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Ein Blick auf die Schattenseite unserer Gesellschaft. In Braunschweig werden zwei Männer erschossen, Mitglieder eines Familienclans, der ein Imperium von Leiharbeitsfirmen leitet. Über dubiose Scheinfirmen werden Sinti und Roma als Arbeiter auf Schlachthöfe, an Gebäudereinigungen und als Hilfen auf dem Bau vermietet. Haben die ausgebeuteten Menschen das Recht in die eigene Hand genommen, oder sucht eine konkurrierende Familie nach neuen Geschäftsfeldern? Frauke Dobermann und ihr Team vom LKA Hannover stoßen in ein Wespennest.
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Seitenzahl: 399
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Hannes Nygaard ist das Pseudonym von Rainer Dissars-Nygaard. 1949 in Hamburg geboren, hat er sein halbes Leben in Schleswig-Holstein verbracht. Er studierte Betriebswirtschaft und war viele Jahre als Unternehmensberater tätig. Hannes Nygaard lebt auf der Insel Nordstrand. www.hannes-nygaard.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2018 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/Radius Images
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Dr. Marion Heister
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-417-9
Niedersachsen Krimi
Originalausgabe
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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog,
Dr. Michael Wenzel (www.editio-dialog.com).
Für Ariane, Leif und Janne Anders
In der kleinen Straße herrschte Ruhe. Sie wirkte in der Großstadt wie eine friedliche Oase. Nur der fließende Verkehr auf der nahen vierspurigen Bundesstraße ließ ein gleichmäßiges Rauschen vernehmen. Die Straßenlaternen spendeten ein milchiges Licht. Die Beleuchtung aus den Fenstern der Häuser reichte nicht bis auf die Straße. Früher mochten mehr blau flackernde Lichter angezeigt haben, dass die Menschen zu dieser Stunde vor den Fernsehern saßen. Heute gingen sie anderen Beschäftigungen nach, hatten die Fernseher gegen Computerbildschirme getauscht.
Es war ein diffuses Licht. Dazu trug auch der Dunstschleier bei, der mit dem leichten Nieselregen einherging. Ein nasskalter Wind fuhr durch die Straße, genug, um den Mann im Trenchcoat frösteln zu lassen. Er hatte den breitkrempigen Kentucky-Wollhut tief in die Stirn gezogen und den Mantelkragen hochgeschlagen. Das Gesicht lag im Schatten der Hutkrempe. Mit ein wenig Phantasie hätte man ihn für eine Philip-Marlowe-Kopie halten können. Er wendete den Kopf nach rechts, als ein Auto von der Hauptstraße abbog und langsam durch das ruhige Wohngebiet fuhr. Der Mann drückte sich in den Schatten eines Hauseingangs und hoffte, dass die Fahrzeuginsassen ihn nicht bemerkten. Dann glitt sein Blick wieder suchend an der Fassade des gegenüberliegenden Hauses empor. Aus seiner Perspektive konnte er nur Schatten erkennen, die an der Zimmerdecke entlanghuschten. Nur selten tauchte eine Gestalt kurz am Fenster auf, um sich sofort wieder abzuwenden.
Der stille Beobachter warf einen Blick die Straße hinauf, dann zur anderen Seite hinunter. Er wollte nicht gesehen werden. Vor einer Viertelstunde war ein älterer Mann vorbeigekommen. Er hatte einen Hund an der Leine geführt und missmutig dreingeblickt. Obwohl er sich ganz in die Hausecke gezwängt hatte, war er dem Hundebesitzer nicht verborgen geblieben. Er hatte seinen Schritt verlangsamt, gestutzt und ihn anhaltend gemustert. Zunächst schien es, als würde er ihn ansprechen und fragen wollen, was er an einem dunklen Abend in dieser Straße suchen würde. Doch dann war er weitergegangen und hatte sich immer wieder nach ihm umgesehen. Ihm war keine andere Wahl geblieben, als seinen Standort zu verlassen und zur Hauptstraße zu gehen. Dort hatte er fünf Minuten gewartet und war dann auf seinen Beobachtungsposten zurückgekehrt.
Etwas später war seine Lage noch brenzliger geworden. Zwei Gestalten waren aus der Wohnung auf den Balkon herausgetreten und hatten geraucht. Sie waren in ein lebhaftes Gespräch vertieft. Dabei hatten sie sich auf dem Balkongeländer abgestützt und die Asche ihrer Zigarette weggeschnippt, bis sie schließlich die glühenden Kippen in die Tiefe fallen ließen. Ihre Köpfe waren mehrfach in seine Richtung gewandert. Zum Glück war er unentdeckt geblieben.
Trotz Trenchcoat und Filzhut fror er. Seit anderthalb Stunden stand er hier und wartete. Er erschrak kurz, als ihn die Turmuhr der nahen Paulikirche aus seiner stillen Konzentration riss. Er zählte mit. Neun Mal schlug die Glocke an.
Um sich abzulenken, sah er auf die Autos, die im Winkel von neunzig Grad in Reih und Glied parkten. Er war ein wenig erstaunt, dass hier, in einem zentrumsnahen Wohngebiet, kaum Autos fuhren. Passanten waren bei diesem Wetter nicht unterwegs.
Er gähnte und rieb sich über die Augen. Ein heißer Kaffee. Der würde ihm guttun. Nach weiteren zehn Minuten nahmen die kontinuierlich an der Zimmerdecke hin und her huschenden Schatten zu. Es schien in der Wohnung lebhafter zu werden. Dann erlosch das Licht.
Seine Anspannung wuchs. Er drückte sich noch weiter in den Hauseingang. Die Altbauhäuser mit den sehenswerten Fassaden standen nicht in Reihe. Zwischen ihnen gab es Durchgänge zu den Eingängen, die sich nicht an der Frontseite befanden. In einem Durchgang tauchten jetzt zwei Männer auf. Beide rauchten. Der Regen schien sie auf dem kurzen Weg zu dem Audi A8, der ein Stück weiter geparkt war, nicht zu stören. Beide trugen schwarze Lederjacken. Fast synchron zogen sie an ihren Zigaretten. Die Glut flammte auf. Sie bogen auf dem Gehweg nach links Richtung Kirche ab.
Der Mann kroch förmlich in seine Hausecke. Seine Hände gruben sich tief in die Taschen seines Trenchcoats. Als die Männer zwischen zwei parkenden Fahrzeugen hindurch ihren Wagen ansteuerten, huschte er aus seinem Versteck.
Dann knallte es zwei Mal hintereinander. Es war ein kurzes, trockenes Aufbellen einer Pistole. Die Abstände waren so kurz, dass die beiden Raucher keine Chance hatten, zu reagieren. Der erste stolperte nach vorn und schlug der Länge nach hin. Der zweite hatte sich instinktiv umdrehen wollen. Das alles geschah in Bruchteilen von Sekunden. Das Geschoss in seinem Rücken ließ ihn straucheln. Er streckte die Arme vor, suchte Halt an einem Auto und rutschte dann an dessen Seitenfront herab. Es entstand eine kurze Pause von fünf oder sechs Sekunden. Dann durchdrang der nächste Schuss die Ruhe der stillen Straße. Nach mehreren Atemzügen folgte der vierte Schuss.
Der Mann sah noch einmal auf das Geschehen. Dann beeilte er sich, im Schatten der Häuser den Tatort zu verlassen.
»Bitte, nehmen Sie Platz.«
Kriminaloberrat Michael Ehlers war hinter seinem Schreibtisch hervorgekommen und reichte ihr die Hand. Der Dezernatsleiter der Zentralstelle für Organisierte Kriminalität trug zum offenen mittelblauen Hemd ein Sakko. Auf die Krawatte hatte er verzichtet. Er musterte seine Mitarbeiterin durch die Gläser der randlosen Brille. Dann nahm er wieder Platz. Der Kriminaloberrat war schlank. Bis auf den millimeterkurz geschorenen Haarkranz trug er eine Glatze.
Frauke Dobermann setzte sich ihm gegenüber.
»Braunschweig«, sagte Ehlers kurz. »Was wissen wir?«
Die Erste Kriminalhauptkommissarin schlug die Beine übereinander. »Viel und nichts«, antwortete sie.
