möglich war, erblasste er noch mehr.

„Oh Gott! Wie schrecklich! Hatte Svenja also doch recht! Und ich Idiot habe ihr nicht geglaubt! Wie konnte ich nur? Das werde ich mir nie verzeihen!“

„Recht gehabt? Womit hat Ihre Frau recht gehabt?“

Doktor Behrendt hörte sie nicht, schlug sich stattdessen mehrfach hintereinander voller Wucht mit der Faust auf den Kopf.

„Hören Sie damit auf!“

Frauke packte ihn am Handgelenk, er war jedoch stärker als sie und hieb einfach weiter auf sich ein.

„Nun hören Sie endlich auf damit ...“

„Lassen Sie mich sofort los! Sie sollen mich loslassen!“

Der Arzt schrie hysterisch in voller Lautstärke, woraufhin sich die Tür öffnete und die Schönheit ihren Kopf ins Zimmer steckte. Ungläubig sah sie ihren Chef auf dem Boden sitzend auf sich selbst einschlagen, während die beiden Polizistinnen gemeinsam versuchten, ihn davon abzuhalten.

„Rufen Sie sofort einen Notarzt!“, wies Frauke sie an.

Die Arzthelferin reagierte nicht, sondern starrte weiter fassungslos auf ihren Chef hinab.

„Nun machen Sie schon!“

Endlich löste sie sich vom Anblick des Gequälten, verschwand und kehrte wenig später in Begleitung eines älteren Weißkittels zurück. Doktor Behrendt krümmte sich mittlerweile wimmernd in embryonaler Haltung auf dem Boden. Der ältere Arzt erfasste die Situation mit einem Blick, stellte seine Taschen neben seinem Kollegen ab und bat:

„Ich bin Doktor Jessen aus der Praxis nebenan. Wären Sie so freundlich, den Kollegen und mich einen Augenblick allein zu lassen?“

Ohne ihre Antwort abzuwarten, öffnete er seine Arzttasche und entnahm ihr eine Spritze. Die beiden Polizistinnen traten vor die Tür. Behutsam schlossen sie diese hinter sich. Die Arzthelferin beachtete die Polizistinnen nicht weiter, sondern eilte wieder nach vorne. Uta sah Frauke fragend an.

„Was es wohl war, dass der Doktor Behrendt seiner Frau nicht geglaubt hat?“

Roland hatte sich riesig darauf gefreut, von der am Bahnsteig wartenden Frauke in Empfang genommen zu werden. In seinem ganzen Leben hatte ihn noch nie eine Frau an einem Bahnsteig sehnsüchtig erwartet. Ein Schwarz-Weiß-Film, in dem eine zierliche Frau im Trenchcoat einem soeben den Zug verlassenden Mann entgegenflog, um sich ihm an den Hals zu werfen, während weiße Schwaden der Dampflokomotive ins Bild waberten, lief vor seinem inneren Auge ab. Er seufzte. Eine ähnliche Szene würde er selbst leider nie erleben. Dementsprechend enttäuscht verließ er den ICE. Sein erster Kontakt mit Kiel bestand aus einer quäkenden Durchsage, als gehetzte Reisende mit Rollkoffern aller Größen im Schlepptau an ihm vorbei­drängten und eine kurz vor dem Nervenzusammenbruch stehende Mutter versuchte, gleichzeitig zwei Kleinkinder, einen Buggy und ein pinkes Monstrum auf Rollen in Richtung Ausgang zu bugsieren. Erneut seufzte Roland. Eigentlich passte so eine romantische Szene auch gar nicht mehr zu den heutigen Bahnhöfen. Er nahm der Mutter das pinke Monstrum ab, wofür sie ihm ehrlich dankte. Er hatte Zeit, also folgte er ihr in aller Ruhe und wuchtete den schweren Koffer für sie sogar ins Taxi.

Wieder allein blieb er zurück und holte tief Luft. War wirklich eine Mordermittlung die Ursache für Fraukes Fernbleiben? Oder fühlte sie sich schlicht von ihm überrumpelt? Wollte sie ihn womöglich gar nicht hier bei sich in Kiel haben?

