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Schöne Frauen, edle Vollblüter, Geld, Champagner und Glamour - all das vereint alljährlich Ende August die Große Rennwoche in Baden-Baden. Doch diesmal wird die beschauliche Idylle vor den Toren der mondänen Stadt getrübt: Ein Gestütsbesitzer wird erstochen in seiner Pferdebox aufgefunden. War er in einen Dopingbetrug verwickelt? Oder war es eine Eifersuchtstat? Ein Fall für Kriminalhauptkommissar Maximilian Gottlieb, dem eigentlich nichts lieber ist als seine Ruhe, sein Rotwein und seine Zigaretten, wenn da nicht Lea Weidenbach wäre, die quirlige Polizei- und Gerichtsreporterin des "Badischen Morgen", die ihm mit Hilfe ihrer rüstigen Vermieterin Luise Campenhausen nun schon zum zweiten Mal gehörig in die Quere kommt.
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Seitenzahl: 437
Über das Buch:
Schöne Frauen, edle Vollblüter, Geld, Champagner und Glamour - all das vereint alljährlich Ende August die Große Rennwoche in Baden-Baden. Doch diesmal wird die beschauliche Idylle vor den Toren der mondänen Stadt getrübt: Ein Gestütsbesitzer wird erstochen in seiner Pferdebox aufgefunden. War er in einen Dopingbetrug verwickelt? Oder war es eine Eifersuchtstat? Ein Fall für Kriminalhauptkommissar Maximilian Gottlieb, dem eigentlich nichts lieber ist als seine Ruhe, sein Rotwein und seine Zigaretten, wenn da nicht Lea Weidenbach wäre, die quirlige Polizei- und Gerichtsreporterin des "Badischen Morgen", die ihm mit Hilfe ihrer rüstigen Vermieterin Luise Campenhausen nun schon zum zweiten Mal gehörig in die Quere kommt.
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ISBN: 978-3-95530-773-8
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Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Sechs Stunden vor dem Mord saß Udo Retzlaff neben der Pferdebox auf einer umgedrehten Schubkarre und schluckte trocken, voller Sehnsucht nach einem Tropfen Bier. Er stützte seine Beine auf dem vor ihm liegenden Strohballen ab und versuchte, sich auf das Messer zu konzentrieren. Andächtig strich er mit dem weichen Lappen über Griff und Klinge.
Lange hatte er darauf gespart. Bläulicher, matt glänzender, dreihundertachtzigmal gefalteter Damaszener-Stahl, der ovale Griff kunstvoll gerundet und sanft schimmernd. Ein Meisterwerk. Wie es in der Hand lag! Und scharf war es, gefährlich scharf. Dieses Stück war sein ganzer Stolz, gerade hier, in dieser schäbigen Umgebung, die ganz im Gegensatz zu den glänzenden Kulissen Baden-Badens und der berühmten Rennbahn von Iffezheim stand.
Keiner der feinen Leute am Geläuf hatte eine Vorstellung davon, wie sie hier hausten, in Vierbettzimmern, ohne Privatsphäre. Aber er musste es aushalten, noch die ganze Woche. Order vom Chef, der natürlich in der Stadt in einem Fünfsternehotel residierte, obwohl er sich das gar nicht leisten konnte.
Am liebsten würde er sich davonstehlen, nur ganz kurz, nur für einen winzigen Trostschluck. Aber das ging nicht. Erst gestern hatte es deswegen Krach gegeben. Er brummte verärgert, als er daran dachte. Mit Kündigung drohen – ihm! Ausgerechnet ihm! Nach all den Jahren. Das war nicht fair.
Prüfend hob er das Messer und streichelte die Klinge ganz vorsichtig mit seinem Daumen. So scharf! So wertvoll! Als ein Sonnenstrahl die Schneide zum Funkeln brachte, blickte er sich ängstlich um. Niemand sollte das Messer zu Gesicht bekommen. Es gab überall Langfinger, bestimmt auch hier.
*
»Einen klitzekleinen Moment noch«, bat Marie-Luise Campenhausen und deutete mit dem gebogenen Gemüsemesser auf den Stuhl neben dem Küchentisch. »Setzen Sie sich doch, Frau Weidenbach. Das Ragout ist gleich fertig. Ich will nur noch schnell die Äpfel schneiden für das Kompott.«
Gehorsam nahm Lea in der gemütlichen Küche Platz und musste sich beherrschen, um nicht zum zehnten Mal zur Uhr zu schielen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sich heute von ihrer netten alten Vermieterin zum Mittagessen einladen zu lassen. Gleich eins! Um kurz nach zwei musste sie spätestens auf der Rennbahn in Iffezheim sein, um noch eine halbwegs gute Position für das Foto zu ergattern. Um drei würden die Zuschauer so dicht gedrängt um den Führring stehen, dass kein Durchkommen mehr möglich wäre. Das hatte ihr jedenfalls der Kollege von der Sportredaktion gesagt, dem sie den Termin zu verdanken hatte.
»Ist das nicht ärgerlich«, seufzte Frau Campenhausen, während sie die Äpfel in feine Spalten schnitt. »Ein Bridgeturnier ausgerechnet während der Großen Woche.«
»Heute geht es doch nur um die Goldene Peitsche. Schlimmer wäre es nächsten Sonntag beim Großen Preis«, versuchte Lea sie zu trösten, doch die alte Dame schüttelte unwirsch ihre weißen Löckchen.
»Das wäre ja noch schöner! Davon würde mich nichts und niemand abhalten. Trotzdem ärgert es mich.« Sie schnalzte mit der Zunge, ohne aufzublicken. »Was heißt da übrigens ›nur‹ Goldene Peitsche. Neunzigtausend Euro Preisgeld, ist das etwa nichts? Und an Ihrer Seite hätte ich dem berühmten Andreas Fiebig persönlich die Hand schütteln können. So etwas Ärgerliches auch! Da hat man einmal die Chance, den Starjockey kennenzulernen … «
»Ich weiß gar nicht, ob ich ihn überhaupt vor dem Rennen sprechen kann, Frau Campenhausen. Das Interview haben wir erst heute Abend. Jetzt schieße ich doch nur das Foto mit ihm auf Rother Wind.«
»Trotzdem, ein großes Malheur! Haben Sie das Geld für die Wette eingesteckt? Passen Sie nur gut auf! Auf der Rennbahn kann viel passieren. Lug und Betrug, überall. Das weiß ich von Dick Francis.«
Lea unterdrückte ein Lächeln. Frau Campenhausen und ihre Krimis!
»Andreas Fiebig«, schwärmte die alte Dame, »zehntausend Starts, über tausendfünfhundert Siege. Er muss einfach gewinnen. Und meine Mieterin ist eine alte Bekannte von ihm!«
Lea verschwieg lieber, dass sie überhaupt nichts von Andis steiler Karriere mitbekommen hatte. Erst als am Freitag in der Redaktionskonferenz sein Name gefallen war, war sie hellhörig geworden und hatte ihn schließlich wegen einer Reportage angerufen. Er hatte am Telefon geklungen, als würde er sich freuen. Eigentlich war das nicht möglich; er konnte die alte Geschichte nicht vergessen haben.
»Die Schulzeit ist ewig her. Wer weiß, ob ich ihn wiedererkenne«, meinte sie lahm.
»Papperlapapp. Er sieht auf den Fotos so fesch und jugendlich aus. Bestimmt war er früher der Schwarm aller Mädchen.«
Lea lachte bitter. Wenn Frau Campenhausen wüsste! Fips, der Giftzwerg mit den O-Beinen. Er hatte Lea immer leidgetan, und sie hatte bis zuletzt versucht, ihn zu beschützen. Aber dann hatte er sich ja selbst ins Abseits gestellt. Sein Verschwinden war das einzig Richtige gewesen. Nur schlug ihr immer noch das schlechte Gewissen bis in den Hals, wenn sie daran dachte, dass er ihr wahrscheinlich bis heute die Schuld gab, dass es überhaupt so weit gekommen war. Dabei hatte sie ihn nicht verraten! Wirklich nicht!
Mienchen, Frau Campenhausens Katze, sprang ihr auf den Schoß und wollte ausnahmsweise gestreichelt werden. Aber Lea hatte nur Augen für die Uhr.
Frau Campenhausen folgte ihrem Blick.
»Herrje, das Ragout!«
*
Rother Wind steckte seinen Kopf aus dem offenen oberen Teil der zweigeteilten Boxentür und schnaubte aufgeregt.
