Tod auf der Northumberland: Der erste Fall für John Gowers - Daniel Twardowski - E-Book
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Tod auf der Northumberland: Der erste Fall für John Gowers E-Book

Daniel Twardowski

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  • Herausgeber: dotbooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Wohin kannst du fliehen, wenn es um dich herum nur Wasser gibt? „Tod auf der Northumberland“ von Daniel Twardowski jetzt als eBook bei dotbooks. New York, 1865: Privatdetektiv John Gowers wird von einem mächtigen und skrupellosen Feind verfolgt und muss deshalb die Stadt verlassen. Da kommt ihm der neue Auftrag sehr gelegen: Angeblich hat sich ein Mann auf einem britischen Segelschiff erhängt. Seine Tochter glaubt nicht an einen Selbstmord, und Gowers schifft sich als ihr Bruder getarnt auf der Northumberland ein. Doch kaum hat er mit seinen Ermittlungen begonnen, geschehen zwei weitere brutale Morde – und Gowers muss sich fragen, ob er auf hoher See wirklich sicher ist … „Tod auf der Northumberland“ ist der erste Teil einer packenden historischen Kriminalserie voller Spannung, Intrigen und Verrat. Die Presse über Daniel Twardowskis Kriminalserie: „Twardowski zeichnet ein höchst buntes Bild der damaligen Zeit, glänzend recherchiert wie fabuliert. Sein Roman entwickelt einen wunderbaren Sog.“ Focus Online „Spannende, mitreißende Unterhaltungsliteratur mit historischer Tiefe.“ Bestsellerautorin Anne Chaplet Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Tod auf der Northumberland“ von Daniel Twardowski. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

New York, 1865: Privatdetektiv John Gowers wird von einem mächtigen und skrupellosen Feind verfolgt und muss deshalb die Stadt verlassen. Da kommt ihm der neue Auftrag sehr gelegen: Angeblich hat sich ein Mann auf einem britischen Segelschiff erhängt. Seine Tochter glaubt nicht an einen Selbstmord, und Gowers schifft sich als ihr Bruder getarnt auf der Northumberland ein. Doch kaum hat er mit seinen Ermittlungen begonnen, geschehen zwei weitere brutale Morde – und Gowers muss sich fragen, ob er auf hoher See wirklich sicher ist …

„Tod auf der Northumberland“ ist der erste Teil einer packenden historischen Kriminalserie voller Spannung, Intrigen und Verrat.

Die Presse über Daniel Twardowskis Kriminalserie:

„Twardowski zeichnet ein höchst buntes Bild der damaligen Zeit, glänzend recherchiert wie fabuliert. Sein Roman entwickelt einen wunderbaren Sog.“ Focus Online

„Spannende, mitreißende Unterhaltungsliteratur mit historischer Tiefe.“ Bestsellerautorin Anne Chaplet

Über den Autor:

Hinter dem Autorennamen Daniel Twardowski steht der Literatur- und Medienwissenschaftler Dr. Christoph Becker, geboren 1962. Er lebt als freier Schriftsteller in Marburg und erhielt u. a. den Förderpreis zum Literaturpreis Ruhrgebiet, ein Daimler Chrysler-Stipendium der Casa di Goethe in Rom, den Oberhausener Literaturpreis und den Deutschen Kurzkrimipreis für Nachtzug.

Die Website des Autors: http://www.twardowski-autor.de/

Bei dotbooks erscheinen außerdem Das blaue Siegel und Fluch des Südens, Band zwei und drei der Kriminalreihe um John Gowers.

***

Neuausgabe Juni 2015

Copyright © der Originalausgabe 2009 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Tischenko Irina

ISBN 978-3-95824-201-2

***

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Daniel Twardowski

Tod auf der Northumberland

Der erste Fall für John Gowers

Kriminalroman

dotbooks.

Fer in Northumberlond the wawe hire caste

Geoffrey Chaucer, Canterbury Tales

1. Kapitel

Die Stadt der Toten lag auf einem langgestreckten Hügel über der Stadt der Lebenden. Jetzt, Ende Februar 1865, waren die Bäume und Büsche kahl, und nur der Nebel entzog Gräber, Grüfte und Mausoleen dem Blick aus dem Tal der Seine. Grau war der Sandstein geworden und mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, seit hier der erste Sarg in die Erde gelassen wurde. Siebzigtausend waren ihm seither gefolgt und die Cimetière du Père Lachaise zu einer moosüberwucherten Nekropolis der steinernen Engel, weinenden Statuen, Marmorportale gewachsen, für die es keinen Stadtplan und keine Karte gab.

Es wurde früh dunkel. Ein schlurfender Kirchendiener lief schon seit einer Stunde mit einer Handglocke die breiten Wege ab, um den Besuchern zu verkünden, dass der Friedhof geschlossen würde. Als Letzter, die Friedhofswärter wussten es schon, kam wieder der Engländer. Ein Ahnenforscher, hieß es, und sie lachten über ihn, der selbst im tiefsten Winter, die Hände in fingerlosen Handschuhen, die verstecktesten Pfade abging und auf einem schmutzigen Bogen Papier einzeichnete. Er suchte die ersten, ältesten Gräber, hieß es, und musste deshalb oft dicht an die verwitterten Grabsteine heran, um die von Regen und Zeit ausgewaschenen Buchstaben und Zahlen entziffern zu können. Einmal war eine Grabplatte unter ihm eingebrochen, und er konnte von Glück sagen, dass man seine Schreie gehört und ihn zwischen den Knochen herausgesammelt hatte, ehe die Nacht und die Kälte kamen.

Der Engländer war ein kleines, verhutzeltes Männchen, schlecht rasiert und ernährt, der in den Kleidern, die er den ganzen Winter hindurch und offenbar auch schon lange vorher getragen hatte, beinahe selbst aussah wie eine der alten Leichen, die er so eifrig aufsuchte. Die schmiedeeisernen Tore schlugen hinter ihm zu, ein riesiger Schlüssel drehte sich jaulend im Schloss. Wieder ein Tag.

Er ging langsam den Hügel hinunter, überlegte, ob er sich heute eine Droschke leisten sollte, und entschied sich dann dagegen. Nach anderthalbstündigem Fußmarsch quer durch die riesige Stadt erreichte er, am Ende doch jämmerlich durchgefroren, sein Quartier. Die Concierge, eine dumme junge Person mit großen Brüsten und kleinem Kopf, begrüßte ihn, ehe er im zugigen Treppenhaus an ihrem Fenster vorbeihuschen konnte.