Ehlers zog eine Augenbraue in die Höhe, griff zu einem Kugelschreiber und drehte ihn zwischen den Fingern in der rechten Hand. »Geht es etwas ausführlicher?«
»Ich erhielt gestern einen Anruf auf meinem Mobiltelefon. Nach Feierabend.«
»Von wem?«
»Anonym.«
»Wieso?«
Sie räusperte sich. »Anonyme Anrufe haben die Eigenschaft, dass sie die Identität des anderen Teilnehmers nicht preisgeben.« In ihrer Stimme klang eine Spur Ironie mit. »Ich habe die Nachricht erst heute Morgen abgehört.« Sie fingerte ihr Handy aus der Tasche ihrer Jeans und spielte die Meldung ab.
»Hallo. Hier in Braunschweig, im Östlichen Ringgebiet, genau in der Roonstraße, sind eben zwei Männer erschossen worden.«
»Das ist alles?«, fragte Ehlers enttäuscht.
Frauke nickte. »Leider fehlen die Namen des Täters und der Opfer. Hätte der Anrufer sich bei uns gemeldet, hätten wir ihn identifizieren können. Zum Glück wissen die Leute da draußen nicht, dass die Rufnummernunterdrückung bei Polizei und Rettungsdienst nicht wirkt.«
»Sie haben keine Idee, wer der Anrufer war?«
Frauke schüttelte den Kopf.
»Was haben Sie inzwischen herausgefunden?«
»Die Braunschweiger Polizei ist von Anwohnern informiert worden. Das war sieben Minuten nach einundzwanzig Uhr. Eine Minute vorher hat der Anrufer auf meine Mobilbox gesprochen. Die Kollegen sind mit mehreren Streifenwagen ausgerückt. Gleichzeitig traf der Notarzt am Tatort ein. Der konnte nur noch den Tod der beiden Männer feststellen. Es handelt sich um Corneliu Andreescu, einunddreißig, und seinen Cousin Nicolae Andreescu, siebenundzwanzig.«
»Andreescu?«, unterbrach Ehlers die Leiterin der Ermittlungsgruppe Organisierte Kriminalität.
Frauke nickte. »Der Sohn von George Andreescu.«
Ehlers lehnte sich zurück und legte die sorgsam manikürten Fingerspitzen zu einem Dach gegeneinander. »Verdammt. Ausgerechnet der.«
Frauke nickte nachdenklich. »Andreescu ist für uns kein Unbekannter. Es gab schon mehrere Ermittlungsverfahren gegen ihn. Die sind alle im Sande verlaufen. Wir sind uns ziemlich sicher, dass er seine Finger in einer Reihe schmutziger Geschäfte hat. Im Geschäftsleben würde man sagen, er hat die Diversifikation erfolgreich betrieben. Den Grundstock für sein Imperium hat er klassisch mit Prostitution und Schutzgelderpressung gelegt. Seit ein paar Jahren betätigt er sich als Unternehmer. Und das gleich in mehreren Branchen. Bau. Reinigungsgewerbe. Fleisch. Spedition.«
»Bereiche, in denen häufig Mitarbeiter ausgebeutet werden.«
»Der Zoll hat ihn und seine Unternehmen im Visier. Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung. Andreescu ist ein Fuchs. Und er hat exzellente Berater, die alle rechtlichen Schlupflöcher ausnutzen. Die spielen mit den Möglichkeiten, die ihnen das EU-Recht bietet. Es ist keine neue Idee, dass die Beschäftigten in seinen Unternehmen von rumänischen Subunternehmern kommen.«
»Und sein Sohn – der jetzt erschossen wurde?«
»George Andreescu ist das Oberhaupt einer weitverzweigten Familie.«
»Das erinnert ein wenig an die Mafiastrukturen.«
Frauke schob ihre Brille mit dem Zeigefinger auf der etwas zu spitzen Nase hoch. Dann bewegte sie den Kopf mit den nackenlangen mahagonirot gefärbten Haaren.
»Bei denen wusste man, dass es Kriminelle sind. Hier haben wir es mit gefährlichen Weiße-Kragen-Verbrechern zu tun. Die haben sich Strukturen geschaffen, die wir nur schwer entschlüsseln können.«
Ehlers verschränkte die Hände im Nacken und reckte sich. »Bei uns gibt es keine rechtsfreien Räume.«
»Wir müssen den Tätern aber ihre Taten nachweisen. Gerichtsfest. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätte jemand das Gesetz in die eigene Hand genommen und die Familie Andreescu für etwas abgestraft.«
»Ein Konkurrent?«, mutmaßte Ehlers.
Frauke zuckte mit den Schultern. »Eventuell. Es könnte aber auch jemand sein, den die Andreescu-Sippe ausgebeutet und betrogen hat.«
»Hoffentlich ist das nicht der Auftakt zu einer Auseinandersetzung unter rivalisierenden Gruppen«, stöhnte Ehlers.
»Wir haben die Vermutung, dass Libanesen in dieses Geschäftssegment einsteigen wollen. Während Andreescu die Leute über Subunternehmen rekrutiert, scheinen die Libanesen einen anderen Weg zu gehen. Sie beschäftigen Illegale, hauptsächlich Migranten.«
»Die dürfen nicht arbeiten«, stellte Ehlers fest.
Frauke lachte auf. »Wir haben auch Gesetze, die es verbieten, Menschen zu erschießen.«
Ehlers senkte nachdenklich den Kopf. »Sie sollten sich der Sache annehmen«, sagte er.
Erneut lachte Frauke. »Mit meiner ganzen Ermittlungsgruppe? Alle drei?«
Seit Kriminalhauptmeister Jakob Putensenf im vergangenen Jahr pensioniert worden war, bestand ihre Gruppe nur noch aus drei Ermittlern. Sie eingeschlossen.
Der Kriminaloberrat legte seinen Zeigefinger an die Nasenspitze. »Sie wissen um die knappen Personalressourcen. Die Politik wird nicht müde, zu verkünden, dass für die Polizei und die Justiz neue Stellen geschaffen werden sollen. Allein an der Umsetzung hapert es.«
»Ist es Ihr Versuch, mir zu verkünden, dass wir keine Verstärkung bekommen?«
Ehlers fuhr mit der Hand durch die Luft. »So ist das nicht. Ich habe mich für Sie eingesetzt. Schon heute erhalten Sie Unterstützung.«
»Heute?«, fragte Frauke überrascht. »Das bedeutet, der neue Mitarbeiter steht schon fest.« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Meine Gruppe ist mit ganz speziellen Aufgaben betraut. An die Mitarbeiter werden besondere Anforderungen gestellt. Den neuen Kollegen würde ich mir gern selbst aussuchen. Ich gehe davon aus, dass man mir eine repräsentative Auswahl vorlegt.«
Ehlers nagte an der Unterlippe. »Sie haben ein gesundes Selbstbewusstsein. Aber so funktioniert das nicht, Frau Dobermann. Die Beamten werden einem Dienstposten zugewiesen, wenn die Führung von deren Qualifikation überzeugt ist.«
»Und Sie haben jemanden für mich auserkoren?«
Ihr Vorgesetzter wiegte den Kopf.
»Schön«, sagte Frauke. »Es ist also auch über Ihren Kopf hinweg entschieden worden. Mir schwant Böses. Hat man jemanden abgeschoben und will ihn bei mir zwischenparken?«
»Um Gottes willen«, protestierte Ehlers. »Ich bin davon überzeugt, man hat bei der Wahl die besonderen Anforderungen Ihrer Ermittlungsgruppe berücksichtigt. Man weiß in den oberen Etagen um das spezielle Profil. Ich bin überzeugt, dass …«
Frauke schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Sparen Sie sich lange Erklärungsversuche. Wie heißt der Kollege? Kenne ich ihn?«
Der Kriminaloberrat räusperte sich. »Es ist kein Er.«
Sie sah ihren Vorgesetzten fast entsetzt an. »Eine Frau?«
»Ich verstehe nicht …«, stammelte Ehlers. »Sie geben sich doch selbst sehr emanzipiert. Überall wird gefordert, dass Frauen gefördert werden sollen. Allerorten wird nach einer Frauenquote verlangt. Die wäre in Ihrer Gruppe nun erfüllt.«
»Im Prinzip ist das richtig, aber nicht in unserem Fall. Wir beschäftigen uns mit der organisierten Kriminalität. Da kann eine Frau nicht viel ausrichten.«
Ehlers spitzte die Lippen. »Soooo?«
»Das ist … Das ist …« Frauke ärgerte sich über sich selbst, weil ihr keine passende Antwort einfiel.