Roland hatte sich in der Türkei bereits auf den ersten Blick in Frauke verliebt, immerhin hatte sie ihm spontan gefallen. Um sein Interesse zu signalisieren, hatte er sie an der Bar des Alora-Beach-Klubs erwartungsvoll angelächelt, was von ihr prompt mit einem abweisenden Gesichtsausdruck pariert worden war. Frauke war es anders als ihm ergangen, zumindest auf den ersten Blick war sie definitiv nicht an ihm interessiert gewesen. Aber eine höhere Macht hatte sie dann doch zusammengebracht. Etwas nachgeholfen hatte er schon, wenigstens hatte er die sich kurz darauf ihm bietende Chance erkannt und genutzt. Als sie daraufhin dann doch miteinander ins Gespräch gekommen waren, hatte sich herausgestellt, dass Frauke nicht nur Polizistin war, sondern noch dazu bei der Mordkommission arbeitete.

Von diesem Augenblick an war er sich sicher gewesen, dass sie füreinander bestimmt waren. Ohne diese Gewissheit hätte er es nie gewagt, Frauke vorzuschlagen, ihretwegen hierher nach Kiel zu ziehen. Auf seine Anregung hatte sie erst überrascht und dann erfreut reagiert, ihm sogar angeboten, er könne bei ihr einziehen. Aber das war vielleicht etwas überstürzt.

An einem Kiosk kaufte er sich Zigarettentabak. Eigentlich rauchte er schon lange nicht mehr, aber heute war einer jener Tage, um wieder damit anzufangen. Anschließend zog er seinen Rollkoffer hinter sich her über Granitpflastersteine vor dem Bahnhof.

Es war ein schöner Morgen. Der Himmel strahlte blau, frisch gewaschene Schäfchenwolken zogen gemütlich dahin. Die heiseren Schreie der Möwen und der Geruch nach Tang hießen ihn an der Ostsee willkommen, während er über holpriges Pflaster seinen gesamten Besitz in Richtung der Masten diverser Segelboote bewegte. Wenige Minuten später betrat er die Terrasse des Blauen Engels und entdeckte einen leeren Strandkorb direkt am Wasser. Roland nahm darin Platz, bestellte einen Cappuccino und kurz entschlossen auch ein üppiges Frühstück. Dann drehte er sich eine Zigarette. Seine Finger waren wegen der morgendlichen Kälte, die den nahenden Herbst ankündigte, so klamm, dass die Zigarette eckig geriet, zumindest schien es ihm so. Endlich fertig mit der ersten seit Jahren, legte er sie auf den runden Bistrotisch ab und inspizierte die Umgebung.

Direkt am Café führte ein Steg über das Wasser der Förde auf einen Glasbau zu. Rechter Hand lagen mehrere Schiffe, darunter ein paar historische, hauptsächlich aber diverse Segeljachten im Hafenbecken. Linker Hand lag eine riesige Fähre, dahinter ragte der mächtige Kran einer Werft in den blauen Himmel.

Eine Rothaarige, die sichtlich schon einiges hinter sich hatte, servierte ihm das Frühstück. Er trank einen Schluck Cappuccino, zündete sich die Selbstgedrehte an und inhalierte tief. Augenblicklich versetzte die Kombination aus Koffein und Nikotin ihn in einen angenehmen, leicht berauschten Zustand. War seine Entscheidung richtig? In der Türkei hatte er es gegen Ende kaum noch ausgehalten. Roland war froh, von dort weg zu sein. Aber ausgerechnet Kiel? Eigentlich wäre er lieber zurück nach Stuttgart, aber das war zu riskant. Unter seinen ehemaligen Kollegen spräche sich seine Rückkehr rasch herum. Und einer redete immer, ein anderer hielt immer die Hand auf. Dann hätte er bald einen Killer auf den Fersen.

So gesehen bot Kiel ihm eine Chance. Beim Umsteigen in Hamburg hatte er einen Kiel-Krimi gekauft. Eigentlich waren Krimis nicht sein Ding, regionale noch viel weniger. Aber der Roman würde ihm die Wartezeit verkürzen. Vielleicht lernte er durch ihn auch die Stadt ein bisschen kennen. Nach seinem ersten Biss ins Croissant schlug er das Buch auf und begann zu lesen.

Als sich jemand neben ihn in den Strandkorb plumpsen ließ, zuckte er erschrocken zusammen. Verärgert drehte er sich dem Störenfried zu und blickte in Fraukes lachendes Gesicht.

„Du?“

„Ich freue mich auch, dich zu sehen.“

Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn. Er erwiderte ihren Kuss, dann hielten sie einander eng umschlungen. Roland schluckte, kämpfte gegen seine Tränen an.

„Ich dachte schon, du hättest kalte Füße bekommen.“

„Die habe ich, aber kneifen gilt nicht.“

Sie lösten sich wieder voneinander.