»Ah, Monsieur! Sie hatten Besuch.« Sie sagte es so strahlend wie jemand, der froh ist, eine erfreuliche Mitteilung weiterzugeben, und tatsächlich hatte die Concierge sich gefreut, als Monsieur Jacqueson heute Besuch bekam. Er hatte noch nie Besuch bekommen in den zwölf Monaten, die er jetzt oben im spärlich beheizten Dachgeschoss wohnte. Zeitweise war er ihr schon ein wenig unheimlich vorgekommen in seiner Absonderlichkeit, denn sie las mit Hingabe die Mord- und Schauergeschichten in den fliegenden Blättern.

»Besuch?«, fragte er jetzt, als hätte er sie nicht richtig verstanden. Sein Französisch war manchmal komisch, aber immer sehr schlecht. »Besuch für mich?« Seine Augen flackerten unruhig. »Wo? Wann? Wer?«

»Oh, ein Mann, ein Freund«, sagte sie nicht mehr ganz so strahlend. »Heute Nachmittag. Er kennt Sie, er weiß Ihren Namen!« Sie dachte jetzt selber an einen Polizisten.

»Wo? Wo ist er?«, fragte Jackson zitternd vor Kälte und drehte sich suchend um, bevor sie noch antworten konnte.

»Er ist wieder fortgegangen, ich soll Sie grüßen. Morgen früh um acht wird er Sie aufsuchen.«

»Morgen!«, sagte Jackson, und sein Mund öffnete sich mehrmals. Sein Atem strich kalt über ihr Gesicht, als er jetzt ganz nahe herankam. »Sicher? Ist er sicher fort? Er ist nicht mehr da?!« Als er sah, dass er der jungen Frau Angst machte, verzog er den Mund zu einem hässlichen Grinsen. »O ja, morgen. Ein guter Freund, ja. Vielen Dank.«

2. Kapitel

Eine Entführung war es jedenfalls nicht.

John Gowers war in den letzten drei Tagen und Nächten viel gelaufen, um das herauszufinden. Jetzt, als er es wusste, zog er zuerst seine Stiefel aus, noch ehe er die Tür hinter sich abschloss. Der Himmel über New York war dunkel wie blaue Tinte und würde bald schwarz sein.

Gowers ließ die Beute des Tages auf den Schreibtisch fallen und öffnete das einzige Fenster seines Büros, machte aber kein Licht. Er zog den Vorhang zurück, der den Raum teilte; den größeren Teil zum Arbeits- und Empfangsraum für Klienten, den kleineren zu Schlafzimmer und Küche machte – wenn man es denn so nennen wollte. Ohne hinzusehen, nahm er ein Glas aus dem Regal, das sein gesamtes Küchenmobiliar darstellte, goss Wasser aus einer von mehreren Feldflaschen hinein und verzog den Mund schon beim ersten Schluck. Er überlegte kurz, wann er das Wasser abgefüllt hatte, kam aber nicht darauf. Die Flasche jedenfalls stammte aus einem anderen Jahrzehnt und hatte noch die alten Bleinähte. Es schmeckte entsprechend.

Gowers ging zu seinem Schreibtisch, nahm eine halb volle Flasche Rum heraus und schüttete, den Daumen auf der Öffnung, ein paar Tropfen in die bleierne Flüssigkeit. Anschließend leckte er genussvoll den Daumen ab und stand eine Weile am offenen Fenster.

Hoch über den Dächern kreisten schnarrend ein paar hundert schwarze Vögel, losgerissene kleine Fetzen der Nacht, die langsam über die Stadt kroch. Ihr heiseres Schreien mochte ein Streit über die Schlafbäume sein, die sie aufsuchen würden. Nach Brooklyn hinüber – nein, über die Bucht – Staten Island, der Nacht entgegen – desto schneller ist sie vorbei – in den Park, Central Park, wozu ist der sonst gut?

Gowers achtete nicht auf den Ausgang der Sache. Die Vögel verschwanden oder wurden von der Dunkelheit ausgelöscht. Obwohl man im Zimmer jetzt nichts mehr sehen konnte, setzte er sich an seinen Schreibtisch, ohne Licht anzuzünden. Er legte beide Füße auf den Tisch und spürte den Nachtwind durch die Löcher in seinen Socken. Die Kälte sagte ihm, dass auch der Spätsommer vorbei war. Zielsicher angelte er nach einer Zigarrenkiste in der untersten Schublade und seufzte schon in der Vorfreude. Wie hatte Lincoln es formuliert? Eine Zigarre ist ein länglicher Gegenstand mit einem Feuer am einen und einem Narren am anderen Ende. Es ist gut, in Amerika zu sein, dachte Gowers. Die Verfassung garantierte jedem Mann das Recht, sich aus freiem Willen zum Narren zu machen.

Er drehte die echte Havanna, den einzigen Luxus, den er sich gönnte, erst lange unter der Nase, schnüffelte ausgiebig daran. Aber als er das Zündholz am Stuhlbein anriss, arbeitete er schon wieder. Im Licht der kleinen Flamme sah Gowers sich noch einmal die reichlich pornografische Aufnahme an, die das Ergebnis seiner Ermittlungen war. Das Gesicht der jungen Frau, die über ihre Schulter hinweg in die Kamera lächelte und dabei ihr nacktes Hinterteil einem schlaksigen jungen Mann entgegenreckte. Unter seinem Nachthemd ragte eine Erektion hervor, die dem Betrachter unwillkürlich ein beeindrucktes Stirnrunzeln entlockte.

3. Kapitel

Das Zündholz erlosch zwischen seinen Fingern, verbrannte sie, und Gowers fühlte den Schmerz beißender, als ihm lieb war. Früher hatte er mehr ausgehalten. Über sich selbst enttäuscht, leckte er an seinen Fingerspitzen und blies kurz, aber scharf darüber. Dann widmete er sich wieder seiner Zigarre und seinem Fall.

Es war eine hundsmiserable Calotypie, grobkörnig und grau verwaschen. Aber trotzdem und auch ohne Lupe konnte man es ohne Zweifel erkennen: Das Mädchen war Caroline Blandon. Wer der junge Mann war, wusste Gowers dagegen nicht, noch nicht; er hätte es herausfinden können. Aber es war auch eigentlich ziemlich egal. An jeder Straßenecke gab es abgedankte Soldaten, und vermutlich hatte Tingle dem Jungen nicht einmal Geld geben müssen. Man musste einem gesunden jungen Mann nicht extra Geld anbieten, um ein so schönes Mädchen wie Caroline Blandon zu vögeln. Und sei es auch vor dem gläsernen Auge einer alten Mousetrap.