»Haben Sie die Haltung unseres pensionierten Jakob Putensenf übernommen? Der hat ständig dafür plädiert, dass Frauen bei der Polizei Kaffee kochen sollen.«
»Ihre Argumentation ist unsachlich«, erwiderte sie pikiert und war froh, dass Ehlers nicht darauf einging. »Wer ist es? Kenne ich das zarte Persönchen?«
Ehlers lachte befreit auf. »Ich weiß nicht. Sie kommt von der Sitte.«
Frauke wandte sich halb zur Seite. »Was soll ich mit so einer anfangen? Die hat eine spezielle Ausbildung darin, wie sie gestörte Missbrauchsopfer einfühlsam verhört.«
Ehlers griff zum Telefonhörer und bat die Sekretärin, die neue Kollegin hereinzuschicken. Kurz darauf öffnete sich die Tür, und Frauke verschlug es den Atem. Die Frau füllte fast den ganzen Türrahmen aus. Sie musste zwischen einen Meter achtzig und einen Meter neunzig groß sein und wog bestimmt hundert Kilo. Zum massiven Gesamteindruck trug sicher auch die mächtige Oberweite bei. Das volle runde Gesicht mit der Knollennase wurde durch kurze rote Haare ergänzt. Sie steuerte auf Frauke zu und reichte ihr die Hand. Hand? Es waren Pranken.
»Hey. Boss.«
Frauke war für einen kurzen Moment sprachlos. Sie ignorierte die dargebotene Hand.
»Eine solche Tonart ist bei uns nicht üblich. Ich bin für Sie Frau Dobermann. Ist das klar?«, sagte sie schroff.
Die Neue stockte. »Ähh«, sagte sie irritiert.
Ehlers hüstelte. »Ich glaube, da liegt ein Irrtum vor.« Er zeigte auf die Neue. »Sie heißt Boss. Kommissarin Beate Boss.«
Frauke musterte die neue Kollegin abschätzend. Es war ein unfreundlicher Blick. Sie mochte die Frau nicht. Beschloss sie.
»Kommissarin? Wie alt?«
»Zweiunddreißig?«
»Und warum will man Sie bei der Sitte loswerden?«
»Ich schlage vor, Sie nehmen Frau Boss mit und stellen sie den Kollegen Ihrer Ermittlungsgruppe vor«, sagte Ehlers mild tadelnd. »Auf gute Zusammenarbeit.«
Frauke stand auf und gab einen Knurrlaut von sich. Dann verließ sie wortlos das Büro des Kriminaloberrats. Sie achtete nicht darauf, ob die Neue ihr folgte. Sie war immer noch wütend, als sie die Tür zum Büro ihrer Mitarbeiter aufriss.
Die beiden sahen auf. »Das sind meine Mitarbeiter«, erklärte Frauke mit einem Fingerzeig. Dann wies sie auf Beate Boss. »Die haben wir für Putensenf geerbt. Unfreiwillig«, setzte sie bissig hinzu.
Der schwergewichtige Hauptkommissar in der dezenten braunen Kombination, bei der auch die Krawatte nicht fehlte, stand auf und streckte Beate Boss die Hand entgegen.
»Nathan Madsack«, stellte er sich vor. »Nicht verwandt und nicht verschwägert«, ergänzte er, um kundzutun, dass es keine Beziehung zur Familie des hannoverschen Medienkonzerns gab.
Sie ergriff seine Hand. »Boss.«
»Nein«, erwiderte Madsack und zeigte auf Frauke. »Das ist die Chefin.«
»Beate Boss. So heiße ich.«
»Ach so. Herzlich willkommen im Team«, begrüßte er sie freundlich.
Auch der Zweite war aufgestanden und gab ihr die Hand.
»Thomas Schwarczer, Kommissar«, stellte er sich vor. Schwarczer war ungefähr gleich groß, hatte aber eine sportlich-muskulöse Figur. Das tailliert anliegende T-Shirt zeichnete jeden Muskel seines Sixpack-Bauches nach. Die Brustmuskeln spielten mit dem Stoff. Wenn man Schwarczer als markante Erscheinung bezeichnen wollte, lag das aber an seinem Kopf. Das bartlose längliche Gesicht war durch einen schmalen Mund und eine schmale Nase gekennzeichnet. Über den hohen Wangenknochen saßen zwei grün-graue Augen, die mit einem fast stechenden Blick die Neue musterten. Im linken Ohrläppchen baumelte ein goldener Ring. Am meisten beeindruckte aber der kahl geschorene Schädel. Seine Lederjacke hing über der Stuhllehne.
Beate Boss hielt seinem Blick stand. Nach einem langen Händedruck, es schien, als würde sie seine Hand gar nicht wieder freigeben wollen, wich sie einen Schritt zurück und ließ ihren Blick an Schwarczer vom Kopf bis zu den Schuhen abwärtswandern. Für einen zu langen Augenblick – so empfand es Frauke – ließ sie ihre Augen an der Stelle verweilen, an der sich Schwarczers Männlichkeit abzeichnete.
»Das ist ein freier Schreibtisch«, sagte Frauke. »Da hat Putensenf gesessen. Organisieren Sie Ihren Einzug selbst.« Mehr zu sich selbst ergänzte sie: »Wird ohnehin nur vorübergehend sein.« Zu allen sagte sie: »Wir haben einen neuen Fall. In zwei Minuten bei mir.« Dann verschwand sie in ihrem Büro.
Madsack und Schwarczer waren pünktlich, Beate Boss erschien mit fünf Minuten Verspätung. Von ihr ging Zigarettenrauch aus.
»Wenn ich von zwei Minuten spreche, nehmen Sie es wörtlich«, blaffte Frauke sie an.
Boss sah sich um. Madsack, der es sich auf einem der beiden Besucherstühle vor Fraukes Schreibtisch bequem gemacht hatte, sprang in die Höhe.
»Bleiben Sie sitzen«, sagte Frauke schroff. »Wir reden ständig von der Emanzipation. Das ist keine Einbahnstraße. Wer zu spät kommt, steht.«
»Zwei Minuten …«, protestierte Boss. »Ich muss die Treppe runter, vor die Tür, rauchen und wieder zurück. Wie soll ich das in zwei Min…«
»Dann lassen Sie es.«
Frauke schilderte kurz das, was Ehlers ihr berichtet hatte. Dann zeigte sie auf Madsack.
»Andreescu«, begann der Hautkommissar und bewies, wie gut er informiert war, »hat sich als Unternehmer erfolgreich etabliert, obwohl seine Wurzeln eindeutig im kriminellen Umfeld waren. Er lebt seit etwa vierzig Jahren in Deutschland, zunächst in Frankfurt. Dort hat er als Zuhälter begonnen, sich durch ausgesprochene Brutalität ein kleines Reich geschaffen. Die hessischen Kollegen haben mehrfach gegen ihn ermittelt. Schutzgelderpressung, Prostitution, Menschenschmuggel, weil er Illegale in seinen Bordellen hielt. Als in Frankfurt ein Bandenkrieg drohte, hat er sich in die Provinz zurückgezogen.«
»Wohin?«, unterbrach ihn Boss.
»Braunschweig«, sagte Madsack.
»Braunschweig ist doch keine Provinz«, protestierte Boss, wurde von Frauke aber rüde abgewürgt.
»Ruhe! Lassen Sie Madsack berichten.«
»Ist nicht schlimm«, versuchte der Hauptkommissar zu besänftigen. »Frau Boss kennt unsere …«
»Madsack! Bleiben Sie beim Thema«, wies ihn Frauke an.
Der Hauptkommissar schluckte. Dann fuhr er fort: »Er stammt ursprünglich aus Brașov, das wir Kronstadt nennen. Es liegt in Siebenbürgen. Trotzdem ist Andreescu kein Siebenbürger Sachse, hat also keine volksdeutschen Vorfahren.«
»Wie konnte er sich vor vierzig Jahren in Deutschland niederlassen?«
»Das kann ich nicht sagen«, erwiderte Madsack. »Aber er hat einen Weg gefunden. Mitte der neunzehnhundertneunziger Jahre hat er die deutsche Staatsbürgerschaft erworben. Er ist zum dritten Mal verheiratet und hat zwei Söhne. Corneliu, der gestern in Braunschweig ermordet wurde, und der ältere Simion. Das zweite Mordopfer, Nicolae, ist der Sohn von Arsenie Andreescu, vierundsechzig. Das ist der Bruder von George Andreescu. Er mischt munter im Familienclan mit.«
»Weshalb ist es noch nie gelungen, jemandem aus der Sippe etwas nachzuweisen?«, unterbrach ihn Frauke, die sich in ihrem Stuhl zurückgelehnt hatte und mit einem Kugelschreiber spielte, dessen Spitze sie sich jetzt an die Nase hielt.