„Aber meine Ankunft fällt dummerweise mit dem Start einer Mordermittlung zusammen?“

Frauke seufzte.

„Stimmt, das ist nicht gerade optimal.“

„Hast du jetzt überhaupt Zeit für mich?“

„Eigentlich nicht, aber ich nehme sie mir trotzdem. Ich bin auf dem Weg zu einer Befragung in Eckernförde. Wenn du magst, kannst du mitkommen und im Auto warten, bis ich fertig bin. Anschließend können wir im Eckernförder Hafen gemeinsam zu Mittag essen.“

„Klingt gut.“

Roland zahlte und folgte ihr zu ihrem Auto. Sie stiegen ein und Frauke startete den Motor.

„Wer wurde ermordet?“

„Eine dreißigjährige Zahnarzt-Gattin.“

„Dann fahren wir zum Zahnarzt?“

„Nein, dort waren wir schon. Doktor Behrendt reagierte heftig auf die Nachricht vom Tod seiner Frau und machte sich schwere Vorwürfe, es nicht ernst genug genommen zu haben, dass sie sich seit einiger Zeit verfolgt fühlte. Seine Frau engagierte sich in einem Verein für Flüchtlingshilfe, der Drohungen erhielt. Der ist unser Ziel.“

Eine halbe Stunde später parkte Frauke vor „Willkommen in Eckernförde“. Roland sah ihr nach, bis sie im Gebäude verschwunden war. Nach kurzem Zögern stieg er aus und drehte sich eine weitere Zigarette. Gerade als er sie sich ansteckte, verließ ein junger Mann das Gebäude, in dem Frauke verschwunden war, und kam zielstrebig auf ihn zu.

„Darf ich mir auch eine drehen?“

Wortlos reichte Roland ihm seinen Tabak. Der junge Mann nahm ihn entgegen, drehte sich flink eine Zigarette und zündete sie an.

„Danke. Sind Sie auch Polizist?“

Neugierig sah der Junge ihn an. Roland ignorierte es.

„Ihre Kollegin sagte soeben, Svenja wurde ermordet. Das ist echt heftig!“

Roland schwieg weiter, war aber gespannt, was der Typ von ihm wollte. Definitiv stand der nicht wegen einer Zigarette hier. Er brauchte nicht lange zu warten.

„Die da drinnen wollen mich nicht dabeihaben, schließlich mache ich hier nur mein FSJ. Deshalb denken die, ich hätte nichts zu sagen, aber das stimmt nicht. Ich habe gesehen, von wem Svenja verfolgt wurde.“

Im Gebäude saß Kommissarin Frauke Knoop zwei offensichtlich schwer erschütterten Vorstandsfrauen des Vereins „Willkommen in Eckernförde“ gegenüber.

„Ich kann es einfach nicht fassen“, meinte soeben Frau Witt. „Nie hätte ich damit gerechnet, dass so etwas passiert!“

„Erhielt Ihr Verein nicht Drohungen?“

„Doch, natürlich! Alle, die sich für Geflüchtete engagieren, erhalten Drohungen! Es passiert ja auch genug! Aber ein Mord?“

„Wurde Frau Behrendt persönlich bedroht?“

„Nein! Zumindest nicht, dass wir davon wüssten!“

„Hatte sie irgendwelche besonderen Aufgaben?“

Die beiden Frauen warfen sich einen Blick zu, den die bisher schweigende Vorstandsfrau als Aufforderung begriff, auf den hin sie sich räusperte.

„Svenja machte genau das Gleiche wie die meisten von uns. Wenn sie wegen ihres Engagements hier ermordet wurde, kann das jedem von uns auch passieren! Sie müssen schleunigst den Irren finden, der sie ermordet hat!“

„Was genau machte Frau Behrendt hier?“

Erneut verständigten sich die beiden ohne Worte. Frauke beschlich das Gefühl, dass die ihr etwas verschweigen wollten.

„Sie übernahm Patenschaften für Menschen, die als Geflüchtete in unserer Stadt strandeten.“

„Was genau beinhaltet eine solche Patenschaft?“

„Den Menschen helfen, hier zurechtzukommen.“

„Geht es noch etwas genauer?“

„Kindern bei Hausaufgaben helfen, bei Bedarf mit der Schule reden, Erwachsene zu einem Amt begleiten ..., solche Dinge eben.“

Frauke stöhnte innerlich auf.

„Hat sich Frau Behrendt für jemanden besonders engagiert? Sei es für eine Person oder auch eine Personengruppe?“

Wieder wechselten die beiden einen Blick.