»Ruuuuhig, Lütter!«, brummte Udo automatisch. Stuten zeigten ja öfter mal Nerven, aber es gab bestimmt keinen zweiten fünfjährigen Hengst, der vor Rennen so nervös war wie dieser hier. Rother Wind schwitzte und zitterte, seit sie gestern Nachmittag angekommen waren. Seitdem hatte er auch sein Futter verweigert.
Eigentlich hatte seine Nervosität schon gestern Morgen in Köln eingesetzt, als der Chef mit dem Transporter auf den Hof des Rennstalls gerumpelt war. Rother Wind hatte den Kopf gehoben, die Augen gerollt und ausgeschlagen. Nur mit Mühe hatten sie ihn in den Anhänger gebracht, und er hatte sich noch immer nicht ganz beruhigt.
In zwei Stunden würde der Gaul wie umgewandelt sein, das wusste Udo aus Erfahrung. Seit über drei Jahren kümmerte er sich nun schon intensiv um den Vollblüter. Immer dasselbe Theater. Doch wenn er kurz vor dem Rennen mit den letzten Vorbereitungen begann, würde das Tier still stehen, mit den Ohren spielen und es kaum mehr erwarten können, über das Geläuf zu fliegen und seine Konkurrenten abzuhängen. Ein Teufelskerl! Kein Wunder, dass die beiden all ihre Hoffnungen auf genau dieses Pferd gesetzt hatten. Ihr erster großer Zuchterfolg. Hoffentlich gewann Rother Wind heute die Goldene Peitsche. Das wäre ein prima Test für nächsten Sonntag, wenn er im Großen Preis gegen die besten Vollblüter der Welt antreten würde. Ach, was machte er sich Gedanken! Mit Andi als Jockey gab es keinen Grund, an einem Sieg zu zweifeln.
Doch noch war es nicht so weit. Noch musste er versuchen, etwas von seiner eigenen Ruhe auf Rother Wind zu übertragen. Die anderen würden in einer Stunde kommen, um die letzte Order vor dem Rennen zu besprechen. Bis dahin musste der Hengst einigermaßen zu Verstand gekommen sein.
Ein Stück Mohrrübe vielleicht?
Rother Wind schnaubte verächtlich und zog den Kopf zurück in das Innere der Box.
Udo sah zur Uhr. Eigentlich blieb genügend Zeit, um kurz zu verschwinden. Sein Hals war schon ganz ausgedörrt. Ein Mann von der Küste musste seine Kehle nun mal regelmäßig ölen, das wusste der Chef doch. Hatte früher schließlich selbst nicht genug kriegen können, wenn er mal rennfrei hatte, und noch ganz andere Dinger geschluckt, wenn er im Sattel saß. Aber seit er mit Anna verheiratet war, spielte er sich auf wie ein hochwohlgeborener Gestütsbesitzer.
Bedächtig legte er sein Messer zur Seite, stand von der unbequemen Schubkarre auf, drehte sie um und klopfte sich die Hose ab. Die Streu musste noch verteilt werden, fiel ihm ein. Das hatte er schon am Morgen machen wollen, aber weil Rother Wind so nervös gewesen war, hatte er lieber eine Stunde länger seine Runden mit ihm gedreht. Er zerrte den Ballen an den Plastikschnüren zu sich und hievte ihn auf die Schubkarre. Dann nahm er sein geliebtes Messer und zerschnitt die Schnüre.
Hinter ihm räusperte sich jemand. Erschrocken fuhr er herum, entspannte sich aber gleich wieder. Möglichst unauffällig schob er das Messer in eine tiefe Tasche seiner Weste. Dieser Mann war der Letzte, dem er es hätte zeigen wollen.
»Ah, Sie sind’s«, meinte er dann betont lässig. »Lassen Sie sich man bloß nicht erwischen. Wenn der Chef Sie sieht …
»Pah, der taucht nicht vor halb zwei auf. Hier! Ich hab uns was mitgebracht.«
»Das ist ja ein Ding! Genau das Richtige jetzt. Aber ich … ich weiß nicht. Wenn der Chef früher kommt! Wenn der mich mit ’ner Buddel sieht, bin ich dran. Gestern erst –«
»Ach was, das erfährt der doch gar nicht. Wir gehen ein paar Schritte, da kann uns niemand überraschen. Komm schon, einen Toast auf alte Zeiten. Das ist doch deine Lieblingsmarke, oder?«
Udos Zunge klebte am Gaumen. Leuchtturm, Wind, Meer und Sanddünen – der ganze Werbespot schoss ihm durch den Kopf, und mit ihm kam das brennende Heimweh. Es gab nur einen Weg, es zu löschen.
»Momang. Ich schließ die Box schnell ab, dann können wir.«
»Quatsch! Hab dich nicht so. Du hast die letzte Box in der vorletzten Reihe. Der nächste Gaul steht drei Reihen weiter vorn. Hier kommt doch niemand her und klaut deinen Esel!«
»Klauen nicht, aber …«
»Willst du jetzt, oder nicht? Ich hab nicht den ganzen Nachmittag Zeit.«
Der Arm des Besuchers schloss sich um seine Schulter wie eine Schraubzwinge. Udo kannte die Ungeduld des Mannes. Wenn er sich jetzt zierte, würde er dem schönen kühlen Bierchen hinterhersehen müssen.
Er griff zum Schlüsselbund. »Dauert doch nur eine Sekunde«, versuchte er es noch einmal.
Die Schraubzwinge wurde fester und zog ihn fort. »Wenn du abschließt und dein Chef kommt, kann er sich doch sofort zusammenreimen, wo du bist und was du machst.«
»Immer noch besser als ein Rauswurf«, wand Udo sich.
»Du Vogel hat ja einen. Aber gut, lass uns dort drüben hingehen. Da hast du die Box im Blick und kannst rechtzeitig sehen, falls dein Chef angetrabt kommt. Dann bist du wie ein Blitz zurück an Ort und Stelle und musst nicht mal aufschließen.«
Halb überzeugt gab Udo den Widerstand auf und ließ sich mitziehen. An der Weggabelung standen leere Pferdeanhänger. Man konnte alles gut überblicken, wurde aber selbst nicht sofort gesehen. Eigentlich optimal.
Mit einem leisen, vertrauten Zischen flog der erste Kronkorken vom Flaschenhals, gleich darauf der nächste von der zweiten Flasche.
»Hoppla«, rief sein Besucher. Entsetzt beobachtete Udo, wie sich sein schönes Bier über dessen elegante Anzughose ergoss. Ärger! Schadenersatz! Der Chef würde alles erfahren! Wie hatte das nur passieren können? Es war alles so schnell gegangen.
Hektisch begann er, mit der bloßen Hand den Fleck zu verreiben, aber er machte es nur noch schlimmer.
»Idiot! Bring mir einen nassen Lappen, aber dalli!«, rief sein Besucher.
»Die Waschräume sind gleich dort!«
»Dann los! Worauf wartest du! Weißt du, wie teuer der Anzug war? Da musst du ein Jahr drauf sparen! Beweg dich!«
Udo sah verzweifelt zu Rother Wind, der aufgeregt den Kopf hob und senkte. Sein Besucher folgte seinem Blick.
»Ja, ja, schon gut! Ich bleib hier sitzen und lass deinen blöden Gaul nicht aus den Augen. Dauert doch nur eine Sekunde!«
Mit der schäumenden Bierflasche in der Hand rannte Udo los, so schnell er konnte. Im Waschraum gab es keine Frotteesachen, nur einen Stapel Papiertücher. Jeder Pferdepfleger, der hier draußen nächtigen musste, brachte sein eigenes Handtuch mit zum Duschen. Hektisch suchte er die Kabinen nach irgendetwas ab, mit dem er seinem Besucher aushelfen konnte.
Die Tür verdunkelte sich. »Wo bleibst du, verdammt. Das Zeug trocknet doch ein! Das wird ja immer schlimmer! Riech mal, ich stinke wie nach einem Kneipenbesuch. Jetzt beeil dich. Ich mach dich sonst haftbar, Sackzement!«
*
Kriminalhauptkommissar Maximilian Gottlieb kam sich vor wie ein Tiger. Ein eingesperrter Tiger. Freie Wochenenden waren die Pest! Was hatte er nicht schon alles getrieben. Gestern war er drei Stunden gewandert, hatte einen alten Mankell auf- und lustlos wieder zugeschlagen und sich geärgert, dass es keine neuen Abenteuer seines schwedischen Kollegen mehr geben sollte. Er hatte sich durch alle verfügbaren Sportsendungen gezappt, einen neuen Jahrgang badischen Spätburgunder aufgemacht, das Saxophon malträtiert und war auf der Couch eingeschlafen. Jetzt war auch die Sonntagszeitung ausgelesen, und es war gerade erst Mittag. Ein endloser Sonntagnachmittag lag noch vor ihm.