Tingle hatte versichert, dass dieser Abzug der einzige sei; aber Gowers war sicher, dass es noch eine ganze Menge anderer Bilder mit der kleinen Blandon im Mittelpunkt geben würde. Das war aber überhaupt nicht sein Problem.

Sein Problem war, dass er diese Aufnahme Senator Gordon Fitzgerald Blandon zeigen musste, der den Hintern seiner Tochter vermutlich zuletzt vor fünfzehn Jahren auf dem obligatorischen Bärenfell gesehen hatte. Im Büro war jetzt nur noch das regelmäßige Aufglühen der Zigarrenspitze zu erkennen, und insbesondere die Sorglosigkeit, mit der Gowers die Asche in den längst nicht mehr sichtbaren Eimer am Boden schnippte, hätte jede Hausfrau mit äußerstem Argwohn erfüllt. Tatsächlich ging aber kein Stäubchen daneben, auch wenn das beim Zustand des Büros ziemlich egal gewesen wäre.

John Gowers war nicht reich, er hatte keine einflussreichen Freunde, keine Familie, hatte keinen besonderen Ruf, er genoss keine politische Protektion. Wenn ein US-Senator, Tammany-Mann, ein enger Freund von Mr. Fünfzehn Prozent, William Macy »Boss« Tweed, einen kleinen Investigator, einen Straßenköter wie ihn damit beauftragte, seine verschwundene Tochter aufzutreiben, konnte das nur eins bedeuten: Der Mann wollte die Sache nicht an die große Glocke hängen. Oder noch genauer: Der Mann fürchtete das öffentliche Interesse wie der Teufel das Weihwasser. Dass er weder die Stadtpolizei noch das Heer der Spitzel und Zuträger benutzt hatte, über die Tammany Hall verfügte, sagte dem Investigator noch mehr. Vermutlich wusste nicht einmal ein halbes Dutzend Leute, dass Caroline überhaupt verschwunden war.

Weiß Gott, alles wäre einfacher, wenn es eine Entführung gewesen wäre! Gowers hätte das Mädchen gefunden, Papa Blandon wäre begeistert gewesen, die Bezahlung nur eine Formsache. Jetzt stimmte leider nur der erste Teil: Gowers hatte das Mädchen aufgetrieben. Aber wie begeistert würde der Senator von den näheren Umständen sein? Von schmutzigen Fotos, die irgendwann, irgendwie auch seinen feinen Freunden vom Americus-Club vor die stets gierigen Augen kommen würden? Wie es ihm beibringen?

»Ja, Mr. Blandon, Ihre Tochter ist am Leben. Ja, sie hat sogar ziemlich viel Spaß daran … Sehen Sie selbst!«

Gowers musste unwillkürlich lachen, als er sich die Szene vorstellte. Dann dachte er an das Schicksal, das die Überbringer schlechter Botschaften von jeher zu treffen pflegte, und konzentrierte sich wieder auf den Rest seiner Zigarre. Er spürte schon die Hitze an seinen Lippen, als er die Glut vorsichtig mit zwei Fingern abknipste. Den schäbigen Stummel verstaute er in einer Blechkiste, die bereits halb gefüllt mit schwarz angekokelten, trockenen Tabakresten auf der Fensterbank zum Himmel stank. Daneben lag eine Pfeife.

4. Kapitel

Jackson stieg hastig die vier steilen Treppen hoch und geriet dabei außer Atem. Sein Herz klopfte merkwürdig kalt in der plötzlich zu engen Brust. Sie hatten ihn gefunden, einer von ihnen! Er wusste nicht, wie, er wusste nicht, wer, aber einer von ihnen hatte herausgefunden, wo er war und was er tat. War es Turner? Mit Turner hatte er manchmal darüber gesprochen, aber mit wem mochte seinerseits Turner geredet haben? Sollte er auf den geheimnisvollen Besucher warten? Vernünftig mit ihm reden? Aber womöglich verlangte der andere dann Auskunft darüber, wie weit er gekommen war bei seiner Suche.

Die Uhr zeigte gerade neun. Elf Stunden. Nein, er würde Paris verlassen, mit dem ersten Zug. Er würde nach Marseille gehen, in die Richtung, die niemand erwarten konnte.

Mit fahrigen Händen entzündete er das Gaslicht und goss dann einen Schluck Branntwein in das Glas, das er neben der Flasche auf dem Tisch stehen gelassen hatte. Eine kleine Pfütze war noch vom Morgen darin. Anschließend begann er, seine wenigen Sachen zu packen, trat an den Kleiderschrank und holte eine Hutschachtel heraus, seinen Schatz. Kaum hatte er ihn in den Händen, wurde er ruhiger.

Er stellte Flasche und Glas auf den Boden und entfaltete auf dem Tisch den großen, sehr sauber gearbeiteten Plan, den er aus der Hutschachtel genommen hatte; einen Plan des Friedhofs Père Lachaise, die geduldige Arbeit der letzten zwölf Monate. Er war sehr stolz auf sein Werk. Auch die kleinsten Wege waren eingezeichnet und Tausende von Gräbern, oft ganze Gräberfelder nur durch ein rechteckiges Kästchen markiert, in das dann ein kleines V, wie ein Haken, eingezeichnet war.

Es war keine leichte Arbeit gewesen. Wichtig waren die Grabstätten, die mit Namen und Jahreszahlen verzeichnet waren, denn das waren die, die er suchte: die ältesten, sämtlich vor dem B. Juli 1815 angelegt. Andere interessierten ihn nicht. Durch Dickicht und Dornen hatte er sich hindurchgewunden, um die Daten zu sammeln.

Elf Stunden! Das war viel Zeit. Eigentlich konnte er die Gräber und Grüfte, die er heute erkundet hatte, noch in seinen Plan eintragen. Er ging zu seinem Mantel, holte den vom Nebel und seiner Körperwärme noch klammen Bogen Papier heraus und begann mit der Ruhe, die nur eine oft und mit Geschick ausgeübte Tätigkeit vermittelt, seinen Plan vom Père Lachaise weiter zu vervollständigen.