„Hören Sie ...“

„Nein, sie hat sich für niemanden besonders engagiert! Svenja war einfach eine von uns!“

Frauke war sich endgültig sicher, dass die Frauen ihr, aus welchen Gründen auch immer, etwas verheimlichten. Sie entschied sich, das vorläufig zu ignorieren.

„Ist Ihnen wenigstens bekannt, dass Frau Behrendt verfolgt wurde?“

Jetzt starrten beide Frauen die Kommissarin aus großen Augen an.

„Svenja wurde verfolgt?“

„Das ist ja schrecklich!“

„Von wem denn?“

„Nun, ich hoffte, Sie würden mir das sagen können!“

„Wir?“

Zum wiederholten Male tauschten die beiden einander Blicke.

„Tut mir leid, aber das hören wir soeben zum ersten Mal!“

Mittlerweile war Frauke ziemlich genervt von den beiden, auch wenn sie versuchte, es sich möglichst nicht anmerken zu lassen.

„Da Sie beide mit Frau Behrendt offensichtlich nicht so gut vertraut waren, könnten Sie mir vielleicht jemanden nennen, der sie besser kannte?“

„Tut uns leid, aber Svenja war eine äußerst stille, vornehm zurückhaltende Dame. Wir wüssten nicht, dass sie mit irgendjemandem aus unserem Verein befreundet gewesen wäre.“

Frauke führte die Befragung fort, obwohl ihr längst klar war, dass sie hier und heute nichts Relevantes erfahren würde. Schließlich beendete sie die Quälerei, verließ das Haus und lief zurück zu ihrem Auto.

Bei Rolands Anblick, wie er mit einem freudigen Lächeln auf den Lippen im Auto auf sie wartete, entschlüpfte ihr ebenfalls ein Lächeln. An diesem Tag war wahrlich nicht alles schlecht. Dennoch war sie frustriert, als sie sich neben ihn setzte.

„Wenn ich dich so ansehe, hat deine Befragung nichts ergeben.“

„Entweder haben die wirklich keine Ahnung, oder sie verschweigen mir das Wenige, das sie wissen. Die Fahrt hätten wir uns sparen können.“

„Nicht ganz!“

Er grinste sie breit an. Argwöhnisch betrachtete Frauke ihn.

„Wieso?“

„Nun, zum einen werden wir zwei Hübschen gleich in einem stimmungsvollen Lokal am Hafen gemeinsam ein vorzügliches Essen genießen. Schon allein deshalb war die Fahrt hierher keineswegs umsonst.“

Frauke wartete, Roland griente jedoch einfach weiter stumm vor sich hin.

„Das ist doch nicht alles! Du hast noch etwas, oder?“

„Stimmt! Kaum warst du im Haus verschwunden, als Jonas auch schon herauskam und das Gespräch mit mir suchte.“

„Jonas?“ Sie runzelte die Stirn. „Heißt so nicht der Junge, der im Verein sein Freiwilliges Soziales Jahr ableistet?“

„Genau den meine ich! Der junge Mann war schwer in die schöne Frau Behrendt verschossen. Deswegen suchte er nicht nur ihre Nähe, sondern ließ sie kaum aus den Augen.“

Erneut brach er ab und lächelte sie an. Sie jaulte genervt auf.

„Mensch, Roland! Wenn das mit uns beiden was werden soll, dann lass dir doch nicht jeden Wurm einzeln aus der Nase ziehen!“

„Ich mache es nur so spannend, weil ich leider nicht wirklich viel habe. Jonas kannte offenbar Frau Behrendts Termine im Verein, zumindest manche von ihnen. Er wartete dann oft auf sie, um wenigstens einen kurzen Blick auf sie zu erhaschen. Dabei sah er dreimal, wie ihrem Mini Cooper mit großem Abstand ein Auto folgte und dort oben am Ende der Straße hielt. Der Wagen blieb jeweils dort, bis Frau Behrendt im Heim verschwunden war, dann wendete er und verschwand wieder.“

„Das bedeutet, sie wurde wirklich verfolgt!“

„Sieht ganz so aus. Jonas gab mir übrigens seine Telefonnummer. Er freut sich, wenn du ihn für eine offizielle Befragung zu dir ins Präsidium nach Kiel einlädst.“

„Das Kennzeichen des Wagens kennt er nicht zufällig?“

„Leider nicht. Er wusste nur, dass es ein lokales Kennzeichen war. Als ich genau nachfragte, was er damit meinte, wusste er nur, dass es eines der Kennzeichen war, die man hier dauernd sieht, und zwar Eckernförde, Kiel oder Rendsburg.“

„Na prima, das hilft uns kaum weiter! Hat er zufällig das Fabrikat und die Farbe?“

„Wie viele Menschen seiner Generation besitzt er keinen Bezug zu Autos. Er glaubt, dass es ein dunkler Golf war. Aber ob der schwarz oder dunkelblau war, konnte er nicht beantworten. Genauso gut könne es sich auch um ein japanisches oder koreanisches Mittelklasse-Modell handeln.“

Frauke verdrehte die Augen, ehe sie den Motor startete.