Ob er im Dezernat anrufen sollte? Er konnte den Dienst von jemandem übernehmen. Aber das hatte er erst letztes Wochenende getan. Das sah ja so aus, als würde er sich nicht allein beschäftigen können. Oder als würde er sich einsam fühlen. Bei Gott, nein! Langweilen, ja, vielleicht, aber einsam fühlen? Nie! Das hier war keine Einsamkeit. Das war Freiheit! Niemand war da, der ihm Vorschriften machte, niemand, der herumnörgelte oder dem er Rechenschaft ablegen musste. Seit seiner Scheidung vor fünf Jahren war er sein eigener Herr, und das war gut so!
Nur diese dienstfreien Wochenenden waren eindeutig zu lang.
Er ging zum Fenster und blickte über die Streuobstwiesen hinunter auf die Stadt und die Rheinebene bis hinüber nach Frankreich. Ein schöner Blick, fürwahr. Aber heute war er viel zu unruhig, um ihn zu genießen. Dieses dumpfe Gefühl in der Magengegend machte ihn noch verrückt. Es bohrte in ihm wie eine Vorahnung. Ein Polizist hatte keine Vorahnungen zu haben! Das kam nur von dieser verdammten Ruhe!
Mit einem Ruck riss er sich von der prächtigen Aussicht los und schlüpfte in seine bequemen Treter. Er musste hier raus. Und er wusste auch schon, wohin. Auch wenn Pferdewetten nicht sein Ding waren, brachte ihn die Atmosphäre auf der Rennbahn bestimmt auf andere Gedanken. Außerdem konnte er gleich kontrollieren, ob alle Mann auf ihren Posten waren.
*
Alles war unverändert. Auch die Experten waren offenbar in der unfreiwillig verlängerten Bierpause nicht da gewesen. Da hatte er Glück gehabt.
Mit geschickten Händen begann Udo Retzlaff das Fell von Rother Wind zu striegeln. Er summte leise. Das Bier hatte gutgetan. Und auch Rother Wind spürte das. Man konnte meinen, das Tier würde gleich vor Behagen schnurren.
Nach einer Weile legte er die Striegel zur Seite. Wenigstens trank Rother Wind jetzt ausreichend. Schon erstaunlich, wie entspannt das Tier unter seinen ruhigen Bewegungen geworden war. Fast hatte er den Eindruck, als würde das Pferd am liebsten ein kleines Nickerchen halten. Aber das ging ja nun gar nicht. Es sollte schließlich in einer Stunde gewinnen und Geld in Annas leere Kasse bringen.
Stirnrunzelnd sah er sich ein letztes Mal um. Rother Wind schnupperte an einem Apfel, der auf dem Strohballen lag. Er zog ihn fort. »Jetzt nicht, du. Alltiet, jederzeit, aber jetzt nicht! Jetzt sollst du nur laufen. Und gewinnen. Hörst du?«
Rother Wind hob den Kopf und wieherte. Ein gutes Zeichen.
Lea kam sich vor wie in einem Alptraum. Es hatte für ihr Gefühl eine halbe Ewigkeit gedauert, bis sie losfahren konnte. Dann hatte sie weit hinten auf der Wiese parken müssen, weil sie in der Eile den Sonderparkausweis des Badischen Morgens vergessen hatte.
Fast war sie zu spät gekommen. Nur zehn Minuten noch. Und jetzt das, genau wie sie es befürchtet hatte!
»Lassen Sie mich bitte durch, ich bin von der Presse!«
Es half nicht viel. Die Zuschauer standen wie Beton um den Führring.
Sie streckte sich. Die Pferde waren noch nicht da, Gott sei Dank. Aber ihre Besitzer und Trainer sammelten sich schon auf dem gepflegten Rasen. Ein illustres Publikum. Der Herr dort im exotischen Ornat, das war offenbar der angekündigte Prinz von Burma, und dort, im weißen Trägerkleidchen und mit einem riesengroßen roten Hut: Michelle Hunziker. Der Mann neben ihr mit dem Hut und dem aufgeklebten Schnurrbart, das musste der Spaßvogel Hape Kerkeling sein, als Journalist Horst Schlämmer verkleidet. Dieter Thomas Hecks Stimme ratterte aus den Lautsprechern, sie verstand ihn kaum, sondern konzentrierte sich stattdessen auf das Treiben dort vorn unter den Bäumen.
Männer in braunen Jacketts balancierten mit wichtigen Mienen winzige, alberne englische Hüte wie Kronen auf dem Kopf; statt einem Taschentuch steckten Block und Stift in ihren Brusttaschen. Die Hüte der eleganten Damen, die mit hohen Absätzen über den weichen Rasen trippelten, ohne zu straucheln, waren dagegen in Umfang und Auffälligkeit kaum zu überbieten: wagenradgroß, mit rosa Tüll, bunten Stoffblumen und pinkfarbenen Schleifen verziert, behängt mit Perlenbordüren wie eine Jugendstillampe. Oder dort, die Dame im sonnengelben Etuikleid, die mit vollem Ernst eine bunte Kreation trug, auf der zwei ausgestopfte Papageien thronten. Ihre Begleiterin hatte ein breites Stirnband aufs Haar gesetzt, an dem zwei dicke Bündel mit langen Fasanenfedern befestigt waren, die bei jeder Bewegung sanft auf und nieder wippten. Weiter hinten eine Frau, die eine Art Mühlstein auf dem Kopf schleppte, der mit einer bunten Perlengirlande behängt war, welche ihr ständig ins Gesicht fiel. Der pinkfarbene Schwan mit den rosa Fransen und der schwarze Strohhut nach Art chinesischer Reisbauern wunderten Lea dann schon gar nicht mehr. Dieser Hut dort, knallrot und so zusammengefaltet, dass aus dem Runden etwas Eckiges geworden war, war ja schon fast als schlicht zu bezeichnen. Da fiel der türkisfarbene schiefe Turm von Pisa auf den blonden Locken direkt vor ihr schon mehr auf.
Lea verkniff sich ein Kichern. Nein, das hier war nicht ganz ihre Welt. Keine zehn Vollblüter konnten sie in die Runde dort hineinbringen.
Regelrecht königlich kamen Lea die Frauen im besten Alter vor, mit ihrem schlichten, aber unbezahlbar wirkenden Schmuck an Hals und Ohren. Auch sie trugen Hüte, aber irgendwie passten sie zu ihnen, leicht, unauffällig und unübersehbar von erlesen teurem Geschmack.
Was machten all die Damen der Gesellschaft nur nach dem Rennen mit ihren Kopfbedeckungen? Diese Hüte waren doch so auffallend, dass man sie in ihren Kreisen kein zweites Mal tragen konnte. Oder konnte man sie mieten? Wurden sie versteigert? Im Schrank aufbewahrt? Einfach ausrangiert ohne Rücksicht darauf, was sie gekostet hatten? Lea hatte sich das schon öfter gefragt, wenn sie in der Fußgängerzone an den Auslagen der Modelegende Olivier Maugé vorbeikam, aus dessen Hand ganz offensichtlich einige dieser Gebilde stammten.
Wie ein Kieselstein in einer Schmuckauslage sprang ihr in diesem Augenblick ein Paar ins Auge, das im Führring etwas abseits stand. Sie hob die Kamera und zoomte sich die beiden durch das Objektiv näher heran. Die Frau war füllig und ungeschminkt. Sie hatte ihre lange dunkle Lockenpracht lässig zusammengebunden und trug Jeans, ein weites Hemd und einen bunten Schal um den Hals. Sie wirkte nicht schlampig, sondern hatte etwas Robustes, Verlässliches, Mütterliches an sich.
Der zierliche Mann an ihrer Seite war einen halben Kopf kleiner, hatte weiche Gesichtszüge, welliges schwarzes Haar und trug einen fließenden, cognacfarbenen Wildlederanzug. Er war braun gebrannt, hatte das weiße Hemd einen Knopf zu weit offen, und seine Füße steckten in hellbraunen Cowboystiefeln aus Wildleder, die schon bessere Tage gesehen hatten. Sein Lächeln war das eines geborenen Charmeurs. Es gab kaum eine Frau, die nicht Blickkontakt mit ihm aufzunehmen versuchte. Aber seine Frau und er hielten sich fest an der Hand wie eine auf ewig zusammengeschweißte Einheit.