Kein Geräusch schreckte ihn auf, keine Angst trieb ihn um, er war ganz bei sich. Und als er nach drei Stunden fertig war, aufstand und die vom Schreiben verkrampften Finger lockerte, lief er in den Bereich der seidenen Schlinge, wie eine Fliege im Netz einer Spinne landet. Ahnungslos, weich, ohne Todesangst, nur zutiefst verwundert. Dabei stand die Spinne schon lange hinter ihm, reglos, ein wenig belustigt.

Als die Schlinge sich zuzog, zuerst wie ein Lufthauch, ein weiches Gefühl am Hals, ächzte der kleine Mann überrascht. Dann zappelte er heftig, wehrte sich. Aber der Mörder war riesig, oder er stand auf einem Stuhl. Mühelos hob er sein Opfer hoch, das noch um sich schlug und mit den Beinen strampelte, als es den Boden unter den Füßen verlor. Ein letzter schwacher Hieb traf nur den Hut des Mörders, der auf dem Boden einmal um sich selbst kreiselte und das Letzte war, was die hervorquellenden Augen des Opfers wahrnahmen.

Der Mörder, der das rechte Bein schlurfend nachzog, ging zum rückwärtigen Fenster, öffnete es und blickte hinaus in die Nacht und die enge, unbeleuchtete Gasse weit unten. Er entfernte das Seidentuch, das tief in den Hais des Toten eingeschnitten hatte, und warf den kleinen Ahnenforscher dann vier Stockwerke hinab, mit dem Kopf voran, sodass mit ein wenig Glück Schädel und Hals brechen würden. Anschließend prüfte er fachmännisch den Plan der Cimetière du Père Lachaise und hob anerkennend die Augenbrauen, ehe er ihn zusammenfaltete und einsteckte.

»Gute Arbeit!«, lobte eine belustigte Stimme den kleinen Mann, der es tief unten auf dem Pflaster nicht mehr hören konnte.

5. Kapitel

»Eine gute und eine schlechte Nachricht«, sagte Gowers. »Die gute: Ihre Tochter lebt und ist gesund. Die schlechte: Sie ist in unangenehme Gesellschaft geraten. Schmutzige Geschäfte …«

Er händigte dem Senator die bewusste Aufnahme aus und sah taktvoll aus dem Fenster, während sein Klient sie aufmerksam betrachtete. Gowers hörte das langsame Ausatmen des beleibten Mannes, dann zu seiner Bestürzung, wie etwas bedächtig zerrissen wurde. Der Investigator drehte sich wieder zu Blandon um, sammelte die Teile der Calotypie im Ascheimer ein und hielt wortlos ein Zündholz darunter. Langsam löste sich die Schande der Blandons in Rauch auf.

»Wollen Sie die Adresse Ihrer Tochter auf einem gesonderten Blatt?« Noch mehr Entgegenkommen war nicht möglich.

»Das ist nicht meine Tochter, Mr. Gowers. Eine gewisse Ähnlichkeit, ja, aber … Ein Mann in meiner Position kennt solche Menschen nicht.«

Gowers spürte die Bedrohung, die von dieser Antwort ausging. Aber er brauchte auch Geld.

Mit einem verkniffenen Lächeln erhob sich der Senator und sagte: »Da werden Sie wohl weiter nach Caroline suchen müssen.«

Der Investigator warf einen ironischen Seitenblick auf das Häufchen Asche, das von Caroline Blandon übrig geblieben war, und stellte langsam die entscheidende Frage: »Und darf ich mir erlauben, Ihnen meine bisherigen Bemühungen in Rechnung zu stellen, Sir?«

Gordon F. Blandon zog die Augenbrauen hoch, und jeder Wähler im Staat New York hätte seine Miene für die Überraschung eines Ehrenmannes angesichts einer unzumutbaren, einer fast kriminellen Forderung gehalten. Voller Enttäuschung über die Schlechtigkeit der Welt stellte er fest: »Sie werden für Ihren Erfolg bezahlt, Mr. Gowers. Ich kann es mir nicht leisten, für Misserfolge auch noch gutes Geld hinzulegen.«

Blandon ließ offen, ob er damit das Ergebnis von Gowers’ Ermittlungen oder aber seine missratene Tochter meinte. Während der Senator dann seinen Hut aufsetzte und mit festen Schritten zur Tür ging, überlegte der Investigator, ob er wirklich seine Existenz aufs Spiel setzen würde, wenn er die Frage stellte, mit der er sein Geld vielleicht doch noch eintreiben könnte.

»Was werden Sie Ihrer Frau sagen, Sir?«

Gowers lächelte, als Blandon in der Tür stehen blieb. Das Lächeln sollte gleichzeitig unschuldig und entschuldigend aussehen, schließlich war dies keine Erpressung, nur eine Mahnung. Der fette alte Mann wirkte jetzt auch nicht mehr enttäuscht oder überrascht. Nur noch ein wenig amüsiert.

»Sie sind mir als diskret und integer empfohlen worden, Mr. Gowers. Und ich werde Sie als diskret und integer weiterempfehlen. Mehr kann ich nicht für Sie tun.«

Aber jede Menge gegen mich, du fetter Hurensohn, dachte Gowers und wusste nun doch, dass von seiner nächsten Frage mehr abhing, als ihm lieb sein konnte.

»Darf ich Sie trotzdem um einen Vorschuss für meine weiteren Bemühungen bitten, Sir?«

Blandon sah ihm zum ersten Mal seit ihrer kurzen geschäftlichen Bekanntschaft direkt in die Augen, vielleicht eine Sekunde länger, als er selbst wollte.

»Ich habe verstanden, junger Mann. Sie werden natürlich bekommen, was Ihnen zusteht.«

»Danke verbindlichst, Sir.« Gowers verbeugte sich knapp und hätte um ein Haar hinzugefügt: Auch ich habe verstanden.

Dumm von ihm, dass er sein einziges Beweisstück verbrannt hatte.

6. Kapitel

Sie waren wieder nach Brighton gefahren, wo er das Hotel kannte, in dem noch nie jemand Fragen gestellt hatte – wenn man diesen Service auch extra bezahlen musste. Es war kein besonders gutes Hotel, aber die Betten waren sauber. Sie hatten in einem Restaurant an der Promenade zu Abend gegessen, waren dann noch ein wenig in der frischen Seeluft spazieren gegangen und hatten schließlich getan, wozu sie hergekommen waren.