»Die geschäftlichen Interessen sind verschachtelt. Andreescu kann sich gute Berater leisten. Manche Steuerberater oder Anwälte verstehen sich nicht als Wahrer des Rechts, sondern sehen es als eine Herausforderung an, Lücken zu finden, die sie für die Interessen ihrer Mandanten ausnutzen.«
Frauke winkte ab. »Cum-Ex-Geschäfte, ›Paradise Papers‹ und so weiter.«
»Ob Andreescu auch hierbei mitspielt, weiß ich nicht. Mein Vortrag gründet sich auf das Studium der Akten und das, was ich im Internet recherchieren konnte.«
»Ich verstehe eines nicht«, mischte sich Boss ein. »Der Mord fand gestern Abend statt, ja? Und Dobermann …«
»Für Sie Frau Dobermann, damit das klar ist«, fuhr Frauke sie wütend an.
»Sie haben erst vorhin von der Tat gehört«, setzte Boss ihren Einwand unbeirrt fort. »Wie kommt es, dass Sie so schnell zur Person Andreescu recherchiert haben?«
Madsack hüstelte. »Das hat nichts mit den gestrigen Morden zu tun. Wir haben schon lange den Verdacht, dass der Andreescu-Clan auf zweifelhaften Pfaden wandelt.«
»Was werfen Sie ihm vor?«
»Na ja«, druckste der Hauptkommissar herum. »Nichts Konkretes.«
»Ein merkwürdiger Ansatz«, befand Boss.
»Wir sind davon überzeugt, dass Andreescu kriminell ist. Es ist unsere Aufgabe, gerichtsfeste Beweise dafür zu erbringen«, sagte Frauke.
»Hmh. Es muss doch einen Anhaltspunkt geben.« Boss gab sich nicht mit der Auskunft zufrieden.
Frauke ging nicht darauf ein.
»Weiter.« Das galt Madsack.
»In Braunschweig hat Andreescu sich auf nach außen saubere Geschäfte ausgerichtet. Er hat mit einem Reinigungsdienstleister begonnen. Heute ist er fast ein Monopolist auf diesem Gebiet, wenn man von einigen kleineren Betrieben absieht.«
»Dann betreut er auch große Objekte?«, wollte Boss wissen.
»Ja.«
Madsack warf Frauke einen fragenden Blick zu und war erleichtert, als sie unmerklich nickte.
»Sind darunter auch öffentliche Aufträge?«, hakte Boss nach.
»Leider«, mischte sich Frauke ein. »Schulen, Stadtverwaltung, Behörden. Sogar die Polizei lässt durch Andreescu ihre Büros reinigen.«
»Und wer hat das veranlasst? Irgendjemand muss dafür verantwortlich sein.«
»Der Markt. Genau genommen die Brüsseler Bürokraten. Große Aufträge müssen ausgeschrieben werden.«
Boss bewegte nachdenklich den Kopf. »Und Andreescu hat das günstigste Angebot abgegeben«, riet sie.
»So ist es«, bestätigte Madsack. »In nahezu allen Fällen.«
»Entweder hat er jemanden bestochen, der ihn über die anderen Angebote in Kenntnis gesetzt hat, oder er ist einfach billiger.«
»Ob Korruption im Spiel ist … Wir wissen es nicht«, sagte Madsack. »Jedenfalls werden Andreescus Leute lausig bezahlt.«
»Es gibt den Mindestlohn.« Boss streckte ihre Oberweite nach vorn.
»Den Andreescu anders interpretiert. Er zahlt nachweislich den Mindestlohn. Was meinen Sie, wie oft der Zoll bei ihm auf der Matte steht. Auch die Arbeitszeitdokumentation ist vordergründig in Ordnung. Niemand wagt, laut zu behaupten, dass die Stunde für Andreescus Arbeitssklaven aber neunzig Minuten hat. Oder mehr«, erklärte Frauke.
»Es muss doch jemand zu finden sein, der auspackt«, sagte Boss zweifelnd.
»Im harmlosen Fall verlieren die Leute ihren Job und müssen wieder nach Rumänien zurück, abgesehen von den Illegalen, für die es sowieso keine Beschwerdeinstanz gibt. Und wer doch den Mund aufmacht, wird zum Schweigen gebracht. Zu Hause. In Rumänien«, sagte Madsack.
»Das kann doch alles nicht wahr sein.« Boss sah in die Runde.
»Leider doch. Amtshilfe in Rumänien … Fehlanzeige. Korruption ist dort Alltag. Sie findet auf allen Ebenen des Landes statt und ist ein strukturelles Massenphänomen. Die EU nennt es ›Kultur der Korruption‹. Die öffentlichen Bediensteten sind unterbezahlt. Ihnen fehlt zudem jedes Unrechtsbewusstsein, wenn sie den Blick auf die Selbstbedienungsmentalität der wirtschaftlichen und politischen Eliten richten«, erklärte Frauke. »Verstehen Sie nun, weshalb wir Andreescu auf die Finger sehen wollen?«
Boss nickte versonnen.
»Nachdem Andreescu mit seinen Reinigungsunternehmen Erfahrung im Umgang mit billigem Personal gemacht hat, hat er das Geschäftsmodell auf andere Branchen übertragen. Er beschäftigt zahlreiche Leute im Bau, auf Schlachthöfen, betreibt Speditionen und vieles mehr. Das Grundprinzip ist immer das gleiche: Er beutet die Menschen aus, die er über ein geschickt gestricktes Netz von Subunternehmen in Rumänien rekrutiert und hier für teures Geld an einheimische Unternehmen verleiht«, schloss Madsack seine Erklärungen.
»Und nun hat sich jemand gewehrt und zwei Familienmitglieder erschossen«, meinte Boss.
»Das ist eine von vielen Optionen«, schränkte Frauke ein. »Es könnte sich auch um eine Familienfehde handeln. Wir kennen es als Blutrache, die in der ’Ndrangheta, aber auch in zahlreichen anderen Mafiastrukturen immer noch gehandhabt wird. Gut. Wir haben uns nun einen Überblick verschafft. In der Theorie. Fahren wir nach Braunschweig und eruieren wir die Lage vor Ort.«
Madsack beschaffte ein Auto von der Fahrbereitschaft. Der Mercedes A160 ist ein grundsolides Fortbewegungsmittel, wenn man in ihm nicht vier Erwachsene, darunter zwei Schwergewichte, unterbringen muss. Frauke hatte angewiesen, dass sich Schwarczer ans Lenkrad setzen sollte. Sie nahm den Beifahrersitz ein, während sich Madsack und Boss auf die Rückbank quälen mussten. Frauke spürte, dass Beate Boss Probleme hatte, ihre langen Beine im Fond unterzubringen. Die Knie drückten durch die Rückenlehne hindurch. Vielleicht hätte sie ihren eigenen Sitz noch ein wenig nach vorn schieben können. Sie fühlte sich aber nicht für Körpergröße und -umfang Dritter verantwortlich. Aus den Augenwinkeln hatte sie registriert, dass Madsack sich nur mit viel Mühe auf seinen Platz zwängen konnte.
Der Zentrale Kriminaldienst der Polizeiinspektion Braunschweig befand sich im großen Polizeiareal im östlichen Stadtteil Gliesmarode. Auf den ersten Blick wirkte das Gelände fast wie eine Kaserne. Das galt auch für die strenge Eingangskontrolle. Schwarczer musste seinen Dienstausweis zeigen und versichern, dass die anderen Insassen auch Polizisten waren.
»Was will das LKA bei uns?«, fragte der ältere Polizist am Eingang. Es war rhetorisch. Eine Antwort erwartete er nicht. Dafür erklärte er ihnen, wo sich die gesuchte Dienststelle befand. Auf dem von Gebäuden umringten Innenhof fanden sie einen Parkplatz. Wenig später klopften sie an die Bürotür mit dem Namensschild »Bitter – KHK«.