Eine Klingel ertönte irgendwo in der Nähe, und die Jockeys eilten durch eine abgesperrte Gasse in den Führring. Mit ihren bunten Blousons und Helmen in den jeweiligen Rennstallfarben erinnerten sie Lea an Blumen auf einer Wiese.
»He, Lea, hier!«
Sie nahm die Kamera herunter.
Andi stand am Rand der Absperrung. In seinem goldenen Dress sah er souverän aus und genauso jung, wie Frau Campenhausen ihn sich ausgemalt hatte. Er hielt ihr die Hand hin. »Komm rüber, ich will dich vorstellen.«
Wie durch Zauberhand bildete sich eine Gasse in der Zuschauermenge. Andi war noch hagerer und o-beiniger als damals in der Schule. Seine Wangen waren eingefallen, die Lippen vor Trockenheit aufgeplatzt, und die Furchen neben seiner schmalen Nase waren so scharf wie Messerschnitte. Er packte Lea am Arm, zog sie an sich und küsste sie auf die Wangen. Er roch nach einem teuren Aftershave und trug dezentes Make-up.
»Du siehst toll aus, Lea. Einfach klasse. Hast dich überhaupt nicht verändert. Komm mit. Du musst Christian Sonnefeld und seine Frau Anna Fröhlich kennenlernen. Keine Ahnung, warum Ehepaare heutzutage verschiedene Namen tragen, aber du wirst die beiden mögen.«
Er zog sie in den Führring hinein, zu dem unkonventionellen Paar, das Lea gerade aufgefallen war. Die mütterliche Frau lächelte ihr warm entgegen. Ihr Händedruck war fest und angenehm.
»Das ist Lea Weidenbach, meine Jugendliebe«, stellte Andi sie den beiden vor. »Lea schreibt eine Reportage über mich für die Zeitung hier am Ort, den Badischen Morgen. Eigentlich ist sie Polizeireporterin.«
»Deine Jugendliebe? Na so etwas!« Sonnefeld boxte Andi verschwörerisch in die Rippen, während er gleichzeitig zu einer sehr schlanken, sehr jungen, sehr blonden Frau schielte und ihr zuzwinkerte.
Lea stand daneben und kochte vor Wut. Jugendliebe! Was fiel Fips ein! Er war doch nicht recht bei Trost, sie nach allem so zu bezeichnen. Sie wollte schon heftig protestieren, da schoss der kahlköpfige, korpulente Begleiter der blonden Frau auf Sonnefeld zu.
»Wenn du meiner Frau noch einmal schöne Augen machst, dreh ich dir den Hals um«, giftete er. »Merk dir das, ich meine das ernst! Lass die Hände von Patricia.«
Sonnefeld strich sich mit gespreizten Fingern über die Haare. »Lass das, Ferry. Ich hab nur Guten Tag gesagt, du Sauertopf.«
»Hast du nicht. Ich hab es genau gesehen. Noch einmal, und ich mach dich fertig!« Damit drehte sich der Mann abrupt um, ging zu seiner Frau und schob sie am Ellbogen in eine andere Richtung.
Verlegene Stille breitete sich aus. Dann zauberte Sonnefeld das gewinnende Lächeln in sein Gesicht zurück. »Verstehen Sie das, Lea? Sauerbrey! Wenn einer schon Sauerbrey heißt! Wollen Sie nicht ein Foto von uns schießen? Ach, und sagen Sie Sonny zu mir.« Dazu schenkte er Lea ein hinreißendes Lächeln und einen tiefen Blick aus seinen kornblumenblauen Augen. Gegen ihren Willen wurden ihr tatsächlich die Knie weich.
Wenig später deutete Andi in Richtung Sattelboxen. Die Pferde wurden in den Ring geführt.
»Das ist Rother Wind. Die Nummer vier. Was hältst du von ihm? Sieht er nicht prachtvoll aus?«
Lea konnte nur nicken. Golden schimmerndes Fell, große, kluge Augen, wie ein feines Geflecht hervortretende Adern, aufmerksam spielende Ohren, vorsichtiger, raumgreifender Gang, schmale Fesseln. Es fehlten ihr zwar die richtigen Worte, aber das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als das Tier nah an ihr vorbeigeführt wurde.
Etwas irritierte sie allerdings an dem Pferd. Es kam ihr im Gegensatz zu den anderen nervös tänzelnden Vollblütern merkwürdig ruhig vor, außerdem schüttelte es ständig den Kopf. Doch das störte offenbar niemanden außer ihr.
Mit einem Schwung hob Sonnefeld Andi auf das Pferd. Augenblicklich verschmolzen Mensch und Tier zu einer goldenen Einheit. Alles schien perfekt.
Da riss das Tier plötzlich unruhig witternd seinen Kopf hoch. Es streckte den Hals, legte die Ohren an. Lea stockte der Atem. Mit energischen Bewegungen dirigierte Andi das Pferd in Richtung Ausgang. Der rundliche weißblonde Pferdepfleger, der das Tier am Zügel hielt, stemmte sich dem seitlichen Ausbrechen entgegen. Doch es half nichts. Rother Wind stieg auf die Hinterbeine. Er schrie regelrecht, die Augen angstvoll verdreht. Andi hieb mit der Gerte auf das Pferd.
Lea riss die Kamera hoch und ließ den Finger nicht vom Auslöser. Um Himmels willen, stand da etwa ein Rollstuhl? Oder ein Kinderwagen? Würde das Pferd mit seinen Hufen jemanden treffen? Würde es durchgehen?
Andi zwang das auskeilende Pferd mit harter Hand weiter und gewann die Kontrolle zurück. Bravo! Lea verstand zwar nichts von Pferden, aber das war doch eine Meisterleistung gewesen!
»Das war knapp«, hörte sie Sonnefeld neben sich erleichtert seufzen.
Seine Frau hingegen war außer sich: » Was hatte er? Das gibt es doch gar nicht! Erst viel zu ruhig, wie besoffen, und jetzt das! Was ist mit dem Pferd passiert?«
»Nichts, Liebes. Hat sich nur erschrocken, das kommt schon mal vor, mein Engel«, beruhigte Sonnefeld sie und zog sie an sich. Eine vertraute, zärtliche Geste, die gar nicht zu seinen suchenden Augen passte.
Lea beschloss, die beiden allein zu lassen und dem Publikum in Richtung Rennstrecke zu folgen.
»Warten Sie, Frau Weidenbach, Moment noch!«, hielt Sonnefeld sie zurück. Er zog sie ein Stück beiseite und ließ dabei seine Hand für ihren Geschmack einen Augenblick zu lange auf ihrer Schulter liegen. Wie unbeabsichtigt machte sie einen kleinen Schritt zur Seite.
Sonnefeld quittierte es mit einem schiefen Lächeln. »Ist das wahr? Eine Reportage? Über Andi?«
Sie nickte.
»Aber über ihn ist doch schon so viel geschrieben worden. Ross und Reiter – das wäre doch viel besser. Rother Wind hat einen fantastischen Stammbaum. Ich kann Ihnen tausend spannende Geschichten über ihn erzählen. Kommen Sie doch nach dem Rennen zur Box Nummer 361, vorletzte Reihe im Boxendorf. Wie wäre es Viertel nach sechs?«
Das passte Lea überhaupt nicht in den Zeitplan, denn sie hatte eigentlich gehofft, gleich nach dem Rennen einen kurzen Zwischenbericht absetzen zu können, bevor sie mit Andi das Interview führte. Aber seit sie letztes Jahr einer Story nicht energisch genug nachgegangen war und dies verhängnisvoll geendet hatte, konnte sie einfach nicht mehr nein sagen. Ergeben willigte sie ein. Dann machte sie sich auf den Weg zum Wettschalter, wie sie es Frau Campenhausen versprochen hatte. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie noch, wie Sonnefeld zu seiner Frau zurückkehrte, ihr über die Haare strich und sich anschließend aufgeregt durch die Menge drängte, als suche er jemanden.
Sollte sie selbst auch wetten? Ihre Vermieterin hatte ihr zweihundert Euro Einsatz mitgegeben, das war viel Geld, wenn man es verlor. Fünfzig Euro vielleicht? Wenn sie gewönne, dann könnte sie sich vielleicht diesen urgemütlichen, altmodischen Ohrensessel leisten, den sie vor drei Wochen gesehen hatte.
In der Menge nahe des Wettschalters erspähte sie den Rücken eines alten Bekannten, und ihr Herz machte einen winzig kleinen Sprung. Kriminalhauptkommissar Maximilian Gottlieb, hier? Und ausgerechnet am Bratwurststand!