Madeleines Körper, die Weichheit, der Duft ihrer Haut elektrisierten ihn, obwohl sie fast zehn Jahre älter war. Unaussprechlich, was sie mit ihm tat, wenn seine Hände gefesselt waren. Unwiederholbar, welche Wörter dabei über ihre Lippen kamen, deren Schönheit und Ebenmaß ihm zuerst aufgefallen waren, als sie während einer Teegesellschaft der Offiziersfrauen Verse von Keats und Byron rezitiert hatte. Sie schürzte diese ebenmäßigen Lippen und grub ihre Zähne in sein Fleisch, bis das Blut kam, und wenn sie ihn losmachte, zitternd vor Angst und Lust, schlug er sie dafür, wie er keinen der Traingäule geschlagen hätte, die er so hasste. Sie beide liebten es.

Satt- und wundgeliebt schliefen sie danach ein paar Stunden, dann stahl sich Madeleine im Morgengrauen aus dem Bett. Er sah gern zu, wie sie sich anzog, und es erregte ihn, dass sie sich niemals wusch nach einer solchen Nacht, nur das Gesicht ein wenig. Sie mochte es nicht, wenn er ihr zusah. Sie glaubte, dass ihr Alter ihr am frühen Morgen anzusehen war, und sie hatte recht. Aber er genoss das Gefühl seiner primitiven Macht, wenn sie so nach Hause fuhr: Lady Generalmajor Burtlock, auf deren Schenkeln noch seine Schläge brannten.

Er genoss es auch, wenn ihm das jüngste, unschuldigste Zimmermädchen das Frühstück brachte, während er nur in Hemd und Hose auf dem noch warmen Bett lag. Leider gab es in diesem Hotel keine jungen, unschuldigen Zimmermädchen, und so musste er sich in Brighton stets das Vergnügen versagen, das er sich auf ihrer Reise nach Schottland so gern gemacht hatte: einer vor Scham glühenden Sechzehnjährigen dabei zuzuschauen, wie sie mit nervösen Fingern die Laken richtete, die von dem Unaussprechlichen zerwühlt waren.

Vielleicht maß er solchen sekundären Reizen einen zu großen Wert bei, vielleicht war überhaupt diese ganze wundervoll schmutzige Affäre mit der Frau seines Vorgesetzten nur ein Kitzel, der ihm die Schwere der Welt erträglich machte; er wusste es nicht. Aber er wusste, dass die Sommersprossen in seinem Gesicht allmählich aufhörten, jungenhaft zu wirken, und nur noch albern aussahen, dass seine kurzen Locken grau wurden, seine Hinterbacken durchhingen, dass er nun beinahe fünfunddreißig war und noch immer nicht mehr als Leutnant.

»Unseren sauer gewordenen Pennäler« hatte ihn Burtlock im Offizierskasino genannt, und er hatte nicht den Mut – und nicht das Recht, redete er sich ein –, den Mann zu fordern.

Er saß noch beim Frühstück, barfuß, in Hemd und Hose am offenen Fenster, so müde und satt von Madeleines elaborierter Leidenschaft, dass er nicht hörte, wie die Zimmertür sich öffnete. Er sah den Mann erst, als der ihn schon eine Weile beobachtet hatte, und fuhr zusammen, für einen Soldaten ein wenig zu heftig.

»Guten Morgen, Turner«, sagte der ungebetene Gast und legte einen erschreckend hohen Zylinder auf der Garderobe ab. »Oder heißt es nun doch Captain Turner?« In seinen Augen glitzerte es belustigt.

»Sie!«, sagte Turner mit einer Mischung aus Abscheu und Erstaunen.

»Höchstselbst«, bestätigte der Mann, durchquerte mit seltsam federnden Schritten das Zimmer, zog einen zweiten Stuhl an den Tisch und setzte sich unaufgefordert dem erschöpften Liebhaber gegenüber.

»Was wollen Sie? Es gibt nichts mehr zu besprechen, wir sind fertig miteinander!«

»Jackson ist tot.«

»Er war ein Narr.«

»Er war in Paris.«

»Mein Gott, haben Sie diese dumme Geschichte noch immer nicht aufgegeben?« Der barfüßige Leutnant schnaubte kurz, es sollte ironisch wirken.

»Nein«, sagte sein Gegenüber unbeeindruckt, »aber Sie haben es auch nicht aufgegeben, Charlie, obwohl wir ausführlich darüber geredet haben, und ich muss sagen, das enttäuscht mich doch etwas!«

Charles Turner wurde ein bisschen rot und lachte zuerst wie ertappt, aber dann mit aller Sicherheit des Stärkeren. Er hatte es wirklich nicht aufgegeben, und warum sollte er auch? Es ging um einen Reichtum, der ihn Burtlock, dieses widerliche Hotel, die Armee und das ganze Britische Empire vergessen lassen würde.

»Und wenn schon«, sagte er. »Dann möge einfach der bessere Mann gewinnen!«

Der Besucher beugte sich vor, als wolle er Turner ein Geheimnis verraten oder ihn durch die schiere körperliche Nähe einschüchtern, und der ältliche Leutnant lehnte sich ebenfalls nach vorn, damit es nicht aussähe, als hätte er Angst. Aber bevor einer von beiden etwas sagen konnte, fühlte Charles Turner, wie unter dem Tisch etwas unglaublich Spitzes, Scharfes oberhalb des Schambeins in seinen Leib eindrang. Es war ein seltsames neues Gefühl, nach all seinen verwirrenden Erfahrungen mit Madeleine, jedenfalls ehe der Schock einsetzte.

7. Kapitel

Schon auf der steilen, durch ein nahezu blindes Fenster nur schwach beleuchteten Treppe sah man, dass die Tür zu Tingles »Atelier« offen stand, und das war ein schlechtes Zeichen. Gowers streifte den Totschläger über, nur sicherheitshalber, falls es Ärger geben sollte. Aber als er die Tür aus der Nähe sah, wusste er, dass es den Ärger schon gegeben hatte. Sie war eingetreten worden.

Wer hätte gedacht, dass der alte Hurensohn sich so schnell das Firmenzeichen einprägen würde, dachte Gowers mit widerwilliger Bewunderung und betrat vorsichtig den Korridor. Der erste Blick ins Atelier sagte ihm, dass Fred Tingle ruiniert war.