„Lass uns essen gehen. Ich habe einen Mordshunger.“

An der Strandkantine holten sie sich zwei Portionen Backfisch mit Pommes, die sie eng nebeneinander in einem Strandkorb sitzend verspeisten. Roland genoss den Blick auf die Ostsee und die Strandspaziergänger beim Essen. Daran könnte er sich gewöhnen. Unausgesprochen hatten sie die Übereinkunft getroffen, während des Essens nicht über den Fall zu reden. Erst als sich Roland mit zwei Espressos wieder zu ihr in den Strandkorb setzte, fragte Frauke unvermittelt:

„Lief zwischen Jonas und Frau Behrendt eigentlich etwas?“

Der Zuckerlöffel in Rolands Hand stockte kurz zwischen Dose und Tasse, ehe er seinen Bestimmungsort erreichte.

„Wie meinst du das?“

„Na, ob die beiden eine Affäre miteinander hatten!“

„Aber der Junge ist doch höchstens achtzehn!“

„Na und? Würde es dich auch stören, wenn es andersherum wäre, also eine Achtzehnjährige sich mit einem Dreißigjährigen einließe?“

„Es stört mich nicht, egal ob so oder umgekehrt! Ich kann mir einfach nicht vorstellen, ...“

„Frau Behrendt war eine richtige Schönheit! Und so alt war sie nun auch noch nicht!“

Roland, der ihr mit offenem Mund zugehört hatte, schloss diesen und sah Frauke nachdenklich an.

„Was ist?“, fuhr sie ihn an.

Er griff mit beiden Händen nach ihrer Rechten und hielt diese fest, ehe er antwortete:

„Du bist noch ein paar Jahre älter als die Tote und wunderschön! Ich kann mir vorstellen, dass viele Achtzehnjährige für dich schwärmen.“

„Ach!“

Verärgert entzog sie ihm ihre Hand und verschränkte ihre Arme vor der Brust.

„Hör auf mit dem Süßholzgeraspel und sag mir lieber direkt, worauf du hinauswillst!“

„Aber genau das will ich doch! Würdest du, als die attraktive Frau, die du nun einmal bist, die Schwärmerei eines Achtzehnjährigen ernst nehmen? Ich meine, in dem Alter kommt man sich furchtbar erwachsen vor, ist aber eigentlich noch ein Kind. Würdest du dir einen Jüngling mit schlechter Körperhaltung, dafür aber einem äußerst aufdringlichen Wesen, als Liebhaber ins Bett holen?“

Frauke lachte glockenhell.

„Wenn du es so ausdrückst, natürlich nicht!“

Nun war sie es, die nach seinen Händen griff und ihn anlächelte.

„Für einen grünen Jungen würde ich doch nicht deine Liebe riskieren.“

„Danke. Ich meine, es gibt sicherlich Achtzehnjährige, bei denen auch eine Schönheit wie deine Tote schwach werden könnte, aber dieser Jonas gehört in meinen Augen definitiv nicht zu denen. Frau Behrendt hätte sich, falls sie es denn wollte, doch sicher jede Menge interessante, attraktive und wohlgebaute Männer ...“

„Wie dich!“

„... als Liebhaber nehmen können. Warum hätte sie sich ausgerechnet auf Jonas einlassen sollen?“

Frauke lächelte still und streichelte zärtlich seine Hand. Er ließ es nur zu gerne geschehen, freute sich dabei auf die bevorstehende Nacht. Plötzlich hielt Frauke inne und ließ seine Hand los.

„Was, wenn Jonas ihr seine Liebe gestanden und sie ihn daraufhin ausgelacht hat?“

Roland kannte nur zu gut den fiebrigen Blick des Jägers, der ihm aus ihrem Gesicht entgegenleuchtete.