Grinsend stellte sie sich hinter ihn. »Testen Sie die neue Würstchendiät?«
Erst letzte Woche hatte er ihr gegenüber am Rande einer Pressekonferenz erwähnt, dass er kürzer treten wolle, was sie bei seiner Größe von über einem Meter neunzig eigentlich überflüssig fand. Er hatte doch im vergangenen Jahr ordentlich abgespeckt, überhaupt sah er viel manierlicher aus, nichts war mehr übrig von dem zerzausten Rübezahl von einst. Seine Haare waren jugendlich kurz, der graue Vollbart gepflegt, sogar eine neue runde Hornbrille hatte er sich zugelegt. Sie ließ seine braunen Augen wie Samt wirken.
Gottlieb verschluckte sich fast. »Ich wusste es! Einmal will man privat sein …«
»Ein Polizist ist doch immer im Dienst!«
»Gnade. Lassen Sie mich aufessen. Ich hab so einen Hunger!«
»Ich wollte ohnehin zum Wettschalter.«
»Auf wen setzen Sie?«
Lea sagte es ihm, und er zog die Nase kraus. »Sehen Sie mal auf die Bildschirme: Die Quoten für ›Main-Favorit‹ aus der Zucht Mainaue/Sauerbrey schießen gerade nach oben. Ganz gewaltig sogar. Und so plötzlich. Komisch. Ist im Führring etwas vorgefallen?«
»Mein Pferd war ein bisschen nervös. Aber mein Jockey hat das wieder hinbekommen.«
»Na dann … Ich wette zwar nicht, ich tippe aber auf Main-Favorit.«
Er wartete, bis Lea ihre Wetten platziert hatte, und gemeinsam suchten sie sich auf Höhe des Zieleinlaufs einen Stehplatz möglichst nah an der Absperrung. Nebenbei hörten sie den Rennbahnsprecher aufgeregt schildern, was sich am Start abspielte, den sie nicht einsehen konnten.
»Nummer vier kommt nicht in die Startbox. Alle Starter sind bereit, da muss Rother Wind noch einmal geholfen werden. Was ist mit Rother Wind?«
»Sie verlieren!«, trumpfte Gottlieb auf.
»Niemals.«
»Was, wenn?«
»Dann … dann koche ich für Sie«, rutschte es ihr heraus.
»Wie wäre es Donnerstag?«, erwiderte er spontan und sah mindestens ebenso überrascht aus, wie sie sich fühlte. Himmel! Sie konnte doch nicht für ihn kochen! Gut, er hatte ihr vor einem Jahr das Leben gerettet. Aber beruflich standen sie in so unterschiedlichen Lagern, da war privater Kontakt eine Unmöglichkeit!
»Äh, ich meine …«, begann sie den Rückzug.
»Ha, jetzt wollen Sie kneifen. Sie sind sich eben gar nicht sicher, dass Ihr Pferd und Ihr Jockey gewinnen.«
»Doch, doch. Abgemacht! Die Wette gilt! Donnerstag. Aber es gibt etwas Gesundes.«
Gottlieb verzog sein Gesicht. »Vielleicht sollten wir doch lieber –«
»Zu spät.«
Das Rennen hatte begonnen.
*
Zwei Stunden später hatte Lea sich immer noch nicht beruhigt.
»Sechster Platz. Wie eine lahme Ente hinter dem Feld. Das gibt es doch gar nicht! Mein schönes Geld!«, jammerte sie.
Zu gern hätte sie jetzt mit Andi gesprochen. Wohl zum zehnten Mal tippte sie seine Nummer ins Handy, erreichte aber nur die Mailbox. Auch auf dem Gelände keine Spur von ihm. Er war weg, wie vom Erdboden verschluckt. Typisch Fips. Genau wie früher.
Nun, gleich würde sie wenigstens Sonnefeld treffen. Der würde ihr bestimmt alles erklären können, und wahrscheinlich würde er Andi ohnehin mitbringen.
Gottlieb fummelte eine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche seines reichlich verknautschten Sporthemds und klopfte die Taschen seiner weiten Cordhose nach Feuer ab. Wider Willen musste Lea innerlich lachen. Wenigstens in der Kleiderfrage stimmten sie überein. Sie hatte sich in ihren Jeans, dem T-Shirt und den Sandalen inmitten des My-Fair-Lady-Publikums schon den ganzen Nachmittag über unwohl gefühlt. Eigentlich taugten sie beide eher zur Stallarbeit als zum Sehen-und-gesehen-Werden.
»Immer noch nicht?« Gottlieb hielt ihr lockend das Päckchen unter die Nase.
»Nie mehr, das wissen Sie doch!.« Sie wich einen Schritt zurück, erstaunt, wie ungebremst sie selbst nach zwei Jahren noch die Gier nach einer Zigarette überfallen konnte.
»Anerkennung«, murmelte Gottlieb und atmete den Rauch tief ein. »Ich käme keinen einzigen Tag ohne aus, egal wie teuer das Zeug noch wird. Da ist es doch erheblich gesünder, sein Geld bei Pferdewetten zu verlieren, nicht wahr? Wie viel war es?«
Das wollte Lea ihm nicht gerade auf die Nase binden. Sie schämte sich plötzlich, so viel Geld zum Fenster hinausgeworfen zu haben.
Musste sie nicht längst los? Es war schon nach sechs Uhr.
Gottlieb interpretierte ihr Schweigen falsch.
»Kommen Sie, so viel kann das doch nicht gewesen sein, oder? Ich lade Sie zu einem Glas Sekt ein als Trost. Okay?«
Das Nein lag ihr wirklich auf der Zunge. Sie musste sich sputen, um pünktlich zu sein. Andererseits – konnte sie Gottlieb dieses nette Angebot abschlagen? Weder das Pferd noch der Jockey waren heute eine Zeile wert. Aber nein. Nie wieder würde sie eine berufliche Verabredung verpassen. Schon gar nicht ohne triftigen Grund!
»Oder eine Apfelschorle?« Seine Augen schimmerten wie dunkelbrauner Tannenhonig.
Sie war ja verrückt! Sie war im Dienst. Sie wollte eine Reportage schreiben. Sie hatte die einzigartige Möglichkeit, einen Besitzer und einen Starjockey über ihre Gefühle nach einem verlorenen Rennen zu befragen. Wer konnte das schon? Die meisten Menschen wollten doch nur mit der Presse reden, wenn sie gewannen! Dies hier würde sicherlich eine tolle Geschichte!
Und wenn Sonnefeld und Andi gar nicht dort waren? Wenn sie es sich nach dem schlechtem Abschneiden anders überlegt hatten? Noch einmal tippte sie Andis Nummer ein, aber noch immer konnte sie ihn nicht erreichen.
»Oder einen Orangensaft?«
Lachend gab sie sich geschlagen. »Okay. Aber nur einen kleinen. Ich habe eigentlich eine Verabredung. Nun, die kann hoffentlich einen Augenblick warten.«
Als sie das nächste Mal auf die Uhr sah, erschrak sie. Gleich halb sieben! Ihr Termin! Sie würde viel zu spät kommen, wie unangenehm! Eilig nahm sie ihren Rucksack auf und wollte sich gerade verabschieden, als Gottliebs Handy klingelte. Also hob sie nur die Hand, aber er sah es nicht, sondern stand wie zur Salzsäule erstarrt und lauschte angestrengt. Jede Faser seines Körpers signalisierte ihr, dass er gerade etwas Wichtiges erfuhr. Wenn es für den Chef des Morddezernats wichtig war, dann war es das auch für die Polizeireporterin des Badischen Morgens.
Sie blieb stehen. Keine Sekunde würde sie ihn jetzt noch aus den Augen lassen. Sie würde sich an seine Fersen heften, wo immer er hingehen würde. Er drehte sich von ihr weg, schirmte das Handy so gut es ging ab. Lea spitzte die Ohren und war wieder einmal froh, dass sie ein so gutes Gehör hatte.
»Wo?«, hörte sie. »Box 361? Ja, habe verstanden. Alle Mann, natürlich. Beordern Sie sie her. Ich weiß, dass Sonntag ist, verdammt.«
Lea traute ihren Ohren kaum. Box 361? Da war sie doch verabredet. Was war da los? Sie startete, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.