Da war wieder dieses malerische Durcheinander von Polstern, Kleiderständern, Essensresten und Damenwäsche. Nur in der Luft hing diesmal mehr als der Geruch von Tabak, billigem Parfüm und fotografischen Chemikalien. Es roch nach Blut. Zwei Stühlen hatte man die Beine gebrochen, der Tisch lag auf dem Rücken wie ein totes Pferd, und die großflächigen Hintergrundpinseleien stapelten sich zerschnitten und zerrissen vor der Zimmerwand, die sie bis vor zwei, vielleicht drei Stunden in eine Steilküste, eine Waldlichtung mit See, einen Kerker und in das unvermeidliche Serail verwandelt hatten.

Nebenan hörte man jetzt ein kratzendes Geräusch. Gowers ging weiter durch den schmalen Korridor. Vorsichtig wich er den Scherben einer zerbrochenen Flasche aus, im bizarr gezackten Fuß noch ein Rest Rotwein. Daneben die Mousetrap, das Glasauge eingeschlagen. Gründliche Arbeit.

Als er näher an das Hinterzimmer herankam, wurde das kratzende Geräusch zu einem Fegen, ein langsames Zusammenscharren der Trümmer einer verlorenen Existenz. Dann sah Gowers die weinende Farbige. Sie erschrak kaum, als sie ihn bemerkte, und gerade daran erkannte er, dass sie heute schon Schlimmeres als ihn gesehen hatte.

»Oh, wir haben geschlossen, geschlossen, Sir. Kein Geschäft heute.«

Und auch sonst kaum wieder, dachte Gowers. Dann fragte er: »Wo ist Mr. Tingle?«

»Mr. Fred? Mr. Fred ist im Hospital, Sir. Sie haben ihn geschlagen, oh, wie haben sie ihn geschlagen!«

Er sah jetzt, dass sie unter anderem die Reste des mannshohen Spiegels zusammenkratzte, der der Verwüstung natürlich nicht entgangen war. Gowers wusste in diesem Moment, dass es bezahlte Straßenschläger gewesen waren. Diese Burschen zerschlugen immer alle Spiegel, egal, ob das nötig war oder nicht. Vermutlich konnten sie ihren eigenen Anblick nicht ertragen. Trotzdem fragte er weiter: »Wer war das?«

»Vier Männer«, sagte sie, »einer sehr groß, sehr groß. Rote Haare. Alle gut angezogen, sehr gut. Ich dachte, sie kämen kaufen, Bilder kaufen. Aber sie rannten die Treppe rauf. Ich konnte die Tür nicht mehr richtig zumachen.«

Sie sah auf den Totschläger an seiner Hand.

»Und alle, alle vier hatten sie das!«

Er streifte den Totschläger ab und steckte ihn in die Manteltasche. Die Aussicht, dass dieses offenbar irische Rollkommando über kurz oder lang auch in seinem Büro auftauchen würde, damit er »bekäme, was ihm zustand«, war wenig erhebend.

»Wo ist Miss Blandon? Caroline?«

Gowers registrierte an der Reaktion ihrer Augen, dass sie erst jetzt wirklich Angst bekam, und er verstand sofort, dass das nicht am Totschläger, sondern an seiner letzten Frage lag.

»Die Carrie ist weg! Carrie kommt nicht wieder!«

»Haben sie sie mitgenommen?«

Sie schüttelte den Kopf. Er sah die Schwellung über ihrem linken Auge und lächelte ihr beruhigend zu.

»Du darfst das nicht sagen.«

Sie schüttelte wieder den Kopf, dann überlegte sie es sich anders und nickte heftig. Gowers starrte auf den undefinierbaren Haufen Müll, den sie zusammengekehrt hatte.

»O Sir!« Sie verstand den Blick falsch, fiel auf die Knie und kramte eine Handvoll zerknickte, halb zerrissene Aufnahmen aus dem Abfall. »Sie wollen Bilder kaufen? Schöne Bilder? Ein paar sind noch … Ein paar …«

8. Kapitel

Diesmal nur Mädchen. Oder Frauen, die versuchten, wie Mädchen auszusehen. Auch die Farbige selbst, in deutlich jüngeren Jahren. Und alle lächelten angestrengt und falsch, ein Lächeln wie aufgemalt, während weiße Knicke, Falten über ihre Gesichter liefen und die traurigen nackten Leiber zerrissen.

Gowers sah sich noch einmal im Zimmer um, scharrte hier und da mit den Füßen in der Verwüstung und wusste endlich, was er nicht sah: Überreste, Fetzen der gewachsten Papiernegative, deren Herstellung sich William Henry Fox Talbot vor einem, Vierteljahrhundert hatte patentieren lassen.

»Wo …«, begann er, aber instinktiv wusste sie, wonach er jetzt suchte, und stellte sich ihm in den Weg. Sie schien mit einem Mal überhaupt nicht mehr naiv, vielmehr entschlossen, ihre letzte Hoffnung auf eine Zukunft mit Fred Tingle bis aufs Leben zu verteidigen. Gowers hob beschwichtigend die Hände.

»Nur eins! Ich will nur ein einziges. Und ich bezahle.«

Zehn Minuten später trug er Caroline Blandon, verewigt in Sodiumchlorid und Silbernitrat, auf seinem Herzen respektive in der Brusttasche. Aber er war noch keinen Block weit gegangen, als er sie sah. Den unvermeidlichen Besuch in seinem Büro hatten sie offenbar noch einmal aufgeschoben, Dringenderes war zu erledigen.

Vier gut, sehr gut gekleidete Iren waren im New York von 1865 eine einigermaßen auffällige Erscheinung. Einer von ihnen war tatsächlich über zwei Meter groß, und alle hatten sie die grimmigen Gesichter von Männern, denen gerade jemand den wesentlichen Unterschied zwischen Calo- und Daguerreotypie klargemacht hatte. Die nun mit Glasplattennegativen, Bleiabzügen und dem übrigen Groß und Klein der Fotochemie auf Du und Du standen und entschlossen waren, ihren Fehler wiedergutzumachen.

Gowers wollte zuerst auf die gegenüberliegende Straßenseite ausweichen. Dann fielen ihm die Farbige und ihr verzweifelter Mut ein, er dachte auch daran, dass die Iren jetzt und hier noch nicht mit ihm rechneten. Er kniete nieder und nestelte an seinem Stiefel herum. Zuerst der Riese!, dachte er noch, und als die Schläger auf seiner Höhe waren, schnellte er aus seiner geduckten Position hoch und trat dem völlig überraschten Mann die Hoden bis weit in die Leisten hinauf. Den zweiten traf er mit dem Totschläger genau zwischen die Augen. Die Wucht seines eigenen Schlags riss Gowers herum, und ein furchtbarer Ellenbogenstoß in die Herzgrube beendete die überraschten Abwehrbewegungen eines dritten Schlägers.