„Du meinst, er hätte dann ein Motiv?“

„Warum nicht? Eifersucht und Zurückweisung sind klassische Männermotive für einen Femizid! Jonas’ Aussage hinsichtlich Frau Behrendts Verfolger ist doch so vage, dass wir sie nie werden widerlegen können, zugleich gerade konkret genug, uns glauben zu lassen, hinter Frau Behrendt sei jemand her gewesen! Es wäre doch eine ideale Aussage, wenn er als Mörder uns auf eine andere Spur bringen wollte! Wir mussten nicht einmal nach ihm als Zeugen suchen, er hat sich im Glauben, du seist mein Kollege, dir doch förmlich aufgedrängt!“

Überrascht und peinlich berührt sah Roland sie an. Auch wenn er selbst nicht darauf gekommen wäre, klangen ihre Überlegungen plausibel. War er als Polizist so außer Übung? Wahrscheinlich schon, anfangs hatte er in der Türkei zwar als Sicherheitschef eines großen Hotels gearbeitet, was aber nur sehr entfernt Polizeiarbeit ähnelte. Außerdem waren ihm die örtlichen Gepflogenheiten so gegen den Strich gegangen, dass er die Arbeit bald ganz aufgegeben hatte. Vom Geld her hatte er es auch nicht nötig gehabt zu arbeiten, zumal das Leben in der Türkei für ihn mit seinen Euros billig gewesen war.

„Woran denkst du gerade?“, unterbrach Frauke seinen Gedankenfluss. „Bei deinem finsteren Gesichtsausdruck bekomme ich richtig Angst vor dir.“

„Nicht nötig!“ Er schüttelte seine düsteren Erinnerungen ab und setzte ein Lächeln auf. „Deine klugen Schlussfolgerungen haben mir nur gerade klargemacht, dass mein kriminalistischer Verstand schon ziemlich eingerostet ist. Das war leider kein erfreulicher Gedanke, vermittelt er mir doch das Gefühl, zum alten Eisen zu gehören.“

„Ach Quatsch!“ Erneut griff sie nach seiner Hand. „Dazu gehörst du noch lange nicht, zumal du mit deinem Umzug nach Kiel gerade einen mutigen Aufbruch zu neuen Ufern wagst.“

„Danke!“ Er lächelte zurück. „Und nun?“

„Nun zeige ich dir dein neues Domizil. Dann kannst du dich dort einrichten und ausruhen, während ich noch einmal in die Blumenstraße fahre.“

Roland ließ es sich nicht nehmen, für beide noch ein Eis zu kaufen, das sie barfuß durchs Wasser watend schleckten. Anschließend fuhren sie gemeinsam zurück nach Kiel-Holtenau. Als Roland ihre Wohnung betrat, verschlug es ihm die Sprache.

„Und? Wie gefällt dir meine Wohnung?“

„Sehr beeindruckend“, antwortete er lahm.

„Sehr beeindruckend? Ist das alles?“

Auch wenn sie es nicht sein wollte, war sie tief enttäuscht. Es hatte Frauke Überwindung gekostet, sich das Luxusdomizil direkt am Förde-Ufer zu gönnen, und sie hatte lange gebraucht, es ohne schlechtes Gewissen genießen zu können. Mittlerweile war dieses Refugium ihr größter Stolz. Welcher Mann bekam schon von einer Frau, die ihn im Grunde kaum kannte, das freiwillige Angebot, in einer derart tollen Wohnung leben zu dürfen? Konnte sie da nicht etwas mehr Begeisterung erwarten?

„Dein Zuhause ist wirklich toll! Ich frage mich nur ...“

Er brach ab, sah sie stattdessen hilflos an.

„Ja?“

„Äh ... wie gut ihr als Kommissare hier oben verdient.“

Da war er wieder, der altbekannte Sozialneid. Warum war sie auch so naiv gewesen anzunehmen, Roland sei anders?

„Wir verdienen nicht besser als die Kollegen bei euch im Süden. Mir persönlich geht es gut, weil meine Eltern mir reichlich Geld vererbt haben! Soll ich mich deiner Meinung nach dafür schämen? Soll ich mein Geld an Bedürftige verschenken, nur damit du mich für einen guten Menschen hältst? Ich habe bereits viel Geld gespendet ...“

„Nicht doch! Entschuldige bitte, so war das doch überhaupt nicht gemeint von mir! Deine Wohnung ist wunderschön und ich bin der glücklichste Mann der Welt, allein deshalb, weil du mir so viel Vertrauen schenkst, hier an deiner Seite leben zu dürfen!“

Er war vor sie getreten und sah sie um Verzeihung heischend an, wagte es jedoch nicht, sie zu berühren. Misstrauisch beäugte sie ihn.