»Bleiben Sie stehen, Frau Weidenbach«, rief Gottlieb hinter ihr her. »Da haben Sie nichts zu suchen.«
Lea wechselte in Galopp und spurtete ihm davon. Sie musste vor ihm am Tatort sein. Was auch immer sie in Box 361 finden würde – er würde ihr mit Sicherheit das Fotografieren verbieten und sie wegschicken und auf Pressekonferenzen vertrösten. Das war sein gutes Recht, aber es war ihr Job, jetzt schneller zu sein als er. Ihr jahrelanges Sporttraining machte sich nun bezahlt: Gottlieb mit seiner behäbigen Bierruhe kam nicht hinterher.
Lange vor dem Hauptkommissar erreichte sie den Menschenpulk, der sich vor der Box gebildet hatte. In der Ferne jagte ein Streifenwagen den staubigen Weg entlang.
Sie zückte Kamera und Presseausweis, und die Neugierigen ließen sie anstandslos durch. Sie wusste, sie hatte nicht viel Zeit. Also hielt sie, ohne genau hinzusehen, die Kamera hoch und drückte ab, fotografierte das Umfeld, die Umstehenden, das scheuende goldbraune Pferd in der dämmrigen Box, den wohlgenährten Burschen, der versuchte, das Tier zu beruhigen und wegzuführen. Dann trat sie – vorsichtig, um keine Spuren zu vernichten – näher an die zweiteilige Boxentür und ließ die Kamera weiter klicken. Ihr Blitzlicht flammte auf und beleuchtete den Toten.
Er lag auf dem Rücken, Arme und Beine weit ausgestreckt. In seiner Brust steckte ein Messer, der Griff glatt und hell wie Perlmutt. Die Klinge war vollständig in dem Körper verschwunden. Lea sah ihm direkt in das blutleere Gesicht. Zwei Fliegen krabbelten dem Mann über die Wange, die Nase, in die weit geöffneten, milchigen Augen.
Sie kannte ihn.
Selbst jetzt, als Leiche, war Christian Sonnefeld ein schöner Mann.
Völlig außer Atem erreichte Maximilian Gottlieb die Box. Sein Hemd klebte am Rücken, Schweiß perlte ihm in die Augen. Bis dieser Fall abgeschlossen war, würde es keinen Rotwein und keinen Big Mac mehr geben, das schwor er sich, und danach würde er mit den Kollegen zum Polizeisport gehen, jeden Mittwochnachmittag. Es war doch eine Blamage, wie Lea Weidenbach ihm davongelaufen war.
Er mochte die Frau. Eigentlich war sie genau sein Geschmack. Sie war natürlich, intelligent, schlagfertig, fröhlich. Sie hatte nur leider den falschen Beruf.
»Weg«, japste er, als er sich durch die Gaffer drängte. »Polizei. So machen Sie schon Platz.«
Noch bevor er die Pferdebox erreicht hatte, sah er Blitzlicht aufflammen.
»Frau Weidenbach«, schrie er, »sofort aufhören!«
Widerwillig teilte sich der Kreis der Neugierigen und gab den Blick frei auf die quirlige Reporterin, die sich ins Halbdunkel der Box beugte und der Gestalt gefährlich nahe kam, die im Stroh lag und sich nicht mehr rührte.
»Weg mit Ihnen, verdammt. Sie wissen doch selbst, dass Sie da nichts verloren haben! Das wird ein Nachspiel haben!«
Die Journalistin reagierte sofort und hob die Hand. Sie war Profi genug, um zu wissen, dass sie nichts zertreten durfte. So balancierte sie auf Zehenspitzen vorsichtig rückwärts. Na super! Wie sollte er das der Spurensicherung erklären. Er konnte sich schon vorstellen, was Oberstaatsanwalt Pahlke morgen früh ins Telefon brüllen würde, wenn er die frischesten Tatortfotos in der Zeitung statt im Polizeibericht sah.
Wieder einmal schwamm Gottlieb im Wechselbad der Gefühle. Manchmal brachte die Weidenbach ihn zum Schmelzen, wie vorhin mit ihrer verrückten Essenseinladung, die ihr sofort peinlich gewesen war. Aber dann wieder standen sie in getrennten Lagern. Sie hatte an einem Tatort eindeutig nichts zu suchen. Aber gar nichts!
»Zurück., donnerte er noch einmal und meinte damit eigentlich eher die Weidenbach als die Schaulustigen, die um ihn herum standen und nun nach hinten wichen. Die waren viel leichter zu handhaben. »Herrschaften, Sie sind Zeugen in einem Mordfall. Ich muss Ihre Personalien feststellen lassen.«
Das wirkte, wie immer. Schon wurden sie unruhig und überlegten, wie sie sich davonstehlen konnten. Kein Problem, denn die ersten Streifenwagen und die Kripo-Kollegen rückten gerade an. Die würden die Leute schon abfangen.
Gottlieb winkte einen der Schutzpolizisten zu sich. »Absperren«, befahl er. »Weiträumig und schnell, wenn’s geht.«
Dann drehte er sich um. »Und jetzt zu Ihnen, Frau Weidenbach. Die Fotos kann ich Ihnen ja nun nicht mehr verbieten.«
Die Reporterin lächelte ihn an wie eine Katze, die gerade einen Milchtopf ausgeschleckt hat, doch im gleichen Augenblick wurde sie wieder ernst. Ungewöhnlich und unpassend ernst. Etwas bedrückte sie, und ihre Augen wurden fast schwarz, als habe sie Angst. Das Herz sprang ihm in den Hals.
»Was ist los?«
Sie sah zum Toten, zur Uhr, überflog die Zuschauer, blickte dann wieder ihm ins Gesicht. Abschätzend. Voller Zweifel und Fragen. Seine Antennen fuhren aus, ein Kribbeln kroch ihm den Rücken herunter.
»Na?«, versuchte er es noch einmal. »Kennen Sie den Toten?«
»Kennen?«, wiederholte sie mechanisch.
So hatte er sie noch nie erlebt.
»Haben Sie der Polizei etwas mitzuteilen?«
Wieder dieser undefinierbare Rundblick. Verdammt, sie verheimlichte ihm doch etwas! Aber was? Sie hatte mit dem Mord definitiv nichts zu tun, sie war den ganzen Nachmittag mit ihm zusammen gewesen. Konnte es sein, dass sie etwas wusste?
»Frau Weidenbach, reden Sie mit mir, bitte!«
Zu spät, zu spät. Sie hatte sich wieder gefangen und sah aus wie immer, neugierig, intelligent, humorvoll und tatendurstig. Sie schüttelte den Kopf, wenn auch ein bisschen zu energisch, als wollte sie etwas loswerden.
»Nichts. Gar nichts. Bin schon weg, Herr Gottlieb. Ich rufe Sie später an.«
Damit lief sie los, in einem Höllentempo, als würde sie von einem Dämon verfolgt.
Gottlieb sah ihr verwirrt nach. Sie würde ihm immer ein Rätsel bleiben. Zu dumm, dass sich im letzten Jahr, als er sie bei einem Einsatz für ein paar Atemzüge in seinen Armen gehalten hatte, für ihn etwas geändert hatte. Seitdem hatte er Schwierigkeiten, sie ausschließlich als respektable Gegnerin zu sehen. Ach was, Schluss jetzt! Für Gefühle war hier kein Platz. Die behinderten nur seine Arbeit!
Trotzdem. Während sie davonlief, glänzten ihre halblangen braunen Haare in der Sonne wie flüssiges Gold.
Golden war auch das Fell dieses Vollblüters, der sich allerdings gerade unromantisch wiehernd und mit angelegten Ohren und Schaum vor dem Maul vor ihm aufbäumte. Das Tier sah vollkommen entsetzt aus, und der rotgesichtige Mann, der es zu bändigen versuchte, ebenso.
»Jetzt bringen Sie schon das Pferd weg«, knurrte Gottlieb. »So kann man doch nicht arbeiten.«
Der pummelige Kerl riss sich die Baseballkappe von den weißblonden Stoppelhaaren. »Der will das nicht. Ich soll mich nicht wegbewegen.« Er deutete auf Kriminalkommissar Hanno Appelt, der während des Disputs mit der Weidenbach eingetroffen war und nun mit einem Notizblock in der Hand die Umstehenden abklapperte. Wenn Appelt das Bleiben angeordnet hatte, dann hatte er einen Grund. Appelt war die Gewissenhaftigkeit in Person. Der geborene Polizeibeamte.
»Aber das Pferd, Hanno. Kann nicht jemand diesen Gaul entfernen?«, rief Gottlieb ihm zu.