Erst der vierte kam überhaupt dazu, sich zu wehren. Ein ganz junger Bursche, Gowers bewunderte ihn fast ein wenig für seinen Mut. Seine älteren, weit stärkeren Genossen waren innerhalb von zwei Sekunden zu Boden gegangen, aber der Junge dachte gar nicht daran wegzulaufen. Sein Schlag streifte Gowers am Ohr, aber der Investigator packte den Arm und drehte ihn mit einem kraftvollen Ruck aus dem Schultergelenk. Der Junge schrie wie am Spieß, blieb aber auf den Beinen, bis ein Tritt in die Kniekehle auch ihn zu Fall brachte. Alles ging so schnell, dass einige wagemutige Passanten erst stehen blieben, als es schon vorbei war. Gowers wusste, dass diese Männer gekauft waren und sich immer wieder kaufen lassen würden. Dass sie kein Mitleid kannten und keins erwarteten und sich rächen würden, sobald sie wieder dazu in der Lage wären. Ohne weitere Bedenken machte er sich an die hässliche Arbeit des Knochenbrechens.

9. Kapitel

Der Leutnant versuchte, sich auf dem Tisch abzustützen, aufzuspringen, aber da waren plötzlich keine Muskeln mehr, nur ein nasses, warmes Gefühl auf seinen Schenkeln und Geschlechtsteilen. Er krümmte sich unwillkürlich und fiel mit dem Gesicht auf die Tischplatte. Das Ding ging weiter, immer weiter, schräg aufwärts durch ihn hindurch. Es schien endlos zu sein. Erst der Widerstand, den sein Rückgrat bot, schob seinen Körper mitsamt dem Stuhl ein wenig zurück, und der entsetzliche Druck ließ nach. Der Besucher hatte den Griff des Degens losgelassen und stand auf.

Charles Turner stieß sich nun doch vom Tisch ab und fiel auf die Knie. Er öffnete den Mund, um zu schreien, aber er brachte nur eine Art Seufzen hervor, ein langgezogenes »Aaaach!«. Ratlos griff er nach der Klinge, die ihn durchbohrt hatte, und zerschnitt sich die Finger an der scharfen Schneide. Der Griff schien aus Gold zu sein und ragte gut anderthalb Fuß weit aus seinem Körper hervor.

»Ich sehe, Sie interessieren sich für die Waffe, Charlie«, sagte der Mörder trocken. »Keine gewöhnliche Klinge, wissen Sie. Ein Ehrendegen, verliehen an Major Burtlock, für hervorragende Verdienste während der indischen Rebellion.«

Turner hatte begonnen, auf allen vieren zur Tür zu kriechen, wobei der Degengriff schwankte wie ein Grashalm. »Hilfe!«, flüsterte er und hinterließ eine breite Blutspur im Zimmer, ehe der Mörder ihn durch einen Tritt in den Hintern zu Fall brachte. Seit er das Zimmer betreten hatte, waren noch keine fünf Minuten vergangen.

Der tödlich Verwundete zog sich jetzt langsam zum Bett hoch, wogegen der Mörder nichts zu haben schien. Turner wollte immer noch schreien, aber da die weitaus meisten seiner Bauchmuskeln durchschnitten waren und nur noch zu ziemlich sinnlosen Kontraktionen in der Lage, kam nicht mehr als ein Wimmern über seine Lippen, dem verzweifelten Weinen eines Kindes vergleichbar. Er krümmte sich auf dem Bett zusammen, in der kleinen Mulde, die Madeleines schmaler Körper hinterlassen hatte, und versuchte noch einmal vergeblich, die Klinge aus seinem Leib zu ziehen.

Der morgendliche Eindringling hatte seinen Hut wieder aufgesetzt und betrachtete sich im Spiegel. Hinter sich erkannte er das Bett, und er fragte sich, wie er es in Hotelzimmern schon häufig getan hatte, was ein solcher Spiegel wohl schon alles gesehen hatte. Dann wandte er sich wieder seinem Opfer zu, dem inzwischen Blut aus Mund und Nase lief, das aber noch bei vollem Bewusstsein war.

»Immer noch nicht tot?« Er zog den Degen ein Stückchen heraus und drehte ihn in der Wunde, sodass die Schneide Richtung Kopf zeigte. Turner schrie nun doch, aber es klang wie ein helles Gurgeln, und das Blut vor seinem Mund wurde schaumig. Keuchend trieb der Mörder die Klinge durch Eingeweide und Muskeln zum Brustbein hoch, eine schwere, langsame Arbeit, bei der seine Worte seltsam abgehackt wirkten.

»Nun müsste – aber langsam – Ihr Herz kommen – alter Junge!«

Der Körper hörte endlich auf zu zucken, Charles Turner war offensichtlich tot. Aber wenn es stimmt, dass die Seelen der Verstorbenen noch eine Weile am Ort ihres Todes herumschweben, ohne Hass, im vollkommensten Frieden von der Zimmerdecke zurückschauen, dann konnte die Seele des Leutnants über seinen jetzt regelrecht geschlachteten Körper hinweg beobachten, wie der Mörder langsam, als müsse er jeden Schritt bedenken, ans offene Fenster trat und in der hereindringenden Brise tief durchatmete.

Falls man auch noch etwas hört, außer der Stille vor dem Einsatz der himmlischen Chöre, vernahm Turner die wie sinnlos dahingemurmelten Worte: »Die See, Charlie, die See!«

Weit hinten am Strand war schon früh am Morgen ein junges Mädchen im Sommerkleid mit ihrem Hund unterwegs. Sie warf ein Stöckchen, und das alberne Tier sprang ihm nach in die kurzen, kalten Wellen.

Danach soll man angeblich ein helles Licht sehen.

10. Kapitel

HARPER’S WEEKLY, Journal of Civilization, stand dem Tammany-Ring und seinen korrupten Mitgliedern unversöhnlicher gegenüber als jede andere Publikation. Diese Feindschaft und Caroline Blandon – (gut gewachst und schimmernd von Silbernitrat, wie er obszön dachte) – brachten Gowers doch noch eine beachtliche Summe ein, obwohl sie das Bild natürlich nie veröffentlichen würden. Wahrscheinlicher war, dass die Zeitung mit diesem Druckmittel einen hochrangigen neuen Informanten aus dem direkten Umfeld des verhassten Rathauschefs gewann.