»Fabian Bitter«, stellte sich der sportliche, fast hager wirkende Enddreißiger – so schätzte Frauke ihn ein – mit dem schütteren blonden Haar und dem gepflegten Dreitagebart vor und zeigte sich über das »massive Aufgebot des LKA« überrascht.
Bitter bestätigte, Leiter des Fachkommissariats 1 zu sein.
»Weshalb interessiert sich Hannover für diesen Fall?«, wollte er wissen, nachdem er die Besucher in einen Besprechungsraum geführt hatte.
»Wir sind von der Ermittlungsgruppe Organisierte Kriminalität«, erwiderte Frauke.
Bitter streckte den Arm aus und zeigte auf eine Wand. »Da sitzen die Kollegen von der hiesigen Polizeidirektion, die dieses Deliktfeld bearbeiten. Wir stimmen uns mit denen ab.«
»Wir bündeln die Kräfte«, wiegelte Frauke den Einwand ab. »Welche Erkenntnisse liegen bisher vor? Wir wissen, wer die Opfer sind. Uns ist auch der Hintergrund bekannt.«
Bitter berichtete, dass die Morde vor der Wohnung Arsenie Andreescus in der Roonstraße geschehen waren. »Die beiden Männer wurden beim Verlassen des Hauses erschossen. Der Täter …«
»Wieso einer?«, unterbrach ihn Frauke.
»Warten Sie. Ich werde unsere Vermutung gleich erläutern. Der Täter hat offenbar eine ganze Weile auf die beiden Cousins gewartet. Als sie auf die Straße traten und zu ihrem Auto …«
»Jeder zu seinem eigenen?«, wurde er erneut von Frauke gestört.
»Sie waren gemeinsam mit dem Audi A8 Corneliu Andreescus gekommen. Genau genommen ist das Fahrzeug auf BS Inter Personal Service zugelassen. ›BS‹ steht hier für Braunschweig. Corneliu ist einer der Geschäftsführer. Die beiden Männer kamen aus dem Haus und überquerten die Straße, als der Täter von hinten an sie herantrat und jeden mit einem Schuss niederstreckte. Das war aber vermutlich nicht tödlich. Der Mörder ist in aller Ruhe zu den am Boden Liegenden gegangen und hat sie nacheinander durch einen aufgesetzten Kopfschuss regelrecht hingerichtet.«
»Das sieht nach einem Profi aus«, warf Frauke ein.
Bitter nickte zustimmend. »Das sehe ich auch so.« Er sah auf die Armbanduhr. »Uns liegen noch keine Ergebnisse hinsichtlich der verwendeten Waffe vor. Die Rechtsmedizin wird die geborgenen Geschosse, die nach ersten Erkenntnissen alle im Körper stecken geblieben sind, an den Schusswaffenerkennungsdienst des KTI weitergeben.«
»Das Kriminaltechnische Institut ist bei uns im Hause«, sagte Frauke mehr zu sich selbst und sah Madsack an. »Sie kümmern sich darum.«
Der Hauptkommissar nickte.
»Weshalb gehen Sie von nur einem Täter aus?«
»Es gibt einen Zeugen.«
»Jemand hat die Tat beobachtet?«
»Nicht direkt. Nachdem mehrere Anrufe bei der Leitstelle eingetroffen waren, wurden Streifenwagen zum Einsatzort geschickt. Die Kollegen haben uns informiert. Naturgemäß haben sich viele Schaulustige eingefunden. Unter ihnen hat sich ein Mann, er heißt Albert Riedel, bei uns gemeldet. Riedel war mit seinem Hund Gassi gehen. Er wohnt in der Heinrichstraße, die parallel zur Roonstraße verläuft. Sein Weg führt ihn normalerweise einmal um den Häuserblock. Dabei passiert er auch die Wohnung von Andreescu. Gestern war es regnerisch. Deshalb war kaum jemand auf der Straße unterwegs. Riedel ist ein Mann aufgefallen, der sich gegenüber Andreescus Wohnung in einen Hauseingang gezwängt hatte. Ihm kam es merkwürdig vor. Deshalb ist er in der Dörnbergstraße umgekehrt und noch einmal zurückgegangen. Aber da war der Mann verschwunden.«
»Gibt es eine Beschreibung?«
»Nur sehr vage. Der Unbekannte trug einen ›Detektivmantel‹, so hatte sich Riedel ausgedrückt. Er meinte damit einen Trenchcoat. Dunkel. Vom Gesicht war nichts zu erkennen gewesen. Das lag im Schatten eines breitkrempigen Huts.«
»Das klingt wie in einem amerikanischen Gangsterfilm«, warf Boss ein.
»Weitere Angaben zur Person konnte der Zeuge nicht machen. Der Mann war ›normal groß‹, was immer man darunter verstehen mag. Riedel wusste auch nicht, in welche Richtung der Unbekannte verschwunden war. Entweder ist er zur Hauptstraße, dem Hagenring, gelaufen oder hat sich in einen der Hinterhöfe zurückgezogen. In diesem Teil der Straße gibt es keine geschlossene Bebauung. Zwischen den einzelnen Gebäuden sind Lücken, durch die man auf die Rückseite und in die Gärten gelangt.«
»Es gibt noch die Option, dass sich der Unbekannte in sein Fahrzeug gesetzt hat, das möglicherweise in der Nähe stand. Es muss aber ein wenig weiter geparkt gewesen sein. Sonst hätte er bei dem schlechten Wetter nicht auf der gegenüberliegenden Seite gewartet.« Frauke sah Bitter an. »Ich teile Ihre Vermutung, dass es sich um einen Einzeltäter handelt. Die Tatausführung spricht dafür.«
»Wir haben eine Fahndung nach dem Mann ausgelöst, den der Zeuge beschrieben hat. Natürlich haben wir auch alle Anwohner befragt. Leider ohne Ergebnis. Der Unbekannte wurde nur von Albert Riedel gesehen.«
»Gibt es in der Gegend Überwachungskameras?«, wollte Frauke wissen.
»Negativ. Das ist eine ruhige Wohngegend. Mehrfamilienhäuser.«
»Wer befand sich in der Wohnung Andreescu, als die Schüsse fielen?«
»Als wir eintrafen, waren dort die Brüder George und Arsenie Andreescu sowie dessen Frau Kanita anwesend.«
»Sonst niemand?«
»Keiner«, bestätigte Bitter.
»Das ist merkwürdig«, überlegte Frauke laut. »Die beiden Opfer wollten zu ihrem Audi A8. Arsenie Andreescu wohnt in der Roonstraße.«
Der Braunschweiger Hauptkommissar nahm den Faden auf. »George Andreescu wohnt in Cremlingen. Er hat dort vor langer Zeit außerhalb einen alten Bauernhof erworben und ihn zu einer Art Festung ausgebaut.«
»Wie sollte er nach Hause kommen? Mit welchem Auto war er unterwegs?«
»Das haben wir nicht gefragt«, gestand Bitter ein. Als wollte er ablenken, ergänzte der Hauptkommissar: »Wir sind von Wohnung zu Wohnung gegangen. Niemand hat etwas bemerkt.«
»Sie sprachen von mehreren Notrufen, die bei der Polizei eingegangen sind. War da auch einer aus der Wohnung Andreescu dabei?«
»Das habe ich geprüft. Eigenartig. Es waren nur Nachbarn, die sich gemeldet haben.«
»Wenn die Familie Kontakt zur Unterwelt hat«, mischte sich Boss ein, »müssten sie doch geahnt haben, dass die Schüsse ihren Angehörigen galten.«
Bitter lachte auf. »Leute wie die beiden Alten machen sich die Hände nicht schmutzig. Als wir am Tatort eintrafen, waren die beiden Brüder unten auf der Straße. Wie gesagt – es hatte geregnet. Beide trugen regenfeste Jacken. Die Haare waren nass.«
»Was sagt uns das?«, wollte Boss wissen.