„Wie war es dann gemeint?“

Roland holte tief Luft, wusste aber, dass er um eine ehrliche Antwort nicht herumkam.

„Du weißt ja, dass ich auf der Abschussliste der Mafia stehe und deshalb nicht nach Stuttgart zurück kann. Die Mafia würde durch ihre Kontakte in unseren Reihen umgehend über meine Rückkehr informiert werden.“

„Das weiß ich doch alles! Aber was hat das mit mir ...“ Entsetzt brach Frauke ab und starrte ihn ungläubig an. „Du hältst mich für korrupt? Oh Gott, das ist ja noch viel schlimmer!“

„Ich halte dich keineswegs für korrupt! Aber nach Jahren auf der Flucht entwickelt man eben eine leichte Paranoia. Ich selbst habe in Stuttgart in einem einfachen Stadtteil in einer kleinen Dreizimmerwohnung gelebt. Das nicht etwa, weil ich es besonders toll gefunden hätte, sondern weil ich mir schlicht nichts anderes leisten konnte! Daher ging ich automatisch davon aus, dass es dir ähnlich geht. Als du mich dann in diese Luxus-Wohnanlage mitnahmst, war ich schlicht völlig überrumpelt!“

Frauke verspürte den Impuls, ihn rauszuwerfen und Schluss mit ihm zu machen. Wie konnte er auch nur im Entferntesten auf die Idee kommen, sie könnte korrupt sein! Mit einem solchen Mann konnte es keine Basis für ein gemeinsames Leben geben!

Zugleich wusste sie, dass sie ihn tatsächlich überrumpelt hatte. Sie hätte ihm vorher erzählen sollen, dass sie viel Geld besitzt und für ihren Lebensunterhalt nicht arbeiten müsste. Aus Angst, er würde dann vielleicht nicht sie, sondern ihr Geld lieben, hatte sie es unterlassen. Also atmete sie tief durch.

„Ich zeige dir das Gästezimmer, dann fahre ich zurück ins Präsidium. Lass uns heute Abend weiterreden.“

„Das ist eine ausgezeichnete Idee! Darf ich vor dem Reden für uns kochen?“

Den restlichen Arbeitstag verbrachte Frauke damit, die Hintergründe der Drohungen gegen „Willkommen in Eckernförde“ zu recherchieren. Zunächst sprach sie aus diesem Grund mit einem Mitarbeiter des Verfassungsschutzes. Der wusste nichts wirklich Neues. Solche Drohungen entsprangen immer einem rechtsradikalen, rassistischen Milieu. Der Eckernförder Verein war vonseiten des Verfassungsschutzes bisher nicht als besonders gefährdet eingeschätzt worden. Sollte es sich tatsächlich um einen politisch motivierten Mord an Frau Behrendt handeln, wäre es ungewöhnlich, dass bisher noch kein Bekennerschreiben aufgetaucht ist.

Nach dem Telefonat fragte Frauke sich, ob diese Spur zum Mörder führte. Natürlich bestand erfolgreiche kriminalistische Arbeit hauptsächlich darin, in die Irre führende Spuren auszuschließen, aber es machte mehr Spaß, erfolgversprechende Spuren zu verfolgen. Somit rief sie kurzerhand bei diesem Jonas vom Verein „Willkommen in Eckernförde“ an und bestellte ihn am nächsten Tag für eine Befragung ein. Dass dieser sich auf den Termin bei ihr tatsächlich zu freuen schien, verdarb ihr selbst ein bisschen die Freude.

Daraufhin rief sie noch beim Landeskriminalamt an, um auch deren Informationen über Drohungen gegen den Verein zu erfragen. Dort reagierte man ausgesprochen misstrauisch, bot aber schließlich an, dass eine zuständige Person sie im Polizeipräsidium zurückrufen werde.

Der versprochene Rückruf ließ auf sich warten. Frauke hatte längst die Arbeit des Tages ordnungsgemäß dokumentiert und überlegte, Feierabend zu machen. Schließlich konnte das LKA auch erst am nächsten Tag oder womöglich noch später, vielleicht auch gar nicht, zurückrufen. Als sie bereits ihre Jacke anzog, klingelte ihr Dienstapparat. Sie zögerte kurz, zeigte das Display doch nur die eigene Telefonzentrale an, nahm den Anruf dann aber doch noch entgegen.