»Bloß nicht«, rief Hanno zurück. »Der Pfleger sagt, er sei der Einzige, der mit dem Tier zurechtkommt.«
Endlich konnte Gottlieb einen Blick auf den Toten werfen. Ein schöner Mann, schoss es ihm durch den Kopf. Ebenmäßige Gesichtszüge, schwarze, gewellte Haare, völlig entspannt, mit einem versteckten Lächeln in den Mundwinkeln, als würde er schlafen oder mit diesem weich fließenden Wildlederanzug für ein Modemagazin posieren. Wenn da nicht das hässliche Messer wäre.
Mit einem Ruck drehte er sich zu dem Pferdepfleger um. »Kennen Sie den Toten?«
Der Mann nickte verängstigt. Seine wässrigen Augen irrten zwischen der Leiche und Gottliebs Knien hin und her. »Aber ich habe nichts damit zu tun«, näselte er.
»Das klären wir gleich. Kommen Sie mit.«
Energisch bahnte Gottlieb eine Gasse für das tänzelnde Pferd und den Pfleger. Hinter dem Boxendorf schlossen sich die endlosen Wiesen, Pferdekoppeln und die Maisfelder der Rheinebene an, die sich bis an die romantischen Erhebungen des Schwarzwalds erstreckten. Hoch über ihnen knatterte ein Hubschrauber. Dann war kein störender Laut mehr zu hören, nur das leise Schnauben und Kauen des Pferdes, das Summen von Bienen und Fliegen. Die Luft flirrte in der warmen Sonne, und ein Geruch nach warmem Heu und süßem Mais lag auf dieser ländlichen, friedlichen Stille. Zum ersten Mal fragte sich Gottlieb, warum er vor fünf Jahren in Baden-Baden oben auf der Höhe des Annabergs eine Wohnung gemietet hatte. Hier in der Rheinebene war das Panorama mit Sicht auf die malerische Bergkette zwischen Merkur und Fremersberg doch viel dramatischer als sein Blick aus dem Dachfenster.
Das Pferd entspannte sich zunehmend, vielleicht auch deswegen, weil der Pfleger ihm beruhigende Worte ins Ohr summte.
Genug der Idylle.
»Sie kennen also das Opfer? Und wem gehört das Pferd?«
»Rother Wind. Ich meine, Sonny. Ich meine – oh Gott, ja. Nein.«
Der Bursche war ja vollkommen durcheinander. Und eine Bierfahne hatte er auch.
»Wer ist Sonny?«
»Na, der Tote.«
Gottlieb sah in den Himmel und holte tief Luft. »Geht das genauer?«
»Christian Sonnefeld.«
»Und weiter? Alter? Beruf? Anschrift?«
»Aber ich war’s nicht. Ich schwöre! Ich kann es beweisen.«
»Später. Woher kennen Sie den Toten?«
»Vom Job.«
»Herrschaften, es reicht. Dies ist eine ernsthafte, offizielle Zeugenbefragung. Ich hätte gern ausführliche Antworten. Ihre Personalien, bitte.«
Es wirkte. Der kleine Pummel schluckte und riss sich sichtlich zusammen. »Udo Retzlaff, siebenundvierzig, Reisefuttermeister vom Gestüt Rothhof. Das gehört zum Reiterhotel Fröhlich in Staufen. Aber ich wohne seit drei Jahren in Köln, im Rennstall Hausmann, wo ich mich um Rother Wind kümmere.«
»Gut. Jetzt die Personalien des Toten.«
»Christian Sonnefeld, so alt wie ich. Gestütsleiter. Ehemann von Anna Fröhlich. Oh Gott, was mach ich nur? Wer sagt es Anna?«
Retzlaffs Augen liefen über. Er wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht, eine Bewegung, die eigentlich rührend kindlich war, wäre die Situation eine andere gewesen. Gottlieb musterte ihn streng. Rosiger Teint, weißblonde Haare und Wimpern, rundliche Wangen, Bierbauch, saubere Jeans, ärmellose graue Weste mit vielen Taschen, abgetragene Turnschuhe.
»Was ist passiert? Was haben Sie beobachtet?«
Retzlaff sah zu Boden. »Nichts. Ich war gar nicht da.«
»Wann haben Sie den Toten zum letzten Mal lebend gesehen?«
»Nach dem Hauptrennen.«
»Geht das präziser?«
»Vielleicht gegen vier? Hab nicht auf die Uhr gesehen. Wir haben verloren.«
»Was haben Sie zwischen dem Ende des Rennens und der Entdeckung der Leiche getan?«
»Wieso? Ich hab nichts damit zu tun.«
Gottlieb versuchte, seinen Ärger herunterzuschlucken. »Dann sagen Sie mir einfach, was Sie getan haben und wo Sie waren. Wir können das Gespräch auch auf der Dienststelle weiterführen.«
»Aber ich muss das Pferd versorgen.«
»Dann bitte!«
»Ich habe Rother Wind zum Abspritzen geführt und dann langsam abkühlen lassen. Nach einer Stunde war ich mit ihm an der Box. Und denn? Hab ich ihn abgerieben, Wasser aufgefüllt, aber noch kein Futter gegeben. Futter verträgt er nicht so kurz nach dem Rennen.«
Er tätschelte dem Pferd die Nüstern und betrachtete eingehend das Ohr des Tieres.
Gottlieb merkte, wie sein Hals zuschwoll. Musste er diesem Mann alles einzeln aus der Nase ziehen? »Und dann?«, brachte er in mühsam beherrschtem Ton heraus.
»Nichts. Ich habe mich ausgeruht. Ich durfte ja nicht weg. Wollte ich auch nicht. Ehrlich! Aber denn kamen die Jungs von Mainaue. Die hatte ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.« Retzlaff sah zu Boden und scharrte mit dem Fuß.
Gottliebs Schläfen begannen zu klopfen. Was hatte der Bursche zu verbergen, dass er ihm nicht offen in die Augen sehen konnte?
»Ihr Alibi! Oder ich muss Sie festnehmen.«
»Ja, ja, schon gut. Die Jungs haben mich auf ein Bier mitgenommen. Wirklich, nur ein Bier, ich schwör’s.«
»Ich denke, Sie durften nicht weg?«
»Nach dem Rennen kommt kein Schwein zu den Boxen. Vor allem nicht zu den Verliererpferden.«
»Und dann?«
»Ein Bierchen, dachte ich. Warum nicht. Ist ja nicht weit.«
»Wo?«
»In der Kantine, da vorn. Höchstens zwanzig Minuten. Na ja, vielleicht auch eine halbe Stunde oder so.«
»Von wann bis wann?«
»Also, so genau …? Warten Sie. Fällt mir noch ein.«
Gottlieb holte entnervt Luft, und Retzlaff beeilte sich weiterzureden.
»Auf dem Rückweg kam uns Carlo entgegengerannt, Carlo Hausmann, der Renntrainer. Er war völlig fertig. Hatte Sonny gerade gefunden.«
»Und wie spät war es da?«
»Etwa Viertel nach sechs.«
»Sie sind dann zum Tatort gegangen?«
»Klar. Wir alle. Und da lag Sonny. Mit dem Messer in der Brust.« Retzlaffs Kopf sank noch ein Stück tiefer Richtung Boden.
»Ist Ihnen jemand aufgefallen?«
»N-nein.«
»Irgendetwas, das anders war als sonst?«
Retzlaff scharrte mit dem Fuß. »Ich, ich war viel zu aufgeregt. Musste ja rein und Rother Wind herausbringen. Schrecklich. Ich hab nichts verändert. Wollte nur das Pferd holen. Rother Wind konnte da nicht bleiben. Ist immerzu hochgestiegen, genau wo Sonny lag!«
Das klang eigentlich plausibel. »Zeugen für Ihr Alibi?«
»Na, die Jungs von der Mainaue.«
»Das werden wir überprüfen. Bleiben Sie bitte in Reichweite.«
»Wo soll ich denn auch hin. Aber was ist mit Anna?«
»Ich rede mit ihr. Wo finde ich sie?«
»Dorint-Hotel. Eigentlich war ein Tisch reserviert. Im Europäischen Hof. Aber zu feiern gibt es ja nun nichts … « Retzlaff sah auf Gottliebs Knie, dann zu Rother Wind, der mit sichtlichem Vergnügen an einer Distel knabberte.
Gottlieb beschloss, die Befragung zunächst zu beenden. Mit diesem Kerl würde er morgen früh weitermachen. Irgendetwas stimmte nicht mit dem, das spürte er ganz deutlich.