»Von den Alten ging kein Notruf aus. Möglicherweise sind sie nach den Schüssen auf die Straße geeilt.« Frauke sah Bitter an. »Haben Sie Waffen bei George oder Arsenie Andreescu sichergestellt?«
Bitter hob die Hände. »Wir hätten die Wohnung nicht durchsuchen dürfen. Es gab keine Anhaltspunkte dafür, dass die beiden alten Männer für die Tat verantwortlich waren. Sie wissen, dass der Schutz der Wohnung ein hohes Rechtsgut bei uns ist.«
Frauke stand auf. »Informieren Sie uns«, sagte sie und verabschiedete sich ohne Händedruck.
Bitter beließ es bei einem Schweigen. In seiner Mimik war deutlich zu lesen: Du kannst mich mal …
»Ich möchte jetzt eine Zigarette rauchen«, sagte Boss, als sie wieder im Freien standen.
»Nein«, entschied Frauke knapp und befahl Schwarczer, zum Tatort zu fahren.
Sie mussten eine Weile suchen, bis sie einen freien Parkplatz hinter der St.-Pauli-Kirche fanden. Frauke sah zu dem frei stehend angelegten Gebäude, das von einer großzügigen Grünfläche umgeben war. Die Kirche mit dem Grundriss eines griechischen Kreuzes war als Zentralbau im neugotischen Stil angelegt. Ihr fehlte allerdings die Turmspitze.
Madsack bemerkte Fraukes abschätzenden Blick. »Sicher gab es den einmal. Ich vermute, der Turm wurde Opfer eines Bombenangriffs.«
»Weshalb hat man ihn nicht wiederaufgebaut? Die Kirche stellt doch den Mittelpunkt dieses Stadtteils …«
»Der heißt Östliches Ringgebiet«, half Madsack aus.
»Von mir aus«, erwiderte Frauke pikiert.
Es war erstaunlich, auf welchen Gebieten sich Madsack auskannte. Manchmal war sein Wissen aber auch störend. Bei ihr kam es als altklug an. Was halfen ihm Detailkenntnisse, wenn er Schwierigkeiten hatte, sich in der engen Parklücke aus dem Auto zu quälen.
Frauke zeigte auf ihn und auf Boss. »Sie beide klappern die Wohnungen und Geschäfte auf der Hauptstraße, dem Hagenring, ab. Hören Sie sich um, ob jemand einen Fremden gesehen hat. Oder ob irgendetwas anderes Auffälliges wahrgenommen wurde.«
»Die Braunschweiger haben doch schon gestern alles in dieser Hinsicht unternommen«, wagte Boss einzuwenden.
»Die waren in der Roonstraße unterwegs, aber nicht in der Hauptstraße.« Frauke schnippte mit dem Finger. »Abmarsch.«
Sie selbst ging mit Schwarczer durch eine kurze Seitenstraße, bis sie vor der gesuchten Adresse standen. Nachdem sie die Klingel betätigt hatten, dauerte es nur einen Moment, bis der Summer ertönte.
In der zweiten Etage erwartete sie eine Frau.
»Frau Riedel?«, fragte Frauke.
Als die Frau zur Bestätigung nickte, fuhr Frauke fort: »Kriminalpolizei. Wir hätten noch ein paar Fragen an Ihren Mann.«
»Wegen gestern«, stellte Frau Riedel fest. »Klar doch. Kommen Sie rein.« Sie drehte kurz den Kopf. »Albert. Die Polizei will noch was von dir.«
Bevor der Hausherr seinen zu leichtem Übergewicht neigenden Körper in den Flur bewegen konnte, tauchte ein weißer Mischlingshund auf, dessen Fell durch einige schwarze Flecken gezeichnet wurde.
Frau Riedel griff zum Halsband und hielt das Tier zurück. »Das ist Luna. Sie ist fürchterlich neugierig.«
»Tach«, ertönte Riedels Bass aus dem Hintergrund. »Kann einen ganz schön in Trab halten. Ist aber gut so. Man kommt vor die Tür. So wie gestern. War Schietwetter. Normalerweise kriegt mich da keiner ins Freie. Aber erklären Sie das mal einem Hund. Also bin ich noch mal um den Block.«
»Müssen wir das zwischen Tür und Angel besprechen?«, beschwerte sich Frauke.
Frau Riedel wirkte unentschlossen. »Ich bin noch nicht dazu gekommen, aufzuräumen«, sagte sie.
Frauke unterdrückte eine Antwort. Anscheinend war Frau Riedel seit Wochen nicht dazu gekommen. Zeitungen flogen herum, zwei angefangene Rätselhefte lagen auf dem Esstisch. Die Fernsehzeitung, Zigarettenpackungen, eine Chipstüte und eine angebrochene Flasche Apfelschorle. Einer der beiden trank Tee. Und der Posteingang der letzten Zeit war nach dem Öffnen auch liegen geblieben. Mitten im Raum stand ein Bügelbrett. Ein Berg Wäsche türmte sich in der Sofaecke. Bereits gebügelte Teile waren sauber gestapelt, aber noch nicht weggeräumt worden.
Frau Riedel beeilte sich, Sitzgelegenheiten für die beiden Beamten zu schaffen.
»Wann war das gestern?«, fragte Frauke Albert Riedel.
Der blies kurz die Wangen auf. »Gegen neun. Nein, kurz davor. Ich war schon auf dem Rückweg, als die Kirche glockte.«
»Die Kirche … was?«
»Glockte. Die Kirchenglocken läuteten.«
»Haben Sie mitgezählt?«
»Nicht nötig. Gestern war Dienstag. Da guckt Franzi immer ›In aller Freundschaft‹ im Ersten. Sie wird knaddelig, wenn sie das verpasst. Ich bin also mit dem Hund los. Einmal um den Block, nicht, Luna?«
Der Mischling hatte sich in einem Korb in der Zimmerecke zusammengerollt. Als sein Name fiel, hob er kurz den Kopf und spitzte die Ohren.
»Ich bin dann los. Keine Sau war draußen unterwegs. Wundert mich auch nicht. War ein Scheißwetter. Darum war ich auch so erstaunt, als ich den Mörder …«
»Moment«, unterbrach ihn Frauke »Woher wissen Sie, dass es der Mörder war?«
Riedel fuchtelte mit der Hand in der Luft herum. »Stand doch in der Zeitung.«
»Dass Sie den Mörder gesehen haben?«
»Ja. Habe ich auch dem von der Zeitung gesagt.«
»Braunschweiger Zeitung?«
»Nö. Die andere große. Die, wo es überall gibt. Wir lesen die, weil die alles ohne viel Drumrum auf den Punkt bringen. Wenig Worte. Und Bilder. Da muss man sich nicht durch ellenlanges Gelaber lesen. Die waren hier bei mir.«
Interessant, dachte Frauke. Woher hatten die Zeitungsleute so schnell die Adresse des vermeintlichen Zeugen?
»Niemand kann bisher bestätigen, dass die Person, die Sie gesehen haben, auch der Täter ist.«
Riedel tippte sich an die Stirn. »Ist doch logisch, Mann. Kein normaler Mensch treibt sich bei solchem Wetter auf der Straße rum und versteckt sich schon gar nicht im dunklen Hauseingang. Kurz darauf ballert es in der Straße. Bamm. Bamm. Das geht doch gar nicht anders. Das muss der Mörder gewesen sein.«
Frauke fragte noch einmal nach den Örtlichkeiten und versuchte, mehr Informationen zum Aussehen der Person zu erhalten.
»Der kam mir gleich verdächtig vor«, schmückte Riedel seine Erzählung aus. »Nicht ganz geheuer.«
»Inwiefern?«
»Na ja. Eben verdächtig.«
Mit Ausnahme des Hinweises, dass Riedel eine Person gesehen hatte, war seine Aussage nicht sehr konstruktiv. Die Beamten waren erfahren genug, ihm keine Suggestivfragen zu stellen. Der Mann hätte seine Phantasie walten lassen und ein falsches Bild abgeliefert.