Sicher war hingegen, dass der Senator Mittel und Wege finden würde, sich zu revanchieren. Nicht heute, nicht morgen, aber irgendwann in einer der dunklen Straßen, die zu betreten Gowers in seinem Beruf kaum vermeiden konnte. Jeder neue Klient konnte ein Strohmann sein, jede neue Ermittlung in eine Falle führen. Er schwor sich, nie wieder für einen Politiker zu arbeiten, und begann, seine Sachen zu packen. Wie immer fiel ihm dabei seine Mutter ein. Durch so endlos viele Zimmer, Pensionen waren sie gemeinsam gezogen und hatten bisweilen zweimal im Monat die Bleibe gewechselt, halb auf der Flucht, halb auf der Suche nach einem besseren Leben. Was ihm davon geblieben war, waren die Leichtigkeit, mit der er sich von Dingen trennen konnte, die er nicht mehr brauchte, und ein sicheres Gespür dafür, welche Dinge das waren. Außerdem, wenn auch eher mechanisch, eine gewisse Systematik beim Einräumen seiner wenigen wirklichen »Habe«.

John Gowers hatte nie mehr besessen, als sich in einem Reisesack verstauen ließ. Einen zweiten Anzug, einige Hemden, Unterwäsche, eine ausgeblichene Offiziersmütze der Nordstaaten, seinen Army-Revolver, ein paar Kisten Zigarren, das holzgeschnitzte Etui mit der blauen Brille und eine abgegriffene Ausgabe der Canterbury Tales. Sein Messer steckte wie immer in einer Lederscheide in seinem rechten Stiefel, sein eiserner Freund, der Totschläger, in der Manteltasche. Er dachte über die Richtung nach, dachte an New Orleans und fragte sich, ob Maggie noch lebte.

Als er leise Schritte vor der Tür seines Büros hörte, glaubte Gowers zuerst, dass Senator Blandon ungeduldiger war, als er erwartet hatte. Dann erkannte er an der Art des Klopfens, dass ein neuer Fall vor der Tür stand, und legte den Revolver weg, den er instinktiv noch einmal aus seinem Gepäck geholt hatte.

»Ja?«

»Sind Sie der Detektiv?«

Eine Engländerin, wusste Gowers, als sie noch in der Tür stand. Etwas über zwanzig, obere Mittelschicht, merkwürdig blass. Eine Krankheit oder eine Seereise, dachte er. Oder beides.

»Investigator«, erwiderte Gowers. »In Amerika sagen wir: Investigator.«

Die Unsicherheit ihres Gangs, die Art, wie sie den Stuhl zurechtrückte, verriet ihm endgültig, dass sie noch keine drei Stunden an Land war und mit der Blandon-Geschichte nichts zu tun haben konnte. Ein durchgegangener Ehemann, Bruder oder Vater, dachte Gowers. Schulden. Oder eine Erbschaft. Er musterte seine Klientin noch einmal. Sie war nicht hässlich, aber auch keine Schönheit, die man auf den Promenaden Londons oder Brightons vermissen würde. Manchmal stahl sich ein unschöner Zug um ihre Lippen, zeigten die Mundwinkel nach unten, als hätte sie in ihrer Jugend auf etwas Saures gebissen und die Erfahrung nie ganz verwunden. Im Augenblick interessierte ihn aber mehr die schmale Taille, der flache Bauch. Keine Schwangerschaft in den letzten Jahren. Aber egal, er würde den Kerl schon auftreiben …

»Mein Name ist Emmeline Thompson, Mr. Gowers. Mein Vater …«

Erbschaft!, dachte Gowers.

»… ist ermordet worden.« Sie schluckte hörbar. »Jedenfalls glaube ich das.«

Gowers nickte ihr ernst zu. Ohne sie aus den Augen zu lassen, holte er eine Flasche Portwein aus den Tiefen seines Schreibtischs und goss der jungen Dame trotz ihrer heftig abwehrenden Handbewegungen das Glas voll, das für seine Kundschaft reserviert war.

»Erzählen Sie mehr«, sagte er und schloss konzentriert die Augen.

11. Kapitel

Der Investigator wusste, dass die Gegenwart der kleinste Teil der Welt ist; Oberfläche einer sich brechenden Welle, ahnungslos, aber unlöslich verbunden mit der Tiefe, aus der sie steigt, und den Kräften und Widerständen, die sie formen. Seine Mutter hatte ihm von der Welle erzählt, er selbst hatte sie gespürt, in seiner Kindheit schon, und danach in so vielen anderen Zeiten und Situationen, dass man sie verschiedene Leben nennen konnte. Natürlich gab es auch Zufälle, sie waren das Treibgut der Gegenwart und wurden, wenn sie nicht so schnell und spurlos vorübergingen wie ein Fremder in der Menge, ihrerseits Ursache für Wirbel und Strömungen. Die Gegenwart beurteilen, erklären zu wollen, ohne die Vergangenheit zu kennen, hieße, sich von den flüchtigen, oft genug sinnlosen, eben zufälligen Eindrücken des Augenblicks blenden zu lassen, sich nicht an der Sonne, den Sternen zu orientieren, sondern an den Lichtreflexen auf dem Wasser.

Sicher, man musste die Gegenwart im Auge behalten, vor allem, wenn sie etwa in Form von vier irischen Schlägern daherkam. Dann war ziemlich unerheblich, wer diese Männer waren, woher sie kamen oder wie sie wurden, was sie waren. Dann zählten nur ihre unmittelbaren Absichten und was sich dagegen tun ließ. Aber um irgendein fremdes Leben oder Sterben auch nur in seinen Umrissen zu erkennen, Linien und Brüche zu sehen, Verbindungen herzustellen, Schlüsse zu ziehen, Beziehungen, Verhaltensweisen, Handlungen und Nichthandlungen zu begreifen, war es besser, die Augen zu schließen und sich der Tiefe anzuvertrauen.

Nicht so sehr, zu erraten, was man nicht weiß, sondern zu klären und zu ordnen, was man weiß und wissen kann, ist Ermittlungsarbeit. Also fragte John Gowers sich, wer Samuel und Emmeline Thompson waren, der eine, bevor er starb, die andere, ehe sie zu ihm kam. Und Emmeline Thompson, weniger reflektiert, unbewusst, fragte sich: Wer ist John Gowers?

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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