»Ich will Sie morgen auf der Dienststelle sehen. Zehn Uhr. Pünktlich, haben Sie mich verstanden? Und nüchtern, wenn es geht.«
Retzlaff nickte und strich Rother Wind erneut über die Nüstern. Selbst jetzt sah er an Gottlieb vorbei.
Gottlieb kehrte zum Tatort zurück. Der Mann, der die Leiche gefunden hatte, war nicht mehr da. Schock, hatte der Arzt festgestellt, nicht vernehmungsfähig, ein Fall fürs Krankenhaus. Nun gut, sollte Appelt hier weitermachen. Er würde als Nächstes die Witwe aufsuchen. Normalerweise gingen sie bei solchen Anlässen zu zweit, aber Gottlieb beschloss, eine Ausnahme zu machen, denn hier wurde jeder Mann gebraucht.
*
Lea war nicht zufrieden mit sich und ihrer Arbeit. Exklusive Geschichte, exklusive Fotos, sogar den Namen des Toten hatte sie, den würde die Polizei zum jetzigen Zeitpunkt niemals an die Öffentlichkeit geben.
»Klasse Aufmacher«, hatte Chefredakteur Götz Reinthaler sie eben im Vorbeigehen gelobt. »Diese Bilder sprechen für sich.«
Trotzdem. Ihr war es nicht genug. Sie brauchte Hintergrundinformationen. Andi ging immer noch nicht ans Telefon. Sie versuchte es, seitdem sie in der Redaktion war, jede Viertelstunde. Verflixt. Wusste er überhaupt schon vom Mord? Oder bummelte er am Ende ahnungslos durch das Kurparkmeeting und amüsierte sich? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Die Nachricht von Sonnefelds Ermordung würde unter den Insidern dort wie ein Lauffeuer die Runde machen.
Außerdem sah es Andi nicht ähnlich, nach einer Niederlage fröhlich das Glas zu heben. Halb neun. Sie beschloss, wieder zur Rennbahn zu fahren. Vielleicht fand sie Andi dort oder sonst jemanden, der sie mit Informationen für ihren nächsten Artikel versorgen konnte. Sie hatte ein ungutes Gefühl wegen Andi. Was war mit ihm? Warum meldete er sich nicht? War ihm auch etwas passiert oder war er mal wieder auf Tauchstation? Mit leisem Magen-grimmen stieg sie in ihren rotweißen Mini und brauste los, zurück nach Iffezheim.
Die Schuhe an seinen Füßen kamen Kriminalhauptkommissar Gottlieb vor wie aus Blei. Er schleppte sich von der Rezeption zum Aufzug, der ihn zum Zimmer von Anna Fröhlich und Christian Sonnefeld bringen sollte, und war enttäuscht, dass der Weg nicht länger war. An die für ein Luxushotel erstaunlich enge und niedrige Eingangshalle mit ihren dunklen Holzvertäfelungen und der kurzen, geschwungenen Treppe hinauf ins Zwischengeschoss mit den Sitzgruppen verschwendete er keinen Blick.
Er musste einer Witwe eine Todesnachricht überbringen, nur daran konnte er im Moment denken. Es war seine Pflicht, aber sie zerriss ihm wie jedes Mal fast das Herz. Bei der Verkehrspolizei in Stuttgart war es besonders schlimm gewesen. Zwei, drei Eingaben hatte er damals ans Ministerium geschickt, dass man ihnen endlich einen Seelsorger mit auf diesen Weg geben möge. Seelsorger konnten viel besser mit Trauer, Hilflosigkeit und dem eigenen Mitleid für die Angehörigen fertig werden. Aber mit den Erinnerungen, die ihn manchmal sogar ans Aufhören hatten denken lassen, würde er trotzdem allein bleiben: Bilder von zerrissenen Leichen, Schreie von Eingeklemmten oder, noch schlimmer, ihr plötzliches endgültiges Verstummen.
Im Morddezernat hatte er dann noch jahrelang weitergemacht, bis er gedacht hatte, es würde ihn erdrücken. Mit achtundvierzig, vor fünf Jahren, hatte er sich versetzen lassen und gehofft, in Baden-Baden einen ruhigeren Posten zu bekommen, einen mit weniger Toten und weniger Qual.
Lautlos glitt die Aufzugtür auf. Aus dem Innern drang gedämpfte Barmusik. Er ging hinein, drückte den Knopf zur fünften Etage und starrte geistesabwesend in den getönten Spiegel. Er bemühte sich, seine Gedanken nicht abschweifen zu lassen, aber unwillkürlich tauchte, wie so oft in Situationen dieser Art, wieder das Bild seiner toten Mutter vor seinem geistigen Auge auf. Er blinzelte ein paar Mal, um die Erinnerung zu vertreiben, und war in gewisser Weise erleichtert, als der Fahrstuhl mit einem leisen Gong stehen blieb. Dann wiederum wünschte er sich, dieser Aufzug wäre einfach immer weiter gefahren, und er müsste niemals aussteigen.
Es war ein Fehler gewesen, allein herzukommen, das wusste er jetzt. Seine Kollegin Sonja Schöller wäre für diese Mission die richtige Begleitung gewesen, sie war einfühlsam und konnte gut trösten. Frauen konnten das einfach besser.
Nur noch ein paar Schritte, und er wusste immer noch nicht, was er sagen sollte oder wie.
Vor dem Zimmer blieb er stehen. Schultern zurück! Tief einatmen! So hatte es ihm vor vielen Jahren sein Therapeut geraten, mit dem er versucht hatte, das Trauma vom Tod seiner Mutter zu verarbeiten. Sie war von einem unbekannten Einbrecher die Kellertreppe hinuntergestoßen worden. Er hatte sie gefunden, als er aus der Schule kam. Zehn war er damals gewesen. Wieder sah er ihren zerschmetterten Kopf, die verwinkelten Arme und Beine vor sich.
Was hätte er in diesem Augenblick hören wollen? Kein Mitleid. Das hätte ihn nur noch mehr weinen lassen. Kühle Fakten hatte er vermisst, mit denen er etwas hätte anfangen können. Aber es gab damals keine. Genauso wenig wie heute. Sonnefeld war ermordet worden, und vorerst hatten sie keine Spur, weder vom Täter noch von einem Motiv.
Sein Klopfen klang dumpf. Einen winzigen Augenblick hoffte er, sie würde es nicht gehört haben oder sie würde gar nicht da sein, würde ihm einen Aufschub geben. Aber da öffnete sich die Tür.
Anna Fröhlich sah anders aus, als er sie sich vorgestellt hatte. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund hatte er eine hilflose, zarte Person erwartet, klein und elegant. Die Frau, die vor ihm stand, wirkte wie eine starke, liebevolle, italienische Mamma, die Trost spenden konnte, statt selbst Trost zu brauchen. Sie war füllig, die dunklen lockigen Haare quollen ihr offen über den Rücken. Sie trug einen bequemen Hausanzug und hatte ein Glas mit einem Rest hellbrauner Flüssigkeit in der Hand. Whisky, das roch er.
Fragend sah sie ihn an, eine Hand in der Hüfte abgestützt. Ein letzter Atemzug, dann würde ihre gewohnte Welt zerbrechen.
»Mein Name ist Gottlieb, ich bin von der Kriminalpolizei«, presste er heraus.
Das Glas rutschte ihr aus der Hand und fiel auf den Boden.
Tonlos formten ihre Lippen ein Wort: »Sonny?«
Er nickte. »Es tut mir leid, sehr leid.« Mehr brauchte er nicht zu sagen. Sie hatte verstanden, dass ihr Ehemann tot war, das sah er ihr an.
Sie stand wie versteinert, nur ihre Augen wurden dunkel. Dann drehte sie sich um, ging steifbeinig ins Zimmer und setzte sich in einen der beiden Sessel, die unter der Fensterfront standen. Sie legte ihr Gesicht in die Hände und stieß einen kleinen Laut aus, ganz leise, als wolle sie niemanden stören. Dann wiegte sie sich langsam vor und zurück.
Gottlieb hob das Glas auf und folgte ihr ins Zimmer. Leise schloss er die Tür und trat ans Fenster. Unten, vor dem Kurhaus, wogte das Kurparkmeeting, Essensdüfte und Rauchschwaden des großen Auerhahn-Fleischgrills lagen in der Luft. Gerade wurde Tony Marshall lautstark als Ehrengast angekündigt. Beifall brandete auf, Pfiffe, Bravorufe.
Bitte keine Schunkellieder, betete er unwillkürlich, nicht jetzt.
Er konnte im Augenblick nichts tun, sondern musste warten. Schweigend. Was sollte er auch sagen.