»Sie gehen öfter mit Ihrem Hund Gassi?«
»Mehrfach täglich.«
»Ist Ihnen dabei früher etwas aufgefallen?«
»Mir? Nö. Eigentlich nicht.«
Frauke stand auf. »Gut. Falls Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich umgehend bei der Polizei.«
Riedel beugte sich vor. »Sagen Sie mal … Was ist da nun wirklich passiert? Wenn man zwei Rumänen umbringt … da steckt doch irgendwas dahinter.«
»Seien Sie in der nächsten Zeit vorsichtig, Herr Riedel.« Frauke ging nicht auf die Frage ein. »Schließlich hat der Unbekannte Sie gesehen. Geben Sie auch keine Interviews mehr. Sonst könnte der Täter, sofern die Person, die Sie gesehen haben, etwas damit zu tun hat, auf die Idee kommen, Sie könnten für ihn gefährlich werden.«
Riedel erschrak. »Brauche ich jetzt Personenschutz?«
»Das ist nicht erforderlich. Aber halten Sie sich mit öffentlichen Äußerungen zurück.«
Der Mann wirkte verlegen. »Dumm«, sagte er leise. »Der Reporter, der hier war, hat mir einen Fünfziger zugesteckt. Falls mir noch etwas einfällt, hat er gesagt, liege noch ein bisschen Taschengeld drin. Also. Wir sind nicht auf Rosen gebettet, da …«, ließ er das Ende des Satzes offen.
»Halten Sie sich zurück«, sagte Frauke zum Abschied und ließ sich von Frau Riedel zur Tür geleiten.
»Was halten Sie von der Sache?«, fragte sie unterwegs Schwarczer.
»Ich stimme Ihnen zu«, erwiderte der Kommissar wortkarg.
Unterwegs rief sie Madsack an. Der Hauptkommissar rief fünf Minuten später zurück.
»Entschuldigung. Wir waren gerade in einer Befragung. Bisher ist aber alles negativ. Niemand hat etwas bemerkt oder gesehen. Aber jeder Zweite fragt neugierig nach, was es Neues gibt.«
»Wir gehen jetzt zu Andreescu«, sagte Frauke und legte auf.
Sie mussten eine Ewigkeit vor der Tür warten, bis sie eingelassen wurden. Zuvor fragte eine zarte Frauenstimme, wer dort sei. Auch mit der Antwort »Polizei« zeigte sich die Frau nicht zufrieden. Erst als Frauke sie aufforderte, sich etwas anzuziehen und mit zur Dienststelle zu kommen, öffnete die Frau die Haustür. Vor der Wohnungstür wiederholte sich das Spielchen, bis schließlich geöffnet wurde.
Eine schlanke junge Frau musterte sie kritisch. Ihrem Äußeren nach könnte sie aus Thailand stammen, vermutete Frauke.
»Frau Kanita Andreescu?«
Die Frau, sie trug einen figurbetonten Kaschmirpullover und eine hautenge Edeljeans und war auf Strumpfsocken unterwegs, sah die beiden Polizisten ängstlich an. Sie klammerte sich mit einer Hand am Türrahmen, mit der anderen am Türblatt fest.
»Sind Sie es?«, wiederholte Frauke.
Das »Joa« war so leise gehaucht, dass es kaum zu verstehen war.
»Wir hätten gern Ihren Mann gesprochen.«
»Nicht da.«
»Wo ist er?«
»Weiß nicht.«
»Wann kommt er wieder?«
»Weiß nicht.«
Frauke zeigte in die Wohnung. »Haben Sie Kinder?«
»Nein.«
»Sind Sie allein?«
Wieder sah die Frau angstvoll zu den Polizisten. Frauke schloss daraus, dass es zutraf, Frau Andreescu es aber nicht zugeben wollte.
»Waren Sie gestern auch in der Wohnung, als die Schüsse fielen?«
»Weiß nicht.«
»Hören Sie auf mit diesen Spielchen«, fuhr Frauke sie an. »Antworten Sie vernünftig.«
»Arsenie …« Sie führte den Satz nicht zu Ende.
»Ihr Mann hat Ihnen verboten, zu reden. Der hat Ihnen aber nichts vorzuschreiben. Wir sind von der Polizei. Verstehen Sie mich?«
Ein kaum merkliches Nicken bestätigte Fraukes Vermutung.
»Worüber haben die Männer gestern gesprochen?«
Die Frau zuckte mit den Schultern.
»Wie war die Stimmung? Gab es Streit? Waren die Männer nervös?«
»Weiß nicht.«
»Zum Donnerwetter«, polterte Frauke los und schlug unverhofft mit der flachen Hand gegen das Türblatt. »Spielen Sie hier nicht das Dummchen. Wir sind nicht auf einem Kindergeburtstag.« Sie streckte den Arm aus. »Da sind zwei Verwandte von Ihnen erschossen worden. Und Sie mauern.«
Kanita Andreescu zog den Kopf zwischen die Schulterblätter, als würde sie sich in sich selbst verkriechen wollen.
»Was geschah, als die Schüsse fielen? Wie haben Ihr Mann und George reagiert?«
Es begann, um die Mundwinkel der Frau zu zucken.
»Sind sie gleich auf die Straße gelaufen? Oder haben sie erst telefoniert?« Falls ja, jedenfalls nicht mit der Polizei, dachte Frauke. Madsack müsste das prüfen lassen.
Kanita Andreescu starrte Frauke wie hypnotisiert an.
»Hat Arsenie eine Waffe?«
Jetzt konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie löste die Hände vom Rahmen der Tür und verbarg ihr Gesicht dahinter. Statt einer Antwort war nur ein lautes Schluchzen zu vernehmen.
»Sagen Sie uns wenigstens, wie George zu Ihnen gekommen ist.«
Auch hierauf erhielten die Polizisten keine Antwort.
»Das ist ein wahres Affentheater, das Sie hier aufführen.« Frauke drohte zornig mit dem Finger. »Sie hören noch von uns. Und das können Sie getrost Arsenie und Ihrem Schwager George ausrichten. Wir sind Wadenbeißer.« Sie drehte sich zu Schwarczer um. »Kommen Sie.«
Der Kommissar folgte ihr wortlos die Treppe hinab.
»Entweder hat sie wirklich nichts mitgekriegt, oder man hat sie eingeschüchtert«, schimpfte sie auf dem Rückweg zum Auto. »Die ist doch vierzig Jahre jünger als ihr Mann. Ein gekauftes Spielzeug. Mir tut die Frau leid. Wenn sie Glück hat, wird sie nach dem Gebrauch nur ausrangiert. Hoffentlich geht das nicht mit Gewaltmaßnahmen einher. Solchen Typen traue ich zu, dass sie schlagen.«
Schwarczer hüstelte. »Vielleicht hat sie wirklich nichts von dem Treffen der vier Männer mitbekommen. Ich kann mir vorstellen, dass man ihre Anwesenheit nicht geduldet hat. Die Frau scheint mir auch nicht von der Sorte zu sein, dass sie an der Tür lauscht. Sie dürfte ohnehin Verständigungsprobleme haben. Außerdem hat sie Angst. Die ist bis oben hin eingeschüchtert.«
»Das hilft uns nicht weiter«, erwiderte Frauke mürrisch. Ihr war bewusst, dass Schwarczer vermutlich recht hatte. »Es waren doch harmlose Fragen.«
Schwarczer warf ihr einen Seitenblick zu. »Zum Beispiel die, ob ihr Mann eine Waffe hat?«
»Ach«, tat es Frauke ab.
Madsack und Boss standen schon am Auto. Es hatte erneut angefangen zu nieseln. Die Neue trat von einem Bein aufs andere. Als sich Frauke und Schwarczer näherten, zog sie noch einmal gierig an der Zigarette, bevor sie die Kippe wegwarf.
»Schon einmal etwas von Umweltschutz gehört?«, knurrte Frauke.
»Wohin sonst mit der Kippe? Außerdem zahle ich Steuern.«
»Von denen Sie alimentiert werden. Mir ist noch nicht aufgefallen, dass Sie Ihre Dienstbezüge auch verdienen.«
Boss öffnete den Mund, als wolle sie antworten. Dann schluckte sie ihre Replik aber hinunter. Stattdessen stieß sie Schwarczer, der neben ihr stand, den Ellenbogen in die Rippen.
»Sag mal, Thomas. Bist du vom Sternzeichen her Fisch?«
»Nein. Wieso?«, erwiderte der Kommissar.
»Weil du so stumm wie die Fische bist.«
Schwarczer verzichtete auf eine Antwort.
»Hat man Sie zu uns abgeschoben, weil die Kollegen von der Sitte Ihrer Rolle als Pausenclown überdrüssig waren?«, wollte Frauke wissen.
»Das ist ja ein tolles Arbeitsklima in dieser Truppe«, beklagte sich Boss.