Es handelte sich um eine Frau Semmelrogge vom Landeskriminalamt, die, um jede Täuschung auszuschließen, sich über die Telefonzentrale mit ihr hatte verbinden lassen, statt die von Frauke hinterlassene Direktdurchwahl zu nehmen. Leider wusste auch die misstrauische Frau Semmelrogge nichts Konkretes über Drohungen gegen den Verein. Frauke überlegte frustriert, das sinnlose Telefonat zu beenden, entschied sich dann aber für einen letzten Versuch.

„Können Sie mir dann nicht wenigstens etwas Allgemeines über Ihre Ermittlungen gegen die Rechtsradikalen sagen?“

„Etwas Allgemeines! Wie meinen Sie das?“

„Wie arbeiten Sie? Wie kommen Sie an Informationen über die Rechtsradikalen?“

„Warum wollen Sie das wissen?“

„Weil ...“

Frauke brach ab. Warum misstraute die Kollegin ihr derart? Sofort kam ihr Rolands Misstrauen ihr gegenüber wenige Stunden zuvor in den Sinn.

„Mich interessiert durchaus sehr, warum Sie etwas über unsere Ermittlungsmethoden gegen das rechte Milieu erfahren wollen!“, hakte Frau Semmelrogge in scharfem Ton nach.

„Ach, vergessen Sie es!“

Frauke wollte das Gespräch einfach beenden, hatte die Rechnung aber ohne ihr Gegenüber gemacht.

„Das werde ich ganz sicher nicht vergessen! Arbeiten Sie überhaupt wirklich an einem Mord mit rechtsradikalem Bezug? Oder wollen Sie uns aushorchen, um Ihre so gewonnenen Informationen denen zuzustecken?“

„Ist das Ihr Ernst? Sie verdächtigen mich der Informationsweitergabe an Rassisten?“

„Sie brauchen sich jetzt nicht künstlich aufzuregen! Schließlich haben Sie keine Ahnung, was wir hier schon alles erlebt haben!“

Fassungslos legte Frauke auf. Wie konnte es sein, dass man sie zweimal an einem Nachmittag für bestechlich hielt? Noch während sie um ihre Fassung rang, betrat ihr Chef, Kriminalrat Andreas Bode, ihr Büro.

„Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“, fragte er bei ihrem Anblick.

„Eine Kollegin vom LKA hat mich gerade beschuldigt, für Rassisten zu spionieren!“

Er runzelte seine Stirn.

„Hat sie das?“

„Ja!“

Andreas hob eine Augenbraue.

„Was hast du von der Kollegin denn wissen wollen?“

„Ich wollte eher allgemeine Informationen zu deren Ermittlungen gegen das rechte Milieu ...“

Er hob seine Hände, woraufhin sie sofort abbrach. Stattdessen stöhnte sie laut, wurde ihr in diesem Moment doch klar, wie unprofessionell sie sich verhalten hatte. Ihr Vorgehen konnte tatsächlich leicht missverstanden werden.

Das lag nur an Rolands Misstrauen ihr gegenüber! Der Stachel saß unerwartet tief. Aus einem Impuls heraus fragte sie Andreas, den sie mehr als Freund denn als Vorgesetzten ansah:

„Glaubst du, hier bei uns sind manche Kollegen korrupt? Ich meine, haben sich manche von uns von der Mafia kaufen lassen?“

Seine Augen weiteten sich.

„Jetzt mache ich mir aber wirklich Sorgen um dich!“

Ungefragt nahm er ihr gegenüber Platz.

„Was ist heute nur los mit dir?“

Frauke verspürte den starken Drang, Andreas alles über sich und Roland zu erzählen. Zu gerne wollte sie ihre Empörung, von Roland der Korruption verdächtigt worden zu sein, mit ihm teilen. Außerdem würde sie Andreas gerne bitten, in Stuttgart Informationen über Roland einzuholen. Jener hatte sie äußerst eindringlich genau hiervor gewarnt, hatte behauptet, das würde die Mafia auf seine Spur bringen.

Aber wie konnte sie sich sonst sicher sein, dass er tatsächlich ein ehemaliger Polizist war? In diesem Moment kam ihr ein schrecklicher Verdacht. War Roland ein Heiratsschwindler, der von ihrem Geld und ihrer Leidenschaft für die Polizei wusste? Hatte er sie in der Türkei ganz gezielt angebaggert, womöglich sogar die Szene mit der Frau und den beiden Männern in der Alora-Bar inszeniert, um sie als „Weißer Ritter“ für sich einzunehmen?