»Es liegt nicht am November, dass es seit Ihrem Erscheinen frostig geworden ist.«
»Steigen Sie erst einmal ein«, schlug Madsack mit sanfter Stimme vor.
»Erst möchte ich hören, welche Ergebnisse Sie mitgebracht haben«, sagte Frauke.
»Leider negativ«, erwiderte der Hauptkommissar. »Niemand hat etwas gesehen oder gehört. Das hatte ich schon vorhin am Telefon gesagt. Auch bei unserer weiteren Recherche haben wir nichts Verwertbares in Erfahrung bringen können.«
»Das ist dürftig«, stellte Frauke fest.
»Und welche neuen Erkenntnisse haben Sie gewonnen?«, wollte Boss wissen.
Frauke feuerte einen Blick wie einen Giftpfeil in ihre Richtung ab.
»Einsteigen«, sagte sie im Befehlston. »Wir fahren zu Andreescu.« Sie war nicht überrascht, als sie Madsack, der sich hinters Lenkrad klemmte, die Anschrift nannte.
»Ich weiß, wo das ist«, sagte er und fuhr fast zehn Kilometer in östlicher Richtung. Als sie den Ort erreicht hatten, stoppte der Hauptkommissar und sah sich irritiert um.
»Was ist, Madsack? Ich denke, Sie kennen sich aus«, stichelte Frauke.
»Schon. Bis nach Cremlingen. Aber die genaue Adresse …«
»Geben Sie es ins Navi ein. Aber möglichst noch heute«, forderte sie ihn auf.
Madsack tippte hektisch die Adresse ins System. Er fühlte sich unwohl, weil Frauke ihn dabei beobachtete, und musste sich mehrfach korrigieren.
»Das geht meinem Vater auch so«, meldete sich Beate Boss vom Rücksitz. »Ein Touchscreen ist ungünstig für die Bedienung durch ältere Menschen.«
Ein wütendes Zischen von Frauke wies die Neue in die Schranken. Schließlich hatte Madsack die Anschrift eingegeben, und das Navi führte sie noch einmal sechs Kilometer weiter, durch Schandelah bis zu einem ehemaligen Bauernhof, der idyllisch am Waldrand lag.
»Die Niedersachsen spinnen doch mit ihren Einheits- und Samtgemeinden«, merkte Frauke an. »Da ist eine große Region, die sich Cremlingen nennt, und dahinter stecken viele kleine Dörfer, die weit zerstreut liegen. Jedes hat eine eigene Kultur und Geschichte.«
»Es wäre unmöglich, in jedem noch so kleinen Dorf eine eigene Gemeindeverwaltung zu finanzieren«, widersprach Boss.
»Blödsinn«, sagte Frauke barsch. »Da gibt es andere Lösungen. Nehmen Sie das Beispiel Schleswig-Holstein. Da hat man den Gemeinden die Eigenständigkeit gelassen. Sie haben sich zusammengeschlossen und für einen regionalen Verbund eine eigene Verwaltung geschaffen. Man nennt es Amtsverwaltung.«
»Kommen Sie von dort?«, fragte Boss.
»Uninteressant«, sagte Frauke unfreundlich.
Neun Jahre war es her, dass sie als Leiterin des Kommissariats 1 – K1 – der Bezirkskriminalinspektion Flensburg zum Landeskriminalamt Hannover gewechselt war. Mit dem damaligen Leiter in Flensburg, Kriminaldirektor Dr. Starke, hatte sie eine Dauerfehde ausgetragen, bis er sie sexueller Übergriffe bezichtigte. Ihr verächtliches Lachen, das bei der Erinnerung an die damaligen Ereignisse hochkam, irritierte die drei Mitfahrer.
Beweisen konnte der »Scheiß-Starke«, wie der Husumer Große Jäger ihn nannte, es nicht. Aber das Wort des Vorgesetzten wog schwerer. Um »einen Skandal« zu vermeiden, hatte man Verbindungen nach Hannover genutzt und ihr einen Wechsel an die Leine nahegelegt. Nur ein paar Eingeweihte wussten um die Hintergründe.
Gleich ihr erster Fall in Niedersachsen war spektakulär gewesen. Der Ermittlungsgruppenleiter hatte sich als korrupt und kriminell erwiesen und war sogar zum Mörder eines jungen Kollegen geworden. Es war ein weiter Weg, sich als Chefin in einem der »harten Kommissariate« gegen eine männerdominierte Truppe durchzusetzen. Sie hatte sich Respekt verschafft. Auch wenn ihr der Wechsel von der Flensburger Förde in die zunächst ungeliebte Großstadt Hannover schwergefallen war, hatte sie sich mit ihrem Leben in Niedersachsens Metropole arrangiert.
Sicher trug dazu auch Georg bei, mit dem sie ihr Leben teilte. Professor Georg von Benckendorff, der frühere hoch geachtete Chefarzt der Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie der Medizinischen Hochschule Hannover, vergötterte sie nahezu. Sie glaubte immer noch, zu träumen, wenn er sie in seiner Villa in Isernhagen umsorgte. Dabei war sie mit ihren sechsundfünfzig Jahren auch schon eine gestandene Frau. Georg hatte ihr wiederholt Heiratsanträge unterbreitet.
Aber das ging nicht. Es wäre Bigamie gewesen, denn irgendwo im Norden geisterte Herr Dobermann herum. Sie wusste nicht, wo, sie würde ihn kaum wiedererkennen. Sie hatte keine Ahnung von seinen Lebensumständen. Allein die Tatsache, dass er existierte, schränkte ihre Freiheiten ein. »Du könntest dich endlich scheiden lassen«, hatte Georg öfter vorgeschlagen.
Warum nicht? Sie kannte die Antwort selbst nicht.
Madsack bog auf eine mit Kopfstein gepflasterte Straße ab, die zwischen Feldern auf einen Waldrand zuführte. Dort lag das ehemalige Bauernhaus, das sich George Andreescu zu einem respektablen Anwesen ausgebaut hatte. Anwesen? Es glich eher einer Festung. Rundherum zog sich ein stabiler Zaun, dessen oberer Rand mit Spitzen bewehrt war. An Masten waren Scheinwerfer und Kameras befestigt. Frauke hatte keinen Zweifel, dass es außerdem unsichtbare Elektronik gab, die das Grundstück absicherte.
»Donnerwetter«, meldete sich Boss von der Rückbank und streckte ihren Kopf zwischen den beiden Vordersitzen hindurch. »Der muss mächtig Bammel haben. Vor diesem Hintergrund verstehe ich nicht, dass man die beiden Familienmitglieder so einfach niederstrecken konnte.«
Madsack räusperte sich. »Andreescu wohnt abseits. Wenn er hier angegriffen wird, nimmt man es im Ort nicht wahr. Weit und breit gibt es keinen Nachbarn.«
»Wir sind doch nicht im Wilden Westen«, sagte Boss. »Wo gibt es so etwas?«
»Hier und in der Roonstraße in Braunschweig«, mischte sich Frauke ein. »Sehen wir uns das einmal vor Ort an.«
Madsack hatte vor dem Tor gehalten. Frauke stieg aus und ging zur Gegensprechanlage. Sie musste nicht klingeln. Man hatte ihr Kommen schon bemerkt.
»Ja?«, sagte eine hart klingende Männerstimme.
»Polizei.«
»Und?«
»Wir wollen mit Andreescu sprechen.«
»Herr Andreescu«, korrigierte sie die Stimme. »Er aber nicht mit Ihnen.«
»Sind Sie der Hausmeister oder der Pressesprecher? Ich denke, Sie haben nicht die Kompetenz, über solche Dinge zu befinden. Also los. Wir wollen mit Andreescu sprechen. Es geht schließlich um den Tod seines Sohnes. Also. Dalli.«
Während des kurzen Dialogs hatte Frauke beobachtet, dass die Kamera in der Halbkugel sie nahezu scannte. Es knackte kurz im Lautsprecher. Dann war Stille.
Inzwischen waren die drei anderen ebenfalls ausgestiegen und hatten sich um sie versammelt.
»Was ist?«, fragte Boss und rieb sich die Hände. Es war unangenehm kühl. Dazu trug die feuchtkalte Witterung bei, auch wenn es im Augenblick nicht regnete.
Sie mussten zehn Minuten warten, bis sich die Stimme erneut meldete.
»Einer kann kommen«, sagte der Mann.